Die Gartenlaube (1879)/Heft 34
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No. 34. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Der Rath war bereits zu Hause. Er stand am Fenster der Eßstube und hatte den zerknitterten Filzhut mit der breiten Krempe noch auf dem Kopfe. Die Majorin hatte ihn schon vor Vollzug ihres Strafactes an dem wilden Veit bemerkt, und gerade weil er nicht die geringste Miene machte, die Mißhandlung der Magd auch nur mit einer Silbe zu rügen, hatte sie die Bestrafung des Missethäters übernommen.
Sie ging in die Küche, nahm einen Korb voll frischgepflückter Johannisbeeren aus einem Schranke und trug ihn in das Eßzimmer, um dort die Beeren zum Einmachen vorzurichten. Ihr Gesicht war wie immer so starr und verschlossen, als sei heute auch noch nicht der mindeste Abglanz einer Gemüthsbewegung darüber hingegangen.
Der Rath lehnte mit verschränkten Armen an der Fensterbrüstung, als seine Schwester eintrat. Er hatte den Hut auf den Nähtisch geworfen, und das grünliche Licht, das durch die Ulme hereinfiel, ließ die reichen Silberfäden in seinem immer noch dichten Haar aufflimmern. Nach kurzem Schweigen trat er vom Fenster weg und begann, in der Stube auf- und abzugehen.
„Du bist in der letzten Zeit so wortkarg, ja, so stumm gewesen, Therese, daß ich nicht einmal weiß, ob Dir das drohende Unheil in meinen Kohlengruben zu Ohren gekommen ist.“
„Das Gesinde spricht den ganzen Tag davon,“ antwortete sie und streifte die Beeren von den Stengeln.
„Und ficht Dich das gar nicht an? Ist Dir das Wohl und Wehe der Wolfram’s gleichgültig geworden?“ fuhr er auf.
„Um das Wohl und Wehe der Wolfram’s habe ich mich längst nicht mehr zu kümmern,“ versetzte sie, ohne aufzublicken. „Du erziehst den Einzigen, der es dermaleinst in der Hand halten wird, nach eigenem Ermessen, nach Deinen Principien, ohne auf mich zu hören; ich habe den Besitz der Wolfram’s nun seit langen Jahren durch unverdrossene Arbeit und gewissenhaftes Sparen vermehren geholfen – das Zeugniß darf ich mir geben.... Es macht mir Freude, ein Familienvermögen anwachsen zu sehen, aber es darf sich nur auf ehrliche Weise mehren, durch stäte und beharrliche Arbeit, wie sie bei unsern Vätern Gebrauch war – nicht um eines Haares Breite anders! Du aber bist ein Moderner geworden. Du möchtest das Geld in jagender Eile scheffelweise einsäckeln, willst aber nichts ausgeben, um den Boden unter Deinen Füßen zuerst zu sichern, und das ist das drohende Unheil in Deinen Gruben – Du hast es selbst verschuldet.“
„Davon verstehst Du nichts,“ fuhr er sie an.
„Mag sein – ist auch nicht meine Sache,“ versetzte sie ebenso gleichmütig wie vorher, nur daß sie jetzt den Blick, in welchem sich eine gewisse Unruhe spiegelte, rasch von der Arbeit hob. „Ich weiß nur, daß ich die ganzen Jahre her gewünscht habe, die Kohlen lägen in guter Ruh’, bis an den jüngsten Tag, unter der Erde und es wüßte kein Mensch d’rum. Seit Du den Boden da draußen hast aufreißen lassen, ist’s auf dem Klostergute nicht mehr, wie es sein sollte.... Ach ja“ – ein unwillkürliches Seufzen hob ihre Brust – „viel, viel reicher sind die Wolfram’s ja geworden – das ist wahr, aber der Erwerb ist mir so unheimlich, so fremd, und ich meine, es hinge ihm Unsegen an, wie unrechtem Gut, weil sich ein unglücklicher Mensch um deswillen den Tod gegeben hat.“
Der Rath war, die Hände auf dem Rücken, immer noch auf- und abgegangen. Bei den letzten Worten blieb er stehen, gleichsam festgebannt, wie man entsetzt und versteinert vor einer Erscheinung verharrt, die unvorhergesehen gespenstig aus dem Boden steigt – dann brach er in ein Hohngelächter aus.
„Bist ja wirklich mit den Jahren stark in der Logik geworden, wie die alten Weiber im Spittel,“ sagte er in seinem beißendsten Tone. „Also weil ein verrückter Bedienter von seinem ebenso hirnverbrannten Herrn fortgejagt worden ist, klebt Unsegen an meinem Unternehmen?“ – Er lachte abermals gezwungen auf. „Ei nun ja – einen solchen Unsegen lasse ich mir schon gefallen.... Wenn der alte Klaus Wolfram, der Tüchtigste unter unseren Vätern, wiederkommen könnte, der würde wohl große Augen machen, daß die Wolfram’s jetzt auf Sommerwiese, dem größten Rittergute im ganzen Lande, sitzen.“
Er trat an das Fenster und spielte unhörbar mit den Fingerspitzen auf den Scheiben. Einen Augenblick war es so still in der Stube, daß man das Summen der über dem Eßtische kreisenden Fliegen hören konnte.
Der Rath blickte verstohlen über die Schulter zurück. Seine letzte Bemerkung war sichtlich eindruckslos abgeglitten – das schöne Matronengesicht mit den gesenkten Augen behauptete seine gewohnte Starrheit, und die rothen Beeren rollten in gleichmäßiger Wiederholung in die Porcellanschüssel.
„Du hast gestern Dein Darlehen von zehntausend Thalern aus der Ziegler’schen Erbschaftsmasse zurückerhalten?“ fragte er plötzlich. „Wie gedenkst Du es wieder anzulegen?“
„Ich weiß es noch nicht.“
„Gieb mir das Geld, Therese!“ sagte er, rasch an den [562] Tisch tretend. „Sommerwiese hat vor einigen Tagen meine ganzen disponiblen Capitalien geschluckt. Nun kömmt so unvorhergesehen die Calamität in den Gruben – ich muß Geld flüssig haben und möchte doch kein Papier veräußern.... Dein Geld ist ja in meiner Hand gut aufgehoben, Therese. Es ist ja doch auch Wolfram’sches und könnte nun im großen Familienvermögen wieder mitarbeiten, wie ja Dein Alles, Deinem eigenen fest ausgesprochenen Wunsche und Willen gemäß, später einmal – hoffen wir in allerspätester Zeit – wieder zu dem Stammbesitze zurückfließen wird.“
„Ich habe noch nicht mein Testament gemacht,“ versetzte sie, ohne aufzublicken.
Er stützte die Hände auf den Tisch und sah mit höhnischer Ueberlegenheit auf das erröthende Gesicht seiner Schwester herab. War das die Frauenseele, die er bis dahin fast widerspruchslos in der Hand gehabt?
„Das weiß ich so, Therese,“ sagte er, „und es wird mir auch nie einfallen, Dich zu diesem Entschluß zu drängen, obgleich ich’s sonst mit dergleichen Schritten, die doch absolut geschehen müssen, sehr ernst nehme. Du brauchst übrigens nicht zu fürchten, daß, falls Du vor mir das Zeitliche segnen müßtest, auch nur ein Groschen in die Hand kommt, auf welcher der Mutterfluch ruht; dafür bin ich da; ich würde auch darin Deinen und meinen Willen durchzusetzen wissen, wie einst in Deiner Scheidungsangelegenheit.“
Sie hatte die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt und schwieg beharrlich.
„Sollte uns Beiden aber ein hohes Alter beschieden sein,“ fuhr er wie ablenkend fort und drehte lässig den dünnen, grauen Kinnbart zwischen den Fingern, „dann wird die Welt völlig vergessen haben, daß Du einst unseren Namen mit einem andern, unheilvollen vertauscht hattest, dann wirst Du wieder die Tochter der Wolfram’s sein, nichts Anderes, und Dein gerechtes Theil an dem Glanze haben, der vom Klostergut neu ausgeht –“
„Durch den da?“ unterbrach sie ihn schneidend und zeigte mit der ausgestreckten Hand durch das Fenster nach dem Hofe.
„Ja, durch den, durch unsern Veit,“ bestätigte er, und der Grimm begann in seinen Augen aufzufunkeln.
„Der Bursch soll aufbauen und hat doch die zerstörungswüthigste Hand, die je geboren worden ist,“ sprach sie weiter, ohne sich einschüchtern zu lassen.
„Dummes Zeug! Das ist eben Jungenart. Ich bin – wie ich denke – ein ganzer Mann geworden und hab’ der Mutter die Töpfe und Tassen heimlich zerschlagen, daß es eine Lust war, hab’ den Maikäfern die Beine ausgerissen, die Frösche bei lebendigem Leibe aufgespießt und –“
„So?“ unterbrach sie ihn. „Was Du da sagst! Wegen der vielen zerbrochenen Töpfe und Tassen sind damals die Mägde gestraft und schließlich fortgejagt worden. Du warst so gesetzt – ‚ein Mustersohn’, wie die selige Mutter immer sagte – bis auf den heutigen Tag hätte ich mir nicht träumen lassen, daß Du so ein ‚Heimlicher’ gewesen bist.“
Er zog die Brauen finster zusammen, während die Rechte der Majorin vom Tische in die Tasche glitt. Sie umschloß die kühlen Ringe der Löwenzahnstengel, und es war, als laufe diese Kette von dem Händchen aus, das sie zusammengefügt, wie ein magnetisches Band bis an das Herz der Frau, an das verstockte Herz, das viele Jahre lang gegen seine natürlichsten, weiblich weichen Regungen gekämpft hatte – und nun verschafften sie sich doch Geltung, unaufhaltsam, in ungeahnt beseligender Kraft. Jenes zärtlich streichelnde Händchen, es marterte gewiß keine Creatur, die Leben und Odem in sich hatte; in dem Kind lebten so wenig Bosheit und Heimtücke, wie in ihm, den sie einst von der heimischen Schwelle gestoßen hatte.
„Jugendstreiche, Therese, wie sie sein müssen bei einem rechtschaffenen Jungen, der gesundes Blut in den Adern hat!“ meinte der Rath. „Ich will Dir damit auch nur beweisen, daß man nach solch scheinbar schlimmen Symptomen den künftigen Mann nicht beurtheilen soll. Veit wird Dir noch Freude machen – darauf verlasse Dich! Er wird Dir ein Sohn sein, wie mir –“
Er hielt inne, denn seine Schwester streckte, ihn plötzlich unterbrechend, die Linke lebhaft gegen ihn aus.
„Ich habe einen Sohn,“ rang es sich fast wie ein Schrei von ihren Lippen.
In diesen vier Worten gipfelte und erlosch der furchtbare Kampf, der jahrelang verborgen in ihr getobt – die Flammen des Zornes waren ist sich zusammengesunken, und unversehrt, wie ein Phönix, stieg das Muttergefühl empor.
„Du hast einen Sohn? – Verzeih’, ich hatte das vergessen, oder vielmehr vergessen müssen auf Dein ausdrückliches Geheiß,“ sagte der Rath mit tödtlichem Hohn. „Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fürchten mußte, Du würdest Dich an mir vergreifen, wenn ich auch nur den Namen des Entarteten laut werden ließe.“
Er senkte das Gesicht gegen die Brust und drehte wieder den Kinnbart zwischen den Fingern. „So, so! Nun ja, Du wirst alt, alt und mürbe, Therese. Da geht der Charakter in die Brüche, und man macht pater peccavi.... Na, sieh’ mal! Da darf man ja wohl wieder von vergangenen Zeiten sprechen? Oder besser – ich will Dir ein paar Berliner Zeitungen mit heimbringen. Da steht’s alle Tage zu lesen, daß die Frau Majorin Lucian ein berühmte Schwiegertochter hat. Aber Du kannst ruhig sein, Therese – Dein Sohn wird dabei nicht genannt. Neben solchen Theaterdamen ist der Ehegatte immer eine Null, ein Nichts, höchstens der Schatten, den die Gefeierte unvermeidlich an der Ferse nachschleppt – er ist eben der Mann seiner Frau, macht den Secretär – eine brillante Carrière, wie sie sich kaum die kühnste Phantasie einer ehrgeizigen Mutter träumen läßt – und lebt ausschließlich von den glänzenden Einnahmen, welche die Balletsprünge der Frau Gemahlin einbringen –“
„Das glaubst Du selbst nicht,“ unterbrach sie ihn entschieden, wenn auch dumpf, wie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie hatte längst ihre Arbeit weggeschoben und war aufgestanden. Wie furchtbar es in ihr stürmte, das bewies das tiefe, beklommene Athmen, das ihre Brust hob. „Er hat seine Sache gelernt – er kann sich sein Brod selbst verdienen.“
Der Rath lachte rauh auf. „Du meinst, er mache seine Carrière als Jurist, wie Frau Gemahlin als Tänzerin, das heißt, durch Gastiren in allen europäischen Städten?“
Es ging plötzlich wie ein Aufleuchten über ihr Gesicht. „Weißt Du so gewiß, daß er bei ihr ist?“
Der Rath hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet; er trat in das Fenster und sah angelegentlich nach allen Himmelsrichtungen, als prüfe er den Stand des Wetters. Es kann auch der brutalsten Denkweise passiren, daß sie einen Augenblick zaudert, eine eclatante Lüge über einen Todten auszusprechen. Jetzt zuckte er die Achseln. „Ich muß Dir gestehen,“ sagte er noch abgewendet, „daß mir das bisher sehr gleichgültig gewesen ist. Es ist mir nicht eingefallen, auch nur im Geringsten nachzuforschen – eine so abgethane Sache, wie die Verstoßung eines mißrathenen Familiengliedes, rührt man nicht wieder auf. Es scheint mir übrigens, als hofftest Du, in Folge besserer Einsicht auf der einen Seite sei jene verhaßte Ehe gelöst worden – liebe Therese, nicht in jeder Menschenseele wohnt die Kraft, die Gemüthsruhe, mit der Du einst ein unliebsames Joch abgeschüttelt und Deinem Manne den Laufpaß gegeben hast.“
Sie ballte die Hände und drückte sie krampfhaft gegen die Brust, während sie das Gesicht langsam dem Sprechenden zuwandte. Er folterte sie Glied um Glied.
„Ich muß Dich daran erinnern,“ sagte er, indem er wieder auf sie zukam, „daß Du nach Männerart stets lieber sofort einen verhaßten Knoten durchschnitten, als Dich unter seinen Druck gebeugt hast. Solch ein zerhauener Knoten aber läßt sich nie und nimmer wieder zusammenflicken, es sei denn, daß man sich vor Gott und aller Welt unsterblich blamiren will – und davon wird das derzeitige Haupt des Wolfram’schen Hauses eines seiner Familienglieder ganz sicher zurückzuhalten wissen. Das kommt in erster Linie; in zweiter erinnere ich Dich an Deinen eigenen Ausspruch, der kurz und bündig besagt, daß Dein Vermögen Pfennig um Pfennig, Groschen um Groschen, von unseren braven Vorvätern aufgesammelt worden und Du niemals gewillt seiest, dieses Geld in einer liederlichen Theatergesellschaft verprassen zu lassen. Hast Du Deine Ansicht darüber geändert – gut – ich nicht!“ – Er schlug mit seinen harten Knöcheln auf den Tisch. – „Jetzt stehe ich vor diesem Erbe und reclamire es für Diejenigen, die gegenwärtig den Namen Wolfram tragen, sowie für die, welche ihn in später Zukunft führen werden.“
[563] „Das kam in erster Linie und – das ist der Punkt, um den sich Alles, Alles dreht,“ rief sie unter der niederschmetternden Wucht einer plötzlich tagenden Erkenntniß.
