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Die Gartenlaube (1879)/Heft 9

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[141]

No. 9. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Das Haus in der Schlucht.
Von Balduin Möllhausen.
(Fortsetzung.)


„Der Bertus,“ fuhr Mutter Seger fort, „hat's bei seinem Fahren gelernt, wie man einer Sturzsee begegnet, und wenn Einer Dich wohlbehalten nach Hause schafft, so ist er’s. Außerdem geht gegen Abend der Wind gewöhnlich herunter.“

„Wir werden sehen,“ versetzte Kordel überlegend, obwohl eine Bootfahrt auf stürmisch bewegter See sie nicht schreckte; „bis zum letzten Augenblick möchte ich freilich nicht warten; ich könnte in die Lage gerathen, den weiten Landweg in der Nacht zurücklegen zu müssen. ’s ist zwar Vollmond, aber das hilft wenig, wenn der Himmel wie mit wollenen Decken verhangen ist. Und wer weiß, wann Euer Sohn heimkehrt!“

„Früh genug, Kordel,“ antwortete Mutter Seger, „und er müßte nichts von der Ehrlichkeit seines todten Vaters und von der Dankbarkeit seiner Mutter geerbt haben, wollte er eine Minute säumen, Dir zu Diensten zu sein. Weht’s aber, daß ein Boot nicht hinaus kann, so gehst Du deshalb nicht allein durch den Wald, Kordel; der Bertus begleitet Dich bis vor Deine Hausthür –“

„Was ich nicht dulde!“ fiel Kordel beinahe heftig ein; „nein, Mutter Seger, ich fürchte mich nicht, brauche Niemand zu fürchten, und wäre die Nacht so schwarz, wie die Außenseite von meines Vaters Boot. Er müßte ja fünf, sechs Stunden auf dem Hin- und Herwege zubringen, und woher sollte er die Kraft zur morgigen Arbeit nehmen?“

„Kraft?“ fragte die alte Frau mit einem Anfluge mütterlichen Stolzes, „o, der Bertus bleibt frisch und munter, und säh’ er in einer Woche kein Bett. Ich weiß es von ihm selber. Will er mit Dir hinübersegeln, so magst Du Dich ihm anvertrauen. Hält er den Landweg für sicherer, so gehst Du nicht allein.“

Kordel öffnete die Lippen, wie um eine Antwort zu ertheilen, und augenscheinlich eine unmuthige. Sie besann sich indessen, und abspringend erkundigte sie sich nach den häuslichen Verhältnissen ihrer alten Freundin, indem sie die Sauberkeit ihrer Umgebung pries.

„Besorgt alles der Bertus,“ lobte Mutter Seger ihren Sohn, „der hat auf den Schiffen Ordnung gelernt und weiß seine Hände zu rühren. Es wurmt mich wohl, wenn er den Fußboden scheuert, weil’s Weiberarbeit ist, allein er meint, es falle ihm nicht schwerer, als früher das Deck scheuern bei nüchternem Magen, und er thu’s gern, weil’s ihm sei, als lebe er an Bord, – ich muß wohl schweigen.“

„Und die Aepfel dort auf dem Bettgesims,“ sprang Kordel wieder ab, wie sie freundlich auf uns herunterschauen, und der große Tannenzapfen – ei, er hat sich geschlossen; das deutet auf böses Wetter.“

„Unser Wetterprophet,“ hieß es zurück; „wie manches liebe Mal hat mein Mann ihn befragt, bevor er zum Garnlegen hinausfuhr! Der Bertus meint zwar, das Ding sei unzuverlässig, aber weil’s dem Vater diente, betrachtet er’s als ein Heiligthum.“

So plauderten die Beiden lebhaft, und je länger sie mit einander sprachen, um so tröstlicher wirkte Kordel’s Nähe auf die alte Frau.

Draußen hatte sich unterdessen die Atmosphäre verdichtet; unfreundlich schnob der Wind um die Hütte herum und feindselig rüttelte er an den noch beladenen Obstbäumen. Die Fensterscheiben trieften unter dem feinen Regen. In der Hoffnung, daß der Himmel sich dennoch aufklären würde, säumte Kordel immer länger. Den Gedanken an den Wasserweg hatte sie längst aufgegeben; denn anstatt niederzugehen, nahm der Wind die Backen voller. Die alte Frau beachtete das Wetter kaum, und ihre Besorgniß um Kordel erstickte in der Ueberzeugung, daß es in der Gewalt ihres Sohnes liege, den Elementen zu gebieten.

„Es mag nicht in der Ordnung sein, über den eigenen Vater Reden zu führen,“ eröffnete Kordel nach einer längeren Pause ernsten Sinnes ein neues Gespräch, „allein wenn man Gutes bezweckt, kann nimmermehr Arges drin liegen. Ich möchte Euch nämlich über Manches befragen; denn mich an den Vater selbst zu wenden, scheue ich mich. Er ist reizbar, und ich würde ihn noch trüber stimmen. Schon ehe wir uns auf der Insel ansiedelten, war er wortkarg und verschlossen, und das hat seitdem zugenommen. Ihr und Euer Mann wart die Ersten, die wir kennen lernten, und ich habe nicht vergessen, daß ich manchen Tag in Eurem Hause verlebte, während der Vater den Bau unseres Hauses betrieb. Ihr wißt daher vielleicht mehr als ich, die ich in den Kinderjahren mich wenig um seine düstere Stimmung kümmerte.“

„Nichts weiß ich, Kordel,“ antwortete die alte Frau, „wenigstens nicht mehr, als andere Leute. Scheu war er immer, und wenn ich wöchentlich ein paar mal hinüber mußte, um die grobe Hausarbeit zu verrichten und Dich ein bischen anzulehren, so geschah’s wohl, weil er mit den Nachbarn im Dorf keine Freundschaft haben wollte. Ja, scheu war er immer, und oft fürchtete ich, ihm guten Tag zu bieten; denn hatte er mich vorher nicht gesehen, so fuhr er zusammen, als wäre eine Spiere neben ihm gebrochen.“

[142] „Ihr entdecktet nichts, was Euch an ihm befremdete? Ich frage nicht aus Neugierde, sondern weil ich Alles aufbieten möchte, sein Gemüth zu erleichtern.“

„Nichts, Kordel. Das Einzige, was mir einst an ihm auffiel – aber ’s ist wohl nicht der Rede werth –“

„Doch, doch, Mutter Seger, erzählt nur Alles! Der kleinste Nebenumstand lenkt zuweilen auf die richtige Spur.“

„Nun ja, Kordel, erzählen will ich’s schon, wenn ich auch nicht viel davon halte. Es war im zweiten Sommer nach Eurem Zuzuge, als ich in der Frühe hinübersegelte. Mein Mann begleitete mich und wollte mich Abends abholen. Ob Dein Vater mich erwartete, weiß ich nicht, ich glaub’s kaum. Denn als ich im Vorbeigehen durch’s offene Fenster sah, stand er vor dem Tische und hatte den Kopf tief gebückt. Ich meinte, er sei mit Lesen beschäftigt; um nicht zu stören – und hinein in’s Zimmer mußte ich – öffnete ich die Thür so leise, daß er’s nicht hörte. Als ich aber hinter ihm vorüberschlich, knarrte ein Brett unter meinen Füßen, und wie der Blitz fuhr er nach mir herum. Sein Gesicht war weiß wie ’n Laken, und weil er mich mit glühenden Augen ansah und die Arme an ihm herunter fielen, fürchtete ich, daß eine Krankheit über ihn gekommen sei und er zu Boden sinken müsse. ‚Euch ist nicht recht?‘ fragte ich, und um ihm die Hand zu leihen, trat ich auf ihn zu. Aber es war, als hätte meine Stimme ihn wie ein Donnerschlag getroffen. Das Blut schoß ihm in’s Gesicht, und seine Hände ballten sich, daß ich mich schier entsetzte. ‚Wie kommt Ihr hierher?‘ schrie er wild, und bevor ich in meinem Schrecken antwortete, meinte er. ‚’s ist unehrlicher Menschen Sache, Jemand heimlich zu belauschen. Ich habe Euch nicht gerufen, und nun geht und laßt’s Euch gesagt sein, daß Ihr jedes Mal anklopft, bevor Ihr bei mir eintretet!‘ Das Wort unehrlich wurmte mich, und ich dachte daran, die Arbeit bei ihm aufzugeben, als er plötzlich wieder kleinlaut wurde. Er legte mir die Hand auf die Schulter und redete mir zu, daß er in Gedanken gewesen sei und ich’s nicht für ungut nehmen möchte. Es komme zuweilen über ihn wie ein böser Traum, seitdem er seine Frau verloren habe. Und als er bemerkte, daß ich auf den Tisch sah – und wo sollte ich meine Augen lassen? – trat er vor mich hin, als hätt’s ihn verdrossen, und im Grunde ging’s mich nichts an, was da lag.“

„Aber was saht Ihr denn?“

„Nur so obenhin hatt’ ich’s bemerkt, doch es war wohl wegen meines Schreckens, daß ich’s im Gedächtniß behielt. Da lag nämlich ein Bild, wie sie die Maler zur Sommerszeit an unserem Strande mit einer Maschine anfertigen. Aber es war ein Männergesicht, und das eines jüngeren Mannes obenein, das heißt nicht das Deines Vaters, sondern ein hübscher Bursche mit großen Augen und einem Mund zum Sprechen, daß es ängstlich war. Das Bild war so groß wie eine Hand und nicht mehr neu, und einen Riß hatte es in der Mitte, als ob ein Meißel draufgefallen wäre. Daneben lag ein Bündelchen Schriften, glaube ich, ich betrachtete es nicht lange, weil’s mich nichts anging.“

Kordel, die so lange aufmerksam gelauscht hatte, wiegte das Haupt, wie um über das Vernommene nachzusinnen. Plötzlich sah sie wieder empor.

„Habt Ihr später Aehnliches erlebt?“ fragte sie mit ängstlicher Spannung.

„Nie wieder, und ich hütete mich, ihn zum zweiten Male zu überraschen. Auch sagte ich’s Niemand außer meinem Manne, und der rieth mir, über Dinge, die mich nichts scherten zu schweigen; so hab’ ich’s auch gehalten bis auf den heutigen Tag. Es mag wohl das Bild eines Anverwandten gewesen sein, mit dem er vielleicht in Unfrieden auseinander ging.“

„Verwandte besitzen wir nicht, ich weiß wenigstens von keinem, und den Vater darnach zu fragen – das bringe ich nicht über’s Herz. Es geht mir ohnehin nahe genug, zu beobachten, wie ihn die Traurigkeit verzehrt und er am Strande sitzt und stundenlang auf’s Meer hinausstarrt.“

„Vielleicht ändert’s sich, wenn Du erst einen rechtschaffenen Mann gefunden hast,“ meinte die alte Frau gutmüthig.

In Kordel’s Antlitz schoß es blutroth.

„Ich verlange keinen Mann,“ erwiderte sie heftig; „wollte ich einen, so würde es dem Vater entgegen sein, und ich bin zufrieden damit. Vor einigen Wochen erst sprach ein angesehener Kaufmann aus der Stadt bei uns in der Schlucht vor; ich hörte, daß er den Vater bat, in allen Ehren um mich werben zu dürfen. Der Vater dagegen wies ihn kurz ab, und wohl acht Tage dauerte es, bevor wieder ein Wort über seine Lippen kam. Dann meinte er, daß ich nicht aus Noth Jemandes Weib zu werden brauche und er bei Lebzeiten nie die Einwilligung zu meiner Verheirathung geben würde. Mir ist’s gerade recht. Wäre er mit dem Kaufmanne einverstanden gewesen, ich hätte ihn dennoch abgewiesen. Ich beuge mich unter keines Mannes Regiment, und sollte der Vater sterben, so finde ich mein Auskommen ohne fremde Hülfe. Nein, Mutter Seger, ich heirathe nie. Sehe ich doch, wie Ihr Euch in Gram verzehrt. Wäret Ihr ledig geblieben, so lebtet Ihr heute sorglos.“

„Und doch möchte ich die mit meinem Manne verlebten Jahre – und Noth und Trübsal brachten sie in schwerer Menge – nicht missen,“ seufzte die alte Frau; „habe ich ihn selber nicht mehr, so habe ich dafür meine Gedanken an ihn, und die kann mir Keiner nehmen.“

Kordel sah düster vor sich nieder. Sie war im Begriffe, ein neues Gespräch anzuknüpfen, als ein Schatten vor dem Fenster vorüberglitt und gleich darauf die Hausthür ging.

