Die Gartenlaube (1879)/Heft 24
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No. 24. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
„Gott sei Dank, daß das lärmende Ungethüm hinaus ist!“ sagte Lucile, als der Baron mit José und Pirat das Zimmer verlassen hatte; müde sank sie auf das Ruhebett zurück. „Das ist vielleicht der einzige Punkt, in welchem ich mit der widerwärtigen, aschgrauen Frau Baronin harmonire,“ fügte sie hinzu; sie sagte es in einem freilich sehr mangelhaften Englisch, um von der anwesenden Bedienung nicht verstanden zu werden. „Ich war von vornherein entschieden dagegen, daß Pirat mitgenommen werde, aber da war ja jeder vernünftige Einwurf in die Luft gesprochen – Mosje José darf eben immer seinen Kopf durchsetzen.“ Sie hob den Kopf ein wenig von den verschränkt untergelegten Armen und musterte mit kritischem Blick das Tablet, das Mamsell Birkner ihr präsentirte. „Kaffee bei dieser veritablen Hitze? – Nein, meine Liebe, ich danke recht schön. Bitte, verschaffen Sie mir ein wenig Vanille- oder Erdbeereis! Ich verschmachte.“
Die gemüthliche, dicke Wirthschaftsmamsell, deren Verstand nicht weiter reichen sollte, als ihr kleiner Finger, wie die Frau Baronin behauptete, sah sehr verblüfft und verlegen drein und besann sich vergeblich auf eine Antwort.
„Ach, es ist wohl kein Eis zu haben – wie?“ rief Lucile belustigt; sie weidete sich an der hülflosen Miene der völlig Bestürzten. „So, so – nun, dann bitte ich um ein Glas Champagner.“
Es erfolgte ein abermaliges momentanes Schweigen. Mamsell Birkner wandte sich langsam nach dem Bedienten um, der sich eben aus dem Staube machen wollte. „Wollen Sie so freundlich sein, Robert –“
„Ich bedaure“, versetzte er achselzuckend und offenbar sehr empört darüber, daß er in diesem Departement so offen seine Machtlosigkeit bekennen mußte. „Die gnädige Frau Baronin –“
Lucile lachte silberhell auf. „Ein Glas frisches Wasser, wenn ich bitten darf!“
Der Bediente ging hinaus. Mamsell Birkner stellte das Präsentirbrett auf den Tisch und verneigte sich respectvoll vor Donna Mercedes, die kurz, aber höflich für jede Erfrischung vorläufig dankte. Dann schloß sich die Thür auch hinter ihr.
„Der Witz ist unbezahlbar,“ lachte Lucile, „die gnädige Frau Baronin hat den Kellerschlüssel mitgenommen.“ Gleich darauf richtete sie sich plötzlich empor, schüttelte mit einer Art von wildem Triumph die Locken aus der Stirn, legte die Arme um die emporgezogenen Kniee und beobachtete einen Moment schweigend mit boshaft funkelnden Augen ihre Schwägerin, die lautlos, aber raschen Schrittes im Salon auf- und abging.
Diese junge Frau, deren fremdartige Erscheinung in keiner Linie, keiner Farbennüance an germanischen Ursprung denken ließ – wie sie auf schlanken, schmalen, weichbeschuhten Füßen von Wand zu Wand unruhig über das Parquetgetäfel hinglitt, war sie das Bild einer Libelle, die der Sturm in verworrenes, dunkles Geäst verschlagen hat, das Bild des verzweifelten Mühens, zu entrinnen.
„Was habe ich immer gesagt, Donna de Valmaseda?“ fragte Lucile spöttisch. „War es etwa übertrieben, wenn ich diese steifleinene Baronin Schilling als das widerwärtigste Weib auf Gottes Erdboden schilderte, als das Non plus ultra von Neid und heimtückischer Eifersucht? Puh, sie ist häßlich wie die Nacht und kann Unsereinen nicht leiden. Aber schlau ist sie, die gute Frau, das muß ihr der Neid lassen. Sie hat dem zurückgelassenen Haushalt einen Zuschnitt gegeben, wie ihn sich anständige Leute nicht gefallen lassen können – die beste Art, uns schnell wieder loszuwerden! Ich frage, was nun, Donna de Valmaseda? – Baron Schilling –“
„Ein fischblütiger Germane, wie er in den Büchern steht,“ scholl es halblaut aus der Fensterecke, in welcher Mercedes für einen Moment stehen geblieben war.
„Ah, endlich!“ jubelte Lucile. Sie sprang wie elektrisirt auf ihre Füße und riß die Thür nach den anstoßenden Zimmern auf, wo Deborah eben die kleine Paula wusch und umkleidete und die Kammerjungfer einen Koffer aufschloß.
„Nur das Nachtzeug wird ausgepackt, Minna; sonst kein Stück weiter!“ befahl die kleine Frau; dann flog sie nach der Fensterecke. „Wüßte Felix, wie armselig wir hier untergebracht sind,“ rief sie in dringlicher Hast, wie Jemand, der nach dem alten Sprüchwort das Eisen schmiedet, so lange es warm ist; „er würde uns um keinen Preis in dieser Spukherberge lassen, die von der Gnädigen selbst offenbar nicht mehr benutzt wird, weil sie sich fürchtet. Und wie gründlich sie erst noch aufgeräumt hat mit allem Comfort, ehe sie gegangen ist, die brave Frau! Siehst Du dort die scheußlichen Kannen und Sahnentöpfe mit den angekitteten Henkeln und Schnäbeln?“ sie zeigte nach den Credenztischen. „Das Zeug ist für uns aus der Rumpelkammer geholt worden. Vor acht Jahren brachen die Platten und Aufsätze fast unter dem Silber- und Krystallgeschirr; ich habe den Eindruck behalten, denn ich weiß noch, daß ich mich damals wahnsinnig ärgerte, weil Mamas prächtiges Büffet gar nicht dagegen aufkommen konnte – ob die Gute gefürchtet hat, ihre Kostbarkeiten möchten uns an den Fingern hängen bleiben?!“
Wie eine flinke Bachstelze huschte das seidenraschelnde, boshaft [394] hetzende Geschöpfchen dicht an die schweigende Dame im Fensterbogen heran und suchte einen Blick zu erhaschen.
„Wir gehen doch nun selbstverständlich nach Berlin – ja, Mercedes?“ fragte sie mit bittender, schmeichelnder Stimme. „Es bleibt uns absolut nichts anderes übrig. Felix wollte eine deutsche Erziehung für die Kinder; nun, die können sie ja nirgends besser haben – urdeutsch sage ich Dir! Und für mich wäre das ein Glück, ein Glück!“ sie preßte die Hände auf die Stirn, als befürchte sie, vor Seligkeit den Verstand zu verlieren. „Die Großmama ist zwar todt, und Mama hat den Streich gemacht, sich von einem Starosten in’s Blaue hinein entführen zu lassen, aber ich habe so viele Freunde dort, so Viele, die damals für mich geschwärmt haben – ach, mein Gott, ich glaube, ich könnte mich sogar freuen, den unausstehlichen alten Gecken, den Fürsten Konsky, wiederzusehen. Wir reisen natürlich gleich mit dem ersten Zug morgen? Weißt Du, ich persönlich mache mir nicht so viel draus,“ sie schnippte mit den feinen Fingern in der Luft, „ob diese entlaufene Nonne mich zu beleidigen sucht oder nicht; ich schüttle die heimtückischen Nadelstiche ab und amüsire mich dabei, aber Du, Du?“
Es drängte sich bei diesen Worten ein leidenschaftlicher Ausruf auf die Lippen der jungen Frau, die bisher mit starren Augen unbeweglich in den Vorgarten hinausgesehen hatte. Sie war sehr bleich, und an ihrer unruhig athmenden Brust sah man, daß die widerstreitendsten Empfindungen nach einem Ausbruch rangen, aber nichts schien dieser Frau ferner zu liegen, als intime Erörterungen oder ein Meinungsaustausch mit dem quecksilbernen Wesen, dessen überstürzte Plauderei ihr den eigenen Gedankengang störte.
„Nun, Mercedes?“ drängte die kleine Frau wie athemlos, und ein grelles Feuer leuchtete in den schönen, intensiv grünschillernden Augen.
„Wir bleiben. Ich bin über das Meer gekommen, um den letzten Wunsch meines Bruders zu erfüllen, und das will und werde ich.“
Lucile wandte sich um, lief an dem verblüfften Bedienten, der eben mit dem verlangten Glas Wasser eintrat, vorüber in das anstoßende Zimmer und warf die Thür schmetternd zu, um hinter ihr, nach alter Gewohnheit, gegen ihre Kammerjungfer und Vertraute das tieferbitterte Herz auszuschütten.
Der Schillingshof hatte in wenig Tagen eine ganz andere Physiognomie angenommen. Die Vorübergehenden mäßigten meist ihre Schritte, wenn sie in die Nähe des Eisengitters kamen, um bequem und mit Muße das fremdartige Leben und Treiben vor dem Säulenhause beobachten zu können.
Zuerst hatten wohl die zwei Farbigen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Jak, ein starkgebauter Mann von der schönen, glänzend schwarzen Negerrace, wie sie an den Ufern des Senegal lebt, schien die Säulenhalle zu lieben; er konnte stundenlang an einem der schlanken, weißen, akanthusgekrönten Schäfte lehnen und vergnüglich den mächtigen Fontainenstrahlen zusehen, wie sie hoch in die Lüfte sprangen und als Diamantengefunkel niederstäubten; oder er streute den dreisten Sperlingsschaaren Krumen auf die Steinstufen, während die dicke Deborah im geblümten Perkalkleide und ein kokettes Mullhäubchen mit grellbunten Schleifen auf dem Wollhaar, durch den Vorgarten watschelte und sich oft bis zur Athemlosigkeit mühte, ihr Goldkind, die kleine Paula, im Auge zu behalten, die mit flinken Beinchen dem herumtollenden José und seinem Cameraden, Pirat, nachstrebte.
Diese kleine, laute Gesellschaft war es, die, nachdem der erste frappante Eindruck der „Negersclaven“ verblaßt, das jenseits des Gitters promenirende Publicum immer wieder fesselte. Man war gewohnt gewesen, hier stets in eine vornehme, abgeschlossene Stille hineinzusehen; selten einmal, daß die Frau Baronin, einen Plaid um ihre ewig fröstelnde Gestalt gewickelt, mit nachschleifender grauer Schleppe und hochmüthig fremden Augen in dem grämlich grauen Gesichte, wie ein Schemen zwischen den Bosquets aufgetaucht war – lautlos und mutterseelenallein. Nun flatterte es wie kreisendes Schmetterlingsvolk durch Allee und Buschwerk, bunte Bälle und Reifen flogen in die Lüfte; hier lag ein achtlos hingeworfener Kindersäbel quer über dem Wege, dort versperrte ein im Stiche gelassener Puppenwagen die Passage, und die kleinen Fremdlinge, die so schnell auf deutscher Erde heimisch wurden, waren schön wie Engel, verwöhnt und geschmückt wie Fürstenkinder.
Dann war da ein Wesen, von welchem man nicht recht wußte, ob es in die Species der wirklichen Backfische oder in die jener erwachsenen Mädchen gehöre, die kindliches Gebahren und bezaubernde Naivetät bis in die Zwanzig hinein bewahren. Es kam meist im Geschwindschritt, auf den zierlichsten Füßchen, die Kieswege daher, riß im Vorübergehen Blätter von dem Gesträuche, an denen die kleinen, blitzenden Zähne kauten, und lief ebenso ungenirt mit den hohen, spitzen Absätzen über den kostbaren, ängstlich behüteten Sammetrasen des Parterres, um irgend eine leuchtend weiße Blüthe aus den Blumenrondels zu holen und sie in die Locken zu stecken, oder sie in muthwilliger Zerstörungslust Blatt um Blatt zu zerpflücken. Das sah sich hinter dem Eisengitter an wie eine Bühnenscene voll köstlicher Naturfrische, und die Leute konnten sich nicht satt sehen an dem tollen Geschöpfchen, das sie auch bewunderten, wenn es in der Platanenallee übelgelaunt und gelangweilt zwischen Kissen und purpurseidenen Steppdecken auf einem der Eisenmöbel hingestreckt lag. Dann baumelte gewöhnlich eines der Füßchen aus einem Gewoge von Stickereien, Spitzen und Rockfalbeln und zeigte wie ein Pendel in seinen Tempos die auf- und niedergehenden Gemüthsstimmungen; die Hand rührte fleißig die silberne Tischglocke, und die Kammerjungfer kam auf die Signale hin abwechselnd mit Büchern, Flacons, Shawls und dergleichen aus dem Hause gelaufen, bis meist eine Riesenbonbonnière die Laune verbesserte und auch die spielenden Kinder herbeilockte. Dann knabberten alle die jungen Zähnchen unermüdlich – das war eine allerliebste Gruppe; aber zu denken, daß diese übermüthige, mit den Füßen baumelnde, naschende Pukgestalt die Mutter der beiden Blondköpfchen sei, das wäre Niemand eingefallen – der alten Frau gewiß auch nicht, die seit einigen Tagen so viel am Giebelfenster des Klostergutes erschien. Sie lehnte sich nie hinaus, ja, sie bog kaum den Kopf seitwärts nach dem verhaßten Parterre des Schillingshofes, aber ihre Augen starrten wie magnetisch angezogen mit scheuem Seitenblicke auf die verschlungenen, weißen Wege nieder, und wenn die schlanke Kindergestalt Josés im königsblauen Matrosenanzuge mit dem Hunde um die Wette drunten vorüber jagte und die Laute seiner commandirenden Stimme heraufschallten, da griff die feste, arbeitstüchtige Hand unwillkürlich nach dem stützenden Fensterkreuze, und über das bleiche, kalte Gesicht ergoß sich die Röthe ungläubiger Bestürzung.
Baron Schilling hatte gleich in der ersten Stunde den Befehl gegeben, daß seine Appartements, die nach Süden hinlaufende Zimmerflucht des Erdgeschosses, für Lucile hergerichtet würden, da er vollständig in das Atelier übergesiedelt war, und die kleine Frau war noch an demselben Abende in Begleitung ihrer Kammerjungfer mit „Sack und Pack“ und mit einer Hast eingezogen, als säße ihr das hinter den holzgeschnitzten Salonwänden hausende Gespenst bereits im Nacken.
Nun strömte allabendlich blendender Lichtglanz aus dieser Fensterreihe in die Säulenhalle draußen; denn Lucile duldete kein düsteres Eckchen – sie liebte es, sich in Licht zu baden, wie in den köstlichen Specereien, die das Kammermädchen in das tägliche Bad werfen mußte, und die stets das ganze Haus durchdufteten, und nächst der lauen, würzigen Welle war es nur kühler, seidenweicher Battist, der die subtile Haut des graziösen Tänzerkindes umspielen durfte. Die Füßchen, in denen fortgesetzt die unterdrückte Künstlerschaft prickelte, huschten in atlasgefütterten Pantöffelchen durch’s Haus, und in den feinen Hals hinab flossen feurig süße Weine in so respectablen Quantitäten, „als gäbe es auf der Gotteswelt nichts Anderes, den Durst zu löschen,“ sagte der Bediente Robert immer ganz empört und doppelt zornig, weil Baron Schilling auf Mamsell Birkner’s Anzeige hin sofort für Küche und Keller die kostspieligsten Anschaffungen aus seiner Tasche bewerkstelligt hatte, einzig und allein um – dieser spanischen Bettelgesellschaft willen.