„Denke, was Du willst – ich gehe den Weg, den mir die Pflicht vorschreibt,“ sagte er eifrig. „Ich rathe Dir wohlmeinend, Therese, hüte Dich, mir zu widerstreben! Du ziehst den Kürzern sammt Deiner ganzen Komödiantensippe – darauf verlasse Dich!“
Er ging wieder nach dem Fenster, öffnete einen Flügel desselben und rief einem über den Hof schreitenden Knechte einen Befehl zu, so ruhig und gleichmütig in die Tagesgeschäfte einlenkend, als seien eben auch nur die alltäglichsten Dinge in der Eßstube verhandelt worden.
Die Majorin verließ das Zimmer und ging hinaus in ihre Giebelwohnung....
Von Einschüchterung konnte bei dieser Frau nicht die Rede sein; wo sie sich in ihrem guten Rechte wußte, da fürchtete sie alle Juristenkniffe der Welt nicht, und deshalb hätte sie die Anmaßung ihres Bruders, seine Drohungen verlacht, wäre ihr nicht der Schmerz der bittersten Enttäuschung im Hinblick auf eben diesen Bruder durch das Herz gegangen.... Also es war nicht brüderliche Selbstlosigkeit und Hingebung gewesen, daß er treu zu ihr gehalten. Er hatte sie bestärkt in ihrer unbeugsamen Härte; er hatte sie mit den Jahren geflissentlich abgedrängt von ihrem Kinde, nicht aus Brudertreue und in der Ueberzeugung, daß die Schwester völlig correct und gerecht handle und dabei gestützt werden müsse, sondern einzig und allein in wahnwitziger Vergötterung seines einzigen Sprossen, dem er auf diese Weise eine große Erbschaft zuwenden wollte.
Ihre Augen feuchteten sich, und das Gefühl einer tiefen Demüthigung trieb ihr das Blut in das Gesicht.... Wo waren die vermeintlich unerschütterlichen Stützen hin, auf denen ihr Selbstbewußtsein bisher gestanden? Es waren Stelzen gewesen, Stelzen des Eigendünkels, welche die ewige Vergeltung über Nacht umgeblasen.... Sie hatte sich selbst bestohlen in ihrer Rachgier, Herrschsucht und Verblendung, bestohlen um viele Jahre, in denen sie tausendfachen Segen hätte geben und empfangen können. Nun schien ihr die große Wegstrecke ihres Lebens, die sie einsam und verstockten Sinnes gewandert, eine sonnenlose Schlucht, ohne Blumen und lieblichen Vogelsang, in der sie, abgewendet vom heiteren Himmelslicht, gebückt, ohne Unterlaß Steine in die Schürze gesammelt – denn mehr als unfruchtbare Steine waren die gewaltigen Summen, die sich in ihrem Einnahmeregister aufspeicherten, für sie nicht. Und nun sollten sie auch noch zum Piedestal aufgethürmt werden unter den Füßen des verwahrlosten Jungen, den sie nicht ohne Abneigung, ohne Grauen, ansehen konnte – nie, niemals!
Noch durfte sie hoffen, ein Stück Leben vor sich zu haben; noch war sie sich einer bedeutenden inneren Kraft bewußt; es bedurfte nur weniger Schritte, um die nach einer andern, einer sonnigen Lebenslust dürstenden Lippen zu erquicken. Was hinderte sie, den Shawl umzuwerfen und hinüber zu gehen in das Nachbarhaus, wo sich Alles, Alles mit einem Schlage wenden mußte? – Nein! – so tief beugen konnte sie den steifgewordenen Nacken doch nicht! – Sie hatte bereits die ersten Schritte gethan, nun mußte er kommen und der Mutter die Versöhnung erleichtern – wo aber war er? – Das hatte sie schon oft grübelnd gefragt.
Sie hatte beim ersten Blicke, beim ersten in das Giebelzimmer heraufschallenden Stimmenklang gewußt, daß der schöne, spielende Knabe im Vorgarten des Schillingshofes sein Kind, ihr Enkel, sein müsse – so Zug für Zug, so in jedem Laut, jeder Eigenthümlichkeit des äußeren Gebahrens wiederholt sich die Natur nicht in zwei Menschenwesen, die das Blut nicht gemein haben; so macht sie auch nicht ein Herz, wie das ihre, halb entsetzt, halb in jubelnder Lust aufschreien beim ersten Begegnen, wenn kein verwandter Zug da ist. Es war völlig überflüssig gewesen, daß ihr die fremde Dame gesagt hatte, der Knabe führe den Namen Lucian.... Wo aber war sein Vater?
Es war eine schändliche Lüge, daß er sich von dem Erwerbe seiner Frau mit ernähre. Er hatte ein reiches Wissen; er war sehr fleißig gewesen und hatte sich zweifellos eine feste, ehrenhafte Lebensstellung errungen – wohl in fernen Landen, wie sie nach der schwarzen Bedienung schloß, welche die Kinder behütete.
Und – diese stille Hoffnung wurde immer lebendiger in ihrer Seele – er hatte wohl seine kleinen Lieblinge geschickt, damit sie sich allmählich in das Herz der Großmutter stehlen und Versöhnungsboten werden möchten.... Nun wohl, das war geglückt – die Mutter hatte verziehen. Sie hatte sich selbst seinem Knaben gegenüber die Großmama genannt und den neugeschlossenen Bund mit einer Gabe besiegelt, die ihr Sohn selbst als Kind oft gesehen, und von welcher er wußte, daß sie der Mutter stets ein hochwerthes Andenken gewesen war.... Nun mußte er kommen – und er kam gewiß, selbst wenn augenblicklich noch große Länderstrecken, oder das weite Meer zwischen ihnen liegen sollten – er kam.... Bis dahin hieß es, sich selbst und die Sehnsucht tapfer bezwingen, denn noch – hatte ein letzter Rest starrer Unbeugsamkeit Sitz und Stimme in diesem harten Frauenkopf.
Seit Baron Schilling’s Rückkehr aus Berlin waren sechs Tage verstrichen. Die Parterrewohnung des Schillingshofes hatte sich gleichsam gelichtet, seit der tückische Dämon der Krankheit aus allen Ecken und Winkeln gefegt worden war. Der kleine José hatte schon zweimal stundenlang im Freien verweilen dürfen; zwar saß er auch im Salon noch auf seinem Fahrstühlchen, aber das Bett wurde tagesüber nicht mehr aufgesucht. Die Glieder des Knaben fingen an, sich kräftiger zu regen; er ließ seine Bleisoldaten wieder aufmarschiren und exerciren, und sein treuer Spielcamerad, Pirat, hatte auch bereits seine Aufwartung im Salon machen dürfen.
José trank pünktlich seine Milch aus dem Becher, den ihm „die Großmama“ geschenkt. Mit dem Erscheinen dieses kostbaren Andenkens im Schillingshofe war eine erwartungsvolle, fast feierliche Stimmung, eine unbeschreibliche Spannung über diejenigen gekommen, die um die geheimnißvolle Sendung der Kinder wußten.
Am vorgestrigen Nachmittage, gleich nach dem Besuche der Majorin, war Donna Mercedes vom Säulenhause hergekommen, um nach dem Knaben zu sehen. Sie hatte von der Allee aus, gleich Jack, noch bemerkt, daß eine dunkle Gestalt durch die Mauerthür hinausgeschlüpft war. Fast in demselben Augenblicke war auch Baron Schilling aus dem Atelier an den Fahrstuhl getreten – so hatten Beide die Erzählung des lebhaft erregten Kindes zugleich angehört.
Baron Schilling war ganz blaß geworden; er hatte sich tief über den Knaben gebückt und dann, sich aufrichtend, kühl, wenn auch leicht vibrirenden Tones, zu Donna Mercedes gesagt: „Der letzte Act steht nahe bevor – Sie werden rascher aus Ihrer aufopferungsvollen Situation erlöst werden, als wir denken und hoffen durften....“
Mit wenigen kurzen Worten war man dann übereingekommen, daß vom Schillingshofe aus vorläufig noch kein irgendwie auffallender, entgegenkommender Schritt geschehen dürfe, weil das geheimißvolle Thun der Majorin darauf hinweise, daß sie hinter dem Rücken ihres Bruders handele; sie dürfe durch ein zu frühes Vorgehen in ihren Plänen nicht gestört werden.
Seitdem hatte Donna Mercedes den Herrn des Schillingshofes nicht wieder gesprochen. Sie sah ihn wohl dann und wann in der Nähe des Ateliers durch den Garten schreiten, wenn auch sie das Haus verließ, um sich zu ergehen und frische Luft zu schöpfen, aber dann wandte sie sich auch sofort um und kehrte in ihr Zimmer zurück, gleichviel, ob er es bemerkte, daß sie ihm aus dem Wege ging, oder nicht. Es war ihr immer, als könnte sie nicht rasch genug aus seiner Gesichtsweite kommen, und wenn sie dachte, daß sein scharfer Blick sie verfolge, dann durchlief sie ein Schauer.... Es war daheim ihre Gewohnheit gewesen, mißliebigen Menschen ohne Weiteres den Rücken zu kehren, und die Schmeichlerzungen hatten ihr oft genug versichert, daß sie selbst diese vernichtende Ungnade mit unvergleichlich hoheitsvoller Grazie an den Tag lege. Hier nun wallte wohl auch das Gefühl der Indignation in ihr auf; allein noch mehr überwog die niederdrückende Ueberzeugung, daß sie mit all ihrem gerühmten Verstande, ihrer Tournüre und Energie dem Manne nicht gewachsen sei, der, einmal beleidigt, fortan mit souveräner Kühle auswich.
So war es zu ihrem eigenen Grimm ein namenloses, ein [564] feiges Erschrecken, das sie bei seinem Anblick sofort den Fuß wenden machte; es war eine unbezwingliche Scheu vor seiner Stimme, seinem Blicke und Furcht vor sich selber, daß sie einmal seinem geschlossenes Wesen gegenüber die Selbstbeherrschung verlieren und eine abermalige Niederlage erleiden könne.
In die Nähe des Säulenhauses kam er nicht. Er verließ den Schillingshof – auch zu Pferde – stets durch die Mauerthür. Er hielt Wort – Fräulein von Riedt weilte ja nach wie vor als Besuch in der Bel-Etage; sie hielt die Zügel des Hauswesens und pflegte die Baronin, denn die war krank. Oft mehrmals tagüber rannten Boten nach dem Arzt. Er kam meist mit unwilligem Gesicht und nichts weniger als beschleunigten Schrittes – dann hörte man durch die offenen Fenster seine ernst mahnende, strenge Stimme gegen das gellende Aufschreien der Kranken ankämpfen. Manchmal mochte ihm auch die Vermittlerrolle aufgedrängt werden; denn er ging nach dem Atelier, kehrte aber stets ohne Baron Schilling’s Begleitung zurück – zum heimlichen Gaudium der Domestiken, die ja seit Jahren wußten, was für eine Bewandtniß es mit den Krampfanfällen der Gnädigen hatte.
Inzwischen – und zwar am Tage nach Baron Schilling’s Zurückkunft – war auch ein Brief von Lucile an Donna Mercedes eingelaufen, ein Brief voller Schmähungen und Impertinenzen, in welchem sie kurz und bündig abermals die sofortige Herausgabe ihrer kleinen Tochter verlangte. Die Antwort erfolgte umgehend und betonte ebenso fest und entschieden, daß das Kind in den Händen Derer verbleibe, die zu seinem Schutze berufen seien – man werde es auf einen Proceß ankommen lassen.
Das reizende, kleine Geschöpf, um dessen Persönchen ein heftiger Kampf zu entbrennen drohte, tummelte sich indessen harmlos und fröhlich in Haus und Garten. Paula fragte wohl manchmal nach „Mama“, aber die gleichmäßige zärtliche Liebe und Fürsorge, die sie umgaben, ließen keine Sehnsucht aufkommen nach der kleinen Frau, die ihre Kinder oft mit stürmischen Liebkosungen fast erstickt hatte, um sie gleich darauf in übler Laune um irgend einer Geringfügigkeit willen erbost auszuschelten.
Die schwarze Deborah wich Tag und Nacht nicht von ihrem „Goldkind“. So saß sie auch heute strickend auf ihrem schattigen Lieblingsplatz unter den Fichten, während Paula einen Puppenwagen über die sich kreuzenden Wiesenwege schob, die Deborah von ihrem Sitz aus vollkommen übersehen konnte.
Es war ein schöner, stiller Morgen. Pirat, der sonst immer, zum Verdruß der Schwarzen, fast ohne Unterbrechung bellte, war in das Säulenhaus zu José gebracht worden; im Atelier rührte und regte sich nichts. Baron Schilling war ausgeritten; es schwebte eine fast feierliche Ruhe über dem Garten; man hörte jeden fernen Vogelschrei, das Piepen und Gezwitscher in den zahllosen Nestern der Boscage, den flüsternden Hauch des Morgenwindes, der die langen Bärte der Fichten leise schaukelte. Manchmal wurden auch Menschentritte jenseits der Mauer laut, oder ein Wagen rollte schwerbeladen langsam und kreischend durch die öde Straße draußen. Einmal war es auch, als halte ein leichtes, rasch dahergekommenes Gefährt vor der Thür; Deborah hörte das nur mit halbem Ohr; sie hatte an ihrer Strickarbeit einen Fehler gemacht und war ärgerlich und vor Eifer schwitzend dabei, ihn zu verbessern.
Darüber bemerkte sie nicht, daß die Mauerthür leise zurückgeschoben wurde. Ein Frauenzimmer in rundem Hut und langem, dunklem Regenmantel huschte wie ein Schemen in den Garten, und eine Andere, eine zarte, elegante Damengestalt, blieb auf der Schwelle der offenen Thür stehen und sah ihr mit verschleiertem Gesicht, in sichtlich gespannter Haltung nach. Hinter dieser Dame erschien ein schlanker junger Herr in glänzendem Cylinderhut und lavendelfarbenen Handschuhen; er stand ehrerbietig um zwei Schritte zurück, lugte aber doch auch neugierig, mit langem Halse über die Schulter der Dame in den Fichtendämmer hinein.
Die Eingetretene warf einen scharf forschenden Blick um sich; dann flog sie wie ein Stoßvogel über die nächste Rasenfläche, direct auf die kleine Paula zu.
In diesem Augenblick waren aber auch die entwischten Maschen von Deborah gefangen und wieder auf die Stricknadel gereiht worden; mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung sah die Schwarze empor und – ihre runden Augen wurden weit vor Erstaunen und Bestürzung. Eine Frau griff eben nach dem „Goldkind“, das, ihr den Rücken wendend, ahnungslos neben dem kleinen Korbwagen im Wege kauerte und emsig das Puppenbettzeug aufschüttelte – diese plötzlich wie hereingewehte Person aber war Minna, die Kammerjungfer der kleinen Frau.
Sie hob das Kind blitzschnell vom Boden auf und sagte ihm etwas in das Ohr.
„Ach ja – zu Mama!“ rief die Kleine und schlang die Aermchen um den Hals der Kammerjungfer, die zu spät die Linke auf den jubelnden Kindermund legte.
Mit einem wilden Schrei sprang Deborah empor, schleuderte das Strickzeug fort und stürzte sich mit weit ausgebreitete Armen aufhaltend der in Sturmeseile nach dem Ausgang Strebenden entgegen.
„Zu Hülfe, Jack! Hülfe! Sie wollen das Kind stehlen!“ rief sie über den Garten hinweg.
Die Kammerjungfer stieß mit der freien Linken kräftig nach ihr und suchte sie aus dem Wege zu schleudern; zugleich packten Männerhände die Schwarze von rückwärts an den Schultern; spitze, scharfe Fingernägel schlugen sich wie Raubthierkrallen in ihren nackten Arm, während ihr ein berauschend duftendes Taschentuch auf den Mund gedrückt wurde.