„Das ist der Bertus,“ sagte die alte Frau, sich belebend, „er hat eine eigene Art, die Klinke zu heben und die Thür hinter sich heranzuziehen.“

„So werden wir ja erfahren, ob ich zu Fuß gehen muß,“ versetzte Kordel, indem sie sich erhob.

Die Zimmerthür öffnete sich, und herein trat im rauhen Arbeitsanzuge Albert Seger, oder vielmehr Bertus, wie er allgemein genannt wurde. Das triefende Oberzeug hatte er auf dem Flure abgelegt, und obwohl die langen Seestiefel und die verschossene weite Arbeitsjacke wenig anmuthig auf seinem Körper hingen, raubten sie dem jungen Seemanne doch nichts von dem Einnehmenden seiner Erscheinung. Er war nicht übermäßig breitschulterig, dagegen etwas über die Mittelgröße hinausgewachsen und seine Bewegungen zeugten von Gewandtheit und Kraft. Sein hübsches Gesicht mit dem blonden Matrosenbart und den ehrlichen, dabei aber lebhaften blauen Augen strahlte förmlich in kerniger Gesundheit, während das wilde dunkelblonde Lockenhaar den Ausdruck einer leicht erregbaren, wohl gar leidenschaftlichen Gemüthsart erhöhte.

Mit vertraulichem Gruß näherte er sich Kordel, indem diese aber ihre Hand in die seinige legte, schien das bewegliche Blut sich einen Weg durch seine gebräunten Wangen bahnen zu wollen. In seinen Augen machte sich sogar eine gewisse Verwirrung bemerklich, indem er anhob:

„Daß Du meiner Mutter immer noch freundlich gedenkst, Kordel, das ist mir wahrhaftig ’ne rechte Freude, aber lieber wär’s mir, Du hättest einen anderen Tag zu Deinem Besuch gewählt.“

„Die See geht zu hoch?“ fragte Kordel, „beunruhige Dich deshalb nicht! Ich habe gerastet, und breche ich jetzt auf, so dauert’s keine dritthalb Stunden, bis ich daheim bin.“

„Für mein Boot geht die See nicht zu hoch,“ antwortete Bertus übermüthig, „auch kenne ich drüben eine Stelle, auf welcher ich den Strand so nahe streichen mag, daß ein guter Sprung Dich auf’s Trockene bringt. Aber die Nässe, Kordel, die Nässe! Bevor die Nacht hereinbricht, regnet’s Flaggenleinen, und was der Regen nicht besorgt, das thun die Schaumkämme.“

„So geben wir die Fahrt auf!“ entschied Kordel gleichmüthig, und ihr Tuch ergreifend, rüstete sie sich; „ob ich ein paar Stunden früher oder später zu Hause bin verschlägt nichts.“

„Hänge Dir wenigstens meines Mannes Oberrock um die Schultern!“ versetzte Mutter Seger fürsorglich.

„Ich begleite Dich, Kordel," nahm Bertus schnell das Wort, „und hältst Du Dich leewärts von mir, so will ich sehen, ob das Wetter Dir viel anhat.“

„Als ob ich mich fürchtete!“ lachte Kordel gezwungen, „nein, Bertus, Du bleibst bei Deiner Mutter. Einen Weg, den ich wohl hundertmal wanderte, finde ich mit geschlossenen Augen, und nach dem Regen frage ich nicht viel.“

„Sage was Du willst, Kordel!“ versetzte Bertus entschlossen, und hell leuchtete es in seinen Augen auf, „allein gehst Du nicht, und müßte ich mich ’n paar Dutzend Schritte hinter Dir halten.“

„Dergleichen wirst Du nicht thun!“ entschied Kordel, die [143] Lippen trotzig emporwerfend, „ich habe meine Gründe dafür. Wer begleitete mich, als Du auf hoher See schwammst?“ Wetter wie heute gab’s auch damals, und oft genug verließ ich später als heute Deiner Mutter Haus.“

„Deine Gründe in Ehren,“ erwiderte Bertus, und er wendete sich ab, um zu verheimlichen, daß ihm das Blut bis in die Schläfen hinaufgestiegen war, „und ich will am wenigsten Ursache geben, daß Du auf irgend eine Art in’s Gerede kommst. Derjenige soll aber noch geboren werden, der mir wehrte, mich in Hörweite von Dir zu halten. Und ich schwör’ Dir’s, nicht eher kehre ich um, als bis ich die Thür von Deines Vaters Haus hinter Dir zuschlagen höre. Es soll sich seit einiger Zeit auf der Insel Gesindel umhertreiben, welchem ein junges Mädchen ohne Schutz nicht gern begegnet. Erst heute war ein Mann in unserm Dorf – er befragte die Leute um den Weg – ein richtiger Vagabond, hörte ich, dem man das Wohl eines Hundes nicht auf zehn Minuten anvertrauen möchte.“

„Ich fürchte mich nicht,“ antwortete Kordel spöttisch, „bin ich zu schwach, um mich zu vertheidigen, so sind meine Füße desto leichter – nein, Du bleibst bei Deiner Mutter – ich will es so.“

„So thu’s ihm zu Gefallen!“ suchte die alte Frau zu vermitteln, „und verdient hast Du’s um mich, daß wir Deinetwegen nicht Nacht noch Wetter scheuen.“

Kordel war reisefertig. Auf die Bitte der Alten sann sie ein Weilchen nach. Bertus’ Blicke hingen an dem schönen Antlitz mit den gesenkten Augen, über welche die starken schwarzen Brauen sich dichter zusammengeschoben hatten. Endlich sah Kordel empor, und den jungen Seemann fest anschauend, sprach sie ruhig:

„Deine Begleitung will ich nicht. Kannst Du dagegen mit gutem Gewissen behaupten, daß keine Gefahr dabei, so magst Du mich hinübersegeln.“

In des jungen Mannes Antlitz flackerte es auf.

„Scheust Du nicht etwas Sprühwasser,“ rief er aus, „so schaffe ich Dich innerhalb drei Viertelstunden hinüber; zurück ist’s für mich Spielerei.“

„Gut,“ versetzte Kordel erleichtert, „Du hast’s gesagt, und ich traue Dir zu, daß Du nicht mehr versprichst, als Du halten kannst. Um’s Sprühwasser kümmere ich mich wenig.“

„So wollen wir keine Zeit verlieren,“ bemerkte Bertus eifrig, „je früher wir aufbrechen, um so besser! Lebt wohl, Mutter! In anderthalb Stunden bin ich wieder da.“ Er trat auf den Flur hinaus, wo er sich in sein Regenzeug warf, während Kordel auf ihrer alten Freundin Rath sich ähnlich ausrüstete und Abschied nahm.

Im Garten harrte Bertus ihrer. Er trug auf der Schulter einen kurzen Mast nebst Gaffel und aufgerolltem Segel und eine Ruderstange. Als Kordel bei ihm eintraf, schlug er ohne Zeitverlust ihr vorauf den Weg nach dem Strande ein.




3.

Der Himmel war dicht verhangen und sandte fortgesetzt seinen kalten Regen nieder. Abendliche Schatten verkürzten die Fernsicht, welche durch den Regen ohnehin arg begrenzt war. Als die beiden jungen Leute den Strand erreichten, dehnte die See sich als eine heftig bewegte, düster graue Fläche vor ihnen aus. Die Brandung war nur mäßig, weil die Wogen durch den Wind abwärts getrieben wurden. Der mit Seetang bedeckte Strand erzeugte den Eindruck, als ob der Wasserstand ein niedrigerer geworden wäre. Nur hin und wieder rollte eine Dünung weiter herauf. Eine solche benutzte Bertus, das mit dem Kiel auf einer Planke ruhende Boot flott zu machen. In dem Augenblicke, in welchem dieses den trockenen Strand verließ und sofort von einer neuen Dünung emporgehoben wurde, schwang Kordel sich hinein. Bertus folgte ihr nach, und die Ruderstange handhabend, gelangte er bald so weit, den Mast einsetzen und das Segel lösen zu können. Durch die Dünen der Landzunge geschützt, brauchte er nur gegen die unregelmäßigen Schwellungen zu kämpfen. Kordel hatte auf der letzten Bank Platz genommen. Bertus setzte sich neben sie und ergriff das Steuer. Mit der linken Hand hielt er die durch einen Ring laufende und zweimal um einen Pflock geschlungene Segelleine. Langsam und den ungestümen Bewegungen des Wassers nachgebend, trieb das Boot seewärts. Plötzlich aber traf es ein heftiger Windstoß, der es fast auf die Seite legte; dann gewann es stetigeren Curs, und einige Minuten später war es der vollen Wirkung der Kühlte preisgegeben.

„Es ist doch schlimmer, als ich erwartete,“ brach Kordel nach kurzer Fahrt das Schweigen, und forschend ruhten ihre Blicke auf dem Gefährten, der scharf über den Bug des Fahrzeuges hinwegspähte.

„Es müßte weit schlimmer kommen, um uns gefährlich zu werden,“ antwortete Bertus, ohne die Richtung seiner Blicke zu ändern.

„Aber die Brandung drüben!“

„Ich schaffe Dich wohlbehalten auf’s Trockene, Kordel, und bedaure nur, daß es nicht anders weht. Verwandelte die See sich in brennenden Schwefel, so wär’s der Rede werth.“

Ein eigenthümlicher Ausdruck lag in des jungen Mannes Stimme, daß es Kordel befremdete, sogar ängstigte. Aber als sei das Schweigen inmitten des sich allmählich in Dämmerung hüllenden tosenden Elementes ihr noch peinlicher gewesen, hob sie nach kurzem Sinnen wieder an:

„Wir sind öfter diesen Weg gefahren, schon als ich noch Kind war, allein böseres Wetter hatten wir nie. Ich seh Dir’s an, wie Du Dich abmühst, den Curs zu halten. Es wäre besser gewesen, wir hätten die Fahrt unterlassen.“

„Nein, Kordel, besser wär’s nicht gewesen,“ stieß Bertus förmlich heraus, „denn nun kann ich Dir wenigstens zu Diensten sein. Meine Begleitung auf dem Landwege schlägst Du aus, als ob’s eine Schande wäre, mit einem Fischerknechte gesehen zu werden, und nun ist Dir mein Segeln nicht gut genug. Was hab’ ich anders von Dir, als daß ich Dir meinen guten Willen beweise? Hätte ein Typhoon die See bis auf den Boden aufgewühlt, so würde ich keine Secunde geschwankt haben, Dich zur Fahrt einzu laden.“

„Du denkst nicht an den Gram Deiner Mutter, wenn Du von Deiner tollkühnen Fahrt nicht zurückkehrtest. Die arme Frau wäre gänzlich verwaist, fänden wir Beide unsern Untergang.“

Bertus antwortete nicht gleich. Zwei Wogen, die schnell aufeinander folgten und das kleine Fahrzeug zu begraben drohten, nahmen seine ungetheilte Aufmerksamkeit in Anspruch. Nachdem sie einen Sprühregen über die beiden Gefährten hingesendet hatten, rollten sie davon.

„Lege Deinem Arm um mich, und Du sitzest sicherer,“ sprach Bertus darauf, und seine Stimme zitterte vor Erregung.