Trotz alledem hatte auch die Dienerschaft des Schillingshofes, wie die Spaziergänger hinter dem Eisengitter, ihr Wohlgefallen an der übermüthigen, kleinen „gnädigen Frau“, die ihnen stets im Vorübergehen einen muthwilligen Scherz, ein schäkerndes [395] Wort hinwarf. Ganz anders dagegen verhielt es sich mit der Dame, die mit den beiden Kindern und ihren schwarzen Untergebenen in den ursprünglich angewiesenen Logirräumen verblieben war. Dieser weltfremden Erscheinung gegenüber kämpfte in den Leuten fortwährend der Widerstreit zwischen dem unwillkürlichen Unterwerfungstrieb und der Geringschätzung, mit der Bedientenseelen auf Verarmte herabzusehen pflegen. Sie sprach nie mit ihnen; das leichte Kopfneigen, mit welchem sie ihren Gruß erwiderte, war noch viel stolzer, als das der verreisten „Gnädigen“. Man haßte sie dafür, und doch stellten sich Alle in Positur, und das Plaudern und Schwätzen in der Flurhalle verstummte, wenn sie durch den Corridor kam im schwarzen Spitzenkleide, das den blaßgelben Ton der Schultern durchleuchten ließ; sie war bei aller Zartheit und Biegsamkeit der Gestalt dennoch eine wahrhaft majestätische Frau, ein junges, blendend schönes Weib, das mit verdüsterten Augen voll finsteren Ernstes in die Welt blickte. Es kam auch keiner der einheimischen Domestiken in die Appartements, die sie bewohnte; sie ließ sich ausschließlich von ihren Schwarzen bedienen, und nur am ersten Abend war Mamsell Birkner in das Schlafzimmer beschieden worden, um sich von Deborah das Bettzeug des Hauses zurückgeben zu lassen. Sie war dann ganz consternirt und wie geblendet in das Souterrain gekommen und hatte erzählt, daß die Dame unter weißatlassener Steppdecke und zwischen Spitzengarnituren schlafe, wie sie die Gnädige kaum auf ihren Staatskleidern habe; der Toilettentisch funkele von Gold- und Silbergeräth, und sie wollte darauf schwören, daß auf dem Rahmen des Handspiegels und auf allen Kästchen und Büchschen Edelsteine seien, so viel echte Edelsteine, wie man sie in allen Sammetetuis der Gnädigen mit dem besten Willen nicht zusammenlesen könne. „Wer’s glaubt, Mamsellchen! Echte sind’s ganz gewiß nicht – höchstens böhmische,“ hatte der Bediente Robert gesagt. „Na, und wenn auch! Die Gnädige sagt, die Leute hätten ihr Hab und Gut im amerikanischen Kriege verloren; möglich, daß sie die paar Kostbarkeiten aus dem Unglück gerettet haben – aber auf wie lange denn? Wenn wir die Gesellschaft nicht mehr ernähren – und bis in alle Ewigkeit können sie doch nicht im Schillingshofe bleiben – da wird wohl ein Steinchen nach dem anderen ‚flöten gehen’, man will doch essen! Geld haben sie nicht – das steht bombenfest. Paßt auf, wir müssen immer und immer wieder auslegen, und es wird so lange auf Regimentsunkosten gezehrt, bis – die Gnädige kurzen Proceß macht!“
Der Bedientenzorn aber wurde noch mehr herausgefordert, als am Tage nach der Ankunft ein Flügel in das Haus getragen wurde, den Frau von Valmaseda über das Meer herüber „mitgeschleppt“ hatte. „Ein Hund und ein Clavier im Schillingshof“ – zwei Verfehmte, denen absolut kein Zutritt gestattet war! Man konnte kaum den Moment erwarten, wo die Frau Baronin zurückkommen und die Bescheerung finden würde – das gab einen Hauptspaß. Ein besonderes Aergerniß war auch die Verschwiegenheit der mitgekommenen Domestiken. Den Schwarzen, die ein ziemlich gutes Deutsch sprachen, schien sofort jegliches Verständniß abzugehen, wenn auf die Verhältnisse ihrer Herrschaft jenseits des Meeres angespielt wurde; sie hatten nicht einmal ein „Ja“ oder „Nein“ auf dringlich gestellte Fragen, und die Kammerjungfer Minna, die ihrer Herrin auf Tod und Leben ergeben war, ließ sich auch nicht die mindeste Auskunft ablocken. Sie hatte nur einmal auf die Frage nach dem Gemahl der Frau von Valmaseda geantwortet, daß die Dame so gut wie nicht verheirathet gewesen sei. Ihr Bräutigam sei im Kampfe gefallen und habe sich eine Stunde vor seinem Tode durch den Feldgeistlichen mit ihr trauen lassen. Das machte die jungfräuliche Wittwe freilich interessant in den Augen des männlichen Personals, und die weichmüthige Mamsell Birkner weinte bittere Thränen über das tragische Geschick, aber Keines hätte gewagt, darauf hin die Dame näher zu mustern – man fürchtete sich förmlich und zog sich scheu zurück, wenn sich das schöne Frauengesicht im Vorübergehen plötzlich zur Seite wandte und den Blick der sammetschwarzen Augen flüchtig und wie Eis kältend über die Dastehenden hingleiten ließ.
Sie verließ nur einmal des Tages ihre Räume, um sich in dem Theile der Platanenallee zu ergehen, der den großen Garten durchschnitt; im Vorgarten war sie noch nie gesehen worden, so wenig wie sie sich dem Atelier näherte. Manchmal war es, als zöge es den rasch wandelnden Fuß gewaltsam dort hinüber, wo hinter breiter Glaswand das leuchtende Grün wohlbekannter Blattformen, von springenden Wasserstrahlen wie von Silberpfeilen durchzuckt, herüberwinkte, aber es war, als zähle sie die Platanenstämme, so pünktlich kehrte sie stets an derselben Stelle um. Und der Herr des Schillingshofes respectirte streng die unsichtbare Schranke, hinter welcher sich die Tochter der Tropen voll Widerwillen vor der Berührung des Deutschthums isolirte. Er vermied die Begegnung; für ihn schien ja mit dem Einzuge der Kinder in sein stilles, ödes Haus das Morgenroth eines neuen Lebens aufgegangen zu sein – die Staffelei stand verwaist und die Farben auf der Palette trockneten. – „Das müßte die Gnädige sehen!“ zischelten die Leute des Hauses unter einander, wenn sie ihn, die kleine Paula auf dem Arme, durch den Garten gehen sahen. Das Kind grub die Händchen in seinen schönen, krausen Kinnbart und schmiegte zutraulich das blonde Gelock an sein braunes Antlitz, und er hob sie hoch im Gebüsche und ließ sie in die Vogelnester sehen, oder er ließ mit José um die Wette flache Kiesel über den Teichspiegel springen, und in den Kinderjubel hinein klang sein frisches, heiteres Lachen. „Wie man nur so lachen kann, wenn man eine solche Nachteule zur Frau hat!“ murmelte dann Lucile ganz erbittert, wenn sie in der Allee an ihrer Schwägerin vorüberhuschte....
Die Nachmittagssonne brannte heiß, aber unter den Platanen war es so schattig, daß Donna Mercedes den kleinen Sonnenschirm zusammenfaltete und ihn auf den nächsten Gartentisch warf. Sie war heute der Tageshitze wegen in ihrem Morgenkleide von dünnem, indischem Muslin verblieben. In diesem weichen, schleierartig um die Glieder schwebenden Gewebe, das durch sein Mattweiß dem blaßgelben Teint einen entschiedenen Bronzeglanz und dem über den Nacken fallenden, in einem Netze gebändigten Haar die Schwärze der Rabenfeder lieh, mochte die finsterblickende Frau recht wohl als der Typus jener in sybaritischem Luxus grenzenlos verwöhnten „Plantagenfürstinnen“ gelten, von denen man behauptet, daß die elfenhaft schwebenden Füßchen ohne Bedenken über hingestreckte Sclavenleiber wie über den Teppich zu schreiten verstünden, während in den schmächtigen Händen eine fast männliche Kraft schlummere, die urplötzlich zur energischen Züchtigung Mißliebiger hervorbreche.
Sie ließ heute den Blick freier aber den Garten hingleiten – kein zudringliches Auge war zu scheuen; von der Dienerschaft ließ sich Niemand sehen, und der Herr des Schillingshofes war vor einer Weile durch den Vorgarten nach der Stadt gegangen.
Vor der dunklen Fichtengruppe, an deren Zweigen hellgrüne Triebe wie Fransen schaukelten, blendete die weiße Wand des Ateliers, und aus den Scheiben des anstoßenden Glashauses sprühte das zurückgeworfene, heiße Sonnengold. An den unverkünstelten Rosenhecken brachen zu Tausenden die vollen, schweren Centifolienblüthen auf; Gänseblümchen, gelbe Butterblumen und dickköpfige, rothe Kleeblüthen wogten mit dem fetten, hochaufgeschossenen Wiesengrase als buntfarbige Wellen unter dem leichte Sommerwind; Feldthymian und Lavendel dufteten, und die kleine, rasch dahinfließende Wasserader, die den Teich speiste, säumte ein blauer Vergißmeinnichtstreifen. Und weit drüben – der fernblickende Teichspiegel lag dazwischen – erhob es sich undurchdringlich grün wie wildes Dickicht; das war der Zaun des Klostergartens. Stattliche Obstbaumwipfel, aber kein einziger Zierbaum, stiegen hinter ihm auf; dort roch es kräftig nach Bohnenkraut, Dill und Krauseminze, und ganze Schaaren weißer Schmetterlinge kamen über die grüne, struppige Wand, um sich an den Sommerblumen der Beete zu letzen.
Dieses entsetzliche Klostergut! Man sah die windschiefen, bemoosten Ziegeldächer der Hintergebäude; aus den offenen Luken guckten Stroh- und Heubüschel, und da, wo nicht das Blätternetz am Weinspalier mitleidig die Wand bedeckte, war der Kalkbewurf abgefallen und ließ die nackten Bruchsteine sehen. Man hörte, wenn auch schwach, aber doch in widerwärtiger, nervenangreifender Wiederholung das Krähen der Haushähne herüber, Taubenschwärme flogen geräuschvoll ab und zu, zankten und bissen sich auf den Firsten, und aus schwer zugänglichen Giebelvorsprüngen flog Dohlengesindel in die Luft. Das Alles war urdeutsch; ebenso der einfache, ungekünstelte Hausgarten des Schillingshofes, und der Wind, der, den Duft blühenden Kornes und quellenden Tannenharzes im Athem, warm und doch mit scharfwürziger Herbe an [396] dem Gesicht der wandelnden Fremden hinstrich und ein böses, zornmüthiges Lächeln um ihre Lippen weckte.
Der kleine José lief ihr ab und zu über den Weg. Er hatte vom Stallknecht ein weißes Kaninchen geschenkt bekommen, das er, stumm vor Entzücken, auf Tritt und Schritt verfolgte. Nun stürzte es sich kopfüber in das Wiesengras; es verschwand spurlos in dem Halmengewoge, wo die strammen Beinchen des angstvoll nachlaufenden Knaben versanken. Pirat hatte bis dahin regungslos, in bewunderungswürdiger Zurückhaltung auf der Schwelle des Glashauses gelegen und behaglich die heiße Sonne auf sein verwöhntes Fell brennen lassen, in dem Moment aber, wo José zu laufen begann, kam er in gewaltigen Sätzen herbeigestürzt und schreckte das kleine Thier auf – in weitem Bogen sprang es über den Kies vor dem Glashause und rettete sich in die halboffene Thür desselben vor seinen Verfolgern. Sie rannten wie toll hinterdrein, und gleich darauf erscholl ein Poltern und Aufschreien – José schrie mit seiner Mama um die Wette.
Donna Mercedes schritt rasch hinüber.
Das Kaninchen war hinter die Pflanzenkübel geschlüpft, und Pirat hatte seinen gewaltigen Körper nachgezwängt; dadurch war ein Drachenbaum umgefallen und hatte mit seinen harten Schwertblättern das Bassinwasser eines Springbrunnens hoch aufgepeitscht. Ein Schwall hatte sich über den Fußboden ergossen, und auf den breiten Blattflächen, dem verschränkten Gezweig ringsum rollten und zitterten die Tropfen, als sei ein starker Regenschauer niedergefallen.
Lucile war in die Nähe der Thür, auf eine trocken gebliebene Stelle retirirt; sie schleuderte die Wasserperlen von den Kleidern und aus den Locken und trocknete das überströmte Gesicht vorsichtig tupfend mit dem Taschentuche. Sie schalt heftig auf José hinein, brach aber gleich darauf in ein helles Gelächter aus, als der Hund, sein durchnäßtes Fell bärenhaft schüttelnd, auch noch ein paar blühende Topfpflanzen umstieß, und dann wie besessen sein Heil in der Flucht suchte.
Donna Mercedes war auf der Schwelle stehen geblieben. „Was thust Du hier, Lucile?“ fragte sie unwillig erstaunt.
„Mein Gott, ich amüsire mich – hast Du etwas dagegen?“ versetzte die kleine Frau spitz, wobei sie sich bückte, um ein Album aufzunehmen das im Bereich der Ueberschwemmung auf dem Boden lag. „Die alten Mönche müssen Mohnsamen in den Grundstein des Schillingshofes gelegt haben, so fürchterlich gähnt die Langeweile drüben aus allen Ecken. Ich habe aber keine Lust, wie ein schläfriges Käuzchen in diesen Winkeln stillzusitzen und vor der Zeit fett zu werden – bah, ich mit meinem Quecksilberblut – fällt mir gar nicht ein! Ich breche durch, wo ich kann.“
Sie hatte das Album aufgeschlagen und wischte mit dem Taschentuche das eingedrungene Wasser von den Blattseiten. „Fatal – da ist eine ganze Ecke von der getuschten Landschaft weggelöscht, und das Papier ist total zerweicht. Das nichtswürdige Thier, dieser Pirat! Ich könnte ihn mit meinen eigenen Händen erwürgen für diese Tölpelei! Was nun machen?“ – Sie zuckte halb ärgerlich, halb lachend die Achseln. – „Ach was, Dein ‚fischblütiger Germane’ ist mein Freund, mein alter Freund noch aus der himmlischen Zeit, wo ich das enfant gâté in Mamans Salon war und noch nichts von Baumwollensäcken und dergleichen wußte. Er wird nicht brummen, daß ich in seiner Bärenhöhle ein wenig gekramt habe, dieweil er nicht dagewesen ist.“
Mit diesen Worten klappte sie das Buch zusammen und schlüpfte in den anstoßenden Raum.
Vorhin hatte es ausgesehen als wolle die Dame auf der Schwelle unmuthig in den Garten zurückkehren, jetzt aber blieb sie wie festgebannt stehen und sah in das Atelier hinein, das durch eine Glaswand von dem Wintergarten geschieden war. Ein grüner Velourvorhang, auf beiden Seiten zur Hälfte zurückgezogen, hing drüben hinter den Scheiben und rahmte das farbenreiche Gesammtbild der originellen Einrichtung dunkel ein. Das Atelier war von bedeutender Höhe. Oben an der gegenüberliegenden Wand lief eine Gallerie hin – eine Thüröffnung, halb geschlossen durch eine schwere, buntfarbige, in Ringen laufende Gobelin-Gardine, mündete auf diese Gallerie, die in der nordwestlichen Ecke in eine schmale, schöngeschwungene Wendeltreppe auslief. Ueber das braune Holzgeländer fiel, nachlässig hingeworfen, ein gewirkter Teppich von altbyzantinischem Muster; er sprühte einen wahren Farbenregen unter dem schräg herüberfallenden Oberlicht, das ringsum, hier aus dem polirten Harnisch einer aufgebauten Ritterrüstung, dort aus altgriechischen Metallspiegeln, aus venetianischem Glasgeschirr glitzernde Reflexe lockte. Es war ein scheinbar chaotisches Durcheinander, das emsige Sammlerhände hier aufgehäuft hatten. Zwischen den hingelegten, bemalten Holzflügelresten eines uralten Altarschreines, den Bruchstücken eines feinmodellirten ehemaligen Stadtbrunnen-Gitters, erhoben sich auf dem Boden lagernde Riesenfolianten, unter den Füßen graziöse Statuetten modernen Ursprunges. Schränke und Credenzen von kostbarer Schnitzarbeit stiegen an den Wänden empor, oder sie traten auch schräg coulissenartig in’s Zimmer herein, auf den Borden vollbesetzt mit pompejanischem Geschirr, mit kupfernen Trinkkannen, mit Glas- und Silberpokalen, und hoch vom Sims herab rauschten Brocatgardinen irgend eines Nabob-Himmelbettes vergangener Jahrhunderte als Thürvorhang auf den Boden; daneben ragte auf wuchtiger Steinconsole die Kolossalbüste eines altrömischen Kaisers aus der Wandfläche und hob ihr helles Profil lebendig von dem buntschillernden Faltengewoge seitwärts. Ueber dem goldgeäderten, schwarzen Lack des chinesischen Kaminschirmes breiteten sich Pfauenwedel zwischen Terracotta-Vasen aus Pompeji; ausgestopftes Gevögel, schneeweiße Ibisse und Flamingos mit rosafarbenem Gefieder leuchteten aus dem Halbdunkel der Winkel, oder sie standen stelzbeinig auf hingerollten Säulencapitälen aus Theben, neben steinernen Sphinxleibern und Relief-Fragmenten, und aus diesen zusammengewürfelten Steinresten drängten sich frischgrüne, breite Farrenwedel und stachlige Cacteen an’s Licht. – Aus dieser Zusammenhäufung des kostbarsten Materials sprach aber doch harmonisch in Formen und Farben, mächtig fesselnd der Gedanke des Künstlers.
Donna Mercedes war ihrer Schwägerin unwillkürlich bis unter die hinüberführende schmale Glasthür nachgegangen.
Die kleine Frau bemühte sich eben, das Album mit seinen verdorbenen Blättern geschickt unter den Mappen, Scripturen und Büchern eines Tisches zu verbergen.
„Nun was sagst Du zu der Bärenhöhle?“ fragte sie über die Schulter zurück. „Hat sich mein Freund nicht famos eingerichtet?“
„Ja, mit dem Gelde seiner Frau,“ sagte Donna Mercedes im Ton kalter Verachtung und trat mit einer nachlässig gleichgültigen Geberde vor die Staffelei, welche, die Rückseite schräg dem Glashause zukehrend, inmitten des Ateliers stand.