„Wirst Du wohl still sein, albernes Geschöpf!“ murmelte Lucile erbost – sie war’s, die den Arm der schwarzen Wärterin umkrallte und, den zarten Körper schlangenhaft und fest an Deborah’s robuste Gestalt gepreßt, ihr den Mund zu verstopfen suchte. „Glaubt Ihr denn hier in Eurem Schillingshof, ich werde in lammfrommer Geduld warten, bis es den Herren Juristen gefällig ist, mir mein gutes Recht zuzusprechen?“
Sie warf einen raschen Blick nach der Mauerthür und sah, wie Minna mit dem Kinde hinauslief. Augenblicklich wurde die Schwarze freigelassen – Lucile flog hinaus auf die Straße, und der Herr im Cylinderhut folgte ihr. Jetzt aber war es nicht Deborah, die den über den Garten hingellenden Schrei des Schreckens, der Wuth und Erbitterung ausstieß – er kam von der Straße herein.
Zwischen der Thür und der draußen haltenden Equipage erschien, wie aus der Erde gewachsen, eine Frau, eine gewaltige Erscheinung mit bleichem Gesicht und geschlossenen Lippen; noch wogte ihr Gewand, wehte das Haar auf der Stirn vom schnellen Lauf. Mit festem Griff riß sie das Kind aus den Armen der Kammerjungfer und hielt es hoch über den Köpfen der Entsetzten, so daß Lucile abermals aufschrie.
Die „Gartenlaube“ hat vor Kurzem Charakteristiken Ludwig Barnay’s und Franziska Ellmenreich’s aus der Feder des Unterzeichneten gebracht; der dritte in diesem leider jetzt gesprengten Verein darstellender Kunst, welcher dem Hamburger Stadttheater zu einem erfreulichen Aufschwung verholfen und die erfolgreichste Aufführung classischer Dramen ermöglicht hatte, ist Siegwart Friedmann, der treffliche Charakterdarsteller, der Schüler Bogumil Dawison’s.
Eine eigentliche Schule konnte der geniale Dawison, der durch die hochgesteigerte Macht einer eigenartigen Begabung wirkte, nicht begründen, noch weniger als Emil Devrient, obgleich auch die Erfolge dieses Künstlers durch seine Persönlichkeit und zwar durch den idealen Zauber derselben bedingt waren, aber Dawison war ein scharfer Kopf, der über die Aufgaben seiner Kunst und die Mittel, sie wirksam zu lösen, viel nachgedacht hatte, wenn er auch zuletzt durch seine Inspiration und sein zündendes Feuer entscheidende Siege auf der Bühne erfocht. Eine Schule zu begründen durch Lehre und Beispiel mit absichtlicher Pädagogik, mußte ihm fern liegen; was bei ihm den Ausschlag gab, war ja etwas nicht zu Erlernendes, etwas Unnachahmliches; gleichwohl strömte von ihm im intimsten Umgang eine Fülle von Anregungen aus, und wenn er keine Schule bildete, so hat er doch einmal einen Schüler gehabt,
[565][566] ein einziges Mal, oder, wenn man lieber will, einen Jünger, zu dem er sich durch Sympathie hingezogen fühlte, in dem er einen Zug enger geistiger Verwandtschaft entdeckte.
„In meine Schule,“ hatte er oft in seiner etwas überschwänglichen Weise gesagt, „taugen keine Zwerge, sondern nur Riesen, und die sind jetzt bei der Bühne selten. Wer heute zum Theater geht, thut es nicht aus künstlerischem Drang, sondern aus Eitelkeit, ich will aber lieber für die Nachwelt gar keine Traditionen hinterlassen, als entstellte.“
Von diesem Programm konnte ihn nur innige Sympathie, die Ueberzeugung von dem echten Beruf einer jüngeren Kraft abtrünnig machen, und sein einziger Schüler und Jünger wurde Siegwart Friedmann.
Im April 1842 in Pest geboren, verwöhnter Liebling der Mutter, etwas strenger vom Vater erzogen, war der junge Siegwart für eine praktische Laufbahn bestimmt, wie sie seine Brüder mit Erfolg einschlugen. Er sollte Kaufmann werden, nachdem er die Handelsschule absolvirt hatte; als vierzehnjähriger Lehrling kam er nach Wien, wo er sechs Jahre lang in Condition war, doch sein Hang zog ihn zum Theater; er war einer der fleißigsten Besucher des Burgschauspiels; von Tag zu Tag wuchs seine Neigung zur darstellenden Kunst. Er faßte sich ein Herz und begab sich zu Sonnenthal; denn für diesen trefflichen und vornehmen Künstler hegte er eine große Verehrung. Sonnenthal empfing ihn in freundlicher und liebenswürdiger Weise, sprach ihm Talent zu und erklärte ihm: „Sie dürfen zum Theater.“
Jetzt glaubte der junge Kunstnovize die Weihe für diesen Beruf erhalten zu haben; er eilte nach Pest zurück, um sofort die Zustimmung seines Vaters zu erlangen, doch als er diesem am Tage seiner Ankunft gegenübertrat, versagte ihm das Wort der Bitte. Der Vater war zwar kein Feind des Theaters – er besuchte es gern – doch der Gedanke, daß sein Sohn Schauspieler werden solle, würde ihn auf’s Aeußerste erschreckt haben; er liebte die Kunst, aber er dachte gering von den Künstlern.
Als er am nächsten Tage ausging und nach dem Theaterzettel sah, wie groß war seine Freude, als er ein Gastspiel Dawison’s angezeigt fand! Der berühmte Künstler sollte am Abend „Richard den Dritten“ spielen. Der junge Enthusiast kaufte sogleich ein Billet für die Vorstellung und war nach derselben durch die ausgezeichnete Leistung des Meisters so aufgeregt, daß er die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Er faßte den Entschluß, am nächsten Morgen den gefeierten Künstler in seinem Hôtel zu besuchen.
Mit Herzklopfen, mit namenloser Angst stand er vor der Thür des Zimmers. Endlich klopfte er, und ein sonores, schneidiges, kurzes „Herein!“ schallte ihm entgegen; er stand vor Dawison. „Ich muß mich anfangs,“ so schreibt er selbst über diese Begegnung, „recht albern benommen haben, denn das feine und ironische Lächeln, welches den beredten Mund des großen Mimen umschwebte, machte mich jetzt erst auf die fast ohnmächtige Befangenheit aufmerksam, in der ich mich befand. Er hieß mich niedersetzen und fragte nach meinem Begehren. Nach und nach kam ich denn zum stürmischen Ausdrucke meiner Bewunderung.“ Dawison betrachtete den langen, schmächtigen Jüngling mit den herabwallenden Ringellocken und dem entschlossenen Zug in seinem Gesicht nicht ohne Antheil. Allmählich sprach dieser denn auch den Wunsch aus, der ihn hergeführt: er bat, ein, zwei Rollen dem Meister vorsprechen zu dürfen.
„Welche Rollen haben Sie schon studirt?“ fragte Dawison.
„Die meisten,“ lautete die Antwort, „die Sie selbst spielen, Carlos, Marinelli …“
„Das geht nicht. Die ersten zwei bis drei Jahre müssen Sie unter allen Umständen nur Liebhaber spielen; das Fach der Liebhaber ist das ABC in unserer Kunst.“
Dawison nahm ein Buch des „Don Carlos“ und ließ Friedmann die Rolle des spanischen Prinzen im zweiten Acte sprechen.
„Das ist einmal ein ganzer Kerl,“ sagte Dawison zu seiner Frau, als Friedmann gegangen war, „das waren einmal echte, wirkliche Thränen.“
Friedmann kam nun öfters und wurde der Liebling des Hauses. Dawison forderte ihn auf, ihm als sein Schüler nach Dresden zu folgen.
„Kommen Sie nur ungenirt mit,“ sagte er, „und lassen Sie alles Uebrige meine Sorge sein!“
Jetzt erst entdeckte Friedmann dem Vater seine böse Absicht, zum Theater zu gehen; aber die Gönnerschaft Dawison’s ließ keinen Widerspruch zu Worte kommen.
In Dresden studirte Friedmann mit jenem Fleiß, jener Ausdauer, wie sie sein Lehrer selbst bewährt hatte. Von Morgens bis Abends suchte er sich in der Welt- und Literaturgeschichte, in der Musik und Poetik, in den Classikern heimisch zu machen. Wenn er nach einer Abendgesellschaft zu lange schlief, weckte ihn Dawison oft mit einem Pistolenschusse und setzte ihm dann aus einander, daß, wer in der Kunst alles leisten wolle, rastlos thätig sein müsse. Dawison hatte ihn in seiner eigenen Villa einquartiert und ließ ihm durch engagirte Lehrkräfte Unterricht ertheilen, auch im Fechten, Turnen, Schwimmen, Reiten. Zur Lösung seiner Zunge mußte der Zögling viel französisch parliren, englisch lesen und italienisch singen. Den dramatischen Unterricht leitete der Meister selbst.
So ging Friedmann, trefflich vorbereitet als der einzige Schüler eines trefflichen Künstlers, in sein erstes Engagement nach Breslau, nahm dann an Dawison’s Gastspiel in Wien 1864 Theil, und wurde hierauf am Berliner Hoftheater engagirt, wo er eine sehr gedrückte Stellung einnahm, da zwei hervorragende Künstler, Döring und Dessoir, im unbestreitbaren Besitze der ersten Rollen waren.
Eine günstigere Epoche brach für ihn an, als er im Jahre 1871 an das Wiener Stadttheater kam, wo er in der Laube’schen Schule noch etwas realistisch gedrillt wurde und in hervorragenden Rollen schöne Erfolge errang. Im Jahre 1876 wurde er von Pollini für das Hamburger Stadttheater engagirt, und hier gelang es ihm, im Bunde mit Barnay und Fräulein Ellmenreich, durch ausgezeichnete Darstellung classischer Dichtungen stets das Haus zu füllen. Von hier will sich der Künstler wieder dem Wiener Stadttheater zuwenden, dessen Leitung vielleicht, einigen Zeitungsnotizen zufolge, seinen Händen anvertraut wird.
Eine Ehe Friedmann’s mit jener Tochter des Herrn von Doenniges, welche durch ihre Beziehungen zu Ferdinand Lassalle und den tragischen Tod des philosophischen Agitators ein romanhaftes Interesse in Anspruch nahm und welche nachher jenen Bojaren von Rakowicz heirathete, der Lassalle im Duell erschoß, wurde wieder gelöst. Die goldlockige Schöne hat sich auch dem Theater zugewendet und gastirte in der letzten Zeit auf nordamerikanischen Bühnen.
Friedmann selbst hat durch Gastspiele in Meiningen und Schwerin wo ihn die kunstsinnigen Fürsten durch Ordensverleihungen auszeichneten, sowie in vielen anderen Städten seinen Ruf in immer weiteren Kreisen verbreitet. In Leipzig gastirte er im Sommer 1878, und hier lernten auch wir den Künstler kennen. Dasjenige, was ihm von Hause aus Dawison’s Sympathien erwarb, die innere Herzenswärme, belebt noch heute seine Darstellungen; es ist Geist und Leben in Allem, was er schafft. Eine sclavische Nachahmung Dawison’s wird man vergeblich bei ihm suchen. Durch eigenartiges Schaffen hatte sich der Lehrer ausgezeichnet; der Schüler konnte sein Vorbild dann am meisten erreichen, wenn er es am wenigsten in äußerlicher Weise zu copiren suchte. In der That ist die Auffassung vieler Rollen bei dem Jünger eine wesentlich andere als bei dem Meister, ja eine durchaus originelle. Nur ist diese Originalität keine gesuchte, sondern sie hängt mit dem innersten Wesen des Darstellers zusammen.
So ist z. B. sein „Hamlet“ wesentlich abweichend von den üblichen Auffassungen dieses Charakters; man könnte sagen, Friedmann spielt einen neuen Commentar dieser Rolle, aber einen Commentar, der in ihm Fleisch und Blut geworden ist. Dieser Hamlet ist der sanfte, melancholische Gefühlsmensch, dessen Gefühl durch die bitteren Kränkungen seines Schicksals aus den Fugen geworfen ist. Sinn für die Kunst, schöngeistige Empfindungen, Neigungen zu Reflexionen über Welt, Menschen und Leben, das verträgt sich sehr wohl mit einer solchen nervös gereizten Natur, aber das überwiegend Schwächliche, gutmüthig Edle, welches so die Grundlage des Charakters bildet, ist doch mit verschiedenen Aeußerungen desselben nicht in Einklang zu bringen. Die Mehrzahl der Erklärer behauptet, daß es dem Hamlet nicht an Muth, Thatkraft und Mannhaftigkeit fehle, daß er nur aus einer Fülle von Ueberlegungen nicht zur That komme. Zum Glück für jene neue Auffassung des Charakters sind die Scenen, in denen [567] Hamlet rasch zugreifend seine Heimtücke an Rosenkranz und Güldenstern ausübt, in den Bühnenbearbeitungen gestrichen. Ebenso spielt Friedmann nicht die Grabesscene, das Ringen zwischen Hamlet und Laertes; denn die Wildheit des Helden paßt hier nicht zu seiner Auffassung. Auch die Scene mit Ophelia bedarf einer neuen Auslegung durch die darstellende Kunst, wenn sie nicht in Widerspruch treten soll mit dem Charakter, wie ihn Friedmann angelegt hat.
Offenbar benimmt sich Hamlet in dieser Scene sehr unedel und hartherzig gegen Ophelia. Der Hamlet Friedmann’s merkt, daß er belauscht wird, spielt deshalb nur Komödie mit der Geliebten und deutet am Schluß durch einen liebevollen Kuß auf ihre Stirn an, daß diese Komödie nicht ihr selbst gelte, sondern nur den Zuhörern. Man muß bekennen, daß der Darsteller seine Auffassung mit großer Consequenz durchführt, mit einer bedeuteten schauspielerischen Kraft, wenn man auch gegen einen edeln und weichherzigen Hamlet mancherlei Bedenken hegen muß.
Friedmann’s „Richard der Dritte“ ist eine ist großem Stil erfaßte markige Darstellung, ist welcher das Heimtückische des Charakters gegen die wilde Größe des Despoten zurücktritt.
Von der Vielseitigkeit des Schauspielers legen viele kleinere Rollen, der Bonjour in den „Wienern in Paris“, der Benjamin in der „Valentine“, vor allem aber der „Königslieutenant“ und der Verbrecher Baranski in Bohrmann-Ranger’s „Verlorener Ehre“ Zeugniß ab. Für den Thorane bringt Friedmann nicht das militärisch Ritterliche mit, wie andere gefeierte Darsteller; aber er giebt ihm dafür das auflodernde, hitzige Temperament des Südfranzosen und bisweilen einen Anflug von Jovialität; es ist ein durchgeistigter, mit innerer Herzenswärme erfüllter Thorane, der sich nicht blos in kühlen Phantasiespielen ergeht.
Die Begabung Friedmann’s für frappante Charakterdarstellung tritt besonders in seinem Baranski hervor. Diese verwahrloste Natur darzustellen, in welcher bisweilen edlere Züge auftauchen ist eine schwierige, aber lohnende Aufgabe. Das Aeußere Friedmann’s ist da ganz dasjenige des entlassenen Sträflings, der mit zerstörtem Leben in die Gesellschaft hinausgestoßen wird, in der er sich nicht heimisch fühlen kann. Bitterkeit, Neid, Haß, das sind die Elemente, mit dessen seine Seele durch die lange Strafzeit erfüllt worden ist. Dazu kommt der elegische Zug, den ihm Friedmann giebt; es ist der Ton einer zerrissenen Saite, schlottrig, geborsten, nicht der wehmütige Klang, wie ihn ein edler Schmerz dem Saitenspiel der Seele entlockt. Dennoch fehlen diese edleren Regungen nicht: die innere Wandlung des Verbrechers und den rührenden Verzicht desselben am Schluß führt uns der Darsteller ergreifend vor.