„Ich sitze gut genug,“ antwortete das Mädchen gleichmüthig, „ich möchte Dich in Deinen Bewegungen hindern.“

„Kordel,“ begann Bertus nach einer längeren Pause, „wenn ich mich dadurch versündige , ist’s nicht meine Schuld; denn ich kann nicht anders. Meiner armen Mutter gönne ich das Beste, aber auch ohne uns Beide wäre sie nicht verlassen; es giebt noch gutherzige Menschen in der Welt, und sollte ich vereint mit Dir sterben, wäre mir’s eine rechte Wohlthat.“

„Rede nicht lästerlich, während wir über der Tiefe schweben!“ versetzte Kordel mit heimlichem Beben; „oder meinst Du, mir wäre damit gedient, in Deiner Gesellschaft zu Grunde zu gehen? Mein letzter Gedanke würde Deiner Mutter gelten, der nichts Anderes bliebe, als gleichfalls zu sterben.“

„Wie Dir’s widerstand mit mir auf dem Lande gesehen zu werden, so peinigt Dich jetzt die Besorgniß, man könnte uns am Strande finden, Beide todt und starr, und wie ich Dich halte, fest, ganz fest, daß sie uns in ein Grab legen müßten. Kordel, höre, wie der Wind heult, sieh, wie die See’n ihre Arme nach uns ausstrecken! Aber ich verspotte sie. An meine Mutter denke ich, doch mehr an Dich, verschaffte ich Dir dadurch ’ne frohe Stunde, spränge ich gleich über Bord. Wenn ich das Steuer herumwürfe, so sänken wir einige Minuten später Seite an Seite auf den Meeresboden. Aber ich will nicht, Kordel; durch mich sollst Du kein Leid erfahren. Meinst Du daß ich unziemlich rede, so trägt das Meer die Schuld! Hei, wie’s dunkelt! Doch hinter den Wolken scheint der Mond, und der Schaum hilft ihm leuchten. Bei solchem Wetter packt’s mich, wie Jemand, der beim Trinken des Guten zuviel gethan und daher offen ausspricht, wie ihm um’s Herz ist, und der keine Ueberlegung kennt. Ja, Kordel, es muß herunter von meiner Seele: daß ich Dir nichts anderes sein kann, als der Sohn Deiner alten Freundin, das weiß ich, aber daß [144] ich, so oft ich Dich sehe, wahnwitzig werden möchte, daß ich lieber mit Dir auf dem Meeresboden läge, als Dich eines anderen Mannes Frau werden zu sehen, das darf ich immerhin ausprechen, ohne mich zu versündigen.“

Schweigend hatte Kordel ihm zugehört; als er geendigt, säumte sie eine Weile, bevor sie wie beiläufig antwortete:

„Also nur um mir dergleichen Undinge zu sagen, wolltest Du mich begleiten? Nur um mir sinnloses Zeug vorzuschwatzen, hast Du mich zu der Fahrt gedrängt? Nun, ’s ist das letzte Mal, daß Du mich hinübersegelst. Wenn ich überhaupt heirathen will, was kümmert’s Dich, wen ich wähle? Und gar hier Deine Tollheiten auszukramen, hier, wo ich Dir nicht ausweichen kann, hier, wo Du weißt, daß unser Leben von einer unvorsichtigen Bewegung abhängt! Möchtest sonst wohl gar die Hand nach mir ausstrecken? Hab’s geahnt, daß Dein Seefahren Dir den Kopf verwirrte, und darum fürchtete ich Deine Begleitung auf dem Landwege, wo Segel und Sturm Dich nicht gebannt hätten.“

„Ich wiederhol’s, Kordel,“ erwiderte Bertus, „lange genug hab’ ich’s mit mir herumgetragen, und noch länger hätte ich geschwiegen, aber das schäumende Wasser und Deine Bitterkeit haben’s mir angethan, daß ich nicht länger lügen mag. Und ein Lügen war’s, wenn ich beim Begegnen Dir ruhig in die Augen sah, wenn ich Dir lustig wie ’nem guten Freunde die Hand drückte, während mir vor heimlichem Jammer und Elend das Herz hätte zerspringen mögen. Das ist jetzt vorbei. Was See und Wind hören, verschweigen sie, und trägst Du’s selber weiter, soll’s mir kein Gram sein. Mögen die Leute mit Fingern auf mich weisen und mich verspotten, weil ich der stolzen, braunen Kordel eingestand, was in meiner Brust bohrt – ich schere mich nicht drum. Du aber weißt jetzt, daß, wenn ich Dir die Hand reiche und die Tageszeit biete, es in meinem Herzen brennt, daß ich für Dich sterben möchte und zufrieden damit wäre.“

„Du wirst mir die Hand nicht mehr reichen,“ erwiderte Kordel, trotz des sie umtosenden Elements mit wachsender Leidenschaftlichkeit; leidet Deine Mutter darunter, so bist Du selber verantwortlich dafür. Denn ich weiß, nie gab ich Dir Grund, Undinge zu mir zu sprechen –“

Sie stockte.

Mit einer kurzen Bewegung hatte Bertus das Steuer herumgedrückt. Das Boot schwang sich in den Wind hinein und schoß an einer heranrollenden Woge hinauf, zugleich flatterte das Segel nach hinten. Es war ersichtlich, die nächste Woge mußte über das seines Haltes beraubte Boot hinstürzen. Doch Kordel, vertraut mit dem Wasser und durch die abendliche Dämmerung hindurch die Umrisse der nächsten See erkennend, griff hastig nach dem Steuer, und es der erschlaffenden Faust des Geführten leicht entwindend, brachte sie das Fahrzeug in seinen alten Curs zurück, bevor das Verhängniß über dasselbe hereinbrach. Ein kurzer Kampf mit dem zischenden Schaumkamme folgte, und wie ein Pferd nach empfangenem Peitschenhieb, schoß das Boot durch die verdichtete Atmosphäre auf sein unsichtbares Ziel zu.

Bertus schien die Besinnung verloren zu haben. Das Haupt auf die Brust geneigt, gab er willenlos den heftigen Schwankungen nach. Kordel dagegen führte das Steuer mit einer Sicherheit, wie sie nur im jahrelangen Verkehr mit der See erworben wird.

„Hast Du Dich jetzt beruhigt?“ fragte sie nach längerem dumpfem Schweigen; „hast Du überlegt, wo wir uns zur Zeit befänden, hätte ich nicht eingegriffen?“ Hast Du bedacht, daß Deine arme Mutter kinderlos wäre, hätte ich Deinem Wahnsinn nicht gesteuert?“

„Wir lägen Beide unten, und ich hätte Ruh’,“ antwortete Bertus zerknirscht.

„Eine theuer erkaufte Ruhe,“ versetzte Kordel so gleichmüthig, als hätte es sich um eine zu brechende Blume gehandelt, „aber nimm das Steuer zurück, mache, was Du willst – mich soll’s nicht kümmern. Meinst Du indessen, mich durch irgend eine Drohung einschüchtern zu können, so täuschest Du Dich. Es ist überhaupt eine schlecht gewählte Zeit jetzt zu Gesprächen, wie das Deinige. Du glaubtest, mich in Deiner Gewalt zu haben, mich zittern zu sehen. Doch ich zittere nicht leicht; dazu ist mein Leben nicht freudevoll genug – ich will’s Dir beweisen,“ und das Steuer noch immer haltend, drehte sie das Boot jetzt selber in den Wind. Der Bug war aber noch nicht herumgeschwungen, obwohl das Segel schon zu flattern begann, als Bertus ihr das Steuer gewaltsam entriß und die Gefahr beseitigte.

„Ich habe gelobt, Dich hinüberzuschaffen, und mein Wort halte ich, sprach er zähneknirschend, und er hatte nur noch Blicke für die brausenden Wogen und die Lage des Bootes, „aber ich gesteh’s – ich war unsinnig; wie Wahnwitz kam’s über mich, und ich danke Dir, daß Du mich wieder zur Vernunft brachtest. Ich wiederhol’s, wenn die See’n brausen und der Sturm dazu heult, möchte ich aufschreien vor Lust, und weil ich Dich so lange kenne und Du so warm neben mir saßest, traf’s Dich. Jetzt ist’s vorbei, Kordel. Das Sprühwasser und Deine Worte haben mich abgekühlt. Denke nicht mehr daran, Kordel! Meine Zunge soll verdorren, bevor ich noch einmal von Liebe zu Dir rede.“

Er lachte, wie sich selbst verhöhnend, in den Wind hinein, und da Kordel schwieg, fuhr er in demselben herben Tone fort:

„Besuchtest Du meine Mutter nicht mehr, so würde das der armen Frau viel Gram verursachen. Sie würde errathen, daß ich’s verschuldete, und die Strafe wäre zu hart. Vergiß daher Alles, um meiner Mutter willen! Denke, Du habest geträumt,“ und bitterer und zugleich entschlossener klang seine Stimme, „oder ’ne böse Krankheit habe mich befallen, daß ich nicht wüßte, was ich thät. Sollst nie mehr dergleichen erleben; weit aus dem Wege will ich Dir gehen, und begegnen wir uns zufällig, so begrüße mich nach alter Weise der Leute wegen! Denn würdest Du mir die Hand reichen und mich versöhnlich anschauen, so gedächte ich der jetzigen Stunde – Kordel; legte ich meine Hand auf rothglühendes Eisen, es würde weniger brennen, als die Erinnerung an den heutigen Abend.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Pest.
Ein vorläufiges Wort zur Orientirung.


Nicht ohne anzuklopfen, weder unbekannt noch unerhört, aber auf einem früher nicht benutzten Wege hat gegen den Schluß des vergangenen Jahres die Pest ihren Eintritt in Europa gehalten, ein „neuer Feind mit altem Gesicht“. Ja, es ist viel gezeichnet worden, dieses Schreckensantlitz, zu einer Zeit, da es weder der weitschweifigen Signalements der Aerzte, noch der Beobachtungsgabe gelehrter Chronisten bedurfte, um seine Züge zu erfassen. Wem hatte es in jenem berüchtigten Pestjahrhundert nicht irgendwo einmal entgegengegrinst?“

In künstlerischer Weise und mit großer Naturtreue malt es der treffliche Alessandro Manzoni in den „Verlobten“. Der wüste Don Rodrigo kehrt im August 1630 in Mailand nach seinem Hause zurück, begleitet von einem der wenigen ihm treugebliebenen Diener. Er kommt aus einer Gesellschaft von Fremden, die sich gewöhnlich zu schwelgerischem Schmause versammelten, um die finstere Betrübniß der Zeit zu vergessen; jedesmal stellten sich neue Freunde ein; jedesmal vermißte man alte. Indem Rodrigo aber vorwärts schreitet, empfindet er ein befremdliches Mißbehagen, eine Niedergeschlagenheit, eine Schwäche in den Beinen, eine Beschwerde beim Athemholen, eine innere Hitze, die er gern ganz und gar auf Rechnung des Weines, der durchwachten Nacht oder der Jahreszeit setzen möchte. Nachdem zu Hause das Licht angezündet, betrachtet der Diener das Gesicht seines Herrn: es ist verzerrt, entflammt, die Augen hervorgetreten und glänzend. Und so hält er sich fern; denn in solchen Tagen hatte der gemeinste Knecht sich bereits das Auge eines Arztes angeschafft.

„Ich bin gesund, geh!“ sagt Don Rodrigo, da er in den Geberden des Dieners den Gedanken liest, welcher ihm durch den Kopf fliegt. „Ich bin ganz gesund, ich hab’ aber getrunken, hab’ vielleicht ein wenig zuviel getrunken. ’S war so ’n weißer, süßer Wein. Mit einem tüchtigen Schlaf ist Alles abgemacht. Er liegt mir in den Gliedern. Bring’ mir das Licht aus den Augen! Es blendet mich; ich kann’s nicht leiden.“

Nun kommt die Nacht; das Kissen drückt ihn wie ein Gebirg;

[145]

Hero und Leander.
Nach seinem Gemälde auf Holz gezeichnet von C. von Bodenhausen.