Aber sie schloß erschrocken die Lippen, auf denen offenbar noch eine scharfe Bemerkung geschwebt hatte, und fuhr unwillkürlich zurück; vielleicht wähnte sie in der ersten Ueberraschung, der Fackelschein auf dem Bilde da überfluthe ihr das eigene Haupt, wie er die hinter Buschwerk geflüchtete Frauengruppe grausam verrieth. – Dort aus dem Palaste – sie hatten wohl vor Minuten noch, aus dem Schlafe aufgeschreckt, angstvoll dessen Säle durchirrt – stürmte der Mord den vier Frauen nach. Das schützende Alleedunkel, die Nacht zwischen den hohen Taxushecken hatten sich als treulos erwiesen, und an der kleinen Mauerthür seitwärts fehlte der Schlüssel. Eine der Frauen, ein starkes Weib und offenbar die Dienerin, hatte sich niedergeworfen, und die Fingernägel drunten in die Thürfuge krallend, versuchte sie in wilder Todesnoth das feste, eisenbeschlagene Bohlengefüge aus Schloß und Angel zu reißen. Sie sowohl, wie die in die Kniee gesunkene schöne junge Frau, die wohl weniger für sich, als für das Kind in ihren Armen um Schonung zu flehen sich anschickte, bedeckte noch mitleidige halbe Dämmerung, die zwei Gestalten im Mittelgrunde dagegen wurden völlig überschüttet von dem rothen Lichte, das der erste aus der Allee stürzende Fackelträger vor sich herwarf. Würdig sterben wollte sie, die Hugenottin, die Gebieterin des altfranzösischen Herrenschlosses dort, die Dame mit dem schneeweißen Haar, über das sie flüchtend einen schwarzen Schleier geworfen hatte. Sie wußte, daß die fanatisirten Bluthunde der Königin keines der Leben verschonen würden, die in diesem letzten Schlupfwinkel athmeten – kein Blick fiel mehr auf den todesgeweihten Enkel an der Brust seiner Mutter, wohl aber zog sie einen Theil ihres Schleiers herab und warf ihn über die schöne nackte Brust des jungen Mädchens im losen Nachtgewande, das Schutz suchend sich an die hohe Matronengestalt schmiegte und mit entsetzten Augen nach den Verfolgern zurückstarrte; der
[397][398] freche Spottblick der Unholde sollte ihr liebstes Kind, die Wonne ihrer Augen, die süße letzte Blume eines sterbenden Geschlechtes nicht entweihen, bevor der Tod kam.
„Puh, von dem Bilde könnte man schreckhaft träumen!“ rief Lucile nach einer momentan eingetretenen tiefen Stille vom Tisch herüber – ihre helle Stimme klang unangenehm aufschreckend in den Zauber hinein, den ein künstlerischer Gedanke dämonisch packend hier ausströmte. „Ich habe mich schon vorhin deshalb aus dem Staube gemacht und die Albums, die ich durchblättern wollte, eines nach dem andern, lieber in’s Glashaus geschleppt. Es ist ein furchtbares Leben in dem Bilde – grauenhaft, sag’ ich Dir. Und mit dem ‚Fischblut’ des Malers ist’s nichts, Dame Mercedes – Da irrst Du Dich gründlich, und –“
„Der Mann hat sich verkauft,“ schnitt die junge Dame verächtlich und achselzuckend die Beweisführung ab und wandte sich von der Staffelei weg. Sie schlug einen der alten Folianten auf, die auf Tischen und Stühlen umherlagen, und sah hinein, aber nur mechanisch, nur für einen Moment; dann hob sie den Blick wieder von den plumpen Holzschnitten auf den modrigen Blattseiten – er irrte träumerisch über die Gegenstände hin, um nach dem Bilde auf der Staffelei zurückzukehren, und blieb plötzlich an der Gallerie hängen, von der die Wendeltreppe direct in das Atelier hinabführte – dort oben stand der Maler selbst; noch waren die Thürvorhänge, hinter welchen er hervorgetreten sein mußte, in wallender Bewegung; er hatte wohl eben erst den Fuß auf die Gallerie gesetzt, und doch sah Mercedes sofort an seinem Gesichtsausdruck, daß er ihre harten Bemerkungen gehört hatte –
„Mit der Bettelei wäre ja schon fertig zu werden, wenn nur das Publicum von seinem planlosen Almosengeben ablassen wollte“ – so lautet die stete Klage der Polizeibeamten wie auch aller Einsichtigen, die sich mit dem Armenunterstützungswesen befaßt und ernsthaft darüber nachgedacht haben. In jedem wohlgeordneten Staate ist der Bettel gesetzlich verboten; unterstützen wir ihn, so sind wir zu einer gesetzwidrigen Handlung behülflich. Anderseits findet derjenige, welcher die Heilsamkeit, ja die Nothwendigkeit dieses Verbots nicht begreift, dasselbe hart, schneidig, unchristlich, und widerstrebt ihm, selbst wenn, wie es z. B. in Sachsen im vorigen Jahrhundert vorgekommen, sogar das Almosengeben unter Strafe gestellt ist. Es gilt sonach, die Ueberzeugung von der Gemeinschädlichkeit des unvorsichtigen Beschenkens auszubreiten, namentlich auch unter den Frauen. Ist diese Ueberzeugung erst einmal erworben, so wird es auch gelingen, uns von jener üblen Gewohnheit zu lösen, so sehr sie auch von der höchsten Tugend, der Menschenliebe, eingegeben scheint. Wir sind in der Lage von Eltern, die einem kranken Kinde ein scheinbares Labsal versagen, nach dem es schmachtet, wenn der verständige Arzt davor warnt. –
Worin besteht denn aber nun diese Schädlichkeit?
Die nachfolgenden Zeilen wollen versuchen, die Frage zu beantworten, verzichten jedoch darauf, diejenigen zu bekehren, welche blindlings an Straßen- und Hausbettler austheilen, weil sie „keine Zeit haben“ oder keine Mittel, die Würdigkeit der Bittsteller zu prüfen oder prüfen zu lassen. Sie verzichten ferner darauf, die zu gewinnen, welche aus Gedankenlosigkeit, oder um vor Anderen nicht geizig oder gar arm zu scheinen, oder auch aus Furcht vor den Grobheiten oder der Rache abgewiesener Bettler Geld auszustreuen. Nur unter Jenen möchten sie um freundliches Gehör werben, die aus vollem Herzensdrang spenden, in der aufrichtigen Meinung, pflichtmäßig zu handeln, und die ein sittliches oder religiöses Aergerniß empfinden, wenn sie Abmahnungen begegnen. Gerade hier erhebt sich die Hauptfestung des Pauperismus, welche zu belagern und zu überwältigen unter die großen Aufgaben unserer Gegenwart gehört. Weder die wirthschaftlichen Sünden der Gründerzeit, noch die letzten geschäftlichen Mißjahre mit ihrem traurigen Gefolge, noch endlich die social-demagogische Wühlerei hätten das Uebel so hoch steigern können, wie es, neben dem Mangel an positiver, zweckdienlich organisirter außerpolizeilicher Armenpflege, die kurzsichtige Almosenschleuderei gethan hat und täglich thut. Darum sei es vergönnt, an Alle, die für die Leiden ihrer Nebenmenschen ein Herz haben und die es zu dessen Bethätigung drängt, die Bitte zu richten, zuvörderst die nachstehenden Erörterungen – sie vermeiden absichtlich, tiefer in den Gegenstand einzugehen, um die Aufmerksamkeit rege zu erhalten – unbefangen prüfen und dem Ergebniß gemäß handeln zu wollen.
Weder die Belästigung des Publicums durch Bettler, noch die auf Gewohnheitsbettler verschwendeten und dadurch den wahrhaft Nothleidenden entzogenen bedeckenden Geldsummen stehen im Vordergrunde der Erwägungen, sondern Folgendes, worauf nicht genug Nachdruck gelegt werden kann: Je ungünstiger die Zeitverhältnisse, um so größer die Zahl der Einzelnen, welche sich an der Schwelle des Elends fühlen. Alles ist nun aber daran gelegen, diese Bedrängten, Gefährdeten vom ersten Griffe nach dem Bettelstabe abzuhalten. Die Scheu, Geschenke zu erbitten oder nur anzunehmen, ist eine edle, zarte Pflanze, die um so leichter verkümmert, je mehr das Geben und Empfangen von Almosen in die Oeffentlichkeit tritt, je müheloser diese erlangt werden, je reichlicher sie fließen. Versetzen wir uns nur in die Lage von Arbeitern, deren Einnahmen trotz allen Fleißes und aller Sparsamkeit karger und karger werden, so begreifen wir sofort die schwere Versuchung, welche jenen der Anblick einer Rotte von Tagedieben bereitet, die wohlgemuth in Straßen und Häusern umherstrolchen, nur ihre Mützen entgegenzuhalten und unter kläglichen, heuchlerischen Mienen ihr Sprüchlein herzusagen brauchen, um einen Regen von kleiner Münze sich ergießen zu sehen. Anfangs hält bei den Besseren unter der karglebenden Arbeiterclasse das Schamgefühl Stand, seine Stimme wird aber im Gedränge der Noth schwächer und schwächer, bis sie verstummt und – der verhängnißvolle erste Schritt gethan ist. Mit dem Ehrgefühl erlischt dann bald auch die Lust und schließlich die Fähigkeit zur Arbeit. Müßiggang ist nun die Losung geworden; die Bettlermasse ballt sich lawinenartig, und die Zuchthausthüren sind weit aufgethan.
Jeder von uns muß sich sagen: rasches, unbedachtes Spenden ist zwar alter Brauch, und ich kann hundert Andere nicht daran hindern, das rechtfertigt mich aber nicht, wenn ich, wider besseres Wissen, ihm fröhne. Denn nichts bürgt mir, daß ich nicht mein Theil damit beitrage, Menschen zu Taugenichtsen, Trunkenbolden und für das Gefängniß reif zu machen, abgesehen davon, daß mein schlechtes Beispiel Andere ermuntert, in ihrer Gewohnheit zu verharren. „Wer rasch giebt, giebt doppelt“, ist ein altes gutes Wort. Daß damit jedoch nicht ein unüberlegtes Geben empfohlen sein kann, liegt auf der Hand. Aehnlich verhält es sich mit gewissen Bibelstellen, welche zu unermüdlicher, selbstloser Mildthätigkeit nachdrücklich auffordern und gleichzeitig davor warnen, solches Thun hoch anzuschlagen oder damit vor den Leuten zu prunken. Wer sich nicht an todte Buchstaben, sondern an den lebendigen Geist hält, kann unmöglich jene Bibelworte so auslegen, als ob Jeder seine Habe dem ersten besten Armen schenken solle, der consequenter Weise alsdann das Nämliche thun müßte. Durch sorgfältige Untersuchungen an verschiedenen Orten ist ferner zuverlässig festgestellt, daß unter der Bettlermasse nur ein kleiner Bruchtheil unterstützungswürdig ist. Kann es da das Richtige sein, wenn wir, um diese Wenigen zu treffen, unsere für Unterstützungszwecke verwendbaren Mittel blindlings unter die ganze Masse vertheilen, das heißt zersplittern, großentheils vergeuden und Unheil damit anrichten, während sie doch mit Sicherheit dort anzubringen wären, wo sie nur nützen, keinenfalls schaden können?
Was nun aber thun? Soll die Privatwohlthätigkeit ganz aufhören? Nein, denn die polizeiliche reicht, was die Mittel betrifft, nicht entfernt aus. Soll ich mich begnügen, Alles, was ich freiwillig beisteuern kann, der öffentlichen Armencasse abzuliefern, Beamten, dem „grünen Tische“, das Weitere überlassend, und direct keinem Dürftigen etwas reichen? Soll ich mich auf diese Weise der Gefahr aussetzen, innerlich zu verhärten, neben dem Gefühle der Mitfreude auch das des Mitleids allmählich einzubüßen? Im Gegentheil – wir weisen der unmittelbaren Privatwohlthätigkeit den größeren, schwierigeren, schöneren Theil der Aufgabe zu: sie beginnt da, [399] wo der Arm der Behörde nicht mehr hinreicht, und besteht wesentlich darin, die Quellen der Verarmung aufzusuchen und so weit als thunlich zu verstopfen, den Erwerbsfähigen Arbeit nachzuweisen, Träge zu spornen, Rathlose zu belehren, und nur in seltenen, dringenden Fällen Geschenke zu gewähren.
Alles dies beruht auf einer sinnigen Thätigkeit gebildeter Einzelner, möglichst vieler Einzelner, die aber nicht vereinzelt, sondern wohlgegliedert auftreten, die unbeengt handeln müssen, doch nicht ohne Fühlung und Leitung von einem Mittelpunkte aus. Zwar kann schon ein Einziger, der sich mit Begeisterung und Umsicht dem Guerillakriege gegen Noth und Elend hingiebt, segensreich wirken; er hat Aussicht, eine Art Gleichgesinnter und Gleichstrebender anzulocken, nachhaltige größere Erfolge sind aber erst von einer umfassenden Organisation zu erwarten, an deren Spitze ein Mann steht, welcher die Einzelkräfte heranzubilden und planvoll zu verwerthen weiß.
Erst in der letzten Generation haben sich die Ansichten über das, was in diesem Bereiche zu thun und zu lassen ist, festgestellt, nachdem der höher und höher emporwuchernde Pauperismus aller Bemühungen, ihn zu bändigen, spottete. Die Stadt Elberfeld hat sich den Ruhm erworben, das Sphinxräthsel gelöst zu haben, sodaß zur Zeit das Elberfelder System bereits in einer Anzahl anderer Städte, wie Barmen, Crefeld, Düsseldorf, Karlsruhe, Darmstadt, Bremen, zum Theil und modificirt in London eingeführt ist und gute Aussicht hat, früher oder später in allen Orten mit ähnlichen Verhältnissen nachgeahmt zu werden. An vielen werden bereits Vorbereitungen getroffen. Häufig jedoch vernimmt man Klagen, daß der Sinn der Bürgerschaft dafür noch nicht hinlänglich geweckt sei und daß darum sich zu wenig zahlende und noch weniger werkthätige Mitglieder bereit finden lassen. Anderseits nimmt man, in der Befürchtung, auf Widerwillen zu stoßen, Anstand, den Pflegedienst obligatorisch zu machen, wie letzteres in Elberfeld mit so gutem Erfolge geschehen ist.
Deshalb sei in der „Gartenlaube“ diese sociale Lebensfrage angelegentlich befürwortet. Dabei darf die Ueberzeugung ausgesprochen werden, daß Alle, die sich dem edlen Werke emsig und treu widmen, nicht blos das Bewußtsein einer guten That davontragen werden, sondern auch einen positiven, werthvollen Gewinn für ihr eigenes Lebensglück: – im Lehren werden sie selbst lernen, umsichtig, findig, ausdauernd, anspruchslos, praktisch zu sein.
Die Städtische Armenverwaltung von Elberfeld ist aus einem Vorsitzenden, vier Stadtverordneten und vier auf drei Jahre gewählten Bürgen gebildet. Die Behörde hat für alle Hülfsbedürftigen zu sorgen, welchen gesetzlicher Anspruch darauf zusteht. Unterstützt wird sie 1) in Bezug auf die öffentliche Armenpflege (das heißt auf die nicht in Armenanstalten Aufgenommenen) durch 18 Bezirksvorsteher und 252 Armenpfleger; 2) in Bezug auf die geschlossenen Armenanstalten durch die jeder solchen vorgesetzte Deputation. Wie und wann der Pfleger ohne Rückfrage unterstützen darf, ist genau bestimmt. Das Elberfelder System hält den Grundsatz fest, daß kein Pfleger mehr als vier „Positionen“ (Einzelne und Familien) übernehmen soll, womöglich aber nur drei, welche er zu überwachen, mindestens alle vierzehn Tage persönlich zu besuchen und über die er zu berichten hat. Jeder stimmfähige Bürger ist zur Uebernahme dieses unbesoldeten Ehrenamtes verpflichtet. Die Einrichtung bewährt ihre Trefflichkeit, trotz schwerer Prüfungen, seit fünfundzwanzig Jahren nach allen Seiten hin und beschämt jene Kleingläubigen, welche, als dieselbe noch bloßer Entwurf war, nur schöne Träume darin sehen wollten. Der Straßen- und Hausbettel hat in Elberfeld nahezu ganz aufgehört, und doch ist der Aufwand für Außenarme (nicht in öffentlichen Anstalten Verpflegte) ansehnlich verringert, obwohl die Einwohnerzahl von 50,000 auf 83,600 im Jahre 1876 gestiegen ist. 1846 bis 1852 fiel auf den Kopf der Bevölkerung durchschnittlich 2,80 Mark, 1853 bis 1876 nur 1,35 Mark.
Von den Obliegenheiten des ganzen Getriebes und seiner Theile steht obenan: den Ursachen der Verarmung nachzuforschen und, wenn möglich, für Abhülfe zu sorgen; ferner strenge Untersuchung jedes Falles, ob die Stadt, oder ein anderer Verband, oder Private zur Unterstützung verpflichtet sind, und Heranziehung der Verpflichteten. Nebenher fehlt es nicht an Winken, wie Fälle von verschuldeter Armuth, Arbeitsscheu etc. zu behandeln sind, wie auf ehrbaren Wandel, Ordnung, entsprechende Kinderhaltung, sowie auf Bewahrung der Familienbande hinzuwirken ist.