Friedmann hat mit seinem Meister Dawison zwar nicht das blitzartig Zündende gemein, wohl aber die innere Hingebung, das gänzliche Aufgehen in den Charakteren, die er darstellt. Am wenigsten dürften ihm kalte Verstandesnaturen, trockene Bösewichter zusagen; sein Naturell würde ihn antreiben, auch bei ihnen nach menschlichen Regungen zu suchen. Neben den hochtragischen Gestalten, denen er einen feurigen Zug verleiht, sind es die Gemüthsmenschen im Schau- und Lustspiel, die seinem Wesen am nächsten liegen und denen er eine frische und doch nicht allzu übersprudelnde Jovialität zu geben weiß.
Unermüdlich regsam, mit höchstem Eifer seiner Kunst hingegeben, hat der siebenunddreißigjährige Darsteller noch nicht den Höhepunkt seiner Kunst und seines Rufes erreicht; die deutsche Bühne hat noch manche erfreuliche Leistung von ihm zu erwarten, und jüngere Dramatiker werden in seiner schöpferischen Begabung, in seiner aus vollem Herzen hervorquellenden Kunst noch oft einen willkommenen Halt für die Menschwerdung ihrer Gestalten auf den weltbedeutenden Brettern finden.
Mataupu 1. E tumau pea lava pea le Nofolelei ma le fealofani o le Malo o Siama ni ma le Malo o Samoa; ua faapea foi o tagata Siamani ma tagata Samoa, e tusa lava po o Alii ma tagata mamalu pe leai, e tusa lava foi pe a latou fetaiâi i lea mea po lea mea.
Da dieser Satz Anderen wahrscheinlich ebenso unverständlich ist, wie er es mir war, bis ich die im Originale danebenstehende Uebersetzung gelesen, so sei zur Erklärung desselben von vornherein bemerkt, daß dies der Wortlaut des ersten Artikels eines zu Apia auf den Samoa-Inseln am 24. Januar 1879 zwischen Seiner Majestät dem deutschen Kaiser und den Herren der Taimua (Senat der Samoa’schen Häuptlinge) abgeschlossenen Freundschaftsvertrages ist, welcher auf gut deutsch etwa wie folgt lautet: „Es soll Friede und immerwährende Freundschaft sein zwischen dem deutschen Reich einerseits und Samoa andererseits, sowie zwischen den beiderseitigen Angehörigen ohne Unterschied der Personen und Orte.“
Die Wichtigkeit des Vertrages mit Samoa springt in die Augen, wenn man erwägt, daß gegenwärtig der Handel Deutschlands auf den Südsee-Inseln demjenigen aller anderen Nationen überlegen ist, obwohl von letzteren große Anstrengungen gemacht worden sind, uns den unter manchen Opfern und Gefahren errungenen Vorsprung wieder abzugewinnen – eine Errungenschaft der deutschen Flagge, welche hauptsächlich dem wiederholten Erscheinen deutscher Kriegsschiffe in den diese Inselgruppen begrenzenden Meerestheilen zuzuschreiben, wodurch sowohl das Vertrauen der deutschen Unternehmer in die Zukunft des deutschen Südseehandels gesteigert, wie die Achtung der Eingeborenen vor den durch die deutsche Flagge geschützten Handelsinteressen erhöht wurde.
Bei dieser Blüthe unseres Handels im Stillen Ocean hat es die kaiserliche Regierung als eine nationale Pflicht erachten müssen, die deutschen Unternehmungen dort nicht lediglich ihrem eigenen Schicksale zu überlassen, was zu dem Abschlusse des erwähnten Freundschaftsvertrages führte.
Die eben berührten Vorgänge gewähren ein eigenthümliches, aber für den Gegensatz des deutschen Handels in der Südsee zur amerikanisch-englischen Speculation ganz charakteristisches Bild. Auf der einen Seite ein eifersüchtiger Kampf zwischen Engländern und Amerikanern, welche sich die Herrschaft über eine als reich und ausbeutungsfähig anerkannte Inselgruppe streitig machen, auf der andern Seite der sich von dem Kampfe abseits haltende Deutsche, in dessen Hand thatsächlich der wichtigere Theil des Handels liegt und für den die politischen Zustände und die Zukunft der Inseln daher eine Existenzfrage bilden.
Die dreizehn Artikel des deutschen Vertrages mit Samoa bestimmen im Wesentlichen Folgendes: Es soll für die deutschen Staatsangehörigen vollständige Handelsfreiheit in allen Gebieten Samoas bestehen. Dieselben können ungehindert mit ihren Schiffen und Ladungen aller Art in alle Plätze, Häfen und Gewässer Samoas einlaufen, die Ladungen ihrer Schiffe verkaufen, an Land nehmen und lagern, sowie auch alle ihnen gehörigen Landeserzeugnisse oder andere Gegenstände absenden und ihre Schiffe damit beladen.
Die deutschen Staatsangehörigen sollen weder für ihre ankommenden oder ausgehenden Schiffe und deren Ladungen, noch für die Betreibung des Handels irgend welchen Steuern, Abgaben oder Beschränkungen unterworfen sein, so lange solche nicht besonders zwischen den beiderseitigen Regierungen vereinbart worden sind, jedoch sollen sie auch in solchem Falle immer die gleichen Rechte und Vortheile genießen, wie die Samoanen oder die Angehörigen der meistbegünstigten Nation.
Ferner soll den deutschen Kriegsschiffen freistehen, in den Häfen von Saluafata und Falealili einzulaufen, daselbst zu ankern, Bedarf einzunehmen und erlittene Seeschäden zu repariren. Der [568] deutschen Regierung soll es außerdem gestattet sein, in jedem Hafen nach eigenem Ermessen alle für die deutschen Kriegsschiffe und deren Besatzungen nützlichen Einrichtungen und Anordnungen zu treffen. Die Samoaregierung ist ferner damit einverstanden, daß die deutsche Regierung an den Ufern des Hafens von Saluafata Gebäude zwecks Lagerung von Kohlen und anderen Bedarfsgegenständen für die deutschen Kriegsschiffe und deren Besatzungen errichtet. Es soll der deutschen Regierung auch zustehen, auf dem Lande, wo die Stationsgebäude errichtet werden, ihre Flagge aufzuziehen, jedoch soll die Oberhoheit der Samoaregierung über den Hafen von Saluafata dadurch in keiner Weise geschmälert und beeinträchtigt werden, andererseits aber verspricht diese auch nichts zu thun, wodurch die der deutschen Regierung in diesem Artikel gewährten Rechte irgendwie werthlos gemacht oder beeinträchtigt werden können, wie durch diese Rechte der Hafen von Saluafata den Kriegs- oder Handelsschiffen derjenigen Nationen, welchen die Samoaregierung ihre Häfen offen hält, nicht verschlossen werden soll. Die Regierung von Samoa darf jedoch in Bezug auf diesen Hafen und seine Ufer keiner anderen Nation gleiche Rechte, wie die der deutschen Regierung gewährten, bewilligen. Es soll den deutschen Kriegsschiffen ferner unbenommen sein, auch in alle anderen Plätze, Häfen und Gewässer Samoas einzulaufen daselbst zu ankern, Bedarf einzunehmen und Schäden auszubessern nach Maßgabe etwaiger zwischen den beiderseitigen Regierungen zu vereinbarender Gesetze, und verspricht die Samoaregierung hierdurch ferner, daß sie keiner andern Nation in irgend einer Weise irgend welche Vorrechte vor der deutschen Regierung in Bezug auf den Hafen von Apia und dessen Ufer bewilligen will, sondern daß die deutsche Regierung auch in dieser Beziehung mit anderen Nationen immer gleichberechtigt sein soll.
Die Gerichtsbarkeit über deutsche Angehörige kann nur unter deutscher Mitwirkung vollzogen werden, wie überhaupt jegliche Maßregel, welche deutsche Interessen berührt, nur unter Zustimmung der Reichsregierung getroffen werden kann.
Ich habe bei diesem Vertrage länger verweilt, da er auf nicht kurze Zeit hinaus die Grundsätze unserer Colonialpolitik bestimmt und als politischer Präcedenzfall beachtenswerth erscheint. Es werden hiernach dem deutschen Reiche alle Vortheile des Colonialhandels gewährt, ohne uns Pflichten aufzuerlegen, welche mit einem Colonialbesitz verbunden sein würden. Weder den Aufruhr unterjochter Völkerschaften haben wir zu befürchten, noch werden die ränkesüchtigen Umtriebe concurrirender Nationen unserem Colonialhandel in den Südsee-Inseln ernstere Gefahren bereiten. Nicht stützt sich der Vertrag auf die politische Herrschaft gegenüber unterjochten Völkerschaften, sondern mit Hülfe der unsererseits dargebrachten Handelsvortheile ist er bestrebt, die deutschen Handelsbeziehungen zu erweitern und uns eine durch gegenseitige Interessen gewährleistete herrschende Stellung in fernen Küstenländern zu sichern. Mit solchen Meistbegünstigungsverträgen kann Deutschland sich noch halbe Continente erschließen, ohne bedenkliche Verpflichtungen zu übernehmen.
Unter Beihülfe des deutschen Consuls für die Samoa- und Tonga-Inseln, Herrn Theodor August Ludwig Weber, hat der Capitain der deutschen Corvette „Ariadne“, Karl Bartholomäus von Werner, im Namen des deutschen Kaisers außer mit den Tonga- und Samoa-Inseln mit noch anderen unabhängigen Inselgruppen, den Ellice-Inseln, der Jaluit- und Ralickgruppe und den Duke of York-Inseln, ziemlich gleichlautende Verträge abgeschlossen. Auf den letzteren wurden die Häfen Makada und Mioko käuflich erworben und auf Jaluit die Kohlenstation angelegt.
Die Namen der Schöpfer dieser Verträge, der Herren Capitaine von Schleinitz, Werner, Knorr und Hassenpflug, sowie derjenige des Herrn Consul Weber, verdienen dem deutschen Volke bekannt zu sein und von demselben geachtet zu werden.
Sehen wir uns nach diesen einleitenden Bemerkungen unsere ersten colonialen Errungenschaften etwas genauer an, um uns über Land und Leute, Klima und Producte, Handelsverhältnisse und sociale Zustände der Inselgruppe zu unterrichten!
Die Samoa- oder Schiffer-Inseln liegen zwischen 13° 27’ bis 14° 22,5’ südlicher Breite und 169° 28’ bis 172° 48’ westlicher Länge von Greenwich, im Mittelpunkte Polynesiens, auf dem Wege von San Francisco nach Auckland, von Panama nach Sydney und von Valparaiso nach China und Japan. Die ganze Gruppe besteht aus acht größeren und fünf kleineren Inseln. Die ersteren, sich von Osten nach Westen erstreckend, heißen Manua, Olosega, Ofu, Tutuila, Upolu, Manono, Apolima und Savaii. Am Ostende von Upolu liegen die vier kleineren Inseln Nuutele, Nuulua, Fanuatapu und Namua, am Ostende von Tutuila die Insel Anuu. Die größten Inseln der Gruppe sind Savaii mit 659, und Upolu mit 335 Quadratkilometer. Die übrigen sind wesentlich kleiner und nehmen, die eben erwähnten beiden Inseln eingerechnet, zusammen einen ungefähren Flächeninhalt von etwas über 1086 Quadratkilometer ein. Savaii ist die größte, aber auch die am wenigsten fruchtbare und bevölkerte Insel. Oestlich von ihr liegt Upolu, die reichste, fruchtbarste und schönste aller dieser Eilande.
Zahlreiche erloschene vulcanische Schlünde ziehen sich auf dem hohen Bergrücken der Insel in einer Linie fort, aber dergestalt ist hier Alles mit dem üppigsten Pflanzenwuchs ausgestattet, daß, als Capitain Dana vom Rande des 710 Meter hohen Kraters Tafua in dessen Schlund hinabblickte, sein Auge nirgends den Boden erreichen konnte, da mächtige, oft über 35 Meter hohe Bäume ihn beschatteten und das Gestein überall unter einer dichten Pflanzendecke verschwand. Die Bergabhänge sind im mittleren Theile der Insel schroff und eckig, von tiefen Thälern durchfurcht, oder sie stehen wie steile Mauern da, über die sich zahlreiche, kleine Wasserfälle hinabstürzen; im westlichen und östlichen Theile dagegen sind die Abhänge flacher, die Ufer sanfter und wellenförmig; auch versickern hier die Bäche häufig in dem porösen Gestein und sprudeln dann am Ufer wieder hervor.
Der wichtigste Platz der Insel und überhaupt der ganzen Gruppe ist zur Zeit der unweit Mulinu, dem Sitze der samoanischen Regierung, belegene Hafenort Apia.
Durch den immer mehr sich vergrößernden Handel und die zunehmende Schifffahrt haben sich rings um die Bucht von Apia eine Anzahl Fremder angesiedelt, deren Häuser und Magazine den Strand umsäumen und dem Platze, namentlich vom Hafen aus, ein ganz stattliches Ansehen geben. In Wirklichkeit ist im Umkreis von 4 Kilometern alles Land fremdes und überwiegend, wenn nicht fast ausschließlich, deutsches Eigenthum. Apia ist ferner der Centralpunkt des Handels, wo sich alle Waarendepots und Einrichtungen für die industrielle deutsche Thätigkeit befinden.
Der Haupthandel liegt in den Händen der deutschen Firmen Joh. Ces. Godeffroy u. Sohn und Ruge, Hedemann u. Comp. Die englischen Interessen sind sehr vertheilt; die amerikanischen vertritt das Haus D. S. Parker u. Comp.
Das Land auf Upolu, und besonders das um Apia ist von den Bevollmächtigten der Herren J. C. Godeffroy auf das Genaueste vermessen worden. Die kartographische Anstalt von L. Friederichsen u. Comp. in Hamburg hat für diese Zeichnungen das ausschließliche Eigenthumsrecht erworben. Wir haben es also der Güte dieser geachteten und rührigen Firma zu danken, daß wir der heutigen Nummer der „Gartenlaube“ eine Skizze des gegenwärtig für uns so interessanten Hafens beigeben können, und wollen nicht unerwähnt lassen, daß die dem deutschen Reichstage vorgelegte, mit zahlreichen Originalkarten versehene Denkschrift, den Freundschaftsvertrag mit den Samoa-Inseln betreffend, in diesem Verlage erschienen und durch denselben käuflich zu beziehen ist.
Als es sich beim Abschluß des Vertrages mit Samoa für die deutschen Bevollmächtigten darum handelte, einen Hafenplatz, zunächst einen Kohlenhafen, zu erwerben, verfiel man in richtiger Würdigung der einschlagenden Verhältnisse auf die acht Kilometer südöstlich von Apia gelegene Bucht Saluafata.
Die Gegend von Saluafata ist eine der schönsten in Upolu. Das Meer bildet hier eine weite Bucht, die von Hügeln und Bergen umkränzt wird. In derselben liegen kleine Inseln, gekrönt mit Gebüsch und Cocospalmen, unter welchen in Frieden die Gebeine der Häuptlinge dieses Landestheiles in gemauerten Mausoleen ruhen. Einzelne Felsen, die dem Meere entsteigen, und Riffe, über welchen es sich weißschäumend bricht, verbunden mit dem grünen, hohen, gebirgigen Hintergrunde von Solosolo, verleihen dem Ganzen ein höchst malerisches Aussehen. Saluafata gehört zu den besseren Häfen der Gruppe; hinter den vorliegenden Riffen bietet er vollständig sichere Ankerplätze, ist für Segelschiffe benutzbar, hat stets frischen Passat und vortreffliches Trinkwasser. Hinter Saluafata liegt eine große Ebene, auf welcher sich der Plantagenbau vorzugsweise entwickelt.