[146] er wirft es weg und krümmt sich zusammen, um einzuschlafen, denn er kommt vor Schlafsucht fast um. Kaum aber hat er die Augen geschlossen, so wacht er ungestüm auf, als wenn ein Mensch im heftigen Aerger ihn geschüttelt hätte; er fühlt die Hitze steigen; die innere Unruhe vermehrt sich. Nach langem Kampfe schläft er endlich ein; den Schlaf bevölkern die schwärzesten verworrensten Träume. Ueber einem von ihm selbst ausgestoßenen furchtbaren Geheul erwacht er und strengt sich an, gänzlich wieder zu sich zu kommen und die Augen zu öffnen; denn das Licht des Tages ist ihm nicht weniger lästig als der Glanz der Kerze. Er erkennt sein Bett, sein Zimmer, begreift, daß Alles ein Traum gewesen, nur eins nicht – ein heftiger Schmerz an der linken Seite. Zugleich empfindet er im Herzen einen beschleunigten ängstlichen Schlag, in den Ohren ein summendes Geräusch, ein inneres Feuer, eine Schwere in allen Gliedern, schlimmer als da er zu Bett gegangen. Er zaudert einige Secunden, ehe er nach der schmerzenden Stelle sieht; endlich entdeckt er sie deutlicher, betastet sie mit den Fingern, blickt hin und schaudert – er wird eine Beule von mißfarbigem Violet gewahr. Er sieht sich verloren.

Nicht immer kam es zum Wiedererwachen, zu einer Erkenntniß des eigenen Zustandes. In den schwersten Pestfällen ging der rauschartige Zustand in den einer tiefen Bewußtlosigkeit über; in 24 bis 48 Stunden erfolgte der Tod, ohne daß es zu einer Ausbildung der äußerlichen Drüsengeschwülste, der Achsel- und Leistenbeulen, gekommen wäre. Innerlich allerdings waren starke Anschwellungen der Lymphdrüsen am Darm und an der Lungenwurzel fast ausnahmslos erfolgt; sie gingen den äußerlichen Auftreibungen voran und wurden bei den Sectionen kaum je vermißt. In den Erscheinungen der Blutzersetzung und der Vergiftung des Lymphsystems gesellten sich die einer gänzlichen Unterdrückung aller Absonderungen und eine Reihe sichtlicher Veränderungen an der Haut. Nicht nur daß dieselbe über den Drüsenbeulen auffällig verfärbt erschien – Blutgeschwüre größten Umfangs, harte ausgedehnte Carbunkel wie beim Milzbrand, Flecke, denen beim ansteckenden Typhus ähnlich, dunkle Blutaustritte, schwärzliche Streifen und Punkte bildeten sich an den verschiedensten Körperstellen.

Doch bezieht sich die Benennung Beulenpest in erster Reihe auf die Lymphdrüsengeschwülste, und der Name des „schwarzen Todes“ leitet sich nicht von den Hautverfärbungen, sondern von jener übertragenen Bedeutung her, in welcher das „Schwarz“ schon bei den Alten das dunkle, unvermeidliche, grauenvolle Fatum bezeichnete. Denn die Epidemien des „schwarzen Todes“, die Erscheinungen der indischen Pest, wie sie seit den ersten Jahrzehnten dieses Säculums an den südlichen Abhängen des Himalayagebirges ohne jemals ganz nachzulassen herrscht, gehören ihres furchtbar schnellen Verlaufes wegen zu den gefährlichsten Pestformen. Zu den Symptomen der Hitze, des verschwindenden Pulses, der Unterdrückung aller Absonderungen, der Hinfälligkeit, des Kopfschmerzes, des rauschähnlichen Zustandes und der Herzbeklemmung gesellen sich Athemnoth, Bluthusten und die Zeichen totaler Lungenentzündung, denen die Befallenen schnell erliegen.

Die etwas milderen Formen deuten sich dadurch an, daß die Ausscheidungen des Körpers nicht ganz unterdrückt sind, und daß mit Beginn des dritten Tages eine theilweise Rückkehr der Besinnung erfolgt. Nach seinen Klagen gefragt, deutet der Patient auf Kopf und Herzgrube, läßt aber dann, wie nach ungeheurer Anstrengung und zum Tode matt, die Hand wieder sinken und ist selten im Stande, sich in zusammenhängenden Lauten auszudrücken. Nun zeigt sich auch die Anschwellung der Drüsenbeulen sehr energisch, sodaß dieselben oft einen beträchtlichen Umfang erreichen. Die günstige Bedeutung, welche diesem Vorgange beigelegt wurde, ist jedoch keine unbedingte, die anscheinende Besserung oft trügerisch; noch bis zum fünften und sechsten Tage kann der Kranke schnell wieder bewußtlos werden, in wenigen Minuten gänzlich verfallen, sich bis zur Unkenntlichkeit verändern und sterben. Gelangt er jedoch unter unregelmäßigen Fieberanfällen, zwischen Halbschlaf und dämmerndem Bewußtsein schwankend, über den siebenten Tag hinaus, so stellen sich die Körperabsonderungen, besonders auch starker Schweiß, stellt sich klares Bewußtsein, natürlicher Schlaf, Appetit und Lebenslust wieder ein. Die größte Gefahr droht dann noch von einer Eiterung und Verjauchung der inneren Lymphdrüsengeschwülste, während die äußeren unter geeigneter Behandlung schnell der Heilung entgegen gehen.

„Wie konnten,“ so fragt der Laie und der Arzt angesichts der gegenwärtig in den südöstlichen Provinzen Rußlands herrschenden Pest, „wie konnten so auffällige Zeichen mißdeutet werden? Wie war es möglich, daß die Berichte eines russischen Stabsarztes, noch nach Hunderten von Todesfällen, von Flecktyphus und schnell tödlichen Lungenentzündungen zu erzählen wußten?“ Gestehen wir es zunächst ein, daß die Kenntnisse in der geographisch-historischen Pathologie, der Wissenschaft, welche sich mit den erloschenen oder erloschen geglaubten und mit denjenigen Krankheiten beschäftigt, welche in außereuropäischen Ländern, in einzelnen klimatischen und geographischen Bezirken herrschen, ganz allgemein eine beklagenswerth geringe ist. Die heute vorherrschende sinnlich-praktische Ausbildung in der Medicin gönnt derartigen für theoretisch verschrieenen Studien keinen Raum. Demnächst sei erwähnt, daß die Pest von manchen Forschern wegen der Symptome der Blutvergiftung, der Betheiligung des Gehirns und der des Haut- und Lymphgefäßsystems den typhösen Krankheiten im weiteren Sinne angereiht worden ist, und daß ja in der That großartige Lungenentzündungen sie begleiten können. Aber die Art der Entwickelung, die Form des Fiebers, eine Reihe sonstiger Symptome, vor Allem aber die ungeheure Sterblichkeit und der kurze Verlauf sprechen auf’s Schreiendste gegen jede Form des Flecktyphus und gegen jede bekannte Art von selbstständiger Lungenentzündung. Keine noch so crasse Unwissenheit, keine noch so systemklügelnde Spitzfindigkeit kann jene unwahren ärztlichen Berichte rechtfertigen; die Verantwortlichkeit ihres Verfassers wäre eine ungeheure geworden, wenn, wie es leicht hätte geschehen können, die Ortsregierung des Astrachaner Bezirks die Absperrung der Seucheherde aufgehoben hätte.

Noch an zwei anderen Stellen müssen wir den vertuschenden Berichten über die heutige Epidemie jede Stütze entziehen. Ihr ungewöhnlicher Weg kann schon deshalb nicht zur Entschuldigung des Verkennens dienen, weil die Seuche ihn nicht unangemeldet beschritt. Kleinere Epidemien hatten 1863 in den Bergdistricten des nordöstlichen Persiens, 1870 im persischen Kurdistan geherrscht, zunächst ohne die türkische Grenze zu überschreiten. Im Jahre 1873 bis 1875 trafen Ausbrüche der Pest das südliche Mesopotamien; 1876 wurde Bagdad ergriffen, wo 4000 Einwohner starben, und eine in Reschd am Kaspischen Meere im Jahre 1877 wüthende Seuche wurde von dem Leibarzt des Schahs von Persien bereits im April desselben Jahres als Pest erkannt. Von Reschd nach den Wolgamündungen und den Handelsplätzen des östlichen russischen Kaukasus mag sie dann schnell gelangt sein, – unerwartet oder gar verkannt jedoch nur von Denen, welche sie verkennen wollten. – Endlich konnte man fragen: „Wie sollte aber gerade die Form der Pest hier erwartet und sofort erkannt werden, welche man in Indien heimisch glaubte, da doch sicher Lungenblutungen in der diesjährigen Epidemie vorgekommen sind?“ Es ist vor Allem nirgends erwiesen, daß die indische Pest (der schwarze Tod) und die orientalische Pest sich gegenseitig ausschließen. Der Schrecken war zur Zeit der Epidemien so groß, daß Niemand genau darauf achtete, ob nur Fälle mit Lungenblutungen oder daneben auch solche reiner Beulenausbrüche vorkamen. Ging doch in der allgemeinen Aufregung das Unterscheidungsvermögen derart verloren, daß die Aerzte behaupteten, alle anderen Krankheiten hörten während der Pestzeit auf. Wahrscheinlich kommt eine Betheiligung der Lungen auch bei der orientalischen Pest weit häufiger vor, als dies in den älteren Beschreibungen erwähnt wird.

So fallen bei näherem Zusehen fast alle Entschuldigungen für jene Vertuschungsversuche fort, wenn man nicht den Umstand dafür nehmen will, daß ein Bestreben, die Pest zu verleugnen, nicht blos in der Pestgeschichte Rußlands, sondern auch anderswo schon öfter dagewesen ist. Klingt es nicht wie in unseren Tagen geschrieben, wenn Ripamonti, der oberitalische Chronist, sich 1640 wörtlich äußert: „Im Anfange also keine Pest, durchaus keine; selbst das Wort hören zu lassen verboten. Dann großartige Fieber; der Begriff durch ein untergeschobenes Wort verdreht. Nachher keine wahre Pest; nämlich eine Pest, aber nur in einem gewissen Sinne; nicht eine eigentliche Pest, sondern etwas, wofür sich kein anderer Name findet. Endlich Pest ohne Widerrede.“

Wir sehen jetzt, da alle Zweifel über den Charakter der Seuche beseitigt sind, Rußland in einem neuen Kriege, im Kampfe mit der Pest, und interessiren uns aus Gründen, die [147] keiner Erörterung bedürfen, zunächst für die Bundesgenossen beider kämpfenden Mächte, der Seuche wie der Menschen. Wohl ist es zuzugeben, daß für manche Bezirke starke Durchfeuchtungen des Bodens, für andere Nahrungsmangel und Hungersnoth, für noch andere abscheuliche Mißbräuche in der Handhabung des Leichenwesens als mächtige Beförderungsmittel der Pest sich erwiesen haben. Doch ist die Krankheit an solche Einzelmomente nicht gebunden. Die durchgreifendste Bedeutung hat eine Verkommenheit der unteren Volksschichten, mangelhafte Lüftung und Schmutz in den Wohnungen, tiefgreifende Verunreinigung des Bodens, enges Zusammenleben armseliger Bewohner. Wer russische Verhältnisse kennt, wird zugeben müssen, daß die Pest in den aufgezählten Momenten ihre gewohnten Alliirten vorfindet, daß die socialhygienischen Zustände des Landes ihre Verbreitung begünstigen. Dazu kommt eine gewisse Panik in den besser situirten Kreisen, die sich schon durch starke Auswanderungen nach dem Westen und Norden bemerklich gemacht hat, die Rohheit des niederen Beamtenstandes, die Bestechlichkeit Derer, welchen die Absperrung der verseuchten Orte anvertraut ist. Warnende Stimmen haben auch besonders hervorgehoben, daß die Pilgerzüge und Messen, welche um die Frühlingszeit das russische Landvolk von Alters her in gewissen Mittelpunkten vereinigen, sich leicht der Seuche dienstbar erweisen könnten. Die Regierung hat einen schweren Stand; sie muß die militärischen und finanziellen Hülfsmittel des Landes anstrengen und dasselbe gleichzeitig die wirthschaftlichen Nachtheile tragen lassen, welche die Grenzsperre mit sich bringt. Sie muß ferner schwer durchführbare Sanitätsmaßregeln, wie das Niederbrennen ganzer Dörfer, durchsetzen und dieselben einer durch den Krieg verwilderten Soldateska anvertrauen, welche zu Allem fähiger erscheint, als dazu, die geängstigte und mißvergnügte Landbevölkerung mit den Regierungsmaßnahmen zu versöhnen. Ein Bauernaufstand aber müßte als einer der gefährlichsten Pestalliirten angesehen werden.