Das Elberfelder System hat es nur mit männlichen Armenpflegern zu thun. Aber auch Damen, gebildeten kinderlosen Frauen und Wittwen, sowie Unverheiratheten, mag die werktätige Armenpflege an’s Herz gelegt sein, da das weibliche Gemüth so reich ist an Eigenschaften, welche sich hier hoch verwerthen. Ein glänzendes Beispiel davon ist unter Anderem in London gegeben worden; wir verweisen auf das Schriftchen von Octavia Hill „Aus der Londoner Armenpflege“ (im Auftrage der kürzlich dahingeschiedenen Großherzogin Alice von Hessen in’s Deutsche übersetzt: Wiesbaden, 1878, Mark 1,16), wenn auch immerhin nicht alles in London Geschehene diesseits ausführbar scheint.
Im Vorwort sagt die edle Frau: daß wir „Freunde der Armen werden müssen, um ihnen Wohlthäter sein zu können. Nicht durch Almosen sollen wir ihre Liebe zu erkaufen suchen, sondern durch Aufschließung ihrer sittlichen Hülfsquellen. Wir selbst haben beigetragen durch planloses Spenden ihre Selbstachtung zu untergraben, anstatt sie für diese zu erziehen“. Diese Rathschläge dürfen aber die Pfleger nicht etwa verleiten, Liebe und Güte bis zur Schwachheit zu treiben. Die echte Freundschaft hält fest an dem, was sie als recht und gut erkannt hat, und scheut sich nicht, im Nothfall vor ihren Pflegebefohlenen herb zu erscheinen. Mancher warmblütige, aber kurzsichtige Menschenfreund wird zu Mahnungen der Art den Kopf schütteln, vielleicht philiströse Kleinlichkeit, doctrinäre Engherzigkeit darin sehen. Derlei ist hinzunehmen, ohne sich irre machen oder verbittern zu lassen. So ist z. B. auf pünktliche Erfüllung übernommener Verpflichtungen stets zu dringen und dem alle Verhältnisse der ärmeren Classen zerrüttenden Borg- und Schuldenwesen kräftig entgegenzuwirken. Unter die Hauptsorgen jedes erzieherischen Verkehrs mit Armen gehört sodann, ihnen unermüdlich Anleitung zu geben zur zweckmäßigen Eintheilung und Verwendung ihrer kargen Einnahmen, namentlich sie vor jener bei den Aermsten so sehr häufigen falschen, verschwenderischen Sparsamkeit zu warnen, welche, um Groschen zu sparen für Speisen, Kleidung, Arbeits- und Hausgeräth etc., Zeit, Gesundheit und Körperkraft verwüstet. Die Anleitung muß aber so angebracht sein, daß die Pfleglinge sich nicht wie unmündige Kinder fühlen. Obwohl sie thatsächlich nur zu oft nichts Anderes sind, so ist doch ihr Selbstgefühl so weit wie irgend möglich zu schonen und zu stärken. Alle, besonders das weibliche Geschlecht, sind zur Sauberkeit und Ordnung anzuhalten, der Werth guter Athemluft und ausreichenden Wohnungsraums ist ihnen zum Bewußtsein zu bringen, ihre üblen Gewohnheiten, ihre Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit, ihre Trägheit, ihr Stumpfsinn sind tactvoll und geduldig zu bekämpfen.
Gewiß, alles das sind leicht auf’s Papier hingeschriebene, aber recht schwer auszuführende Dinge, wir lernen aber sie vollbringen, sobald wir uns ihnen ernstlich widmen, lernen endlich, mit den nie ganz ausbleibenden Erfolgen über fehlgeschlagene, verkannte, übel vergoltene Mühe uns trösten und wahre Freude an dieser Thätigkeit empfinden.
Wie in der Körperwelt die Wärme in Bewegung umgewandelt werden kann – ein Naturgesetz, auf dem das moderne Maschinenwesen beruht – so wäre auch zu wünschen, daß jene schöne Gefühlswärme, die zu raschem und reichlichem Geben antreibt, sich in Thätigkeit umwandelte, welche die Kraft des Schwachen in Bewegung setzt, ihn antreibt, nicht Hülfe von außen zu erwarten, sondern sich selbst emporzuringen. Dank der Gutherzigkeit und Opferbereitschaft, an der es nirgend in unserem Lande gebricht, sind eine große Anzahl Unterstützungs- und Hülfsvereine verschiedenster Art redlich, zum Theil in rührender Weise, bemüht, Noth und Elend zu lindern, Strauchelnde zu stützen, Gefallene aufzurichten. Das würde jedoch unzweifelhaft weit besser gelingen, wenn nicht oft zu eilfertig oder zu spät, oder ungenügend, oder, was das Schlimmste, übermäßig und am falschen Orte gespendet würde. Stets muß der Grundsatz festgehalten werden, nur nothwendige Unterstützung zu gewähren, weil sonst der Andrang unlustiger Arbeitsfähiger gar nicht mehr abzuwehren ist, immer neue Bettlerschaaren förmlich gezüchtet werden, endlich das Uebermaß der Gabe entsittlichend auf die Beschenkten wirkt.
Nicht selten fehlt es auch innerhalb der Vereine an richtiger Arbeitstheilung und Abgrenzung der Befugnisse, an ebenmäßiger Gliederung und förderlichem Ineinandergreifen; Theile der Maschinerie reiben und stören einander. Endlich mangelt es an Fühlung mit anderen ähnlich strebenden Verbindungen und mit [400] den communalen und staatlichen Behörden. Der Kampf gegen Pauperismus und Entsittlichung ist eine Kunst, die erlernt sein will und keinen tändelnden Dilettantismus erträgt. Ihre Erlernung und Ausübung nimmt aber weitaus nicht so viel Zeit und Mühe in Anspruch, wie Manche glauben dürften, dafür aber desto mehr guten Willen und Beharrlichkeit.
Die seit etwa zwei Jahren von der Presse lebhaft betriebene Agitation gegen unbesonnenes Almosengeben scheint an einigen Stellen über das Ziel hinausgegangen und namentlich Wanderburschen dem Elend überliefert zu haben. Nach neuesten Zeitungsberichten sollen sogar Fälle von Hungertyphus vorliegen. Das wäre eine neue dringende Mahnung, der zumal in arbeitsloser Zeit durchaus unzulänglichen polizeilichen Armenpflege auf socialem Wege kräftig und methodisch zu Hülfe zu kommen.
Möchten diese Andeutungen dem Dienst der außerpolizeilichen Armenpflege eine Anzahl neuer Rekruten werben und namentlich die locale Vereins- und Privatthätigkeit anregen helfen! Nur wenn sich ein zahlreiches, schlagfertiges Volksheer bildet gegen Noth und Elend, sowie gegen verkehrte Abhülfsmittel, können Zeiten wiederkehren, wie wir Alle sie ersehnen.
Die vlamische Bewegung.
Von Dr. Gustav Dannehl.Die Thätigkeit des „Willemsfonds-Vereins“, von dem ich Näheres mitzutheilen versprach, verdient als ein Muster planvoller, energischer und dabei durchaus loyaler Propaganda für kirchliche und politische Freiheit hingestellt zu werden.
In den siebenundzwanzig Jahren seines Bestehens sind die Mitglieder dieses Vereines von vierzig bis auf über zweitausend angewachsen, und ein bedeutender Theil der Riesenaufgabe, welche sich dieselbe gestellt hatten, ist bereits gelöst. Ohne ihr thätiges, umsichtiges Wirken hätte Belgien sicher noch sein clericales Ministerium und seine clericale Volksvertretung, wären die Sprachrechte der Vlamingen noch immer verkümmert geblieben, während jetzt in Folge des endlich glücklich durchgebrachten Landessprachgesetzes die Gleichstellung beider Nationalitäten wenigstens im Princip erreicht wurde. Und was mehr ist: in die trägen vlamischen Massen, die, durch ein pfäffisches Verdummungssystem ohne Gleichen von ihrer einstigen Culturhöhe herabgedrückt, fast nur noch vegetirten, ist ein Lichtstrahl nach dem andern gefallen.
Ein neues Geschlecht reift heran, und die kluge Geistlichkeit wird dasselbe nicht wie bisher davor bewahren können, daß es die verderbliche Kunst des Lesens lernt, wie das bei der Mehrzahl der ihr anvertrauten Schulen bisher der Fall gewesen ist.
Die Abtheilungen des Vereins sind über das ganze niederdeutsche Gebiet Belgiens verzweigt; jede derselben hat je einen Vorsitzenden, Schatzmeister, Schriftführer und mehrere andere Vorstandsmitglieder. Der Centralvorstand hat seinen Sitz in Gent. Derselbe giebt alljährlich eine Vereinsschrift heraus, welche gegen den Beitrag von sechs Franken an sämmtliche Mitglieder versandt und außerdem auf buchhändlerischem Wege vertrieben wird. Dieses Jahrbuch enthält in seinem geschäftlichen Theil eine genaue Darlegung der Thätigkeit jeder Abtheilung, in dem zweiten literarischen Theil einige Novellen und Gedichte, sowie eine Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen aus allen Gebieten des menschlichen Wissens. Außerdem werden noch alljährlich populärwissenschaftliche Schriften, Volksbücher im besten Sinne des Wortes, ausgegeben und nach Kräften unter der vlamischen Bevölkerung verbreitet. Vaterländische Geschichte, Lebensbilder echter Volksmänner des In- und Auslandes, Reisen, Kunst-, Literatur- und Culturgeschichte, Volksgesundheits- und Volkswirthschaftslehre, Technologie und Naturwissenschaften sind die Gegenstände, welche so in faßlicher, frischer Form dem Volke zugänglich gemacht werden. Noch unmittelbarer weiß man durch öffentliche Vorträge auf das Volk einzuwirken, welche an manchen Orten allwöchentlich, in kleineren Orten wenigstens ein- oder zweimal im Monat gehalten werden. Nicht blos die Mitglieder, sondern Jedermann hat unentgeltlich Zutritt zu denselben. Diese Vorträge sind stets mit Vocal- und Instrumental-Concerten, sowie mit Declamationen vlamischer Originaldichtungen verbunden und helfen somit zugleich der nationalen Musik und Dichtung die Wege ebnen. Für die schönen Künste wird vom Staate viel gethan; nicht blos die größten Städte haben ihre Conservatorien und Kunstakademien; da nun außerdem für Musik auch wirklich viel Sinn herrscht, so wird in solchen Concerten wirklich Nennenswerthes geleistet. Ich habe in kleineren Städten vorzügliche Männer- und gemischte Chöre gehört, und das überhaupt schwer zu beweisende Frisia non cantat ist sicherlich nicht auf die gesangeslustigen Bewohner des lachenden Flanderns auszudehnen. Die erwähnten Vorträge werden fast ausnahmslos in ziemlich bedeutenden Auflagen gedruckt und unentgeltlich unter Allen, die sie lesen wollen oder – können, verbreitet.
Als ich vor einiger Zeit dem Centralvorstand des Vereins die Mittheilung machte, daß ich von der Redaction der „Gartenlaube“ beauftragt sei, den Stammgenossen in Deutschland über den Willemsfonds zu berichten, überraschte mich der Dichter Julius Vuylsteke, der Secretär des Centralvorstandes, durch Uebersendung einer vollständigen Sammlung dieser Vorträge. Es finden sich treffliche Arbeiten in der weit über hundert Heftchen zählenden Sammlung: eine ganze Culturgeschichte des urgermanischen Landes, manche verherrlichende Darstellung der Ereignisse vaterländischer Gedenktage von der Schlacht der „goldenen Sporen“ bis Waterloo, manches interessante Lebensbild von Männern, welche ihr Genie, ihre Kraft, ihr Leben der Sache des vlamischen Volksthums geweiht haben im Kampf gegen Welschthum und „Römischgesinntheit“, wie Breydel und de Koningk, Marnix von St. Aldegonde, die Artevelde, Oranien, der große Schweiger und Andere. Auch mancher Dichter, Künstler und Forscher wird uns in anziehender Weise vorgeführt, während zahlreiche andere Beiträge sich mit Sprache und Volkspoesie, mit dem Gegensatze germanischen und romanischen Volksthums, mit Fragen nationaler Beziehung und Wissenschaft, mit archivalischen Darlegungen der alten Gerechtsame und Institutionen der ebenso klugen und betriebsamen, wie mannhaften Vorfahren aus der Blüthezeit Flanderns, den Sitten, Gebräuchen und Erzeugnissen der großen Vergangenheit beschäftigen. Aber auch die Ereignisse, Thaten und wissenschaftlichen Ergebnisse der Gegenwart finden eingehende Berücksichtigung. So sucht dieser thätige Verein nach allen Seiten hin Licht zu verbreiten und das Nationalgefühl zu wecken. Selbst jedes der Programme für die oben erwähnten Concerte und Vorträge ist mit einigen Gedichten, Sentenzen oder historischen Daten bedruckt.
Aber man würde die Thätigkeit dieses Vereins sehr unterschätzen, wenn man annehmen wollte, sie sei damit erschöpft. „Ohne Ausschließung aller anderen Maßregeln, die zu den dem Verein vorgesteckten Zielen führen,“ heißt es in den allgemeinen „Grondslagen“, „wird den Vorstandsmitgliedern des Willemsfonds namentlich Folgendes an’s Herz gelegt:
Was erstens das Studium und den Gebrauch der vlamischen Sprache anbetrifft, so sollen aus dem Willemsfonds unterstützt oder prämiirt werden: Studirende und Schüler mittlerer und höherer Lehranstalten, welche sich mit Vorliebe dem Studium der Muttersprache hingeben; Zöglinge aus dem wallonische Gebiete, welche sich durch Erlernung des Vlamischen auszeichnen; Verfasser solcher niederländischer (vlamischer) Schriften, welche von der königlich belgischen Akademie der Wissenschaften oder von anderen gelehrten Gesellschaften gekrönt sind; Zeichner und Kupferstecher, welche am meisten dazu beigetragen haben, Werke niederländischer Maler durch Nachbildungen populär zu machen; tüchtige vlamische Schauspieler; Zeitungen, welche sich als die muthigsten und redlichsten Vertheidiger der Muttersprache bewährt haben.“
Was zweitens die verstandesmäßige und sittliche Entwickelung der vlamischen Bevölkerung anbetrifft, so ist es die Aufgabe des Vereins, möglichst oft und an möglichst vielen Orten Vorträge der oben geschilderten Art zu veranstalten, nützliche Werke anzukaufen [401] und zu verbreiten, sowie die Uebersetzung der besten Volksbücher aus fremden Sprachen zu veranlassen, überall, selbst in den kleinsten Orten, Volksbibliotheken zu unentgeltlichem Gebrauche einzurichten, den Volksgesang, die nationale Musik sowie endlich das vlamische Theater nach Kräften zu fördern, überhaupt alles zu thun, was irgend zur Hebung und Volksbildung beitragen kann.
Die ausführlichen Berichte der einzelnen Abtheilungen beweisen, daß nach allen hier bezeichneten Richtungen hin wirklich Bedeutendes geleistet wird. In Gent wurde, um nur ein Factum anzuführen, in einem Jahre aus den Volksbibliotheken gegen 70,000 Bücher ausgeliehen. Zahllose Petitionen, die natürlich der Unterschrift der Mitglieder, sowie ihrer politische Freunde sicher waren, sind aus dem Schooße des Vereins hervorgegangen, und Schritt für Schritt hat man die alten Rechte wieder zu gewinnen, drückende, das Volksthum Flanderns schädigende Mißbräuche abzustellen gewußt. Sein Hauptaugenmerk richtet gegenwärtig der Verein auf die Schulen, welche bisher entweder ganz französirt waren, oder in den Händen des römisch gesinnten Clerus das Gegentheil von dem anstrebten, was die Volksschule leisten soll.
Ist ein Gesetz zu Gunsten des germanischen Volksthums oder der religiösen Freiheit mit großer Mühe durchgebracht, so beginnt erst recht die Arbeit des Willemsfonds. So ist seit der endlichen Annahme der Sprachgesetznovelle, welche den berechtigten Ansprüchen der Vlamingen gerecht wird, mit der ganzen dem niederdeutschen Stamm eigenen Zähigkeit darauf hingewirkt worden, daß dies segensreiche Gesetz nicht blos auf dem Papier bleibt. So wurden gleich im vorigen Jahre an geeignete Persönlichkeiten jedes vlamischen Ortes Fragebogen gesandt, aus deren Beantwortung sich ein genaues statistisches Ergebniß ziehen läßt, wie viele Richter, Advocaten, Civilstandsbeamte oder sonstige Behörden und mit den Behörden in Berührung kommende Parteien im amtlichen Verkehr sich, den neuen Bestimmungen nach, der vlamischen Sprache wirklich bedient haben oder überhaupt sich derselben zu bedienen im Stande sind. Keine Verabsäumung der Pflichten gegen die geliebte, so lange gefährdete Muttersprache entgeht dem Scharfblick des thätigen und leistungsfähigen Vereins, der die bedeutendsten Geister des Stammes in sich vereinigt.