Südöstlich von Upolu liegt die drittgrößte Insel Tutuila, deren höchster Berg sich 772 Meter über den Meeresspiegel erhebt. [569] Die Bergrücken des Hochlandes sind steil und scharfkantig und steigen oft mauerähnlich 100 bis 135 Meter hoch empor. Ueber diese Wände hinaus ist die Oberfläche des Landes bis zu den höchsten Gipfeln mit der prächtigsten Vegetation bedeckt, die in ihrem üppigen Wachsthum durch zahlreiche, überall von den Bergen herabrieselnde Bäche gefördert wird. Da, wo die Thäler ausmünden, hat sich gewöhnlich ein fruchtbares Flachland gebildet, das sich bisweilen meilenweit landeinwärts erstreckt, ehe es den Fuß des Hochgebirges erreicht. Die Insel hat an der Südseite einen vortrefflichen Ankerplatz, den Hafen Pago-Pago, der sich tief in das Innere erstreckt. Der schmale, flache Rand der Bucht ist mit schönen Pflanzungen und prächtigen Cocoshainen bedeckt.
Der Hafen, nach den jüngsten Verträgen Eigenthum der Vereinigten Staaten von Nordamerika, ist leicht zu erreichen, aber der schmale Eingang ist so versteckt und geschützt durch die umgebenden Berge, daß er auf Entfernung schwer bemerkbar ist.
Die Inseln Upolu und Tutila können als so fruchtbar bezeichnet werden, daß wohl kein Fuß Landes existirt, auf welchem nicht jegliches Product gedeihen würde; dasselbe kann man von Savaii sagen, mit Ausnahme eines größeren Flächenraumes inmitten der Insel, der mit dem Namen der „Verbrannte District“ bezeichnet wird, und wo sich keine Vegetation findet.
Savaii, Tutuila und Upolu sind zu mehr als zwei Dritteln ihres ganzen Flächeninhaltes Flachland oder sanft abfallendes Tafelland; man kann mit Sicherheit annehmen, daß auf den Inseln 700,000 Acker mit Leichtigkeit zu cultiviren sind. Das Klima ist mild und angenehm, nicht zu heiß und dabei sehr feucht; Regen fällt reichlich von Anfang December bis März; Juni und Juli sind die kühlsten Monate, September und October dagegen die heißesten.
Zu den erfahrungsmäßig sich am meisten für das Klima und die örtlichen Bedingungen von Samoa eignenden Producten gehören Cocos, Baumwolle, Zucker, Kaffee, Tabak, Vanille, Reis, Indigo, Zimmt, echte Muskatnuß, Arrowwurzel und verschiedene ölproducirende Bäume. Unter den Nutzpflanzen, welche zweifellos mit Erfolg eingeführt werden können, sind vorzugsweise Cinchona und Thee zu nennen; für die Cultur des letzteren bietet kein Klima oder Land günstigere Bedingungen als Samoa.
Die wichtige Cocospalme verdient vor allen unsere Beachtung. Die deutschen Pflanzungen um Apia enthalten zur Zeit etwa 120,000 Cocosnußbäume, von welchen die Hälfte ertragfähig ist, und alljährlich werden Tausende hinzugepflanzt. In ungefähr sechs Jahren wird die Cocosnußpalme ertragfähig, und ihre volle Reife erreicht sie im zehnten Jahre. Auf gutem Boden liefert ein Baum, der sechszig bis siebenzig Jahre alt werden kann, ungefähr hundert Nüsse das Jahr. Die äußere, über fünf Centimeter dicke Hülle der Nuß besteht aus längs hinlaufenden, dicht zusammenhängenden Fasern, welche, zugerichtet, unter dem Namen Coir in den Handel kommen. Der Stoff dient zu Polstermaterial, zu geflochtenen Teppichen, Unterlegern, Abtretern, zu Bürsten, Pinseln, gesponnen zu Seilerwaaren, Maschinentriebbändern etc.. Die harte Schale der Nüsse bildet bekanntlich willkommenes Material zu kleinen Drechsler- und Schnitzwaaren. Die größte Bedeutung als Handels- und Industrie-Artikel hat das Cocosnußöl erlangt, das aber erst in Europa aus eingeführten, getrockneten Cocoskernen gewonnen wird. Gleichzeitig mit der Cocosnußpalme wird auf dem gereinigten Boden die Baumwollenstaude gepflanzt und liefert reichliche Ernte, bis die jungen Palmen eine Höhe erreichen, daß sie die Baumwollstaude überschatten; dann stirbt letztere ab, und die Cocospalme wird tragend. Die Baumwolle liefert zwei Ernten im Jahre und bei regelrechter Cultur erfordert sie nur wenig Arbeit; der Acker producirt 500 Pfund jährlich.
Sehr saftiges Zuckerrohr wächst wild auf allen Inseln; auf einer der deutschen Plantagen sind ungefähr 100 Acker mit gutem Erfolge damit bepflanzt worden. Von Kaffee, Tabak, Reis, Indigo werden lohnende Ernten erzielt; außerdem wachsen auf den Inseln die als Lebensmittel verwendeten Vegetabilien, wie Taro, Yams, Brodfruchtbaum, Bananen, Ananas und andere Früchte in großer Menge.
Es ist schon erwähnt worden, daß die Herren J. C. Godeffroy und Sohn, jetzt die „Deutsche Handels- und Plantagen-Gesellschaft [570] der Südsee-Inseln“, in Hamburg seit mehr als zwanzig Jahren den Südsee-Handel beherrschen. Von den Eingeborenen haben sie bereits 100- bis 120,000 Acres Land gekauft, von denen sie gegenwärtig etwa 4000 Acres in Cultur haben. Der größere Theil dieses Eigenthums liegt auf Upolu und bildet ein dreieckiges Terrain, welches sich ungefähr fünf Meilen an der Seeküste und landeinwärts bis zur Wasserscheide erstreckt. Es ist durch Saumpfade von der Küste aus leicht zugänglich.
Die deutsche Gesellschaft beschäftigt, dem mir vorliegenden Berichte nach, bereits 1200 eingeführte Arbeiter, hauptsächlich von den Kingsmill-Inseln, außer einer Anzahl von Samoanern, Rarotonganern und Niues.
Ein Engländer, Herr H. B. Sterndale, berichtet über die Verdienste und über die Thätigkeit der deutschen Firma an den Minister-Präsidenten von Neuseeland wie folgt: „Die Herren Godeffroy und Sohn zählen zu den einsichtsvollsten Kaufleuten Europas. In keiner Beziehung tritt dies mehr hervor, als in der weisen Anordnung, welche sie für Betreibung ihrer Plantagen auf Samoa entworfen haben. Die Kingsmill-Insulaner bieten bei Ankunft auf den Ländereien dieser Herren ein Abbild der niedrigsten Stufe von Südsee-Wilden dar; sie werden bequem untergebracht, anständig gekleidet, gut genährt und zur geregelten und friedlichen Arbeit herangebildet. Sie kommen schmutzig, faul und wild an; nach sechs Monaten Pflanzerarbeit sind sie nicht mehr dieselben Menschen, und beim Ablaufe ihres auf drei Jahre eingegangenen Contractes, während dessen Dauer sie allwöchentlich zwei Dollars Lohn bei freier Nahrung erhalten haben, sind sie so weit vorgeschritten, daß sie ebenso ungeeignet sind zur Gemeinschaft mit ihren brutalen Brüdern in der Heimath, wie sie es ehemals für die Berührung mit der civilisirten Welt waren.
Die Leute dürfen auf keinen Fall ohne ihre Zustimmung und diejenige ihrer Häuptlinge und Verwandten engagirt werden. Die Aufseher, denen es obliegt, sie auf das Feld zu begleiten, sind ihre eigenen Landsleute oder Fremde, welche längere Zeit unter ihnen gewohnt haben. Ihre Wohnungen bestehen aus gezimmerten Holzhütten, sind groß, luftig und rein. Ihre Nahrung setzt sich aus Schweinefleisch, Fisch, Taro, Yamswurzel, Paradiesfeigen, Brodfrüchten und einer täglichen Portion von gesundem Brod aus Maismehl zusammen, welches sie sehr lieben. Außer diesen regelmäßigen Tagesportionen erhalten sie Cocosnüsse, Melonen und anderes Obst und Gemüse nach Belieben. Sie haben an den Wochentagen 9 Stunden Arbeit, von 6 bis 11 und von 12 bis 4 Uhr, und sind an Sonntagen völlig Herr ihrer Zeit. Es wird unter keinen Umständen erlaubt, daß sie von ihren Aufsehern geschlagen werden, und wenn Strafe für nöthig befunden wird, z. B. in schlimmen Fällen von Gewalttätigkeiten oder Verbrechen, wie dies unter Wilden mitunter unvermeidlich ist, so erhalten sie 1 bis 4 Dutzend Schläge mit der Schiffskatze in Gegenwart des Consuls. Sie befinden sich unter der Aufsicht eines gehörig gebildeten Arztes und erhalten ohne Gegenleistung alle erforderlichen Arzneimittel und Bequemlichkeiten. Missionäre der protestantischen und der katholischen Confession haben jede Erleichterung, sie zu besuchen und zu unterrichten. Da sie aber von einer niedrigen Verstandesstufe sind, so ist es nicht bekannt geworden, daß sie von diesem Unterricht viel Nutzen gezogen hätten. In ihren Eheschließungsförmlichkeiten werden sie in keiner Weise beeinträchtigt; man erlaubt ihnen, ihre Verbindungen einzugehen, wie sie wollen, vorausgesetzt, daß der Friede erhalten bleibt.
Es wäre im Interesse der Pflanzer aller Tropen, wenn das von den Herren Godeffroy[2] und Sohn befolgte System allgemein bekannt und angenommen würde, und man kann nur hoffen und wünschen, daß früher oder später andere gleich unternehmende Capitalisten, von dem Einfluß einer erleuchteten Regierung unterstützt, aus diesen Ideen Vortheil ziehen und ein Project, welches dem dieser hochherzigen Kaufleute Hamburgs ähnlich sieht, zu gutem Ende führen möchten."
So der Engländer, Herr Sterndale!
Aber nicht nur auf dem Gebiete des Handels und der Humanität hat das Haus Godeffroy Hervorragendes geleistet, auch die Wissenschaften sind seiner Umsicht zu größtem Danke verpflichtet. Seit 20 Jahren erforschen mehrere Fachgelehrte in seinem Auftrage die Inseln der Südsee und vereinigen die dort gewonnenen interessanten Objecte in dem von der wissenschaftlichen Welt weit und breit gekannten „Museum Godeffroy“ in Hamburg.
Das „Journal des Museum Godeffroy“, seit dem Jahre 1871 unter der Redaction von L. Friederichsen in Hamburg, ist bestimmt, die Resultate der Godeffroy’schen Expeditionen zu allgemeinerer Kenntniß zu bringen. Dieses reichhaltige und sehr interessante Prachtwerk ersten Ranges werden alle Diejenigen nicht entbehren können, welche sich die neueren Verhältnisse in der Südsee zu Nutze zu machen gesonnen sind, wie es schon seit einiger Zeit dem Ethnographen und dem Naturforscher von größtem Nutzen gewesen ist.
Mit dem Vertrage vom 24. Januar 1879 bricht für den deutschen Handel in der Südsee eine neue Aera an; sie führt bei den fernen Wilden die Civilisation ein und schafft aus Cannibalen nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. Ehre dem Manne, der seit einem halben Menschenalter aus eigenem Antriebe diesen Umschwung angebahnt hat, Ehre Johan Cesar Godeffroy – dem Beglücker der Südsee!
Unter dem tiefblauen Himmel des süditalienischen Paradieses, nach welchem die in nordische Gefilde gebannte Menschheit sich stets wieder zurücksehnt, breiten sich die Fluthen des Golfes von Neapel aus, in denen sich die unvergleichlich schöne Stadt, der villenumkränzte Posilippo, die Gestade von Portici und das entzückende Sorrento widerspiegeln. Wie viele traurige Herzen mögen hier schon Tröstung gefunden und aus dem Bronnen der Schönheit Gesundheit der Seele geschöpft haben!
Aber unter all’ der Fülle von Augenwonne und Herzerquickung, die von der verschwenderischen Natur hier gespendet wird, lauert auch Schrecken und Gefahr, „der Feuerdrachen alte Brut“, die unter dem Vesuv Jahrhunderte lang ruhig lagert, um dann plötzlich Tod und Verderben auf die blühende Landschaft und unter die glücklichen Menschen zu schleudern, reizende Gärten in Wüstenei, Paradiese in schauerliche Einöden zu verwandeln, wie es nach zuverlässigen Ueberlieferungen dort schon wiederholt geschehen ist. Wer sieht es dem alten finstern Gesellen, dem aschgrauen Vesuv jetzt an, daß er einst, vor 1900 Jahren, noch von üppigen, lachenden Wein- und Obstgärten überkleidet war, als sein zweiter Gipfel, die zackige, wildzerklüftete Somma, noch gar nicht existirte, denn diese wurde erst später durch die Genossen Vulcan’s herausgehoben. Damals lagen am Fuße des Vesuvs die Städte Herculanum, Pompeji und Stabiae in malerischer Gruppirung, gleich anderen Provinzialstädten der campanischen Küste beliebte Zufluchtsorte für solche vornehme Römer, welche für einige Zeit, dem wirren Treiben der Hauptstadt entflohen, in glücklicher Zurückgezogenheit leben wollten.
Große geschichtliche Bedeutung hat keine dieser Mittelstädte erreicht, aber wenigstens Pompeji nahm, besonders in der römischen Kaiserzeit, einen so mächtigen Aufschwung, daß es bei längerem Bestand vielleicht sogar zu einer Großstadt emporgestiegen wäre. Zunächst dürften hier einige rückblickende Betrachtungen über die Entstehung und Geschichte Pompeji’s am Platze sein, zu denen einer der verdienstvollsten deutschen Alterthumsforscher, Th. Mommsen, in dem Werke „Unteritalien, Dialekte“ trefflichen Anhalt darbietet.
Nach seinen Angaben war Pompeji keine griechische Colonie wie viele andere Küstenstädte Italiens, sondern wurde nebst Herculanum von den oskischen Samniten gegründet; wenigstens weisen einige wichtige Ueberreste, z. B. die untere Stadtmauer und der sogenannte Tempel des Hercules auf dem Forum triangulare auf eine vorrömische Zeit zurück. Ueber den Namen der Stadt scheint mir das, was Dr. Overbeck darüber sagt, am meisten zutreffend, daß nämlich die alten Pompejaner einen blühenden Speditionshandel betrieben haben, weil ihre Stadt, begünstigt [571] durch die ausgezeichnete Lage am schiffbaren Sarno, zum Hauptstapelplatz für den lebhaften Getreide- und Oelhandel der ganzen Gegend wurde, und daß also Pompeji wegen dieser Spedition, griechisch πόμπη (Sendung), von den Griechen seinen Namen erhielt. Uebrigens wird der Name auch aus dem Oskischen – von Pumpago – abgeleitet.
Ueber die ältere und spätere Geschichte Pompejis bietet sich uns eine reiche Literatur dar, denn wir können sowohl aus den alten römischen Historikern wie auch aus zahlreichen, zum Theil ausgezeichneten Werken und Aufsätzen moderner Gelehrter und Schriftsteller, z. B. Winckelmann, Mommsen, Mazois, Ternite, Gervinus, Breton, Welcker, O. Müller, Dr. J. Overbeck, Garucci, Fiorelli, Katte, E. Preshun und Anderer schöpfen. Die römischen Historiker berichten, daß die Gründer der Stadt, die Samniten, in langen Kämpfen sich tapfer gegen den Ansturm der Römer behaupteten, bis 290 v. Chr. Samnium nebst Campanien unter das Römerjoch gebeugt wurde.