Sehen wir uns nun die Bundesgenossen des anderen Theiles an! Die natürlichen Anwälte des Menschengeschlechts im Kampfe mit einer Krankheit sind die Aerzte. Bis zum Jahre 1864 gab es in Rußland auf dem Lande, in den Dörfern und auf den Gütern so gut wie keine Aerzte, denn diejenigen, welche von reichen Edelleuten engagirt waren, bildeten eine so kleine Zahl, daß sie für die vierzig Millionen von keiner Bedeutung waren. Als dann im genannten Jahre das Institut des „Semstwo“ – der landschaftlichen Selbstverwaltung – in’s Leben trat, war der Aufbau medicinischer Einrichtungen von Grund aus neu aufzuführen, vollzog sich aber mit einer Schnelligkeit und Energie, welche bewiesen, daß es sich um ein natürliches Bedürfniß handelte, dessen sich kein Volk entschlagen kann.

Kaum einige Jahre waren verflossen, so gab es schon Hunderte von Aerzten in Gegenden, wo nie vorher daran gedacht worden war. Doch befanden sich die Verhältnisse noch lange im Stadium der ersten Entwickelung; es war unmöglich , für jedes größere Dorf, ja nicht einmal für vier bis fünf Dörfer einen Arzt zu bestellen, weil Geld und Aerzte fehlten; die Letzteren, mit dem vielen Umherfahren unzufrieden, wechselten oft ihre Stellen, erschienen in den Dörfern wie Meteore und verschwanden ebenso; gegen ihre Gehülfen, die in den Dörfern postirten Feldscheere, erhoben sich nicht enden wollende Klagen. Da entstand – zuerst unter den Aerzten des Gouvernements Twer im Jahre 1870 – der Gedanke, in eigenen Congressen die Medicinalangelegenheiten zu berathen, und seit dieser Zeit ist von einem Einflusse der Aerzte auf die Verbesserung der Volksgesundheit wenigstens die Rede. In einigen Gouvernements sind sogar besondere Aerzte angestellt, welche sich speciell mit epidemischen Krankheiten zu befassen und Alles anzuordnen haben, was sich bis zum Schlusse der Epidemien als nöthig erweist.

So erscheint Rußland nicht so vollkommen entblößt, wie man nach älteren Nachrichten zu glauben geneigt gewesen wäre. Einen der glücklichsten Umstände haben wir ferner darin zu suchen, daß die Gefahr der Krankheit vor dem Zeitpunkte erkannt wurde, in welchem schwer widerrufliche Dispositionen hinsichtlich größerer Truppenbewegungen gegeben wurden. Die nach früheren Kriegen so furchtbare Gefahr, daß die Pest in Reih und Glied der Colonnen mitmarschirt, überall ihre Opfer als lebendige Pestkeime ausstreut, jeden berührten Ort als Krankheitsherd zurückläßt – sie ist angesichts der Aufmerksamkeit, mit welcher ganz Europa jenen Truppenbewegungen folgt, unmöglich.

Mißverständlicher Weise haben die Pestbülletins ein großes Gewicht auf die Kälte gelegt und in einer Temperatur von – 10° bis – 15° eine Art von Schutz gegen die weitere Verbreitung der Epidemie finden zu sollen geglaubt. Ständen die Dinge wirklich so, dann wäre jede Nachricht über milderes Wetter, das wir doch sicher im natürlichen Verlaufe der Jahreszeit zu erwarten haben, schon als Alarmsignal zu betrachten. Glücklicherweise ist dem nicht so. Auf europäischem Boden hat die Pest vielfach in harten Wintern epidemisch geherrscht, so 1574 in Heidelberg, 1625 in London, 1710 in Marienburg, 1837 bis 1838 in Rumelien, wo sie bei einer Temperatur von – 13° an mehreren Orten ihre Höhe erreichte und erst gegen Ende des Frühlings erlosch. Man hat bei flüchtiger Betrachtung dieser Verhältnisse die Einzelerfahrung, daß die Pest in Constantinopel gewöhnlich im Januar aufhörte, viel zu sehr verallgemeinert, und es ist eine unbegründete Furcht, in der man vielfach im Herannahen des Frühlings an sich einen Wendepunkt für die Bedingungen der Pesterzeugung erblickt: Klima und Temperatur verhalten sich sowohl der Pest, wie den sie Bekämpfenden gegenüber neutral.

Daß die russische Regierung die Macht des Feuers in weiter Ausdehnung zu Hülfe rufen will, ist allgemein bekannt; weniger vielleicht, daß seitens ärztlicher Commissionen und des „rothen Kreuzes“ Vorkehrungen in’s Werk gesetzt worden sind, um durch Herstellung von Unterkunftsplätzen, Gratisverabreichung von warmer Nahrung, Ersatz inficirter Kleidung etc. dem Pestelend – und durch das eigene tapfere Beispiel dem Pestschrecken und der sinnlosen Flucht entgegenzutreten. Beide sind, wie bereits angedeutet, neben dem Vertuschungssystem, die furchtbarsten Alliirten der Pest und würden all die günstigen Momente, welche wir auf russischer Seite entdecken konnten, schnell aufwiegen.

Und dann? – Was hat zu geschehen, wenn der Feind sich der gegen ihn angewandten Taktik als überlegen erweist, wenn er, der ihn umzingelnden Cordons spottend, stetig im Rücken derselben erscheint, wenn er mit dem Winde und den Vögeln in der Luft, auf dem Rücken des Paschers geographische und politische Grenzen überschreitet, wenn er wie ein gährendes Giftatom unbemerkt in das Adernetz der europäischen Eisenbahnen sich einschleicht und plötzlich in irgend einem Centrum des Verkehrs entdeckt wird? Die staatliche Fürsorge hat in schnellgefaßter Besonnenheit, mit Benutzung aller bekannten Erfahrungen diesen Möglichkeiten vorzubeugen gesucht, doch werden jene „Wenn“ nicht eher in Vergessenheit kommen, als bis der letzte Pestort seines letzten Kranken ledig ist; bis dahin sollen sie nicht den Zaghaften erregen, sondern den Verstand des Besonnenen schärfen.

Eine rücksichtslose Offenheit würde uns über jede Bewegung der Krankheit, über jede Maßregel gegen sie seitens des Staates in Kenntniß setzen; die so vielbewährte Wohlthätigteit würde, wie in unseren Feldzügen, nicht müde werden, unerschöpfliche Hülfsmittel zu sammeln und an die geeignete Stelle zu bringen; reicher Ersatz aus den Fonds des Staates und der Wohlthätigkeit würde die Opferwilligkeit in Bezug auf verdächtig gewordenes Eigenthum unterstützen. Frei und gesund gelegene, nach den erprobtesten Mustern in Barackenform aufgebaute Isolirspitäler würden die Kranken bei vorher bestimmter geringer Belegungszahl aufnehmen; tüchtige Aerzte und Krankenpfleger in größter Anzahl würden sich an die bedrohten Orte begeben. In jeder Gemeinde würden organisatorische Vereinigungen entstehen, stets bereit zu Belehrungen und zweckmäßigen Anordnungen; jeder Ort würde seine Desinfectionsanstalt, jeder, was wir besonders betonen möchten, seinen Feuerbestattungsplatz haben, um, nach bereits erprobtem Verfahren, gleichzeitig die Todten zu ehren und die Lebenden zu schützen. So denken wir uns den schlimmsten Fall. Und diese „Hoffnungen in der Furcht“ würden sich nach unserer Ueberzeugung erfüllen – oder all unsere Cultur und unsere veredelten Gefühle, unsere Humanität und unsere Wissenschaft wären eitel Dunst.

Die Ansteckungsfähigkeit der Pest ist übrigens nach den Aussprüchen der bedeutendsten Epidemiologen eine höchst bedingte. Weder die Berührung des Kranken und dessen, was ihn umgiebt, noch die der Leiche rufen ohne Weiteres die Krankheit wieder hervor. Es bedarf eines geeigneten Mediums, eines reifenden Bodens, um den Keim der Krankheit zu einer Blüthe [148] zu bringen, welche ihrerseits erst die Erkrankung eines zweiten Individuums zur Folge hat. So lange diese Entwickelung des Keims nicht eingetreten ist, kann eine gesunde und gesund bleibende Person sein Träger und Verschlepper sein, wie ein Schiff mit dem Ballast Keime verschleppt, die zwar einst nach Berührung mit Luft, Licht und Wärme, aber nicht im Schiffe selbst zur Entwickelung gelangen. Stimmt doch diese wissenschaftliche Anschauung in so vollkommener Weise mit den Erfahrungen überein, denen die Briefe Moltke’s aus dem Jahre 1837 in Bezug auf die Pest Ausdruck geben: „Es gehört gewiß eine besondere Concurrenz von unglücklichen Umständen dazu, um durch bloßes Begegnen eines Kranken angesteckt zu werden.“

Allgemein wird in älteren Berichten die Machtlosigkeit der Heilkunst beklagt. Auch die diesjährige Epidemie weist bis jetzt wenig Tröstliches in dieser Beziehung auf. Wir erinnern aber an die Fortschritte auf dem Gebiete der Desinfection und den Umstand, daß das bei der Pest noch nie in ausgedehnter und systematischer Weise angewandte Chinin sich so vielen krankmachenden Einflüssen gegenüber als vortreffliches Vorbeugungsmittel bewährte. Endlich denken wir unwillkürlich an die mächtigen Wirkungen, welche ein erst ganz neuerdings entdecktes Heilmittel, das Alkaloid der Jalaorandipflanze (Pilocarpin), auf die Beförderung aller Ausscheidungen unzweifelhaft ausübt. –

Den Regierungen endlich legen die Ereignisse die Fragen nach der Einrichtung ständiger internationaler Seuchencommissionen und einer Wiederholung jener Maßregel der französischen Regierung, welche von 1844 bis 1858 eigene Aerzte zur Beobachtung der Pest in Kairo stationirte, sehr nahe. Die Sanitätsverwaltungen müssen leider auch heute noch Feldzüge unternehmen, ohne sich auf Vorposten und Kundschafter stützen zu können, weil deren Beschaffung angeblich zu kostspielig ist. Wie man aber auch rechnen möge: gegenüber dem ungeheuren materiellen Verkehrsverluste, den auch nur die Ungewißheit über die Natur der Seuche zur Folge hat, erscheint die reichste Dotation von einem halben Dutzend tüchtiger, ständiger Beobachtungsärzte als eine wahre Kleinigkeit.

Dr. A. W.




Nürnbergs Volksbelustigungen im 16. und 17. Jahrhundert.
Ein Culturbild nach authentischen Quellen von Karl Ueberhorst.


II. Das Schembartlaufen.


In unserem vorigen Artikel („Gartenlaube“ 1876, Nr. 35) versuchten wir bei Beschreibung der Nürnberger Fechterspiele dem Leser ein Bild wilder Kraft und Kampfeslust vorzuführen. Heute mag sich den Erinnerungen an die eben in den deutschen Städten verrauschten Carnevalswochen die Schilderung eines jener fröhlichen Tage anschließen, an denen sich die Nürnberger Bürgerschaft in lustiger Fastnachtseligkeit auszutoben pflegte. Das Schembartlaufen versetzt uns sowohl durch die fast überschäumende Fröhlichkeit des Volkes wie durch den farbigen Wechsel der Trachten und Aufzüge ganz besonders lebhaft in das derbe fröhliche Mittelalter und gewährt uns speciell einen erschöpfenden Einblick in das damalige Volksleben Nürnbergs.