In ähnlicher Weise wirken auf das Segensreichste außer dem Willemsfonds noch die „Mertens-Vereeniging“, „de Olijftak“ (Oelzweig), der „Van Maerlants-Kring“, der Verein der „Geuzen“, sowie die zahlreichen „Tooneel- (Schauspiel-) Kringen“.
Die Clericalen, welche ja überall feine Fühlhörner haben, sind bald auf die Gefahr aufmerksam geworden, welche ihnen von dieser Seite droht. Als Kanzel, Beichtstuhl und Caplanpresse mit Himmel und Hölle, Fegefeuer und Bannstrahl nicht mehr ausreichten, der so naturgemäßen und deshalb stets wachsenden Bewegung einen Damm entgegenzusetzen, wurde im Schooß der schwarzen Alma mater von Löwen ein Verein gegründet, der dem „Willemsfonds“ entgegenwirken sollte: der „Davidsfonds“. Während nun die freisinnigen Vlamingen instinctiv alles aufbieten, die fast nur durch eine abweichende Orthographie gestörte Spracheinheit zwischen Nordniederländern (Holländern) und Südniederländern (Vlamingen) wieder herzustellen und das Unheil und Unrecht, welches die Revolution von 1830 über das belgische Germanenthum gebracht hat, wieder gut zu machen, sucht der „Davidsfonds“ mit allen Mitteln die Kluft zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden zu vertiefen.
Was gelten der geschworenen Miliz Roms Dinge wie Abstammung und Stammverwandtschaft! Aber schon lange vermögen ihre papierenen Mauern dem frischen scharfen Hauche, der herüber und hinüber weht, nicht mehr Stand zu halten. Im Ganzen hat die schwarze Schaar sich die Organisation des „Willemsfonds“ zum Muster genommen, nur daß der Zweck überall der diametral entgegensetzte ist. Die Männer, welche im freisinnigen Lager als Heroen geehrt werden, von Breydel und Koningk und den Geusen an bis auf Willems, van Soust de Borckenfeldt, Hansen, Hoste Sabte, Hiel, Vuylsteke und wie sie alle heißen, die rührigen und beredten Stimmführer der vlamischen Bewegung, müssen natürlich von den Werkzeugen der bischöflichen Allmacht in den Staub gezogen, Menschenfeinde wie Philipp der Zweite und Alba in den Himmel gehoben und zahlreiche andere notorische Mohren hübsch weiß gewaschen werden.
Die Vorträge der Redner des „Davidsfonds“ pflegen erst einer Art von Censur unterworfen zu werden, in den Bibliotheken des Vereins schimmelt die literarische Klosterwaare, in den Schulen, wie er sie stiftet, sollen Männer wie Mainbode und Duchesne oder wie die berüchtigten Stokslagers der Genter Prügelprocessionen gezogen werden, die von ihm herausgegebenen und colportirten „Volksschriften“ verbreiten den plumpsten Aberglauben und predigen den giftigsten Fanatismus; selbst den „Rederijkkammern“, jenen altehrwürdigen Ueberbleibseln aus Zeiten regeren Geisteslebens, ward der Krieg erklärt, weil sie die Hüterinnen der Muttersprache waren. Allein alle diese Anstrengungen sind fruchtlos und werden es bleiben gegenüber der stätigen Geistesarbeit der Männer des „Willemsfonds“, von denen wir vielleicht für unser deutsches Parteileben manches lernen könnten.
Clotilde.
Novelle von L. Herbst.
(Fortsetzung.)
Tagelang ging die alte Hanna sorgenvoll umher. So oft sie an das Bett ihrer Herrin trat, fand sie diese mit geschlossenen Augen theilnahmlos daliegend; mitunter flossen Thränen über die blassen Wangen. Aber Clotilde redete nicht, und nur auf viele Bitten nahm sie etwas Nahrung. Einen Arzt zu Rathe zu ziehen, verweigerte sie durchaus.
Als Hanna am Morgen des dritten Tages leise und mit kummervoller Miene in das Schlafgemach der Kranken trat, blieb sie überrascht auf der Schwelle stehen. Clotilde saß angekleidet am offenen Fenster und hielt lesend ein Buch in der Hand.
Die schönen dunklen Augen blickte noch matt und von Schwermuth auf; aber mit freundlichem Lächeln streckte sie Hanna die Hand entgegen.
„Ich habe Dir Sorge gemacht, Alte, doch nun ist’s überstanden. – Gieb mir zu essen; ich muß mich stärken, denn Du weißt, morgen beginne ich wieder den Unterricht.“
„Unmöglich, gnädige Frau!“
„Unmöglich? Und warum?“
„Nun, wir müssen doch erst wieder aus anderen Augen schaun. Mit so weißen Backen thut sich die schwere Arbeit nicht!“
„Sei unbesorgt, Hanna; Thätigkeit eben ist die beste Arznei für mich. Ich könnte lange müßig daliegen, ohne daß Du mich dabei gedeihen sähest. Aber heute darfst Du mich nach Herzenslust pflegen und dafür sorgen, daß mir Niemand meine Ruhe stört.“ –
So begann Clotilde mit Heldenmuth ihr altes Leben von Neuem. Ihre vielseitigen Talente und Kenntnisse benutzend, gab sie mannigfachen Unterricht, und eben die Abwechselung machte ihr diese anstrengende Thätigkeit interessant und angenehm. Wie Balsam auf ihr Herz wirkte zugleich die Liebe und Anhänglichkeit ihrer großen und kleinen Schülerinnen, die mit fast schwärmerischer Verehrung zu der holden, sanften Lehrerin aufsahen.
Nach einem besonders schweren Tage sank Clotilde erschöpft in ihren Lehnstuhl vor dem Arbeitstischchen und gönnte sich einen Augenblick der Ruhe. Doch einen kurzen nur; denn schon griffen ihre fleißigen Hände nach neuer Thätigkeit. Sie arbeitete ein warmes Tuch für ihre Hanna, die sich gegen jede Geldbelohnung für ihre treue Dienstleistungen unerbittlich wehrte.
Die Alte blickte in die Thür und meldete mit aufgeregten Augen den Besuch des Herrn Leonhard. Clotilde sprang überrascht auf.
„Er hier?“ fragte sie erschreckt. „Was kann er wollen? Führe ihn herein!“ sagte sie und seufzte.
In Leonhard’s kaltem Gesicht wechselte die Farbe, wie in dem ihren, als er vor sie trat.
[402] „Welche Ueberraschung!“ sagte Clotilde, während er sie schweigend betrachtete. „Ich hoffe, daß Dich nichts Betrübendes herführt.“
„Ich komme in der besten und reinsten Absicht!“ erwiderte er in seiner gemessenen Weise. Doch die unverkennbare Erregung in seiner Stimme und der durchdringende Ausdruck seiner Augen machten Clotilde’s Herz angstvoll schlagen.
„Setze Dich, Leonhard!“ bat sie und suchte gleichfalls für ihre bebenden Glieder einen Ruheplatz.
„Der Zufall,“ sagte Leonhard nach kurzem Räuspern, „hat mich gestern mit dem mutmaßlichen Inhalt von Deines Mannes Brief bekannt gemacht, der Dich vor drei Wochen so unerklärlich übereilt von uns forttrieb.“
Clotilde erbleichte mehr und mehr, und ihre zitternden Lippen verriethen keine Neigung zu einer Erwiderung. Leonhard schwieg ebenfalls und erwartete beharrlich, was sie entgegnen werde. Sein rücksichtsloses Benehmen empörte Clotilde und gab ihr die verlorene Fassung wieder.
„Und Du konntest es mir nicht ersparen, über einen Gegenstand zu reden, über den ich, wie Du fühlen mußtest, am liebsten schwieg?“
Die edle, sanfte Würde, mit der sie diese Frage an ihn richtete, schien ihn zu verwirren: er machte eine hastige Bewegung mit dem langen Oberkörper und streckte die über einander gelegten Füße von sich. Endlich erhob er den Kopf und sah seiner Cousine mit Bewunderung in die Augen.
„Clotilde,“ sagte er weicher als gewöhnlich, „hättest Du mir von jeher mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen, hättest Du meine Empfindungen für Dich nicht stets verkannt, so brauchte ich Dir jetzt nicht zu sagen, daß mich nur innigstes Mitgefühl zu Dir hergetrieben hat.“
Clotilde machte eine ungeduldige Bewegung.
„Ich bitte Dich, höre mich ruhig an! Du weißt, ich mißbilligte Deine Wahl – rege Dich nicht auf, laß mich ausreden – ich bitte. Wenn ich Dir auch meine Meinung darüber nicht vorenthielt, so wagte ich aus übel angebrachtem Zartgefühl dennoch nicht, mit vollster Ueberredung in Dich zu dringen –“
„Es hätte Dir auch nichts genützt,“ fiel sie ihm in’s Wort.
„Mich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen, hatte ich allerdings Gelegenheit genug. Und dennoch bereue ich heute bitter, daß ich damals nicht das Aeußerste versuchte. Ich hätte Dir eine Kränkung, eine Beschämung erspart, die Deine hingebende Liebe nicht verdiente.“
Clotilde hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt. Ueber ihr Gesicht ging ein fliegendes Roth, und aus den geschlossenen Augenlidern perlte Thräne um Thräne.
„Du wirst mir heute sicher nicht mehr widersprechen“, fuhr Leonhard fort, „wenn ich behaupte, daß Dein Gemahl ein Elender ist.“
Sie fuhr entsetzt empor.
„Leonhard, schweig’! Ich kann von keines Menschen Lippen in solchen Ausdrücken über ihn reden hören. Rudolph ist für mich todt. Ich beweine ihn wie einen Verstorbenen, und daher werde ich niemals dulden, daß man ihn vor meinen Ohren schmäht.“
Leonhard sah sie mit dem Ausdruck des größten Erstaunens an; er wußte lange kein Wort zu finden, und als er sich erhob, stand auch sie mechanisch von ihrem Sitze auf.
„Bevor ich Dich verlasse,“ sagte er jetzt in erregtem Tone, „habe ich noch eine Frage von Deinem Oheim an Dich zu richten. Er wünscht zu wissen – aus väterlichem Interesse – ob Du Deine Einwilligung zu der Scheidung von Deinem Manne gegeben hast.“
„Ehe ich antworte,“ sagte sie mit Anstrengung, „bitte ich Dich, mir zu erklären, wie ihr diese Dinge erfahren habt, von denen ich glaubte, daß sie noch tiefes Geheimniß seien.“
„Durch einen Zufall, wie ich Dir schon sagte; oder vielmehr durch die vertrauliche Mittheilung des Dir sehr wohlbekannten jungen Doctor Solms. Er hat sich vor einiger Zeit in einer kleinen Stadt Hannovers niedergelassen in deren Nähe die großen Erbbesitzungen der Frau von Dunker belegen sind, um die es sich ja handelt. Als er vor einer Woche als Arzt zu der Gnädigen hinausberufen wurde, kannte er schon einige Einzelheiten ihres vielbewegten Lebens – die Dir vielleicht noch neu sein dürften,“ setzte Leonhard mit äußerer Ruhe hinzu. „Die junge Dame, die von sehr leichtem Blut, aber überraschender Schönheit sein soll, hatte sich aus Trotz gegen den Willen ihres Vaters von einem sehr leichtsinnigen Officier, einem berüchtigten Spieler, entführen lassen und war, nach heimlicher Trauung in England, mit ihm nach Amerika gegangen. Dort wurde der junge Ehemann schon im ersten Jahre beim falschen Spiel ertappt und von einem jähzornigen Partner auf der Stelle im Duell erschossen. Die trauernde Wittwe erhielt fast unmittelbar nach dem Verlust ihres Gatten die Nachricht, daß ihr Vater in Deutschland gestorben sei, nachdem er sie testamentarisch enterbt und alle seine Besitzungen an einen Seitenverwandten vermacht hatte. Selbstverständlich legte die junge Frau Protest ein, und ihr amerikanischer Advocat begehrte eine Abschrift des unglücklichen Testaments. Seine zufällige Bekanntschaft mit einem deutschen Juristen veranlaßte den Amerikaner, ihn in dieser Angelegenheit zu Rathe zu ziehen. Der ungewöhnlichen Schlauheit des jungen Deutschen gelang es, zu Gunsten der schönen Wittwe – mit der er unterdessen auch persönlich bekannt geworden war – endlich die Umstoßung des Testamentes zu erwirken. Als die junge, reiche Erbin nun nach Deutschland zurückkehrte, nahm sie dankbar den unter dem Druck der Armuth lebenden jungen Deutschen als juristischen Verwalter ihres Vermögens mit. Ja, sie war sogar soweit gegangen, den jungen Mann schon unterwegs mit dem Versprechen ihrer Hand zu beglücken. – Doctor Solms war natürlich sehr gespannt, das vielbesprochen Paar kennen zu lernen, dessen Hochzeit, wie es schien, nahe bevorstand. …“
Leonhard hatte, während er erzählte, die Augen unverwandt auf das arme junge Weib gerichtet, die unter der Mittheilung dieser ihr nur theilweise bekannten Einzelheiten martervolle Qualen erduldete. Aber kein Laut, keine Bewegung verrieth, was sie litt.
„Du kannst Dir nun die Ueberraschung von Solms vorstellen, als er in dem glücklichen Bräutigam, der ihm hier unter einem neuen Namen vorgestellt wurde, den Gemahl seiner schönen Jugendgespielin erkannte. – Er begrüßte ihn als Landsmann ohne in Gegenwart der Dame seine Verhältnisse berühren zu wollen, aber der Schreck des jungen Herrn, als er hier unerwartet einen Bekannten traf, war so deutlich auf seinem verstörten Gesicht zu lesen, daß er auch den Augen seiner Geliebten nicht entgehen konnte. Nachdem Rudolph von Brauneck,“ Leonhard sprach den Namen mit erhobener Stimme, „in unverkennbarer Verwirrung das Zimmer verlassen hatte, fragte Frau von Dunker unsern Freund:
‚Sie sind aus früheren Zeiten mit meinem Verlobten bekannt?’
Und Solms erwiderte:
‚Ich hatte die Ehre, auf seiner Hochzeit zu tanzen.’
‚Auf seiner Hochzeit?’ kreischte die Dame. ‚Er war verheirathet?’
‚So viel ich weiß, lebt seine Frau heute noch und erwartet mit Sehnsucht seine Rückkehr,’ entgegnete Solms.
Da gab es denn für den Arzt genug zu thun. Krämpfe und Ohnmachten wechselten mit einander ab. Doch den Helden des Tages sah Freund Solms nicht wieder. Dagegen erhielt er wenige Tage darauf von der gnädigen Frau ein verbindliches Schreiben, in welchem sie ihm mittheilte, ihr Verlobter habe schon bei der Rückkehr aus Amerika, von England aus, eine Scheidung von seiner Frau angebahnt, welche Mittheilung er ihr aus Zartgefühl erst nach vollendeter Thatsache habe machen wollen etc.. Von einem Verzicht ihrerseits auf ihren Verlobten war nicht im Geringsten die Rede.“ –
Als Clotilde noch immer unbeweglich und schweigend vor sich hinsah, entschloß Leonhard sich noch einmal zu der Frage: „Und welche Antwort soll ich nun meinem Vater sagen?“
Clotilde erhob langsam den Kopf, als erwache sie aus tiefem Traume, und sagte mit klangloser Stimme: „Ich gab meine Einwilligung zu einer Scheidung schon wenige Tage nach meiner Rückkehr von Euch. Aber auf Rudolph’s Bitte, daß ich eine Scheidung beantragen möge, bin ich nicht eingegangen; und dazu werde ich mich nie verstehen. Ich habe ihm am Altar gelobt,“ fuhr sie mit zitternden Lippen fort, „ihm treu zu bleiben, bis der Tod uns scheidet, und niemals werde ich einen Schritt dazu thun, um eine Trennung von ihm einzuleiten. Doch wird mir auf seine Veranlassung eine Scheidungsacte vorgelegt, so werde [403] ich sie mit fester Hand unterschreiben. Und nun – wünsche ich ein Ende dieses traurigen Gespräches,“ setzte sie mit matter Stimme hinzu. „Sage Deinem Vater, ich sei zufrieden mit meinem neuen Berufe und harre geduldig aus, bis Gott mich abrufen werde –“
„Dieses traurige Wort soll ich dem alten Manne überbringen, und weiter nichts?“
„Was kann er Besseres für mich wünschen, Leonhard?“
„Du kennst seinen Wunsch, Clotilde. Er möchte Dich wieder um sich haben, wie in früheren Tagen; von Deiner töchterlichen Hand gepflegt sein – das würde ihm seinen Lebensabend erhellen.“
„Du irrst, Leonhard,“ sagte sie mit Wehmuth; „ich bin die Clotilde von ehemals nicht mehr. Meine Gegenwart würde ihn nur noch trüber stimmen. Und was mich betrifft – ich kann nur in unausgesetzter Thätigkeit das Leben ertragen.“
Leonhard hatte sich ihr um einen Schritt genähert und ergriff ihre Hand. Seine Augen blitzten leidenschaftlich, als er das junge Weib betrachtete, das er niemals so schön gesehen, wie in dieser sanften Trauer.