Pompeji war dann Provinzstadt mit Municipalverfassung (aber ohne Stimmrecht in den römischen Comitien) und hob sich in jeder Hinsicht, denn seine Blüthe überdauerte auch den von Sulla, 82 v. Chr., grausam niedergeworfenen Aufstand der Pompejaner, weil seine vorzügliche Handelslage und bedeutende Industriethätigkeit einestheils und der Zuzug reicher Ansiedler, die wegen der herrlichen Luft und klimatischen Vorzüge herbeikamen, anderntheils den Aufschwung bedeutend förderten. Für Rom wurde Pompeji ein Eldorado, zuletzt eines der berühmtesten Luxusbäder, in welchem z. B. Cicero, die Kaiser Augustus und Claudius schöne Villen besaßen. Augustus liebte es besonders, und deshalb ließ er dort eine nach ihm benannte nördliche Vorstadt, Pagus Augustus felix, erbauen. Es war ein Sitz des Reichtums, des Wohllebens, eine Heimath der Künste und des Handels zugleich, gerade weil es bei seiner Kleinheit (Overbeck schätzt die höchste Einwohnerzahl auf nur 12,000 bis 18,000) politische Bedeutung nicht besaß und nicht darnach strebte. Die Bewohnerschaft war dagegen eifrigst dem Erwerb, dem Handel, aber auch der Kunst und dem Vergnügen ergeben. Prachtvolle öffentliche Gebäude, reizende Privathäuser, reich ausgeschmückte Bäder, in denen sich Kostbarkeiten der feinsten Art aufhäuften, zierten die Stadt, Malereien und Sculpturen von bedeutenden Künstlern das Innere und Aeußere der Häuser.
So war denn die beglückte freudenreiche Stadt auf dem Gipfelpunkte der Entwickelung angelangt, als plötzlich im Jahre 63 n. Chr. am 5. Februar ein furchtbares Erdbeben den Boden erschütterte und die schreckensbleichen Bewohner durch einander jagte. Man hatte den alten rebenumkränzten Vesuv, der allerdings über tausend Jahre lang sich ruhig und friedlich verhalten hatte, stets mit den sorglosesten Blicken betrachtet und sicher angenommen, daß die ausgebrannte vulcanische Kraft in Ewigkeit erloschen sei. Grausamer Irrthum! Ein großer Theil Pompejis wurde durch Einsturz der Häuser zerstört. Wie viele unersetzliche Denkmäler griechischer Kunst, römischer Prachtliebe und altoskischer Architektur mögen damals verloren gegangen sein! Das damalige Bedenken des römischen Senats, den Wiederaufbau der Stadt an derselben Stelle zu gestatten (vgl. Winckelmann: „Nachrichten“ 7 und „Geschichte der Kunst“ VII, 3), erscheint sehr begründet, aber die Liebe für den heimathlichen Boden überwand alle Vorsicht und Befürchtungen. Die Stadt wurde in dem specifisch römischen Baustile der Zeit Nero’s wieder erbaut, gewährte also nunmehr ein vollständiges Bild einer echten römischen Municipalstadt. Schöner und schöner entfaltete sich die neue Stadt im nächsten Jahrzehnt und war schon nach sechszehn Jahren der Vollendung nahe, allein die Unterirdischen „haßten das Gebild der Menschenhand“ und das entsetzlichste Naturereigniß jener Zeit (zur Zeit des Kaisers Titus), ein furchtbarer Ausbruch des Vesuvs, vernichtete in ebenso viel Stunden, wie der Ausbau Jahre beansprucht hatte, das herrliche Pompeji für immer.
Am 24. August des Jahres 79 n. Chr. (nach Anderen schon am 23.) gegen ein Uhr Nachmittags, als gerade eine festlich begeisterte Menge die großen Räume des Amphitheaters füllte, verwandelte sich plötzlich der hellste Tag in dunkelste Nacht, das Fest in Jammer und Noth, die Lust in Schrecken und Verzweiflung, während unaufhörliche Blitze, riesengroße Feuersäulen, Asche, Felsstücke, Rauchwolken – kurz, ein Chaos des Entsetzens, die von Todesangst Ergriffenen umgab.
In dem bekannten Briefe von Plinius dem Jüngeren wird das für Jahrtausende unvergeßliche Schauerdrama am anschaulichsten in allen seinen Scenen geschildert und auch der Tod des älteren Plinius erzählt (Plinius, Epistolae VI, 16, 20). Dunkle, nur von den flammenden Blitzen durchleuchtete Nacht hüllte die ganze Gegend ein, über welche unaufhaltsam das Verderben sich wälzte, und als nach drei ewig langen Tagen und Nächten die Aschen- und Rauchwolken wieder den Sonnenstrahlen den Durchblick gestatteten, war das schon früher zerstörte Stabiae in seinen Ueberresten, waren die blühenden Städte Herculanum und Pompeji nebst Oplontis und Teglana vom Erdboden verschwunden, versenkt in ihr dunkles Lavagrab für mehr als anderthalb Jahrtausende.
Die Begrabenen verfielen im Laufe der Zeit vollständig der Vergessenheit, als wären sie nie dagewesen; nur der Name „civita“ (Stadt) wurde noch von Landleuten, die ja stets an alten Traditionen am treuesten festhalten, dem Orte der Verschüttung beigelegt, und selbst als der Architekt Fontana im Jahre 1592 bei Anlegung eines unterirdischen Canals mitten durch das frühere Pompeji auf Mauertrümmer mit Inschriften stieß, blieb Letzteres unbeachtet, bis endlich im Jahre 1748 (unter der Regierung Karl’s von Bourbon, des spätern Königs Karl’s des Dritten von Spanien) einige Winzer beim Umgraben von Weinbergen die ersten glücklichen Wiederfinder Pompejis und seiner höchst kostbaren Schätze wurden. Der Geniecorps-Officier Don Rocco Alcubierre durfte darauf die Ausgrabungen beginnen und Pompeji vollständiger entdecken. Weit eifriger betrieb man später, zur Zeit Murat’s, die wichtige Ausgrabung der Stadt, die so oft längeren Unterbrechungen ausgesetzt war, aber die systematische Fortführung des Werkes blieb bis in die neueste Zeit verschoben, und erst durch den genialen Director Fiorelli wurde zum Ruhme der Italia unita die Ausgrabung so gründlich gefördert, daß bis jetzt schon mehr als der dritte Theil Pompejis offen zu Tage liegt.
Die Ausgrabungsarbeit hat sich mit Grund hauptsächlich auf Pompeji concentrirt, weil diese Stadt höher gelegen, das heißt auf einer uralten, aus Lava gebildeten Anhöhe erbaut war, sodaß nur eine fünf bis sechs Meter tiefe Verschüttungsmasse wegzuräumen ist, und auch, weil die Ueberdeckung größtentheils nur aus schwarzer Vulcanasche, mit Bimsteinbrocken vermengt, besteht. So ist denn die Ausgrabung sehr erleichtert, lohnender und kann im größten Umfang ausgedehnt werden, während Herculanum viel tiefer, etwa dreißig Meter tief, unter vulcanischer Auswurfsmasse, verglaster Lava und sonstigem schwer zu durchbrechendem Material begraben liegt. Außerdem müßten die direct über Herculanum aufgebauten Städte Portici und Resina dem Auferständniß der todten Stadt geopfert werden. So muß wohl das alte Herculanum mit seinen vielleicht unschätzbaren Kunst- und Wissenschaftsalterthümern für die Ewigkeit da unten liegen.
Heute ist das Studium der pompejanischen Ausgrabungen Allen recht bequem gemacht. Der Tourist fährt vom Centralbahnhofe in Neapel ab nach Nocera (hart am Golfe geht diese Eisenbahnlinie entlang), weidet seine Blicke an dem reizenden Landschaftsbilde und erreicht schon in einer Stunde das kleine Bahnhofsgebäude mit der Aufschrift „POMPEI“. Nun wird er sich vermuthlich erst in einem der Hôtels auf dem grünüberwachsenen Wall vor der Stadt erholen und dann seine Wanderung in den Ruinen beginnen, nachdem er das Eintrittsgeld (zwei Franken) erlegt hat.
Er tritt durch das Herculanerthor von Westen her in Pompeji ein und ist gleich im Anfange nicht wenig darüber erstaunt, daß diese welterobernden alten Römer in so kleinen, niedrigen und niedlichen Häusern, worin Alles so eng zusammengekästelt, so beschränkt und unbequem gewesen sein muß, wirklich gewohnt haben.
Man sieht freilich von den schönen alten Tempeln und größeren Häusern nur noch die Mauern, die massiven Erdgeschosse, denn die Dachstühle und oberen Stockwerke (meist aus Fichtenholz) wurden ja durch die feurigen Massen verbrannt und zerstört. Auch sind alle transportablen Monumente, namentlich die metallenen und steinernen Geräthe, Sculpturen, Decorationen, ferner die Wandgemälde, Mosaiken etc., um sie vor neuen Zerstörungen der Elemente zu sichern, nach Neapel in das „Museo nazionale“ (früher Borbonico) hinweggetragen worden. So sehr aber auch dieser Ausschmuck vermißt wird, so ergreift doch jeden Beschauer, der für welthistorische Tragik Sinn und Empfänglichkeit besitzt, ein [572] eigenthümliches elegisches Gefühl beim Anblick dieser einst vergrabenen Menschenwohnungen, dieser Säulenstümpfe, Mauerreste und Kunstdenkmäler; die Phantasie versetzt sich mitten hinein in das Leben und Treiben jener längst vergangenen Culturepoche, als von Rom aus noch die ganze bekannte Welt beherrscht und geknechtet wurde und noch nicht das kräftige Germanenthum die römischen Fesseln in Stücke gebrochen hatte.
Das Areal Pompejis bildet ein von Ost nach West verschobenes Oval, dessen Gesammtfläche noch nicht 3000 Meter beträgt. Bis jetzt sind von den alten Eingängen oder Thoren acht bekannt geworden, von denen das schon erwähnte westliche Herculanerthor das bedeutendste und architektonisch schönste gewesen sein muß. In der Nähe dieses Thores, das heißt außerhalb desselben, finden sich einige sehenswerthe Grabmonumente namhafter Männer Pompejis, sowie einzelne prächtige Villen, z. B. die reizende einstige Besitzung des Marcus Arrius Diomedes. Das Herculanertor hat drei verschiedene Eingänge, in der Mitte für Fuhrwerke, zu beiden Seiten für Fußgänger, aber von weit größerem Interesse sind die mit weißem Stuck überkleideten Pfeiler, Album genannt; sie dienten seinerzeit zur Publication von Anzeigen, vertraten also den Inseratentheil unserer Zeitungen. Man schrieb, respective malte mit rother oder schwarzer Farbe irgendwelche Mittheilungen für das Publicum darauf, die dann nach einiger Zeit wieder beseitigt, nämlich weiß übertüncht wurden. Solche Albums, von denen die Benennung unserer modernen Albums (für Photographien etc.) herstammt, fanden sich auch zahlreich an Plätzen und Kreuzungspunkten der Straßen. – Rechts am Thore ist eine Nische, in welcher bei der Ausgrabung ein Gerippe mit Stahlhaube und in Waffen – die Schildwache, die, getreu ihrer Soldatenpflicht, auf dem Posten den Tod fand – entdeckt wurde.
Sehr belebt muß einst die Straße vom Thore in das Innere der Stadt gewesen sein, auch befanden sich in derselben das Zollhaus, die Post und einige Herbergen oder Gasthäuser, ferner Kaufmannshäuser, Lagergebäude etc.. Die Straße mündet in die von Südwest nach Nordost das Centrum der Stadt bis zum Nolanerthor durchschneidende Hauptstraße, von welcher die Mercurstraße, die nobelste der Stadt, sich abzweigt und durch einen Triumphbogen nach dem Forum civile hinführt. Südlicher liegen dann das Forum triangulare, die Tempel, die öffentlichen Gebäude, links am äußersten Ende der Stadt das Forum boarium und das berühmte Amphitheater. Wie in so vielen Städten Südeuropas sind die Straßen erstaunlich eng, oft nur zwei bis drei Meter breit, sodaß immer nur ein Wagen darin fahren und keinem zweiten ausweichen konnte.
Das ohrenzerreißende Gerassel schwerer Lastwagen hat man übrigens in Pompeji niemals zu erdulden gehabt, denn nur elegante Wagen vornehmer Bürger und reicher Gäste passirten diese engen Straßen. Sicher aber waren die engsten Straße, als die schattigsten, auch die verkehrreichsten. Alle Fahrstraßen müssen ausgezeichnet gepflastert gewesen sein, und zwar benutzte man dazu große Lavablöcke. Man fand auf dem Pflaster meist noch die Spuren der Wagenräder. Auf den sehr hohen Trottoirs gingen die Pompejaner sehr bequem und waren wohl auch nicht wenig stolz auf den Ausschmuck derselben, der in Ziegelmosaik, in Sandsteinplatten, Asphalt oder Marmor ausgeführt war. An den Kreuzungen waren schöne Brunnen angebracht, und die Abflüsse liefen durch Gossen in unterirdische Canäle.
Auf der dampfenden Stadt liegt Mittagsgluth,
Und es sinkt mir die Wimper; es wallt mir das Blut.
Die Straßen so staubig, so dumpf und so schwül,
Und die Menschen so nüchtern, so seelenlos kühl,
Und so hastig ihr Schaffen, so wirr ihr Gedräng’,
Das Gewissen so weit und die Herzen so eng –
Im Gemüthe erwacht mir ein Heimweh tief,
Das lange schlief.
Wo am Strande die schimmernden Dünen steh’n,
Wo die Masten ragen, die Wimpel weh’n,
Wo die Möven am Felsen sich Nester bau’n,
Wo versunkene Städte vom Grunde schau’n,
Wo die rollende Fluth zu Lande schäumt
Und das Herz von vergangenen Tagen träumt
In dem wellenversilbernden Mondenschein –
Da möcht’ ich sein.
Eine trauliche Hütte am brandenden Meer
Und verständige, schlichte Nachbarn umher
Und ich selber mit Weib und mit Kindern darin –
O, wie würd’ ich genesen an Herz und Sinn!
Der Großstadt Wust, wo die Einfalt stirbt,
Wo der Leib früh altert, die Seele verdirbt,
Wo das Heiligste feil ist um eiteles Gold,
Hat Gott nicht gewollt.
Aus vergessenen Acten.
Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.
(Fortsetzung.)
Plötzlich richtete sich Margret mit weitoffenem Auge leise im Bette empor und horchte gespannt in die stille Nacht hinaus.
Sie horchte lange und regungslos, mit verhaltenem Athem. Ein feiner, kalter Schweiß bedeckte ihr Gesicht, und es durchschauerte sie trotz der milden Sommernacht.
„Was war das, was soll das bedeuten?“ murmelte sie. Und wieder horchte sie lange hinaus.
Ein dumpfer Schrei, der aus dem Parterreflure kommen mußte, unterbrach jetzt plötzlich die Stille.
„Die Stimme des Herrn Wolf. Was mag er haben?“ rief sie ängstlich und flog in ihre Kleider.
Abermals ertönte ein Schrei von unten, gellender, aber schwächer als der vorige. Er schien aus dem Keller zu kommen.
Margret stürzte in fliegender Eile nach der Lehrlingskammer und klopfte mit der Faust an die Thür.
„Aufstehen – King, Buben, rasch!“ rief sie dringlich, aber gedämpft, damit ihr Ruf nicht weiter gehört werde, als in der Kammer. Dann flog sie die Treppen hinab, ohne Licht, nur von dem unbestimmten Gedanken geleitet, es müsse unten ein Unglück geschehen sein und sie müsse helfen.
In der Hausflur des Erdgeschosses gewann ihre Besorgniß festere Gestalt. Von den schmalen und steilen Stufen der Kellertreppe her erscholl ein unheimliches Getöse. Es klang bald wie Stöhnen und Aechzen, bald wie Zerren und Treten, wie das kämpfende Hin- und Herwogen menschlicher Körper. Herr Wolf hatte zweimal einen Schrei ausgestoßen, war er bei dem Kampfe betheiligt? Und wer noch?