Nach dem großen Aufruhr der Nürnberger Zünfte im Jahre 1349 erhielten die Metzger und Messerer für ihre dem alten Regiment bewiesene Treue von Karl dem Vierten die Erlaubniß, „für ewige Zeiten um Fastnacht einen Tanz halten und im Schembart (Schönbart = Maske) laufen zu dürfen“. Die ersten Verkleidungen mögen höchst primitiv gewesen sein, und so sehen wir denn auch auf den ältesten Abbildungen außer Reitern, welche


Schembartläufer aus alten Schembartbüchern.
1. In Ablaßbriefe gekleidet; von 1523.  2. Mit Feuerkolben; von 1539.


sich auf von Holz oder Papier nachgebildeten Pferden, Ochsen, Einhörnern etc. wacker herumtummeln, nur die Messerer und Metzger ihre Tänze halten. Die Messerer tanzten mit verschlungenen Schwertern, der Tanz der Metzger aber, Zämertanz genannt, bestand in allerhand künstlichen Verschlingungen, wobei sich die Tänzer gegenseitig an ledernen, wurstförmig gebildeten Ringen hielten.

Nach und nach wurden die Masken, Tänze und Aufzüge [149] mannigfaltiger, und auch der glänzendste Carneval der Jetztzeit mag, wie wir aus der folgenden getreuen Schilderung entnehmen

Die Schembarthölle vom Jahre 1539.

können, den Nürnberger Schembart des sechszehnten Jahrhunderts nicht übertreffen. Mit dem allgemeineren Gebrauch des Schießpulvers entstand eine Specialität des Nürnberger Schembarts: der Feuerkolben. Derselbe bestand aus einem hölzernen Kolben in der vergrößerten Form eines Tannenzapfens, mit Wintergrün umwunden; in seinem Innern barg er eine kleine Rakete, welche der Schembartläufer unter lustigen Sprüngen abbrannte.

Da das Schembartlaufen nur oben genannten Zünften zustand, so kauften ihnen die nicht minder lebenslustigen Söhne der „Geschlechter“ später fast alljährlich die Erlaubniß zu freier Ausnutzung ab, und erst jetzt, da sich die Reichen und Wohlhabenden an dem Feste betheiligten, entfaltet sich das Schembartlaufen zu einem jener Volksfeste, welche durch ihren bunten, mittelalterlichen Farbenglanz und ihren fast unbändigen Volkshumor unserer nüchternen Zeit beinahe wie ein seltsames, fremdartiges Räthsel erscheinen.

Zu nachstehender Schilderung benutzen wir, wenn auch in anderer Form, das Manuscript des Ulrich Wirschung, eines Handlungsdieners jenes Viatis, dessen Nachkomme das prachtvolle, später Peller’sche Haus auf dem Egidienberge baute.

Es ist um die Fastnachtszeit des Jahres 1523. Eine vorzeitige Frühlingssonne hat Straßen und Plätze des weiten, damals schon längst gepflasterten Nürnbergs getrocknet – lustig drehen sich im warmen Thauwinde die vergoldeten Fähnlein auf den Firsten und Thürmchen der hochgiebeligen Häuser; aus den zierlichen, in reicher Steinmetzarbeit ausgeführten Erkern hängen bunte, weit hinausstrahlende Teppiche; den größten Schmuck dieser mit buntfarbigen Fenstern versehenen Vorsprünge und Nischen aber bilden die frischen, von blonder Flechtenfülle umrahmten Mädchenköpfe, welche lachend auf das fröhliche Treiben in den Straßen hinabschauen, denn ein Schembartlaufen findet heute statt, und Patricier sowie Zünfte wollen dabei ihr Bestes thun. In dem mit bunten Fresken bemalten Hause des reichen Viatis an der Barfüßerbrücke

Metzgertanz beim Nürnberger Schembart von 1449.
Nach einem alten Original.

[150] geht es emsig, wenn auch heimlich zu, denn Ulrich Wirschung, der lustige Handlungsdiener, hat mit seinem nicht minder lustigen „Nebengesellen“ Bastel Nibelunger im geräumigen Hofe unter Fässern und Waarenballen eine Narrenfuhre in Gestalt eines großen Drachen vorbereitet, auf welcher Aerzte und Apotheker, mit großen Spritzen bewaffnet, des Augenblickes harren, wo das Glöcklein von St. Sebald zum Beginn des Schembarts erklingen soll. Die schönen Töchter des Kaufherrn sind aus den oberen Gemächern im Treppenhause erschienen und schauen neugierig durch das zierlich durchbrochene Steingeländer der breiten Wendelstiege dem Treiben der fröhlichen Gesellen drunten zu, wobei sie den in seinem rothen Doctorkleide gravitätisch einhersteigenden Ulrich nicht wenig hänseln.

Draußen auf den Straßen ist es immer lebendiger geworden. Ein glücklicher Zufall will es, daß die Stadt zur Zeit in Frieden mit den meisten ihrer Placker lebt. Die gewaltigen Thore sind deshalb schon um Sonnenaufgang sammt den Fallgattern, Sperrketten und Schlagbäumen geöffnet worden, und aus ihren dunkeln Wölbungen tritt manche Gestalt in die sonnigen Straßen, die zu anderer Zeit den Stadtbann mit ihrem unnachsichtigen Blutrichter wohlweislich gemieden. Der wetterharte, sonnenverbrannte Gesell aber, der an der Seite seiner abenteuerlich aufgeputzten Burgfrau jetzt auf magerem Gaul hereinkleppert, hat zur Zeit Frieden mit den Krämern. Der Rottmeister der städtischen Söldner, welch letztere auf besondern Rathsbefehl heute statt der Partisane die Hakenbüchse mit dem noch nicht allzulange von dem Nürnberger Schlosser Hans Ehemann erfundenen Radschloß führen, läßt denn auch den ihm aus manchem Strauß wohl bekannten Landstörzer ungehindert seines Weges ziehen. Einem Raubvogel gleich, lugt der hungerige Edelmann unter der verrosteten Stahlhaube hervor nach den Schätzen, welche sich seinem gierigen Blicke in den Gewölben der Gold- und Silberschmiede, den gleißenden Auslagen der Harnischschmiede zeigen. Nicht minder begehrsam blickt seine Ehehälfte nach den Wundersachen, mit welchen die reichen Bürgerweiber sich schmücken und die einer rechtschaffenen Frau von Adel so selten zu statten kommen. In dem niedern Thorwege einer kleinen Herberge am Weinmarkt verschwindet das Paar, der behäbige Wirth aber mag sich nur wenig von solch verdächtiger Einkehr versprechen, denn stumm deutet er mit dem Daumen über die Schulter nach den Ställen, wo der Ritter mit einer derben Verwünschung über das hochmüthige Bürgerpack die Gäule eigenhändig unterbringt, um sich dann in das Innere der Herberge zu begeben.

Mit der fortschreitenden Stunde wird auch das Leben an den Thoren immer bewegter, und nicht blos armes Volk ist es, welches heute die Gastfreundschaft der Stadt in Anspruch nimmt. Lustiger Trompetenschall schmettert durch die Thorwölbung, und vieles Volk sammelt sich dort, denn der Culmbacher Markgraf ist es, der sammt dem feisten Bischof von Bamberg mit schimmerndem Gefolge einreitet. An den Trompeten flattert das Fähnlein mit dem rothen brandenburgischen Aar – auch in der Ecke der ritterlichen Pelzschaube sehen wir das alte Wappenthier des Nürnberg sonst so feindlich gesinnten Hauses eingestickt – heute aber will der Fürst allen Streit vergessen, und lachend die erröthenden Mädchen droben in den Erkern begrüßend, trabt er mit dem schwerfälligen, aber nicht minder vergnügungslustigen Kirchenfürsten dem Gasthause „Zum Bitterholz“, der damaligen Fürstenherberge, zu.

Weniger glänzend erscheinen uns die müden Knaben, welche soeben das Thor passiren. Es sind fahrende Schüler in zerrissenem, schwarzem Röcklein, zum Theil barfuß, zum Theil in groben bestaubten Bundschuhen. Die so treuherzig dreinschauenden verhungerten jungen Burschen erwecken das Mitleid eines alten Mütterchens – es weist sie zu dem stolz in die Straße springenden Eckhause einer reichen Bürgersfrau. Hier intonirt ihr Meister mit kräftiger Stimme eines der neuen Kirchenlieder, und mit heller Knabenstimme, die gleich Silberklang über den weiten Platz dringt, fallen die kleinen „Schützen“ sicher und kunstgerecht ein. Nicht allzu lange sollen sie auf den Lohn zu warten haben, denn hochgeschürzte Dienstmägde, die Galanterien des Meisters mit Lachen erwidernd, bringen für die hungernden Knaben nicht nur warme Suppe, Schwemmklöße und Peterlefleisch die Menge – auch ein Lebkuchen wird Jedem zu Theil, und in die Ledertasche, welche neben dem Schreibzeuge am Gürtel des Meisters hängt, gleitet ein blanker Gulden Nürnberger Gepräges.

Da ertönt das Glöcklein zu St. Sebald, Stadtdiener in roth und weiß getheilter Tracht rufen den Beginn des Schembarts aus, und fröhlich stürzen sich die erquickten jungen Gesellen in das vor ihnen immer lustiger aufsteigende Fastnachtsgetümmel. Aus allen Häusern springen sie hervor, die Mummen: Mohrenweiber und Heidenmänner, lustfeine schöne Frauen und fahrende Weiber, einige als Vögel, Meerweiber, heidnische Prinzessinnen, andere als Schäferinnen, Zauberinnen, Nonnen, Klausnerinnen, Besenmädchen etc. vermummt. Zwischen Sängern, welche sofort das alte: „Jungfer Bäschen, wo gehst Du hin?“ anstimmen, Pfeifern, Leiermännern, Bauern und Mönchen sehen wir Pickelhäringe und Markolfe mit Feuerkolben umherspringen. Lustig sprühen die kleinen Raketen ihren unschädlichen Feuerregen über die zuschauende Menge – Geschrei, Gelächter ob des allzu Furchtsamen, fröhliches Jauchzen, lustige Weisen schallen wieder auf allen Plätzen und Gassen, und als nun gar Ulrich Wirschung mit seiner Narrenfuhre zum Thorweg hinaus in das Gedränge schießt, scheint die Lust ihren höchsten Gipfel zu erreichen.

Doch siehe da, sind jene Knaben, welche hinter den Sackpfeifern auf der Narrenfuhre hocken, nicht unsere fahrenden Schüler von vorhin? Zur guten Stunde sind sie unserm Ulrich in die Hände gelaufen, denn ihr heller Gesang wird den Effect seiner Narrenfuhre erhöhen. Nach einem kurzen Vorspiel der Sackpfeifer tönt denn auch bald aus den geübten Kehlen der Vaganten das alte Schelmenlied: „Die Filia zur Mater sprach“ etc. über den Platz – Jedermann kennt die Volksweise, und lustig singend, ausgelassen tanzend bewegt sich der Zug vorwärts.