„Meine theure Clotilde,“ sagte er so innig, daß es sie erschreckte, „es ist unmöglich, daß Du Dein junges Leben hier unter Anstrengung und Entbehrungen vertrauerst. Mach’ ein Ende mit dem alten Leben! Leite Du die Scheidung ein! Ihm wird es nie gelingen, da ja nur auf seiner Seite die Untreue ist. …“
„Leonhard, was redest Du?“ rief Clotilde unwillig. „Ich sollte mit meiner Feder eine Anklage gegen ihn erheben, sollte schwarz auf weiß den Wunsch aussprechen, meinen heiligen Bund mit ihm zu lösen? Nimmermehr!“
„Erlaube mir! Vorhin sagtest Du doch, daß Du mit fester Hand eine Scheidungsacte unterschreiben würdest, die man Dir auf seine Veranlassung vorlegte. Ist das nicht im Grunde ganz dasselbe? Ebenfalls eine Auflösung dieses unglücklichen Bündnisses?“
„Nach meiner Empfindung wäre es für mich nicht dasselbe, und ich werde nur meinen eigenen Gefühlen folgen. Doch laß’ uns jetzt davon schweigen Leonhard! Ich kann nicht mehr.“
„Nur noch ein Wort, Clotilde!“ bat er mit Leidenschaft und ergriff ihre beiden Hände, die sie ihm vergebens zu entziehen strebte. „Ich habe einmal geschwiegen als es Zeit war, zu reden, und die Reue darüber verfolgt mich Jahre lang. Diese Stunde will ich besser nutzen – Clotilde, seit meinen Knabenjahren[1] habe ich Dich geliebt. Du warst das theuerste Wesen, das ich kannte. Dich mein Weib zu nennen war mein höchster Wunsch. – Doch ich schwieg aus Feigheit. Ein Anderer kam – ein Gleißner, ein Heuchler! Seiner glatten Zunge gelang es, mein Kleinod zu gewinnen.“
„Halt ein!“ rief Clotilde in wachsender Angst. „Du vergissest, Leonhard, daß ich Rudolph liebte.“
„O, ich sah es, Clotilde,“ sagte er vor Leidenschaft bebend, „und darum schwieg ich. Aber jetzt, jetzt, wo er Dir gezeigt hat, daß er Deiner Liebe unwerth war, jetzt darf ich reden. Heute darf ich sagen: Löse Dich von dem Unwürdigen und werde mein! Mit meiner grenzenlosen Liebe will ich Dich Dein Leid und Deine Kränkung vergessen machen. Auf diesen meinen treuen Händen will ich Dich durch’s Leben tragen.“
„Um Gottes willen,“ rief sie in Verzweiflung, „wie kommt Dir dieser unfaßbare Gedanke? – Ich eines Andern Weib! – Dein Weib! – O, es ist undenkbar. – Höre mich, Leonhard,“ sagte sie ruhiger, als er erbleichend zurücktrat. „Ich habe Dir vergeben, Alles vergeben, was Du mir Leides gethan. Um der Erinnerung willen an meine Kindheit, wo Du mir ein guter, liebevoller Bruder warst, will ich Alles vergessen und freundlich an Dich denken. Aber Dein Weib werden – niemals!“
„Clotilde,“ sagte Leonhard und richtete sich stolz und kalt vor ihr auf, „ist das Dein letztes Wort?“
„Mein letztes, Leonhard! Nur um Eines will ich bitten, daß Ihr für die Erdentage, die mir noch bestimmt sind, mich meinem Schmerz überlaßt. Er ist so groß, daß er mein ganzes Herz ausfüllt.“
„Du hast es so gewollt,“ sagte er und maß die trauernde junge Gestalt, die so voll Adel vor ihm stand, mit kalten Blicken. „So leb’ denn wohl!“
„Leb’ wohl, Leonhard!“
Er wandte sich ab und stürzte zur Thür hinaus.
Kaum empfand Clotilde den Segen der Einsamkeit, kaum begann ihr lebhaft erregtes Herz sich unter der Kraft ihres Willens zu beruhigen, als ein Klopfen an der Thür sie erschreckte.
Wo mag Hanna sein? dachte die arme Erschöpfte. Vielleicht schon in die Stadt auf Besorgungen – –
Sie sah sich genöthigt, selber zu öffnen. Ueberrascht trat sie zurück, als sie eine blendend schöne junge Dame in sehr reicher, aber etwas geschmacklos überladener Kleidung draußen wartend fand.
„Komme ich hier recht?“ fragte die Fremde in verbindlicher, doch gezierter Weise. „Ich wünsche Frau von Brauneck zu sprechen. Pardon, ich schellte vergebens nach den Domestiken!“
„Meine alte Wärterin wird zu dieser Stunde keinen Besuch mehr erwartet haben und ist ausgegangen,“ entgegnete Clotilde kühl, während sie durch eine vornehme Handbewegung zum Eintreten einlud.
„Allerdings muß ich für die späte Stunde um Verzeihung bitten,“ sagte die Dame hereinrauschend und die Gestalt der jungen Frau im einfachen Trauerkleide vom Kopf bis zu den Füßen betrachtend. Dann glitten ihre großen, sehr lebhaften blauen Augen blitzartig über die bescheidene Einrichtung von Clotildens Zimmer. Sie mochte in Gedanken ihre eigenen eleganten Räume damit vergleichen; denn sie warf unwillkürlich ihren mit blonden Flechten überladenen Kopf leicht in den Nacken.
„Ich bin nur auf wenige Stunden hier in Dresden,“ fuhr sie fort, „das wird mein spätes Kommen vielleicht entschuldigen, gnädige Frau. Mein Name ist ‚Frau von Dunker’.“
Clotilde hatte die Empfindung, als ob sie einen Stich in’s Herz bekäme, doch wußte sie ihre ruhige Haltung zu bewahren. Mit einer zweiten Handbewegung lud sie zum Sitzen ein und nahm der Fremden gegenüber Platz.
„Und was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
„Ich komme in einer sehr delicaten Angelegenheit,“ erwiderte Frau von Dunker und senkte ihre Augenlider mit mädchenhafter Verschämtheit, während sie ihren kleinen rosigen Mund in die zierlichste Form brachte. „Wir haben das Unglück, gnädige Frau,“ setzte sie mit einem schwärmerischen Augenaufschlag hinzu, „Beide denselben Mann zu lieben. Es kommt nur darauf an, wer von uns ihn am meisten liebt.“
„Sprechen Sie von meinem Mann, von Herrn von Brauneck?“ fragte Clotilde, der vor Empörung das Herz laut zu klopfen begann.
„Gewiß, gewiß, gnädige Frau – Sie errathen. Ich spreche von ihm.“
„Frau von Dunker, meinen Mann habe ich geliebt. Wie sehr, darüber wird er selbst am besten urtheilen können. Jetzt liebe ich ihn nicht mehr.“
Clotilde sprach dies mit sanfter erhobener Stimme und mit der edlen Würde, die ihr so eigen war. Einen Augenblick war die Fremde davon betroffen, doch faßte sie sich schnell.
„Sehen Sie, sehen Sie,“ sagte sie lebhaft, „Gerade so hatte ich mir Ihre Antwort gedacht. Es ist unmöglich, daß eine Frau noch lieben kann, wenn sie sieht, daß die Neigung des Mannes einer Anderen gehört. – Ich wußte es wohl, wir würden uns leicht verständigen, wenn ich mich persönlich mit Ihnen aussprechen könnte. Deshalb sehen Sie mich hier.“
„Ich würde unsere persönliche Bekanntschaft nicht für unumgänglich nöthig erachtet haben –“
„Doch, doch!“ entgegnete die Fremde hastig. „Es bedarf doch zwischen uns eines gründlichen Aussprechens.“
„Daß ich nicht wüßte.“
Im grellen Gegensatze zu dem malerischen, reich mit Wald geschmückten Küstengebirge von Puerto Caballo, Carácas und Paria im äußersten Osten, bietet die nordwestliche Küste Venezuelas einen öden Anblick dar. Wenn man, von Wind und Strömung begünstigt, in den fast immer wogenden Golf von Maracaibo hineinsteuert, erblickt das Auge zu beiden Seiten nur flaches Land, aus dessen sandigem Boden sich hier und da einzelne niedrige Bergzüge und Hügel erheben.
Der Golf von Maracaibo wird durch zwei nach Norden gerichtete Halbinseln, im Westen die Heimath der wilden und bis heute noch unabhängigen Goajiro-Indianer, und im Osten durch Paraguaná und einen Theil der Küste von Coro gebildet. Riesige Sandbänke, welche die von den Seeleuten gefürchtete Barra bilden, machen die Einfahrt am südlichen Ende des Golfes in den See ohne Lootsen zu einer nicht ungefährlichen. Noch weit gefährlicher ist das Auslaufen der Schiffe, weil sie zugleich gegen den Wind segeln müssen; Fahrzeuge, welche nicht über zehn Fuß Tiefgang hatten, haben hier auf den Sandbänken oft ihr Ende gefunden, und ich selbst habe ein solches Unglück auf der Barra erlebt. Wir mußten das festgelaufene Schiff verlassen, und nach wenigen Tagen war es durch die zerstörende Kraft der Wogen verschwunden. Nur kleine Dampfer, besonders die der „Hamburg-Amerikanischen Packet-Actiengesellschaft“, welche zwischen Maracaibo und Curaçao fahren, gewähren eine vollkommen sichere Ausfahrt.
Auf der ruhigen Fläche des Sees gelangt man in südöstlicher Richtung, an der kleinen, spärlich mit Mangroven bewachsenen Insel Bajo seco vorüber, nach der von den Spaniern gebauten Festung San Carlos, welche an der westlichen Seite auf einer langgestreckten, nur durch einen kleinen Fluß vom Lande getrennten Insel liegt. Südwestlich von San Carlos bildet die mit hohen Mangroven bedeckte Insel Toas einen malerischen Punkt im See. Etwas südöstlich von hier schiebt sich eine Landzunge weit in den See hinein, deren Spitze von einem prächtigen, eine lange Strecke das Ufer schmückenden Cocospalmenhaine Punta de Palmas heißt. Die Strecke von San Carlos bis Punta de Palmas bezeichnet man mit dem Namen Tablazo (von Schlag, Stoß), weil hier wegen der Seichtigkeit des Sees der Kiel der Schiffe oft den schlammigen Grund berührt, sodaß ein langer schmutziggelber Streifen auf dem Wasser den Weg des Fahrzeugs bezeichnet.
Nach etwas mehr als halbtägiger Fahrt erreicht man Maracaibo, das vom Wasser aus einen recht freundlichen Anblick gewährt, obgleich der Stadt jeder landschaftliche Hintergrund fehlt, denn die niedrige wellenförmige Umgebung ist auch hier nur spärlich bewachsen. Der sandige, trockene Boden vermag blos Mimosen- und anderes knorriges Gebüsch, neben Cactusarten und Agaven zu erzeugen; kein höherer, vor der brennenden Tropensonne schützender Baumwuchs bringt Abwechselung in das einförmige Einerlei des Hintergrundes.
Die Anlage der Stadt und die Bau-Art der Häuser, welche einander im Ganzen wunderlich gleich sehen, nur daß sie nach den Außenstädten zu ärmlicher und kleiner werden, ist dieselbe wie überall in Venezuela und bietet in architektonischer Beziehung wenig Fesselndes. Die sandigen Straßen sind nur theilweise mit Trottoirs versehen. Einiges Interesse gewährt der neuerdings schön hergerichtete, mit einem prächtigen Eisengitter umgebene Hauptplatz. Hier steht das Regierungsgebäude, und an einer Ecke die Hauptkirche der Stadt; Blumenbeete, von breiten Wegen durchschnitten, zieren ihn, und in der Mitte, wo früher eine in ihren Verhältnissen verfehlte Bolivarstatue stand (sie hatte nur ungefähr vier bis fünf Kopflängen), breitet sich ein freier Platz aus, auf welchem an den in Maracaibo fast immer schönen Abenden eine farbige Musikbande spielt und zuweilen auch die „Wacht am Rhein“ zum Besten giebt. Am Hafen entlang befinden sich die hervorragendsten Privatgebäude, welche sich durch flache mit Gallerien umgebene Dächer, Stockwerke, Balcone und Miradores, Ausguckthürme, auszeichnen. Hier haben sich zum großen Theil unsere deutschen Landsleute niedergelassen, welche in Maracaibo die ersten Handelshäuser inne haben. Das durch seine hohen Einnahmen für das Land höchst bedeutungsvolle Zollhaus liegt ebenfalls am Hafen. Ihm gegenüber ist eine breite Landungsbrücke wehrdammartig in den Lago hineingebaut, an welcher indeß nur kleinere Schiffe, Küstenfahrer und diejenigen Fahrzeuge, welche sich zwischen den verschiedenen Häfen des Sees hin- und herbewegen, anlegen können, während die größeren Seeschiffe weiter ab von der Stadt, auf der Rhede, vor Anker liegen.
Auf der nur zum kleinen Theil überdachten Landungsbrücke (el Muelle) lernt der deutsche Ankömmling zuerst etwas von dem regen, eigenartigen Treiben einer tropischen Handelsstadt kennen. Eine Menge fast nackter farbiger Arbeiter ist beschäftigt Waaren auszuladen und die Erzeugnisse des Landes zu verschiffen; ganze Mauern von Säcken, mit dem herrlichsten Kaffee gefüllt, sind auf der Brücke aufgebaut; schwerbelastete Boote legen an und gehen ab; hier und da stehen und wandeln, die Verladung beaufsichtigend oder eifrig mit den Zollwächtern verhandelnd, Vertreter der städtischen Handelsfirmen in völlig weißer Kleidung, darunter mancher deutsche Landsmann, den man mit herzlicher Freude unter dem großen Sonnenschirm entdeckt.
Am lebhaftesten geht es hier in den Morgenstunden zu, weil in der Nähe des Muelle, auf dem großen freien Platze zwischen dem Hafen und dem Zollhause, der Markt eine große Menge Menschen zusammenführt. Noch lange aber, bevor das Treiben auf dem Markte beginnt, bei vollständiger Dunkelheit noch, hört man hier schnell auf einander folgende, weithin schallende Schläge, welche nicht daran gewöhnte Menschen, die in den nächsten Häusern noch ihren süßen Morgenschlaf genießen, unbarmherzig wecken: eine ganze Reihe farbiger Waschweiber, welche bis an die Kniee im Wasser stehen, bearbeiten da unten mit Holzstücken und Steinen die ihnen zum Reinigen anvertraute Wäsche. Sobald dann die ersten Strahlen der Morgensonne auf den Marktplatz fallen, beginnt das bunteste Treiben. Boot an Boot, mit den Erzeugnissen des Landes gefüllt, legt sich an den Hafen und wird links von der Landungsbrücke auf den flachen Strand gezogen. Die verschiedenartigsten Menschentypen bewegen sich schreiend und sich unterhaltend durch einander. Neger, Mulatten, Indianer, Zambos, Mestizen etc. sind emsig beschäftigt, ihre Producte auf dem Markte auszubreiten, und in denkbar kürzester Zeit bietet die weite, sandige Marktfläche einen [405] unglaublichen Reichthum tropischer Früchte dar. Kleine Fahrzeuge, eines nach dem andern, schieben sich zwischen die schon gelandeten; ein wahrer Wirrwarr scheint auf dem Wasser zu entstehen, der sich erst löst, wenn endlich alle Verkäufer ihre Erzeugnisse ausgelegt haben. Mit wahrem Entzücken blickt man dann auf die aufgethürmten Massen von goldig-roth schimmernden Orangen, welche neben Gruppen von Ananas und Bananen liegen; unter den letzteren befinden sich so große Trauben, daß sie nur ein kräftiger Mann zu tragen vermag. Auch große Knollengewächse verschiedener Arten fehlen nicht.
Weiterhin, hinter den von Tausenden von Insecten umschwärmten Fleischerständen, hat die Jagd ihren Beitrag geliefert; kleine Hirsche, Hasen, Tauben, Gürtelthiere, Schildkröten und sogar große Eidechsen werden feilgeboten, und eine Menge Fische aus dem See vervollständigen den Küchenbedarf der Maracaiberos. Vortrefflich zubereitete Süßigkeiten von Früchten erregen die Naschlust, wenn sie auch von nicht eben allzu reinlichen Neger- oder Mulattenweibern feilgeboten werden. Hierzu kommen Buden, welche mit den Erzeugnissen einheimischer Industriezweige ausgelegt sind, wie Sandalen oder Alpargátas-Strohhüte, Hängematten u. s. w. Die Früchte werden zum größten Theil vom Zulia, südlich vom See, und vom jenseitigen Ufer nach Maracaibo gebracht, denn die nächste Umgebung der Stadt ist, wie schon bemerkt, im höchsten Grade unfruchtbar.