Wenige Secunden genügten zu dieser Beobachtung. Inzwischen hatte sie Licht gemacht. Ihre Lampe hatte sie von oben mitgenommen und sie mit den Zündhölzern angezündet, welche, wie immer, neben der Hausflur in der Wandnische lagen.
Das muthige Mädchen schritt nun, die Lampe hoch in der Hand, unverzagt auf die Kellerthür zu, von wo her immer noch das Kampfgetöse erschallte.
„Herr Wolf, Herr Wolf, sind Sie da?“ rief sie laut und dringend. „Wer ist bei Ihnen?“
Unverständliche, gurgelnde Worte, die aber wiederum offenbar Wolf ausstieß, erhielt sie als Antwort.
Ihre Angst – nicht ihrethalben, aber für das Wohl des Herrn, dem sie diente, dessen Brod sie aß, unter dessen Dach sie
[573]wohnte – war auf das Höchste gestiegen. Sie mußte das seltsame Geheimniß ergründen, das hinter der Kellerthür verborgen war. Sie erfaßte den Griff der Thür, die nach dem Innern des Kellers hin aufging. Sie drückte mit ganzer Kraft dagegen. Aber die Thür war nicht zu öffnen. Verschlossen war sie nicht, sondern einen ganz kleinen Raum breit geöffnet, und durch diese schmale Spalte zwischen Thür und Mauer sah sie auch vom Keller her einen matten Lichtschimmer dringen. Das Hinderniß an der Thür schien von einem Menschen herzurühren, der sich dagegen drängte und stemmte.
Wie konnte aber dieser Mensch ihr die Thür zuhalten, wenn er mit Wolf im Kampfe lag, der fortfuhr, unverständliche klagende Töne von sich zu geben? Waren vielleicht mehrere Männer über Wolf hergefallen? Dann war es die höchste Zeit, alle Hausgenossen zu Hülfe zu rufen.
Margret eilte in den Hof, nachdem sie die Hinterthür aufgeriegelt. [574] Auf den Hof gingen die Fenster des Schlafzimmers der Frau Wolf, wie King’s. Hier rief sie laut und leidenschaftlich, in rascher Wiederholung: „Zu Hülfe! Diebe, Mörder, Mörder, zu Hülfe!“
Aus den Schlafstuben der Frauen drang deren hülfloses Geschrei. In der Nachbarschaft wurden Fenster aufgerissen, wurde Hülfe zugesagt. Nur im Zimmer Wolf’s und in der Kammer King’s und der Lehrlinge blieb es still.
Margret war an die Kellerfenster geeilt, aber sie sah dort kein Licht, hörte keinen Laut mehr. Das Geheimniß, das sich dort abgespielt haben mußte, wurde immer unheimlicher, grausiger.
Wo war Herr Wolf hingekommen, daß man seine Stimme nun gar nicht mehr hörte? Wo der Mann oder die Männer, die mit ihm gekämpft hatten? Sie mußten noch im Hause sein. Denn das eigenthümliche klagende Knarren der Hausthür hatte Margret noch nicht gehört. Sie mußte wissen, wer diese Männer waren, gleichviel welche Folgen das für sie hatte. Sie hielt abermals die Lampe hoch über sich und wollte durch die Hinterthür, durch die sie in den Hof getreten, wieder in die Hausflur zurückkehren. Diese Hinterthür war jetzt von innen verriegelt. Margret schlug und drückte gegen dieselbe mit aller Kraft, aber ohne Erfolg.
In diesem Augenblicke ließ die Hausthür ihr klagendes Knarren vernehmen, indem sie geöffnet und dann wieder laut zugeschlagen wurde.
Der Thäter hatte offenbar jetzt das Freie gewonnen, ungesehen und unbehindert von den Nachbarn, die noch nicht auf der Straße zu hören waren. Das tapfere Mädchen dachte nur daran, dem Flüchtlinge nachzueilen, und bat die Damen drinnen, ihr sofort die Hinterthür aufzuriegeln, da die Hausthür gegangen, Jemand aus derselben entwichen sei. Die Damen entgegneten, sie hätten schon selbst vergebens versucht, auf den Vorsaal zu dringen. Ihre Thür sei von außen verschlossen.
Von Neuem ließ Margret laut ihre Stimme um Hülfe erschallen. Draußen auf dem Pflaster der Straße und von den Treppen des Hauses her hörte sie nach einigen weiteren Minuten fast gleichzeitig Männerschritte. Die Lehrlinge Barth und Hark kamen treppab mit dem Lichte und fragten sich ängstlich, warum denn gar Niemand im Hausflure des Erdgeschosses zu sehen sei, auch Margret nicht? Sie probirten die Hausthür zaghaft. Sie war unverschlossen. Es stak kein Schlüssel im Schloß.
Als sie öffneten, standen die zwei Nachbarn draußen, welche Margret’s Rufe herbeigezogen. Sie hatten vorsichtshalber gewartet, bis von innen geöffnet würde; denn die beiden Herren gehörten nicht gerade dem Wehrstande der Nation an. Der Eine, ein „Detaillist“, gab auch die Proben seines Muthes nicht im Großen ab. Der Andere, ein Schneider, war berühmt wegen des energischen Triebes der Selbsterhaltung, der ihn beseelte.
Aus dem Hofe bat Margret noch immer dringend, ihr die Hinterthür zu öffnen. Der kleine Hark that dies. Sie schloß, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer der Wittwe Wolf auf.
„Margret, was ist geschehen – wo ist mein Sohn?“ jammerte diese, auf einen Stuhl gesunken.
„Wir werden sehen, Madame,“ erwiderte Margret muthig. „Vielleicht schläft er noch. Auch Herr King schläft noch. Die Herren waren heute zum Gastmahl, wie Sie wissen. Ich werde gleich nachsehen lassen. Bleiben Sie ruhig hier! Frau Steuerrath Martin wird Ihnen Gesellschaft leisten.“
„Barth, Sie steigen sofort zu King hinauf und holen ihn herunter!“ befahl sie draußen. „Warum ist er nicht schon da?“
„Er war nicht zu erwecken, Jungfer. Er sprach nur confuses Zeug durch einander.“
„Nun, so wecken Sie ihn sofort! Sagen Sie ihm, es habe sich ein großes Unglück zugetragen!“
Barth ging.
„Und Sie, Meister Tromper, haben wohl die Güte, den nächsten Arzt und den Amtsrichter Kern herbeizuholen. Sagen Sie ihnen, es sei – ein Mord geschehen.“
Sie sagte das leise an seinem Ohr. Aber das feste Mädchen bebte doch, als es zum ersten Mal in Worten sagte, was seine ahnende Seele bewegte.
Der Schneider setzte sich in schleunigste Bewegung.
Also ein Mord – wirklich! Und er dazu ausersehen, die Nachricht zuerst herumzutragen, fern von jeder persönlichen Gefahr und Heimsuchung in dem unheimlichen Hause. Wer war denn ermordet? Gleichgültig wer. Er, Meister Tromper, lebte, und trug nun die Kunde von der furchtbaren That durch die stille, schlafende Stadt!
Sowie er fort war, nahm Margret wieder ihre Lampe hoch und bat den „Detaillisten“ und Hark ihr zu folgen. Auch Barth kam eben wieder herunter mit der Meldung, King werde gleich kommen, er sei auch jetzt noch kaum zu wecken gewesen. Margret schritt an der Spitze der Andern nach dem Keller. Die Thür leistete ihr keinen Widerstand mehr. Aber was man sah, als die Thür aufging, ließ schon das Schlimmste befürchten.
Unmittelbar am Kellereingang waren große Blutflecken wahrnehmbar – Blutspritzer an den Wänden, rechts und links von der Treppe. In der Mitte derselben traf Margret auf eine große Blutlache. Sie wies zitternd und schweigend darauf hin und schritt mit ihren Begleitern tiefer hinab. Am Fuße bog die Treppe plötzlich im rechten Winkel ab nach dem gewölbten, ziemlich niedrigen Vorkeller zur Linken.
Hier hemmte Margret plötzlich den Schritt, hielt die Lampe in der ausgestreckten Linken vor sich, reckte bebend den Kopf vor und rief gellend:
„Barmherziger Gott, da ist er!“
„Meister Wolf!“ riefen die Lehrlinge entsetzt. Der Detaillist hielt sich die Hand vor die Augen.
Auf dem sandigen Fußboden des Vorkellers, an der linken Wand, in halb sitzender Stellung, lag Meister Wolf in seinem Blute, nur mit Hemd, Unterbeinkleidern und Strümpfen bekleidet.
Lange Zeit stand die kleine Gruppe vor dem schrecklichen Anblick.
Da kamen schwanke, aber leichte Tritte, Tritte von Frauenfüßen die Treppe herab.
„Sie darf ihn nicht sehen,“ rief Margret ängstlich und drängte Alle zurück.
Es war zu spät. Schon war Frau Wolf bis in den Vorkeller gedrungen. Die Lampe Margret’s enthüllte ihr das ganze furchtbare Geheimniß auf einen Blick.
„O Gott, mein Sohn! Mein Sohn – todt!“ rief sie herzzerreißend und brach zusammen.
„Mein Gott, Madame Wolf, was ist Ihnen denn?“ ertönte in diesem Augenblicke die Stimme King’s, der eben die Treppe herabkam. Er fing die Sinkende auf und legte sie in die Arme der nachfolgenden Frau Martin.
„Was ihr ist?“ rief Margret erregt. „Sie haben einen gesegneten Schlaf. Sehen Sie einmal hierher! Ich will Ihnen zeigen, was in diesem Hause geschehen kann, während der einzige Mann im Hause schlief.“
Dabei leuchtete sie plötzlich in den Winkel, in dem der blutige Leichnam Wolf’s lag.
„O, das ist ja Herr Wolf – und todt!“ rief King, indem er die Hände rang und dann faltete.
Margret kam die Geste theatralisch vor; seine Worte erschienen ihr eisig kalt und geziert; den Anderen erschienen sie ganz natürlich. Margret zählte allerdings nicht zu den Verehrerinnen King’s. Der Mensch war ihr von jeher widerlich gewesen – sie wußte selbst nicht, warum.
Frau Martin und Hark hatten indeß die unglückliche Frau wieder zu sich gebracht und führten sie eben die Stufen der Treppe hinauf, fort von dem gräßlichen Anblick der Tiefe.
„Wir werden auch die Leiche hinaufschaffen müssen,“ meinte der Detaillist. Er griff dabei nach der Lampe Margret’s, um anzudeuten, daß er sich am Anfassen des Todten nicht zu betheiligen wünsche und das lieber Anderen überlasse.
„Ja, das könnten wir thun,“ bemerkte King ruhig. „Es ist besser für die arme Mutter, wenn der Todte oben liegt.“
Er that einen Schritt gegen die Leiche und rief Barth, beim Tragen zu helfen.
„Ich muß bitten, meinen armen Herrn nicht anzurühren, und genau an dem Platze liegen zu lassen, wo wir ihn todt gefunden,“ erklärte Margret bestimmt.
„Und warum das, Jungfer, wenn man fragen darf?“ wandte King etwas spöttisch ein.
„Weil das Sache des Gerichts ist,“ erwiderte Margret kurz. „Vielleicht gelingt es, aus der Lage und Stellung des Opfers auf die That und den Thäter zu schließen.“
[575] „Meinetwegen! Aber dann wollen wir wenigstens den Keller durchsuchen,“ sagte King.
„Ja wohl,“ pflichtete der Detaillist bei.
„Auch das würde ich bitten, mir zu überlassen,“ sprach in diesem Augenblicke eine volltönende, männliche Stimme von der untersten Kellerstufe, und der Amtsrichter Kern trat in den engen Lichtkreis.
„Guten Abend, Herr Amtsrichter!“ rief King sich verbeugend, „wer hätte gedacht, daß wir uns so bald wieder treffen würden!“
„Und bei einer so traurigen Gelegenheit,“ ergänzte der Detaillist wehmütig. Denn auch er gehörte zur Aristokratie der Ressource. Der Amtsrichter verbeugte sich gleichfalls.
„Margret,“ sagte er dann, „geben Sie mir Ihre Hand. Ich kann noch nicht ganz ermessen, wie tapfer Sie sich gezeigt haben. Aber was ich bisher gehört, läßt mich annehmen, daß ein seltener Muth Sie beseelt, der auch für die vergeltende Gerechtigkeit die beste Leuchte sein wird bei dieser dunklen That. Nehmen Sie einstweilen meinen Dank, Margret!“ Er drückte die ihm dargebotene arbeitsharte Hand des Mädchens.
Ein Freudenstrahl flog über ihr tiefbekümmertes Gesicht.
„Und nun an’s Werk!“ setzte er hinzu, indem er sich umsah. „Aber wir müssen mehr Licht haben. Ihr Burschen, rasch! Laßt Euch oben Lichter geben!“
Wenige Minuten später war es leidlich hell im Keller. Man konnte jetzt viel weiter und deutlicher sehen, als vorher bei Margret’s Lampe. Zahlreiche weiße und farbige Flecken auf dem Boden, unfern der Leiche, weiter gegen das Innere des Kellers zu, zogen zunächst die Aufmerksamkeit des Amtsrichters auf sich. Es waren Stücke weißen und farbigen Papiers. Er gebot, sie sorgfältig zu sammeln und an ihn abzuliefern.
Schon die ersten dieser Bruchstücke, die in die Hände des Richters gelangten und bei Lichtschein von ihm gelesen wurden, zeigten ihm, was diese Papierfetzen bedeuteten. Er hatte die zerrissenen Liebesbriefe der Braut des Ermordeten in Händen; sie hatten wahrscheinlich in einem offenen Ledertäschchen gesteckt, das der Ermordete um den Hals auf der Brust getragen zu haben schien.
Das war jedenfalls schon ein höchst bedeutsamer Fingerzeig nach der Person des Thäters. Denn sicherlich nur er, nicht der Meister Wolf hatte diese Briefe zerrissen. Warum hätte auch Wolf sie zerreißen sollen? Sie athmeten das reinste Glück bräutlicher Liebe; sie jubelten der baldigen Gründung der eigenen Heimstätte mit freudiger Hoffnung entgegen.
Derjenige, der diese Briefe zerrissen, mußte im Innersten erregt, auf’s Höchste erbittert sein durch die Liebe und Hingebung an den Todten, die in diesen Briefen sich aussprach. Er hatte sicher keine Zeit gefunden, die Briefe nach seiner grauenvollen That zu lesen – kaum Zeit, sie zu zerreißen. Er mußte also, auch ohne sie zu lesen, gewußt haben, was darin stand. Im Städtchen gab es nur Einen, auf den alle diese Zeichen paßten, den der Richter der blutigen That zugleich fähig halten konnte: Karl Bahring.
Noch hatte der Amtsrichter diesen Namen nicht ausgesprochen, vielmehr nur schweigend und sinnend des Menschen gedacht, der diesen Namen trug, als er laut und anklagend neben ihm genannt wurde.
Margret nämlich hatte ein im äußersten Winkel des Vorkellers liegendes blutiges Taschentuch gefunden und aufgehoben. Der Mörder hatte offenbar seine blutigen Hände daran abgewischt. Deutlich war der Abdruck blutiger Finger an dem Tuch zu sehen, der Umriß großer blutiger Hände. Dieses Taschentuch war von weißer Leinwand und zeigte in der Ecke in rother Stickerei die Buchstaben K. B.
„K. B.!“ rief Margret laut und bestürzt, indem sie zum Amtsrichter trat, um ihm das Tuch zu übergeben „Sollte das Karl Bahring heißen, Herr Amtsrichter?“
„Karl Bahring! Ja, so – das könnte stimmen,“ meinte der Detaillist zuversichtlich.