Bastel Nibelunger, auf einem grauen Esel sitzend, reitet vorauf. Er führt das Narrenpanier, welches die Viatis’schen Töchter gestickt und mit Spitzen und Bändern geschmückt haben. Dabei wirft er mit dem Rufe: „Herbei, Ihr Schlecker!“ Hornaffen (ein beliebtes Gebäck) aus. Hinter ihm gehen zwei grotesk gekleidete Schreiber mit riesengroßen Tintenfässern und Schreibfedern, sodann zwei lustige Dirnen, welche allerhand Brezelwerk auswerfen. Zwölf Männer aus der noch nicht allzu lange entdeckten neuen Welt machen einem Reiter Platz, welcher auf einem mit buntem Lappenwerke gezierten Zelter sitzt. Es ist der junge Hieronymus Viatis, welcher als Thorheit einhergeritten kommt und von den Jungfrauen aus den Fenstern mit dem Gesange begrüßt wird:

„O liebe Thorheit schön und fein,
Zur Fastnacht komm’ zu uns herein!“

Ein Luchsauge auf der Stirn, mit Schellen, Pfauenfedern, Spiegeln und allerlei Tand geziert, trägt die Thorheit einen mit Narrenköpfen eingefaßten großen Spiegel in der Hand und blendet die lachenden Jungfrauen. Jetzt kommt Ulrich’s Narrenfuhre, auf deren Drachenschwanze ein Kranker zwischen zwei Meßpfaffen liegt, welche plärren: „St. Urbane, da nobis vinum et recipe aegrotum – Heiliger Urban, gieb uns Wein und nimm Dich des Kranken an!“ Auf der Fuhre selbst aber steht Ulrich, von allerlei vermummtem Volke umgeben, und schreit mit Stentorstimme sein Doctorsprüchlein hinaus:

„Willkommen, werthe Schlemmerzunft
Voll Aberwitz und Unvernunft.
Wer krank ist, den curir’ ich gleich
Allhier in meinem Narrenreich.
Ich häng’ ihm seine Schelle an,
Sei ’s Bauer, sei es Edelmann!”

Hinter dem Drachenschwanze aber sprengt auf schwarzem, wildem Rosse Frau Holda, die wilde Jägerin, daher, stößt in’s Horn und schwingt, ihre schwarzen Haare wild umher schüttelnd, die knallende Peitsche. Ihr nach aber tobt das wilde Heer, gehörnt, geschnäbelt, geschwänzt, bekrallt, bebuckelt, sausend und brausend, schnalzend, pfeifend, zischend, schnarrend, blökend und brummend. Es sind lauter fröhliche Zechgesellen, welche das Gefolge der Frau Holda bilden. Besonderes Aufsehen erregt eine vollendet nachgebildete Maske Freund Klapperbeins, welche mit einem meckernd einherspringenden Ziegenbocke den zierlichsten Reigen tanzt. Die beiden lustigen Gesellen sind jedem guten Nürnberger als Schüler Albrecht Dürer’s wohl bekannt, denn unter der grinsenden Todtenmaske lachen die klugen Augen Hans Schäuffelein’s, des Verfertigers der prächtigen Holzschnitte in Pfinzing’s „Teuerdank“, hervor, während aus dem gehörnten Ziegenhaupte das glatte bartlose Gesicht Glockenton’s, des Illuministen obiger Goldschnitte, hervorschaut. Beide Schelme singen [151] alsbald in der süßesten Vogelweise, vom Meistersinger Niklas Vogel aufgebracht, zu den Fenstern des „Bitterholz“ hinauf, wo der Brandenburger Markgraf mit dem Bischofe dem fröhlichen Getümmel zuschaut:

„Trara! trara! trara!
Der wilde Schatz ist da.
Kommt ihr ein Freier nah,
Den sie sich gern ersah,
Führt sie ihn fort, trara!“

Der Bischof droben lacht. „Das ist Eure Jagdgöttin, Markgraf, hütet Euch vor ihren Netzen!“

„Bannt das Ungethüm!“ entgegnet der Fürst, „aber nur heute nicht, damit die Narren nicht irre werden! Bibamus!“ Dabei neigen Beide den vollen Pokal gegen Frau Holda und leeren ihn bis zum Grunde.

Da tönt es plötzlich von der Narrenfuhre: „Fastenfleisch! Fastenfleisch!“ Der Ausruf gilt mehreren als Beguinennonnen verpuppten Schembartläufern.

„Für Narren ist’s zu theuer,“ ist ihre schlagfertige Antwort.

„Das ist Bischofsfleisch,“ grinst Schäuffelein unter seinem Todtenschädel zum Prälaten hinauf.

„Wir lassen Dir’s, Klapperbein, wir lassen Dir’s,“ lacht der Bischof, „sind gar nicht neidisch darauf.“

Immer toller wird das Gejohle; da taucht mitten aus dem Gedränge plötzlich eine schwarze Gestalt auf. Es ist ein Prädicant der neuen evangelischen Lehre. Entbehrungen aller Art liegen auf dem fast asketischen Gesichte, seine Worte aber, so scheint es, werden von dem Volke, obgleich sie gegen das lustige Treiben als ein Ueberkommen aus dem Lande des päpstlichen Antichristes gerichtet sind, gierig aufgefangen. Mit der Ermahnung, allen weltlichen Firlefanz abzuthun und eingedenk zu sein der wahren Liebe des Evangeliums, schließt er eben seine weithinschallende Predigt, als sich zwei Bettelmönche mit weingerötheten Gesichtern durch die Menge drängen, um ihn von der improvisirten Kanzel herabzureißen. Zu tief aber schon ist die neue Lehre in’s Volk gedrungen, zu sehr verhaßt und verachtet sind die liederliche Mönche. Derbe Fäuste werfen sie in den Straßenstaub – der junge Prädicant aber verschwindet mit einem Bürger unter dem Thorbogen des nächsten Hauses.

Schmetternde Trompeten verkünden einen neuen Schembartzug. Diesmal sind es lediglich Patriciersöhne, welche durch das Spittlerthor in glänzendem Aufzuge nahen. Voran Vermummte, welche theils Nüsse unter das Volk werfen, theils mit ihren Pritschen und Feuerkolben dem Zuge Platz machen, hierauf Reiter in reiche orientalische Tracht gehüllt. Sie tragen vorn auf dem Pferde bunte Körbchen, welche Eier enthalten, die mit Rosenwasser angefüllt sind. Lustig fliegen die Eier hinauf in die von blühenden Dirnen besetzten Fenster; für die Zuckerkügelchen aber, welche diese, nach einer aus Italien heimgebrachten Sitte, auf die Köpfe der Reiter regnen lassen, ergießen die Eier ihren wohlriechenden Inhalt über die goldenen Riegelhäubchen und „es hat dieses gar schön geschmecket“, fügt der Chronist mit großem Behagen hinzu. Einer der nächstfolgenden Schembartläufer erregt durch seine zeitgemäße Maske donnernden Volksjubel. Das Kleid des Schalkes besteht aus lauter Ablaßbriefen mit daran hängenden Siegeln und geißelt so auf das Beißendste Tezel’s berüchtigten Ablaßhandel. Ein Teufel, der die bösen Weiber frißt, ein Backofen, in welchem allerhand Narren gebacken werden, eine Karthaune, die böse Weiber schießt, erregen nicht mindere Heiterkeit, als die volksthümliche Alte-Weiber-Mühle.

Sechs Syringen mit Panflöten, darauf zwölf Hirten mit Schalmeien und vierundzwanzig Hirtenmädchen, welche das Lied singen: „O daß mein Liebchen ein Nelkenstock wär’“, dann vier als Hirtenmädchen gekleidete Lorenz-Schüler, welche mit heller Stimme das alte: „Hoc in monte vivo fonte potantur oviculae etc.“ intoniren, verkünden den als Kern eines in Gold und Seide strahlenden Zuges erscheinenden Venusberg sammt dem ganzen Venushofe. Auf einem mit Tauben bespannten, vergoldeten Muschelwagen, umgeben von schönen Jungfrauen, sitzt in silberschimmernder Tracht, das in langen Wellen herabfallende goldblonde Haar mit einer diamantenen Agraffe zusammengehalten, Frau Venus und zu ihren Füßen der edle Ritter Tannhäuser. Vielerlei lustige Zeisige aber umlagern den Venushof und Herrn Tannhäuser, indem sie singen:

Bibant, bibant,
Vivant, vivant,
Omnes aeternaliter!


(„Trinken mögen,
Leben mögen
Sie in alle Ewigkeit!“)

Da erscheinen zwölf fastnachtselige Metzgergesellen, als Pfaffenköchinnen in gelbe Schleier verpuppt, eine Riesenwurst mit allerlei Grün artig verziert an langer Stange tragend. Ulrich, der mit seiner Fuhre bald hier, bald dort erscheint, kann die Störung des Zuges nicht dulden. Auf seinen Wink greifen die Apotheker und Bader auf der Fuhre zu ihren großen Spritzen und spritzen so kräftig in die Pfaffenköchinnen hinein, daß diese schnell das Weite suchen.

Neuer Jubel ertönt vom Kornmarkte her. „Der Zwergenkönig kommt!“ tönt es alsbald aus dem Munde von sechs heranspringenden Markolfen. Auf einem mit Goldstück und rother Seide geschmückten Wagen, inmitten schöner Rosenbüsche, welche den Rosengarten darstellen, sitzt Laurin, der Zwergenkönig. Mit der Linken auf das blanke Schwert gestützt, fächelt er sich mit der Rechten vermittelst eines prachtvollen Pfauenwedels Luft zu. Jetzt grüßt er mit anmuthiger Geberde Fürsten und Herren sowohl, wie die schönen prächtig gekleideten Geschlechtertöchter, und als nun Alles, was vornehmen Standes, sich an der Fürstenherberge versammelt, erscheint der als Bacchus vermummte Schenkwirth der Herrentrinkstube, einen goldenen Stern als Weinzeichen seinen Herren vorantragend. Alsbald zieht der Venushof sammt dem Rosengarten diesem Sterne nach, voran die Fürsten mit ihren Schenken, welche Becher und Kannen tragen, auch auf einem Wäglein zwei schwere Fässer nachführen, die, roth und mit grünen Reifen bemalt, in ihrem weiten Innern den edelsten Leistenwein bergen und von dem hochedlen Rathe heute den Fürsten als Gastgeschenk durch Lazarus Spengler, den weitberühmten Rathsschreiber, verehrt werden.

Neues Gelächter und donnernder Jubel aber künden, daß sich mit der sogenannten „Hölle“ das alljährlich wiederkehrende, den Schluß bildende Hauptstück des Schembarts naht. Von Sprühfeuern aller Art umgeben, steht ein dicker Pfaff inmitten der „Hölle“ und hält statt des Meßbuches ein Brettspiel in den Händen. Ein Doctor in rothem Talar, ein Narr in buntem Lappenkleide, sowie allerlei Teufelsmasken umlagern ihn, und unter den lustigen Klängen der Stadtpfeifer geht der Zug zum Rathhaus, wo nach alter Sitte die „Hölle“ vom Volke gestürmt und verbrannt wird.

Hiermit ist der Schembart zu Ende. Die Sonne nähert sich ihrem Untergange und wirft immer längere Schatten längs den Häusern. Das verdächtige Gesindel hat die Stadt verlassen müssen; die Thore sind geschlossen, und auf den Straßen wird es immer stiller, desto lauter aber geht es in den Herbergen und Trinkstuben zu. Aber auch des Trinkens scheint es allmählich genug zu werden. Der Patricier verläßt die wappengeschmückte Trinkstube und schreitet unter dem Vorleuchten bewaffneter Knechte seinem burgähnlichen Hause zu. In noch späterer Stunde wankt der Handwerker von seiner Zunftstube, durch die energische Hausfrau zur endlichen Heimkehr angetrieben. Ein reicher Metzger aber läßt sich von den Spielleuten zum Heimgange aufspielen, und mag die Sackpfeife auch noch so verstimmt durch die nächtigen Gassen klingen, es ist ihm doch ein würdiger Schluß des heutigen Tages.