Die hier zusammenströmenden Menschen, welche mit südländischer Lebhaftigkeit laute Unterhaltungen führen, wobei die beliebten spanischen Kraftausdrücke zuweilen Alles übertönen, würden dem Anthropologen reiches Material liefern. Das größte Interesse aber erregen die aus ihrer Wildniß herbeikommenden [406] Goajiro-Indianer, welche Pferde nach Maracaibo bringen. Diese robusten, breitschulterigen Gestalten, welche meist bis auf die Hüften nackt gehen und auf deren Kopfe ein zwei bis drei Zoll breiter, kunstvoll geflochtener Ring als Stirnband das starke schwarze Haar zusammenhält, bewegen sich schweigsam über den Platz und durch die Straßen, oft von Weibern und Kindern begleitet. Sie ähneln im Gesichtstypus den Indianern des Nordostens von Venezuela, sind aber von Farbe etwas dunkler als beispielsweise die Chaimas von Caripe. Die Frauen tragen in der Stadt ein langes, faltenreich um den Körper fallendes Hemd, welches meist aus buntgestreiftem Kattun besteht; sie bringen ihrerseits recht kunstvoll gearbeitete Hängematten und Strickarbeiten zum Verkauf.
An einer Ecke der Calle de Comercio (Handelsstraße), welche, als die breiteste und bedeutendste Verkehrsstraße der Stadt, auf den Marktplatz mündet und in welcher sich auch die auf dem Bilde (Seite 405) dargestellte deutsche Apotheke befindet, gelang es mir, einen recht charakteristischen Goajiro-Indianer zu portraitiren. Da er kein Spanisch verstand, hatten wir einige Mühe, ihn zum Stillstehen zu bewegen, und erst als wir ihm einen blanken Thaler vorhielten, entschloß er sich zu einer Sitzung. Die ihn begleitenden Frauen und Kinder schienen indeß sehr ungehalten darüber und fingen an zu heulen, weil sie, wie vielfach andere Indianer, glaubten, daß ihnen dadurch Böses geschehen könne. Ich sollte bald bemerken, welche Verantwortung ich durch mein Vorhaben auf mich gezogen hatte, denn bald rückten Zuschauer zu Pferde, zu Esel und zu Fuß heran, und ich wurde von allen Seiten umdrängt, ja es kam so weit, daß der Polizeichef einige Soldaten herbei zog, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Ich nahm mir nach gethaner Arbeit vor, keine künstlerischen Studien mehr in den Straßen zu machen.
Von welcher Bedeutung Maracaibo, obgleich nur Stapelplatz, für den Handel ist, lehrt ein Blick auf das Treiben im Hafen. Deutlicher noch sprechen die Ziffern der Statistik. Im Jahre 1877 betrug der Export Maracaibos, nach Angabe eines Freundes, welcher dort eines der ersten Handelshäuser besitzt, 742 Sacos (zu je 120 Pfund) Cacao, 18,195 Kilogramm Balsam Copaive, 231,820 Sacos Kaffee (zu 130 Pfund), Gelbholz 3,693,827 Kilogramm, Dividivi, Schoten von Lebidibia Coriaria, welche viel Gallussäure und Gerbsäure enthalten, 3,458,371 Kilogramm und Quina 4533 Sacos. Natürlich ist der Handel mancherlei Schwankungen unterworfen, namentlich durch die für das Land zum chronischen Leiden gewordenen Revolutionen.
Ein großer Theil des Handels von Maracaibo befindet sich, wie in allen größeren Städten Venezuelas, in den Händen deutscher Kaufleute; einige dreißig, welche dort ansässig sind, vertheilen sich auf die verschiedenen deutschen Handelshäuser. Ihre Comptoire und Waarenlager liegen in der Calle de Comercio und in zwei Seitenstraßen nahe am Hafen. Während der Geschäftsstunden, von früh sieben Uhr bis Nachmittag fünf Uhr, widmet sich hier Alles mit Eifer und Ernst der Arbeit und besteht dasselbe Verhältniß zwischen Chef und Untergebenen wie hier in Deutschland, außerhalb der Arbeitszeit aber gestaltet sich der Kreis der Deutschen von Maracaibo zu einem echt deutsch-gemüthvollen und macht den Eindruck einer eng zusammenhaltenden Familie. Für die Entbehrung geistiger Genüsse, wie Theater, Musik etc., was alles Maracaibo kaum bietet, schaffen sie sich aus eigener Kraft anerkennenswerthen Ersatz. Seit Jahren schon besteht dort mit trefflichem Erfolge der bei Deutschen im Auslande fast nie fehlende Gesangverein, und oft in später Abendstunde, wenn Maracaibo schon längst in tiefem Schlafe liegt, tönen die herrlichsten deutschen Lieder in die stillen Straßen. Auch die Fahrten in einem großen eleganten Ruderboote, welche die Deutschen an den fast tageshellen Mondscheinabenden ausführen, würzt deutscher Sang, während die kühlende Brise, welche die glitzernde Wasserfläche des Lago leicht bewegt, den Körper stärkt und erfrischt. Uebrigens ist Maracaibo, obschon es zu den am heißesten gelegenen Städten der Erde gehört, doch im Ganzen gesund. Selbst in weitem Umkreise fehlen hier jene Sümpfe und Lachen, welche in verschiedenen Gegenden Venezuelas das Klima so ungesund machen. Den Mangel an Fluß- und Brunnenwasser ersetzen in allen besseren Häusern Cisternen, in denen das Regenwasser für den häuslichen Bedarf angesammelt wird; die weniger bemittelten Bewohner bedienen sich des Wassers aus dem See, welches nur nahe der Barra salzig ist. Vorkommende Fieberfälle, welche den anlangende Ausländer und besonders die nach Maracaibo in Geschäften reisenden Cordillerenbewohner treffen, sind wenig zu fürchten.
Der besuchteste Erholungspunkt ist der Club del Lago, rechts vom Zollhause; hart am See gelegen und von einem durch Cocospalmen beschatteten Garten umgeben, bietet er eine willkommene Badestelle und auch den Hafenplatz für das deutsche Ruderboot. Hier vereinigen sich während der Abende die Deutschen mit ihren venezolanischen Freunden zu heiterer Gesellschaft. Denn von den Eingeborenen werden die Deutschen hochgeschätzt und sind durch manche glückliche Ehe eng mit den eine liebenswürdige Gastfreundschaft übenden Venezolanern verbunden. Der Stadt schräg gegenüber liegen unter einem Cocoshaine die „Haticos“, Sommerfrischen der Maracaiberos, und hier haben auch die deutschen Kaufherren ihre luftigen Landhäuser, welche sie gern mit Blumengärten umgeben möchten, wenn der sandige Boden es gestattete. Eine große Zahl Badehäuser sind in den Lago gebaut und durch lange Brücken mit dem Lande verbunden. Besonders Sonntags herrscht hier ein heiteres Treiben. Schon vor Sonnenaufgang ertönt oft ein deutsches Lied als Morgengruß; die lieben heimathlichen Klänge wecken die noch schlummernden Familien, und bald öffnen sich Fenster und Thüren und füllen sich mit freudig überraschten Gesichtern. Eine heitere Morgenwanderung durch den Ort beginnt; die Familienmitglieder schließen sich den früh von der Stadt herübergekommenen jungen Deutschen an, und von Nachbar zu Nachbar ertönen von Neuem heitere Lieder. Sobald dann die Morgensonne die stolzen Kronen der Cocospalmen beleuchtet, erhöht sich der Verkehr im Orte. Auf leichtbeweglichen Goajiro-Pferden springen elegante Reiter herein, als Begleiter dunkeläugiger und graziöser Creolinnen, welche mit großer Geschicklichkeit ihre Pferde führen, spanisch und deutsch tönt es grüßend durcheinander; ein Plauderstündchen folgt, bis die Tropensonne schon ziemlich hoch gestiegen ist; dann wird es ruhiger unter den Palmen, aber lebhafter in den freundlichen, ganz dem Klima entsprechenden Räumen der Häuser; man versammelt sich zu heiterer Frühstücksrunde, nach welcher eine Siesta in der Hängematte folgt, und am späten Nachmittag belebt sich wiederum die Scene wie am Morgen. Zwischen der Stadt und den Haticos findet ein lebhafter Verkehr zu Wasser statt, welchen die zur Ueberfahrt etwa zehn bis fünfzehn Minuten gebrauchenden Boote vermitteln.
Interessant ist auch eine Tour in der entgegengesetzten Richtung, einige Stunden nördlich von der Stadt nach Santa Rosa und Capitan Chico, wo sich eine Reihe von Pfahlbauten der halbcivilisirten Goajiros befinden. Sobald deren Bewohner Leute zu Pferde am Ufer bemerken, kommen sie mit ihre langen, aus Baumstämmen gehauenen Booten von ihren über dem See gleichsam schwebenden Hütten herüber und führen die Besucher ihren Familien gegen ein Trinkgeld zu. Das Wasser ist hier seicht, sodaß die Goajiros die schwer beladenen Boote, indem sie hinter denselben hergehen, vorwärts schieben müssen. Die meisten Hütten sind mit Stegen verbunden. Sobald die Gäste mühsam an den mit stufenartigen Einschnitten versehenen Baumstämmen emporgeklettert sind, eilen die Nachbarn, Männer, Weiber und Kinder herbei, und der sehr saubere innere Raum der Hütte bietet bald ein höchst interessantes Bild. Wir nehmen auf den Matten kauernd Platz, und nun beginnt eine lebhafte Unterhaltung mit den jungen Indianerinnen, wobei es sich hauptsächlich um kleine Geschenke handelt. Diese spanischsprechenden Indianerfamilien kennen den Werth des Geldes schon mehr als genügend; auch haben sie sich nicht ganz ungemischt erhalten, wie manches Gesicht unter ihnen deutlich verräth. Pfahlbauten, ähnlich denjenigen auf unserem Bilde (Seite 405), giebt es viele an den Ufern des Sees; sie bilden oft ganze Ortschaften, die besonders bei dunkler Nacht einen höchst eigenthümlichen Anblick gewähren, wenn sich die erleuchteten Hütten in den Fluthen des Sees spiegeln.
Da Maracaibo, wie schon angedeutet, nur Stapelplatz für Aus- und Einfuhrartikel ist, so fühlen sich die Geschäftsleute oft veranlaßt, Reisen nach dem fruchtbaren Innern des Landes zu unternehmen. Die Provinzen Mérida, Trujillo und Tachira, wie auch die Gegend um Cucutá in Columbia, sind die Hauptlieferungs- und Absatzfelder für den Markt in Maracaibo. Der unter den Namen Maracaibo bekannte vorzügliche Kaffee stammt aus jenen Gebirgsregionen südlich und südöstlich vom See. Unsere junge Landsleute werden daher öfter von ihren Chefs nach [407] dem Innern gesandt, um ihre Handelsverbindungen aufzusuchen, neue anzuknüpfen und ausbleibende Zahlungen einzuziehen.
Vom südlichen Ufer des Sees aus führen drei Hauptwege durch die Zulia-Ebene nach dem innern Hochlande. Der Rio Catatumbo, als längster Wasserweg, verbindet die Gegenden um Cucutá mit dem See; einen zweiten, Landweg, betritt man in San Carlos am Rio Escalante, und für den dritten Weg, welcher nach den Provinzen Trujillo und Mérida führt, sind die beiden Hafenplätze Moporo und La Ceiba die Ausgangspunkte.
Kleine Segelschiffe vermitteln die Verbindung zwischen diesen Punkten und Maracaibo; sie erreichen gewöhnlich in vierundzwanzig Stunden ihren Bestimmungsort. Die Schiffe werden von farbigen Eingeborenen geführt, welche mit dem Fahrwasser und auch mit den Launen des Sees sehr vertraut sind. Die oft über den See plötzlich dahinsausenden Chubáscos (schwere mit Regen begleitete Winde) arten zuweilen in gefahrdrohende Stürme aus; sobald dies der Patron des Schiffes erkennt, sucht er schnell eine schützende Bucht zu erreichen und läßt dann unbesorgt das Unwetter über sich dahinbrausen. Uebrigens sind dort auch Wasserhosen keine Seltenheit. Ungeheuere Massen von Mosquitos schweben zuweilen wolkenartig über den See dahin; diese sammeln sich in den ausgedehnten Sümpfen und Wäldern des Zulia und werden dann durch Westwinde hinaus auf den See getrieben.
Nach kurzer Fahrt bis Punta Icotea, bis wohin die beiden Ufer noch eng zusammentreten, gelangen wir plötzlich hinaus auf die weite, meerähnliche Fläche des Sees. Inzwischen hat sich der Tag mit einem prachtvollen Sonnenuntergang verabschiedet und dunkle Nacht umgiebt uns. Da fesselt ein wunderbares Naturschauspiel unsere Blicke: im Süden, über der mit unermeßlichem Urwald bedeckten Zulia-Ebene spielt ein unaufhörliches, furchtbar schönes Wetterleuchten; riesige Feuergarben schießen nach allen Richtungen; ein sich immer wiederholendes Aufzucken leuchtender Strahlen wechselt ab mit momentan vollkommener Dunkelheit, und schreckenerregender Donner dröhnt, Unwetter verkündend, zu uns herüber. Diese sich jede Nacht wiederholenden elektrischen Naturspiele über der sumpf- und wasserreichen Waldregion des Rio Catatumbo erblickt man schon vom Golf von Maracaibo aus, und die Schiffer nennen sie bezeichnend los fuegos del Catatumbo, die Feuer des Catatumbo.
Je mehr wir uns beim Anbruche des Tages dem eine Menge Buchten bildenden südlichen Ufer nähern, desto malerischer tritt uns dasselbe entgegen; an den meisten Stellen bildet mauerartig dichter Urwald einen Pflanzensaum, dessen Artenreichthum und Pracht aller Beschreibung spottet. In den Fluthen des Sees spiegeln sich die majestätischen Urwaldriesen und Palmenkronen. Wir haben während der Fahrt nur wenige Arten von Wasservögeln, Möven, Pelekane, Seeschwalben, und hoch in den Lüften schwebend zuweilen einen Fregattvogel gesehen, und bei Bajo seco hat ein riesiger Kaiman unser Interesse erregt, hier aber tritt uns ein reiches Thierleben entgegen. Schaaren von Papageien, unter denen sich die großen rothen Aras durch ihr Schreien auszeichnen, fliegen über den Wald; aus der Ferne tönt das dumpfe Geheul der Brüllaffen, und die sumpfigen Uferstellen sind belebt von unzähligen Wasser- und Sumpfvögeln. Kaimans treiben in den Buchten ihr Wesen, und auch der Manati ist ein Bewohner dieser Gegend. Aber welch einen Reichthum an Thieren birgt erst das Innere des Waldes, obschon er in den heißen Mittagsstunden wie ausgestorben erscheint! Ueber diesem Waldmeer, in duftiger Ferne, erhebt sich die Cordillera, mit ihren rauhen Paramos (Hochgebirgseinöden) und den schneebedeckten Gipfeln von Mérida einen großartig schönen Hintergrund bildend. Leider gehört diese Waldregion des Zuliatieflandes zu den ungesundesten Venezuelas.
Die schon angedeuteten, vom Ufer durch den Wald nach dem Innern führenden Wege sind keine Kunststraßen. Man hat zunächst Pfade gehauen, welche nach und nach durch den vielen Verkehr der Last- und Reitthiere das Ansehen von Straßen erhielten. Nach und nach ließen sich an diesen Straßenzügen Menschen nieder; Lichtungen entstanden, und so findet man auf seinem mühsamen Ritte cultivirte Strecken, auf denen Mais, Zuckerrohr, Manioc, Bananen etc. in üppigster Fülle gebaut werden. Unser Bild (Seite 397) stellt eine solche Lichtung dar, durch welche der Weg führt. An den Seiten stehen Hütten, welche zugleich Schenken (Pulperias) sind, in denen der Reisende als Erfrischung das einheimische Getränk Guarapo, Zuckerrohrsaft, zu sich nimmt. Wir reiten nun wieder meilenweit durch den engen, von Baumriesen und Palmenkronen beschatteten Pfad, aber wehe, wenn dies während der Regenzeit geschehen muß! Dann sinken die Lastthiere bis an den Hals in den Schlamm, und nur mit größter Anstrengung vermögen sie sich durch die mit Blätter und herabgestürzten Aesten gefüllten Lachen zu arbeiten. Einen trockenen Durchgang suchend, klemmen sie sich oft mit ihren Ladungen zwischen Baumstämmen und Lianengeflechte. Umgestürzte Bäume hemmen zuweilen das Vorwärtsschreiten, sodaß man genöthigt ist, sich einen Seitenpfad zu bahnen. Zahlreiche Maulthiertrupps, mit Kaffee und anderen Waaren beladen, arbeiten sich mühsam durch Schlamm und Gestrüpp, und die halbnackten, mit Schmutz bedeckten Treiber vollführen ein weit in den Wald hinein schallendes Geschrei, um ihre Thiere vorwärts zu bringen. Da entdecken wir auf den Gepäckstücken deutsche Namen, und weiterhin begegnen wir auch einigen jungen Landsleuten, welche von ihrer Rundtour aus dem Innern nach Maracaibo zurückkehren. Sie sehen aus wie wir: ihre Kleidung ist vom emporgespritzten Schlamm überzogen. Von ihren Kunden in der Cordillera werden sie Kometen genannt, weil sie plötzlich erscheinen und dann wieder verschwinden, um gelegentlich ihren Besuch zu wiederholen.