„Karl Bahring ist der Mörder – kein Anderer!“ rief Schneider Tromper, der eben erst von seinem Lauf zurückgekehrt war; er setzte sich sofort wieder in Bewegung treppauf.
„Halt!“ rief ihm Kern nach. „Niemand verläßt das Haus ohne meine Genehmigung.“
Tromper mußte umkehren. Oben, innerhalb der Haus- und Hinterthür, hatten sich auf Befehl Kern’s inzwischen zwei Gerichtsdiener eingefunden, die ohne seine Erlaubniß Niemand aus- und einließen.
Als die zerrissenen Liebesbriefe gefunden waren, stand es bei dem Amtsrichter fest, daß Karl Bahring der Mörder sei. Ebenso war für Diejenigen, welche Bahring’s Charakter kannten, durch Auffindung der zerrissenen Briefe die Person des Thäters nahezu festgestellt. Aber für alle Anderen noch keineswegs. Und Andere, als die Mitbürger Bahring’s, die Geschworenen der benachbarten größern Stadt, hatten dereinst über die That und den Thäter zu richten. Wenn Bahring leugnete – die zerrissenen Liebesbriefe allein vermochten ihn vor fremden Richtern kaum zu überführen. Es gab ja dafür eine Erklärung, an die auch Kern schon gedacht hatte, welche auf einen ganz unbekannten Thäter, auf einen Raubmord hinwies. Der Mörder hatte – so konnte Bahring einwenden – vermutlich nach der Brusttasche des Erschlagenen gegriffen, um sich den Preis seiner blutigen That anzueignen. Er hatte nur Briefe und immer wieder Briefe gefunden, kein Geld. Draußen rief Margret nach Hülfe. Er mußte fliehen, um nicht entdeckt zu werden. Im blinden Zorn über die Erfolglosigkeit seines Mordes zerriß er die Briefe. Oder er that es, um den Verdacht auf Bahring zu lenken.
So konnte Bahring sich, wahrscheinlich mit Aussicht aus Erfolg, vertheidigen, meinte Kern. Die Anklage vor dem Schwurgericht stand auf schwachen Füßen, wenn sie nur dieses Judicium auszuführen hatte – so gewiß dem Amtsrichter selbst die Person des Mörders dadurch verrathen wurde.
Aber seitdem das Taschentuch gefunden war, gingen dem Richter auch erhebliche Zweifel darüber bei, daß Bahring überhaupt der Mörder sei, und zwar gerade dann, wenn festzustellen war – was ja jetzt lediglich auf Vermuthung beruhte – daß dieses Taschentuch Bahring gehörte.
Der Mörder hatte das Tuch sicherlich dazu benutzt, seine blutigen Finger, seine Hände von Blut zu reinigen. Damit verrieth er, daß die Stimme der Vernunft, der Drang der Selbsterhaltung bei ihm wieder erwacht sei; sollte er im nämlichen Augenblicke das blutbefleckte Tuch, auf dem sein Name stand, in einen Winkel des Vorkellers geschleudert haben, damit es ganz sicher ihm zum Verräther werde, weit sicherer als blutige Hände jemals es hätten werden können? Das erschien dem Amtsrichter ein unlösbarer Widerspruch. Das erschütterte seinen Verdacht gegen Bahring so sehr, daß er zauderte, den Verhaftsbefehl zu ertheilen, den er nach der Entdeckung der Briefe bereits ausfertigen wollte.
„Aber immerhin bietet seine Person bis jetzt den einzigen Anhalt zum Verdacht,“ wandte er sich selbst wieder ein. „Das Taschentuch führt die Erörterung der Verdachtsmomente weiter.“
Damit wandte er sich an Margret.
„Ist der Eingang zum Keller hier verschließbar?“ fragte er.
„Jawohl.“
„Gut. – Barth, holen Sie den Schlüssel! Lassen Sie den Diener, der an der Hofthür Wache hält, diese schließen und herunterkommen!“
Es geschah.
„Sie bleiben hier an der Leiche stehen und lassen Niemand dazu!“ befahl Kern dem Diener. „Margret und King, Sie folgen mir durch den Keller!“
Auch das geschah.
Der Keller hing voller Felle. Von den gestern angekommenen werthvollen Pelzen fehlte, nach King’s Versicherung, kein Stück. Es waren große Felle und an Trockengerüsten reihenweise aufgehangen. Des Tages hingen sie im Freien, im Hofe. Auf deren Entwendung konnte also die Absicht des Thäters kaum gerichtet gewesen sein.
Auch ein weiteres Resultat ergab die Nachforschung im Keller. Der Thäter konnte nicht vom Hofe her eingestiegen und dann etwa durch ein Fenster des Kellers in’s Innere des Hauses eingedrungen sein; denn diese Fenster waren alle gut verriegelt. Die Lehrlinge versicherten, daß der Meister selbst noch, bevor er sich schlafen legte, mit ihnen den Keller durchsucht und den Verschluß der Fensterriegel selbst geprüft habe. Dasselbe habe er in allen Geschäftslocalitäten des Erdgeschosses und des Bodenraumes gethan. [576] Die Läden der Räume, die nach der Straße, nach dem Hofe führen, habe er gleichfalls selbst geschlossen.
„Wie stand es mit der Hofthür?“ fragte Kern.
„Auch diese hat der Meister vor dem Schlafengehen verriegelt, wie immer,“ versicherten die Lehrlinge.
„Ich habe sie noch verriegelt gefunden, als ich nach zehn Uhr mich niederlegte,“ ergänzte Margret. „Ja, selbst noch, als ich während der Ermordung des Herrn auf den Hof eilte, war sie verriegelt.“
„Und die Hausthür?“ fragte Kern weiter.
„Auch diese war verschlossen, als ich in’s Bett ging, Herr Amtsrichter,“ erklärte Margret.
„Sie waren zu jener Zeit noch in der Ressource?“ wandte sich der Richter an King.
„Jawohl.“
„Sie führen selbst einen Hausschlüssel?“
„Ja.“
„Wo ist er?“
„Oben in meiner Kammer.“
„Sie werden mir ihn nachher zeigen.“
„Zu Befehl, Herr Amtsrichter.“
„Können Sie sich erinnern, ob Sie die Hausthür fest verschlossen haben?“
„Ganz bestimmt,“ versicherte King. „Das muß auch Herr Fritz Becker gehört haben, der mich bis hierher begleitete.“
Margret wollte etwas hierzu sagen – aber sie hielt an sich.
„Wer führt die anderen Hausschlüssel?“
„Den einen hatte der arme todte Herr Nachts in seinem Zimmer; den andern die Madam in dem ihrigen.“
„Wir werden nachher sehen, ob sie dort sind,“ sagte Kern. „Der Thäter kann nach alledem nur durch die Hausthür eingedrungen sein,“ wandte er sich an King. „Wie mag er, nach Ihrer Ansicht, die Thür haben öffnen können?“
„Wenn die anderen Hausschlüssel oben an ihrem Platze hängen, Herr Amtsrichter – doch wohl mit einem Nachschlüssel?“
„Ja, das muß wohl sein,“ meinte Kern sinnend. „Sagt einmal, Jungens, wie fandet Ihr denn die Hausthür, als Ihr herunterkamt?“ fragte er die Lehrlinge.
„Offen,“ erwiderten beide. „Wir ließen die beiden Nachbarn gleich ein.“
„Wenige Minuten, ehe die Lehrlinge herunterkamen,“ fügte Margret bestätigend hinzu, „hörte ich die Hausthür aufschließen und öffnen und dann wieder zuwerfen. Es war vermuthlich der Augenblick, als der Thäter das Freie gewann.“
„Aller Wahrscheinlichkeit nach,“ meinte der Detaillist pfiffig.
„Saht Ihr, als Ihr herunterkamt, einen Schlüssel in der Hausthür stecken, innen oder außen?“ fragte Kern wieder die Lehrlinge.
„Nein.“
„Gut.“
Er ging mit den Anderen wieder nach dem Vorkeller, nahm den Gerichtsdiener, der noch bei der Leiche Wache hielt, auf die Seite und sagte ihm leise, nachdem er einige Formulare ausgefüllt und unterzeichnet hatte: „Hier haben Sie einen Haftsbefehl gegen Karl Bahring, Fleischermeister an der Kasseler Straße. Sie bringen ihn sofort hierher! Nehmen Sie beim Vorüberkommen an der Hauptwache drei bis vier Mann Militär mit! – Da haben Sie auch hierfür den Befehl!“
Der Diener eilte hinauf.
In diesem Augenblicke kam der Gerichtsarzt, Doctor Ammann, die Treppe herab.
„Sie konnten nicht gelegener kommen, Herr Doctor,“ sprach Kern, ihm die Hand reichend. „Wir haben eben die Besichtigung der hiesigen Localitäten vorläufig beendet und wollten an die Untersuchung der Leiche gehen.“
Der Doctor hatte die Begrüßung des Amtsrichters erwidert und war nahe an die Leiche getreten. Er sah finster in das vom Todeskrampf verzerrte Antlitz, erhob den einen der schlaffen Arme und fühlte nach dem Pulse.
„Unzweifelhaft todt,“ erklärte er. „Die Lebenswärme ist schon fast ganz gewichen. – Furchtbare Wunden!“ fügte er kopfschüttelnd hinzu, indem er Hals, Brust, Rücken und Arm flüchtig betrachtete und nur die Stiche zählte, die durch Löcher im Hemde und Blutquellen als solche bezeichnet waren. „Es mögen an zwei Dutzend Wunden sein. Und der eine Schnitt hier durch die Vena jugularis am Halse hätte allein schon den Tod herbeiführen müssen. Selbstmord ist völlig ausgeschlossen. Aber es ist doch besser, Sie lassen die Leiche nach oben schaffen, wenn ich genauer untersuchen soll.“
„Ich wartete nur auf Ihr Erscheinen, Herr Gerichtsarzt,“ erwiderte Kern verbindlich. „Herr King, Barth und Hark werden die Güte haben, die Leiche zu tragen.“
Die Genannten gehorchten, die Lehrlinge mit sichtlichem Grausen. Sie hatten in ihrem jungen Leben noch nie einen Todten berührt. King hatte die Beine Wolf’s erfaßt. Die Lehrlinge, die Arme haltend, gingen voran, damit die Leiche, den Kopf aufwärts, emporgetragen würde. Margret trug ihre Lampe voraus, die beiden Nachbarn die Lichter. Doctor und Richter bildeten den Schluß des Zuges.
„Halt!“ rief Kern, sowie die Leiche erhoben und einige Schritte nach dem Ausgange getragen war. „Lichter her!“
Am Boden, da wo die Leiche gelegen hatte, funkelte etwas. Kern bückte sich und hob den Gegenstand auf.
Anstalten für geistig zurückgebliebene und schwachsinnige Kinder sind in letzter Zeit häufig der Gegenstand dringender Anfragen an die „Gartenlaube“ von Seiten besorgter Eltern gewesen; eine deshalb hier gestellte öffentliche Anfrage hat freundliche Beachtung gefunden, und so sind wir in den Stand gesetzt, darüber folgende Auskunft zu geben – wenn auch zunächst nur über die fraglichen Anstalten in dem Königreich Sachsen.
Es muß rühmend ausgesprochen werden, daß Sachsen einem Schulgesetze vom 26. April 1873 die ausgezeichnetste Fürsorge für die genannten Kinder verdankt. Der § 4 desselben heißt: „Verwahrloste, nicht vollsinnige, schwach- und blödsinnige Kinder sind in hierzu bestimmten öffentlichen oder Privat-Anstalten unterzubringen sofern nicht durch die dazu Verpflichteten anderweit für deren Erziehung hinreichend gesorgt ist.“ – Die sächsische Regierung ging mit gutem Beispiel voran und gründete ihre Musteranstalt in Hubertusburg in der dem Hospital etc. angefügten „Kinderstation“. Man wendet sich um nähere Auskunft über dieselbe an den Herrn Oberlehrer Pflugk. Auch bestehen zwei öffentliche Schulen für schwachsinnige Kinder in Dresden, Alt- und Neustadt.
Bekannte und empfehlenswerthe Anstalten dieser Art sind ferner die der Frau Karoline verw. Dr. Kern in Möckern bei Leipzig, die in eine Versuchs-, eine Erziehungs- und Unterrichts- und eine Pflege-Anstalt (Asyl) zerfällt. Ferner: die Anstalt des Ed. Förster in Blasewitz bei Dresden, im dortigen Waldparke in der Marschall-Allee Nr. 6; sie nimmt allerdings nur zehn Kinder auf und kann deshalb ein reines Familienverhältniß mit ihnen durchführen. Sodann: die neubegründete Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder von H. Witzel in Reudnitz bei Leipzig, uns besonders von einer Leipziger Autorität, Herrn Geheimen Medicinalrath Wagner, empfohlen. Endlich: die W. Schröter’sche Unterrichts- und Erziehungs-Anstalt für geistig Zurückgebliebene in Neustadt-Dresden, Oppellstraße Nr. 22 b. – Die Preise der Witzel’schen Anstalt kennen wir nicht, die der übrigen genannten drei Privatanstalten betragen für das Kind 1200 Mark jährlich.
Ueber die besondere Frage nach einer Bildungsanstalt für Lehrerinnen in diesem Fache schreibt uns Herr Director W. Schröter, daß seine Anstalt mehrfach längere Zeit hindurch und regelmäßig von Lehrerinnen besucht werde, welche die Absicht haben, entweder in Idiotenanstalten oder in Familien Stellung zu nehmen, in denen ein zurückgebliebenes Kind vorhanden. Auch Schülerinnen der Dresdener Fröbel-Stiftung (Kindergärtnerin-Bildungsverein des allgemeinen Erziehungsvereins) besuchen seine Anstalt und versuchen sich unter seiner Leitung im Unterrichte der Kinder. Der Andrang zu diesem pädagogischen Beschäftigungsgebiete der strebsamen Frauenwelt ist im Zunehmen begriffen, und dennoch zeigt sich die Nachfrage stärker als das Angebot: also für junge Damen ein vielversprechendes Arbeitsfeld. „Eine Anstalt,“ schreibt Herr Schröter, „welche sich lediglich mit der Ausbildung von Lehrerinnen geistig zurückgebliebener Kinder befaßt, giebt es meines Wissens nicht.“
Auch Herr E. Reichelt in Hubertusburg ist erbötig, die Bildung von Lehrerinnen zu leiten[WS 1], und ebenso sollen in dem Kleinkinder-Lehrerinnen-Seminar zu Breslau (Lehmgrubenstraße) solche gebildet werden.
Außerhalb Sachsens können wir heute nur „Die Alsterdorfer Anstalten“ bei Hamburg (Stifter und Director: Pastor Dr. Sengelmann), die Anstalt für Schwach- und Blödsinnige Rheinlands und Westfalens zu Märk. Gladbach, genannt „Hephata“, und die Idioten-Anstalt zu Prag (Director Dr. Amerling) nennen. Die nach Guggenbühl’s Vorgang gegründeten Cretinen-Anstalten (wie die zu Ecksberg bei Mühldorf in Baiern) gehören nicht hierher.
Eltern und Vormünder, die sich genau mit diesem Gegenstand bekannt machen wollen, finden sehr Belehrendes in Dr. B. Knapp’s „Beobachtungen über Idioten- und Cretinen-Anstalten und deren Resultate“. Graz, 1879.
- ↑ Bei der weittragenden zeitgeschichtlichen Bedeutung, welche die Samoa-Inseln als eine Hauptstation für den deutschen Handel in der Südsee neuerdings gewonnen haben, dürften die obigen authentischen Berichte über die genannte Inselgruppe und ihre nunmehr angeknüpften Freundschaftsbeziehungen zum deutschen Reiche das besondere Interesse unserer Leser in Anspruch nehmen.D. Red.
- ↑ Vorlage: „Godffroy“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ vergl. Berichtigung