Ich kann es mir nicht versagen, am Schlusse dieser Erinnerungen des reizenden Abschiedes zu gedenken, den ich von Maracaibo nehmen durfte und der am besten die Menschen charakterisirt, welche mir, dem deutschen Reisenden, eine so überaus gastfreundliche Herzlichkeit entgegengebracht hatten. Ich hatte mich mit zwei ebenfalls durchreisenden Landsleuten schon am Lande verabschiedet, und wir standen nun wehmüthig und schweigsam am Bord des kleinen noch an der Landungsbrücke liegenden Schiffes. Durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall verzögerte sich das für den Nachmittag festgesetzte Auslaufen des Fahrzeugs bis zur vollständigen Dunkelheit. Gedankenvoll blickten wir nach den hellerleuchteten Häusern hinüber und achteten nicht auf die nahenden Ruderschläge, bis endlich eine dunkle Masse, welche sich unserm Schiffe bereits bis auf kurze Entfernung genähert hatte, als großes Boot erkennbar wurde. Da mit einem Male ertönte ein herrliches deutsches Abschiedslied zu uns herüber, und bald lag das Boot der deutschen Sänger, auch mit den wenigen in Maracaibo lebenden deutschen Frauen am Bord, an der Langseite unseres Schiffes. Während wir uns nochmals die Hände drückten, stiegen von einem auf der Rhede liegenden deutschen Schiffe Leuchtkugeln wie buntfarbige Sterne empor. Jetzt trennte sich das Boot von uns und wieder erklangen die kräftigen Männerstimmen. Ein leichter Wind schwellte die inzwischen gehobenen Segel unseres Schiffes; weiter und weiter wurde die Entfernung von unseren Landsleuten, bis bald der heimathliche Sang verhallte und die letzten Lichter da drüben am Lande nur matt den liebgewonnene Ort bezeichneten. Endlich war alles dunkel; und noch einmal riefen wir den Zurückbleibenden mit kräftigen Stimmen über die Wellen ein herzliches Lebewohl zu.
„1870 bis 1871. Vier Bücher deutscher Geschichte“. So nennt sich Johannes Scherr’s jüngstes (bei Otto Wigand in Leipzig erschienenes) Werk, dessen zwei Bände den Freuden des akademisch approbirten Geschichtsstils manchen erneuerten Wehruf entlocken werden wegen des Mangels an würdesteifer Gemessenheit und sogenannter „objectiver“ Haltung. Allerdings spricht und blickt uns aus Art und Ton dieses Buches wiederum das unverkennbare Charaktergepräge, die stark markirte Geistesphysiognomie des Autors an, der es geschrieben hat. Im Uebrigen braucht man jedoch nur etwas schärfer hineinzusehen, um sich zu überzeugen, daß hinter aller publicistischen Stilfärbung, hinter aller Eigenart eines bald schneidig, bald herzwarm oder derbhumoristisch aufblitzenden Stimmungs- und Gesinnungsausdrucks auch in diesem neuen Werke Scherr’s alle jene Merkmale einer kernhaften „Objectivität“ und Sachlichkeit sich finden, welche seine bisherigen historischen Arbeiten meist so unangreifbar gemacht – vor Allem also der zielbewußte, fest durchgeführte, von unbestechlichem Wahrheitssinn geleitete Plan, dabei eine hohe Reife und Beweiskraft der Urtheile und Auffassungen, und endlich die sauberste und sorgfältigste Gründlichkeit in der kritischen Prüfung der Thatsachen, der Sichtung und Bemeisterung eines ungeheuren Materials.
Schon der Anlaß zu der umfassenden Schöpfung ist sichtlich nicht [408] durch äußerliche Beweggründe, sondern von den ernstesten Erwägungen sittlicher und politischer Art gegeben worden. Blicken wir auf die neun Jahre zurück, welche seit dem Abschlusse des siegreichen Feldzuges verflossen sind, so zeigt sich ein Gewirr von Fragenstürmen, die unbeschwichtigt und mit ruheloser Unablässigkeit unser inneres Leben durchtosten. Diese schweren Krisen haben zwar das hehre Bild dieser machtvollen Erhebung nicht aus dem Herzen unseres Volkes vertilgen können, aber bei dem Mangel an Sammlung, unter den ablenkenden Nöthen heftiger Tageskämpfe ist es doch einstweilen zurückgescheucht und überhaupt noch nicht zu seiner vollen Nachwirkung im besten Sinne des Wortes gekommen. Das ist aber ein herber Verlust, ein unermeßlicher Schaden. Viel jämmerliches Zerwürfniß, viel zorniger Kleinigkeitsgeist, viel schäbiger und bösartiger Interessestreit würde nicht so erheblich unsere gegenwärtige Uebergangsperiode herabdrücken und vergiften können, wenn die Erinnerung an den Thatenglanz vereinigter Nationalkraft, an die Gedanken und Vorsätze, das begeisterungsstarke Wollen und opfermuthige Vollbringen von 1870 auf 1871 uns noch allseitig ein Leitstern, eine aufrüttelnde und erfrischende Mahnung sein könnte in dem dunkelen Wirrsal dieser prüfungsreichen Tage.
Als eine solche Mahnung, wenn dies auch nicht gleich direct und ausdrücklich gesagt ist, rollt Scherr das welterschütternde Drama des großen Jahres vor dem Gewissen seines Volkes auf, und dadurch erlangt sein Buch die Bedeutung einer That. Die Geschichte des deutsch-französischen Krieges ist nur in Bezug auf manche Einzelheiten noch nicht endgültig aufgeklärt. Im Ganzen aber lag die Sache jedem Unbefangenen von vornherein schon klar, während zur Erhaltung des Details seitdem von allen Seiten her eine solche Fülle wichtigen Materials geliefert wurde, daß für die selbstständige deutsche Geschichtschreibung allerdings nicht blos die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht und Aufgabe erwachsen ist, es in geschlossener Darstellung zu verarbeiten. Scherr ist der erste unter unsern wirklichen Historikern, der sich dieser Aufgabe unterzogen hat. Ohne alles Ceremoniell pathetischer Einleitungsbetrachtungen, wie wir sie die Jahre her zur Genüge vernommen, erfaßt er sofort die Kern- und Brennpunkte der Bewegung und charakterisirt uns in den drei Abschnitten seines ersten Buches (Der Mann – Das Werk – Der Feind) die wachsende Spannung und Zuspitzung der Gegensätze, die Vorspiele und ideellen wie materiellen Vorbedingungen des endlichen Zusammenstoßes. Unter je drei kurzen Abschnittsüberschriften (Wörth, Gravelotte, Sedan – Straßburg, Metz, Paris – Orleans, Belfort, Versailles) werden wir sodann von dem zweiten Buche des ersten und dem dritten und vierten Buche des zweiten Bandes zunächst in die denkwürdige Situation nach dem Ausbruche des Krieges und dann in die weiteren Verläufe des gewaltigen Ringens bis zum Sturze des Bonapartismus und von da bis zum Abschluß des Friedens und der Constituirung des deutschen Kaiserreichs versetzt. Keine von den mannigfaltigen Seiten der verwickelten Hergänge bleibt hier bei der naturgemäßen Gruppirung des Stoffes unerörtert, und ebenso naturgemäß schlingen sich die zwölf abgerundeten Einzelblätter zu einem einheitlichen Gemälde in einander, das in seinen Wirkungen auf das Gemüth kaum minder großartig und ergreifend, in seinen Lehren aber noch deutlicher und eindringlicher sich erweist, als der geschilderte Nationalkampf es selber gewesen ist.
Mehr brauchen wir hier zur Hinweisung auf dieses charaktervolle, von dem mannhaft freisinnigen Geiste eines unabhängigen Patriotismus durchhauchte Buch wohl nicht zu sagen. Daß es zahlreiche Leser finden wird, dafür bürgt uns schon der volksthümliche Name des Verfassers, die wuchtige und durchaus originelle Schilderung, der Reichthum an pikanten und bezeichnenden Einzelzügen sowie an erhebenden geistvollen und witzigen Bemerkungen. Jeder unbefangene Deutsche aber, der es mit der erforderlichen Empfänglichkeit gelesen, wird es mit dem Bewußtsein aus der Hand legen, daß er da einen aufrichtenden und läuternden Eindruck empfangen hat. Mit einer gewissen Zuversicht darf man also hoffen, es werde das so geartete Bild des unvergeßlichen Jahres die hohe sittliche und ideale Aufgabe erfüllen helfen, welche Scherr am Schlusse seines Werkes diesem größten aller bisherigen Momente unserer vaterländischen Geschichte mit den Worten zuerkennt: „So selten ist ja uns Deutschen gestattet, unsere Blicke mit Befriedigung und Erhebung auf einem der Blätter ruhen zu lassen, welche die Geschicke unseres Landes erzählen. Darum soll kein Gegenwartleid und keine Zukunftssorge einen Schatten auf das Blatt werfen, auf welchem die Geschehnisse des Jahres 1870 und 1871 verzeichnet stehen. In voller Glanzhelle durchstrahle es die kommenden Jahrhunderte triumphirend und tröstend, warnend und wegzeigend, ein Leuchtfeuer deutscher Nation!“
Verbrennt die Springschnur! Die Springschnur gehört zu den beliebtesten Spielgeräthschaften der Kinder; es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß sie ein geradezu gefährliches Spielzeug ist, da sie nicht selten zu Störungen im kindlichen Organismus Anlaß giebt, welche selbst dessen Vernichtung herbeiführen können.
In erster Linie ist es der Fuß des Kindes, dessen Gesundheit durch ihre Benutzung gefährdet wird. Das stundenlange Hüpfen auf einer Stelle verbreitert und verflacht die gewölbte Form des Fußes; es schwellt die Knöchel und verstärkt die üble Wirkung der von so vielen Kindern getragenen straffen Strumpfbänder[2] in erheblichem Maße. Der Beweis ist leicht zu liefern. Das in gewöhnlicher Weise unterhalb des Kniees mäßig fest angelegte Strumpfband wird, wenn das Kind eine Zeit lang die Springschnur gehandhabt hat, tief in’s Fleisch einschneiden, eine rothblaue Furche ziehen und endlich gelockert werden müssen.
Nächst dem Fuße ist es die Lunge, welche durch die Springschnur bedroht wird; denn daß der Staub, welcher nicht selten massenhaft bei diesem Vergnügen eingeathmet wird, für die Lunge wie für die Gesammtgesundheit nicht zuträglich ist, liegt auf der Hand; ebenso droht dem Kinde die Gefahr der Erkältung nach der so gewaltsam erzeugten Ueberhitzung. Wie manches Kind, das seine Munterkeit verliert, an einem kurzen, hohlen Husten, der mitunter mit einem schleimigen Auswurfe verbunden ist, an Athemnoth oder drückenden, dumpfen Schmerzen in der Brust zu leiden beginnt, verdankt diese Vorboten schwererer Krankheitsformen dem verberblichen Spielzeuge!
Unmittelbar noch droht die Gefahr dem Verdauungssystem. Es geschieht öfter, daß in Folge des Springvergnügens Appetitsstörung eintritt: die Kinder klagen dann nach jeder Mahlzeit, der Magen sei geschwollen, und können um die Magengegend die Röcke nicht mehr fest zubinden; dabei magern sie ab, werden kraftlos und matt. Weit furchtbarer indeß ist auf diesem Gebiete die Möglichkeit, daß die Durchschüttelung der Eingeweide eine Darmverschlingung bewirkt, welche meist tödtlich verläuft. Fälle dieser Art waren es, welche zuerst die Aufmerksamkeit der Aerzte auf die Springschnur lenkten, indem einige Male das Verhältniß von Ursache und Wirkung dabei ganz evident erwiesen werden konnte.
Selbst auf das Centralorgan des Nervensystems machen häufige Springschnurübungen ihren Einfluß geltend. Die Achse des Eisenbahnwaggons, welche man durch wuchtige Hammerschläge nicht brechen konnte, erhält durch die viel geringeren, aber fortwährenden Erschütterungen beim Rollen auf den Schienen mit der Zeit ein krystallinisches Gefüge, wird morsch und brüchig und sie erliegt dann dem kleinsten Anstoße. Sollten unsere Nerven widerstandsfähiger sein, als Stahl und Eisen? Sie sind es sicher nicht. Die häufigen Stöße der Füße gegen den harten Kiesboden werden sich zunächst an zwei Stellen bemerkbar machen: erstens durch Schmerzen im Kreuze, zweitens durch solche im Kopfe, also durch unangenehme Empfindungen an jenen Gegenden, welche dem Gehirn und dem Rückenmarke, den Centralorganen des Nervensystems, entsprechen. Durch fortwährende kleine Zerrungen werden die feinsten Nervenfasern in ihren Verbindungen gelockert, und so wenig ein junges Bäumchen gedeihen wird, dessen Stamm täglich von rauher Hand stundenlang gerüttelt wird, ebenso wenig kann das Hüpfen über die Springschnur der normalen Entwickelung des Nervensystems förderlich sein. Auch hier bestätigt dem praktischen Arzte die Erfahrung, daß als Folge von Springschnurübungen nicht gar so selten chronische Gehirnerschütterungen vorkommen, welche, anfangs kaum erkennbar, mit der Zeit eine Abstumpfung der Sinnesorgane herausbilden, die Sehkraft schwächen und das Gehör abstumpfen, wobei gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Kindes auf die Dinge der Umgebung abnimmt. Manche verblendete Mutter freut sich, daß ihr Kind jetzt so still, so ruhig, so gut – leider darf man nicht hinzufügen: „so dumm“ geworden ist; bei zarteren, empfänglicheren Kindern freilich tritt zuweilen die Gehirnentzündung rasch in der furchtbarsten Form auf. Wenn dann die trostlosen Eltern nach den Ursachen der schrecklichen Erkrankung ihres früher so blühenden Kindes suchen – was soll da nicht Alles die Schuld tragen! Die Kost, die Wohnung, das Kindermädchen, das gewiß vor Zeiten einmal unvorsichtiger Weise das Kind hatte fallen lassen, ohne des Vorfalls zu erwähnen, oder der Arzt, der das Kind nicht richtig behandelt habe, und die wahre Ursache war doch nur – die Springschnur.
Zwei in Deutschland Verschollene. Der Klempnergeselle Georg Scipio aus Schweinfurt ging im Juni 1875 auf die Wanderschaft und arbeitete bis zum Frühjahr 1876 in Gotha und dann zu Freiburg im Breisgau, von wo er im Juni desselben Jahres zum letzte Male in die Heimath schrieb. Von da an ist jede Spur von ihm verloren, und alle Schritte bei den Behörden haben den trostlosen Eltern, die in ihm den einzigen Sohn vermissen, keine Auskunft über Leben oder Tod desselben verschaffen können. Vielleicht gelingt es dieser Anfrage, wenigstens der verzehrenden Ungewißheit der Angehörigen ein Ende zu machen.
Der Commis Bernh. Conrad aus Deutschossig bei Görlitz, 27 Jahre alt und von großer Statur, Sohn des Pastors emer. Conrad daselbst, hat sich im Sommer 1877 ohne Vorwissen seiner Eltern von Hause entfernt und zuletzt am 22. August vorigen Jahres von Brandenburg an der Havel aus um die Nachsendung von Kleidern gebeten, und zwar mit der Bemerkung, ihm dieselbe nach Güstrow zu senden, von wo aus er dann nach Magdeburg reise wollte. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt, aber seit dieser Zeit sind die armen, alten Eltern, welche sich in Folge einer ganzen Reihe schwerer Schicksalsschläge im Zustande größter Hülflosigkeit befinden, ohne alle Kenntniß vom Aufenthalt ihres Sohnes und bitte alle Menschenfreunde, welche Auskunft über denselben zu geben im Stande sein sollten, um die gefällige Benachrichtigung durch die „Gartenlaube“.
Dank zu sagen haben wir für Gaben, welche ohne unsere Aufforderung dem nun nicht mehr „darbenden Ritter des Eisernen Kreuzes“ und noch zwei anderen seiner Schicksalsgenossen zugegangen. Es sind dies: M. 5 von J. C. H. in Zwickau; M. 3 von Marie Weimann in Offenbach am Main; M. 18 durch Friseur W. Mayer zu Nürnberg, von der dortigen Friseur-Genossenschaft; M. 5 von Leopold B… zu St. Petersburg; M. 10.5 von Frau Helene Sotoff in Kostroma durch Craz und Gerlach in Freiberg; M. 4 von Benedict Hnl. in München; M. 15 von einer Mutter. Dem Bittsteller ist geholfen; er hat Stellung in einer thüringischen Fabrik erhalten.
Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
- ↑ Vorlage: „Knubenjahren“
- ↑ Verfasser hat schon seit vielen Jahren bei seinen Bekannten einen Apparat anwenden lassen, der aus einem mit Gummi durchwirkten Bande von der Länge des Oberschenkels besteht; das eine Ende desselben ist an einen Leibgürtel angenäht, während das andere an den Strumpf gebunden oder geknöpft wird. Dieses Strumpfband stört den Durchfluß des Blutes im Fuße nicht und begünstigt dessen normale Entwickelung zur schönen Form.