Immer seltener wird das Licht hinter Erkern und Fenstern, dafür aber steigt zwischen den schlanken Münsterthürmen von St. Lorenz der Mond in voller Pracht auf. Auch sein Gesicht – so will es dem zuletzt Heimwankenden dünken – lacht fastnachtselig auf die allmählich entschlummernde Stadt herab, deren Straßen jetzt nur noch vom Tritt der Nachtrunde und ihrer auf dem Pflaster nachschleifenden Partisanen wiederhallen. Dann verklingt auch dieses Geräusch. Aus ferner Gasse aber rollt das Wägelein herbei, welches ein hochweiser Rath aus väterlicher Fürsorge bestellt, um seine vom Bacchus allzusehr bewältigten Bürger aufzulesen und unter die schirmende Obhut der heimischen Penaten zu bringen.

Das letzte Schembartlaufen, von welchem uns Hans Sachs im ersten Theil seiner Werke eine poetische Beschreibung hinterlassen, fand um 1539 statt. Der Schalk, welcher den Pfaffen in der „Hölle“ darzustellen hatte, erschien in seinem Aeußern dem durch Intoleranz sowohl, wie auch durch seinen Eifer für die Einführung des Luthertums zu damaliger Zeit vielgenannten Prediger Dr. Osiander so ähnlich, daß dieser eine geharnischte Beschwerde beim Rathe erhob, dabei auf ein immerwährendes Verbot des Schembartlaufens drang und dasselbe auch durchsetzte.


[152]
Die neue Wiener Sternwarte.


Als vor ungefähr vier Jahren fast alle gebildeten Nationen bedeutende Summen für Expeditionen zur Beobachtung des Venus-Durchgangs aufwandten, nahm es hier und da Wunder, daß das große Oesterreich-Ungarn sich nicht daran betheiligte. Der Grund dieses Auschlusses, bei einem für die Wissenschaft und in letzter Instanz für eine seefahrende Nation so wichtigen Unternehmen, dürfte damals nur in den Kreisen der Fachgelehrten bekannt gewesen sein. Heute weiß man auch in der Laienwelt, daß Oesterreich jene Gelder, welche die Aussendung einer Expedition erfordert hätte, der Wissenschaft, und speciell der Astronomie nicht entziehen, sondern nur in anderer Weise zu Gute kommen lassen wollte. Es handelte sich um die lange vorbereitete Schöpfung einer auf das Reichste und Sorgfältigste ausgestatteten neuen Sternwarte für Wien.

Die alte Sternwarte auf dem Gebäude der „Akademie der Wissenschaften“ in der inneren Stadt, umgeben von hohen Giebelhäusern und allezeit rauchenden Schornsteinen, entsprach längst schon wegen dieser Lage den Anforderungen der Neuzeit als ein gutes Observatorium nicht, auch wenn der Umstand, daß die Ausdünstungen aus der im nämlichen Gebäude untergebrachten Anatomie nicht selten bis in die höchsten Zimmer stiegen, die Uebelstände der alten Anstalt nicht noch vermehrt hätte. Uebrigens hatte dieselbe in der Gestalt, in welcher sie auf die Gegenwart gekommen ist, ihrer Wissenschaft bereits ein halbes Jahrhundert mit Ehren gedient, denn ihre letzte Verbesserung und Einrichtung erhielt sie von 1826 bis 1827 unter der Direction des berühmten Joseph Johann von Littrow. Gegründet war sie schon 1753 von dem Jesuitenpater Hell, der durch seine Beobachtung des Venus-Durchgangs vor der Sonnenscheibe von 1769 bekannt ist.

Hatte der Vater Littrow besonders durch die Niederlassung der medizinischen Facultät in demselben Gebäude zu leiden gehabt, so verursachte seinem Sohne und (seit 1842) Nachfolger in der Direction der Sternwarte, Karl Ludwig von Littrow, die bewaffnete Macht mancherlei, mitunter auch komische Störungen. Im Jahre 1855 wurde das Akademiegebäude mit seiner verhaßten „Aula“ als Caserne benutzt. Die gesammte Wissenschaft mußte auswandern, nur die im vierten und fünften Stockwerke thronende Astronomie blieb unberührt. „Leider!“ äußerte von Littrow, denn diese Schonung verzögerte nur die bereits schwebenden Verhandlungen über den Bau einer neuen Sternwarte. Dabei war diese Verbindung von Caserne und Observatorium mit allerlei Störungen und Unannehmlichkeiten für die Beamten der letzteren verbunden; namentlich konnten es die schlecht unterrichteten Soldaten auf Posten nicht begreifen, daß es Leute geben solle, welche erst Nachts an die Arbeit gingen.

„Nicht selten geschah es,“ erzählt von Littrow, „daß wir von dem Posten als ‚bei Nacht und Nebel herumschweifendes Gesindel’ angehalten wurden. War dann die Legitimation zufällig nicht zur Hand, so führte unser Weg statt zum Observatorium auf die – Wachstube.“

Das Militär zog zwar im Jahre 1858 aus dem Akademiegebäude wieder ab, die Verhandlungen über den Bau einer neuen Sternwarte erreichten aber erst 1873 ihr Ende, wo der Staat endlich die Mittel zu dem Neubau bewilligte.

Um alle Erfahrungen der Neuzeit im Baue der Sternwarten und hauptsächlich in der Herstellung der Instrumente und besonders der großen Fernrohre, wie sie Amerika besitzt, verwerthen zu können, besuchte der Adjunct der Sternwarte, Prof. E. Weiß, die bedeutendsten Observatorien Englands und Amerikas. Mit reichen Erfahrungen zurückgekehrt, arbeitete derselbe in Gemeinschaft mit dem Architekten M. F. Fellner und unter Leitung des Directors von Littrow den Plan der neuen Sternwarte aus. Bei einem so gründlichen Vorgehen ließ sich von vornherein ein entsprechendes Resultat erwarten; daß aber ein mit so reichen Mitteln ausgestatteter Prachtbau entstehen würde, hatten wohl nur Wenige geahnt.

Schon die Lage des Gebäudes ist eine außerordentlich günstige und zugleich anziehende. Etwa anderthalb Stunden nördlich vom Centrum der Stadt erhebt sich das Observatorium auf der sogenannten Türkenschanze, beiläufig 80 Meter über dem Stephans-Platz. Auf der einen Seite ist die Aussicht durch den Leopolds- und Kahlenberg begrenzt, an welche sich die anmuthigen Höhen des Wienerwaldes schließen. Mehr nach Süden treten die Ausläufer der österreichischen Alpen hervor, und jenseits der Leytha erblickt man die Bergrücken des Leythagebirges, bis endlich im fernen Osten die kleinen Karpathen den Rahmen des Bildes abschließen, dessen Vordergrund das Häusermeer von Wien mit seinen unzähligen Thürmen und Thürmchen einnimmt.

Diese Lage des Observatoriums ist so gewählt, daß die vorherrschenden Luftströmungen immer den Dunst der Stadt später passiren, als das neue imposante Gebäude, welches somit fast stets von einer möglichst reinen und klaren Atmosphäre umgeben ist.

Auf einem 14,500 Quadrat-Klafter großen Areale sich erhebend, umfaßt der Bau in der Richtung von Nord nach Süd 105 Meter und von Ost nach West 76 Meter. Zur Grundform des Gesammtbaues wählte man die schon von Enke in Berlin angewandte Form eines Kreuzes, und vermied dadurch den Fehler des großen Observatoriums von Pulkowa, das aus einer langen sich von Ost nach West ziehenden Reihe von kleinen Gebäuden besteht. Die Kreuzform gewährte nicht nur eine außerordentlich kunstreiche Verbindung der einzelnen Räume, sondern gestattete zugleich, bei dem Plane auch auf architektonische Schönheit Rücksicht zu nehmen. Die Beobachtungsräume sind von den Wohnräumen möglichst unabhängig und nehmen die Mitte und die drei kurzen Arme des Kreuzes ein. In den vier Ecken des Kreuzes sind noch kleine Terrassen für Beobachtungen unter freiem Himmel angebracht.

Die Mitte der ganzen Sternwarte wird durch die in kolossalen Dimensionen ausgeführte Hauptkuppel von circa 13 Meter Durchmesser gekrönt. Der drehbare Theil dieser Kuppel mag, da er ganz aus Eisen construirt ist, allein etwa 500 Centner wiegen. Der Spalt für die Fernrohre geht einige Fuß breit vom höchsten Punkte des halbkugelförmigen Thurmdaches bis zum untersten Rande herab. Um so gewaltige Massen leicht zu bewegen, sind die sinnreichsten Einrichtungen getroffen. Die Kuppel läuft auf 13 kegelförmigen, unter einander verkuppelten Rollen, deren Spitzen in das Centrum der Kuppelhalbkugel zielen; die eisernen Laufschienen sind aus je 12 Bogenstücken zusammengesetzt. Kegelförmig sind die Rollen, weil diese Einrichtung, mechanischen Gesetzen zufolge, weniger Kraft in Anspruch nimmt, als cylindrische, und nicht die Unannehmlichkeiten hat, welche mit der Drehungsvorrichtung vermittelst Kugeln verbunden sind; und der Spaltverschluß geschieht so leicht, daß beim Oeffnen wie beim Schließen eigentlich nur die Reibung zu überwinden bleibt.

Diese complicirten Einrichtungen werden nicht überraschen, wenn man bedenkt, welchen kostbaren Inhalt die Kuppel zu bergen hat. Auf einem sorgfältig fundirten und ganz isolirt aufgeführten Pfeiler wird eines der größten Fernrohre der Welt seinen Platz finden, wenn man von den in noch weit größeren Dimensionen hergestellten Spiegelteleskopen absieht. Dieses Fernrohr erhält eine Objectivlinse von über 660 Millimeter Durchmesser, mit einer Brennweite von fast 10 Metern. Die sämmtlichen europäischen Sternwarten haben kein diesem nur annähernd gleichkommendes Instrument aufzuweisen. Die Instrumente in Pulkowa und Lissabon haben 380 Millimeter Durchmesser, die von Paris 300 Millimeter, von Bothkamp 290 Millimeter, von München, Kopenhagen, Utrecht, Moskau, Madrid 270 Millimeter, von Hamburg 260 Millimeter, von Berlin, Lund, Florenz, Rom (Collegio Romano), Dorpat, Kiew 240 Millimeter, und endlich von Leipzig 220 Millimeter. England hat außer den großen Spiegelteleskopen Refractoren von 325 Millimeter in Greenwich und Cambridge, die Privat-Sternwarte des Mr. Huggins zu Tulse-Hill bei London besitzt sogar einen solchen von 380 Millimeter und Dublin einen von 300 Millimeter. Nur die Vereinigten Staaten werden sich in dieser Hinsicht mit Wien messen können. Von den dortigen Observatorien, die meist aus Privatmitteln entstanden sind, hat das U. S. Naval Observatory zu Washington einen Refractor von 660 Millimeter, das Observatorium von R. S. Newal in Gateshead bei Newcastle[WS 1] einen von 635 Millimeter. Außerdem besitzt Chicago ein Aequatoreal von 460 Millimeter und wird bald noch ein Instrument von 660 Millimeter

[153]

Die neue Sternwarte in Wien.
Nach der Natur gezeichnet von J. J. Kirchner.

[154] erhalten. Welchen Aufwand solche Instrumente erfordern, erkennt der Leser aus der einfachen Notiz, daß die Linse des Wiener Refractors allein über 80,000 österreichische Gulden kostet; sie ist ein Werk Grubb’s in Dublin, der zugleich die Montirung des Instruments übernommen, sowie die Construirung der Drehkuppel vollendet hat.

An die Mittelkuppel des Observatoriums schließen sich im Norden, Osten und Westen drei große Säle an, von welchen der östliche und der westliche für die Meridian-Instrumente bestimmt sind, während der nördliche Saal zur Aufstellung eines kleineren Fernrohres benutzt wird, das sich nur in der Ost- und Westebene bewegen läßt.

Die Instrumente dieser drei Säle sind weniger wegen ihrer Größe als wegen der unglaublichen Genauigkeit, mit welcher sie arbeiten, und wegen der ausgesuchtesten Sorgfalt, mit der sie behandelt sein wollen, besonders beachtenswerth. Das größte und zugleich das unentbehrlichste Instrument jeder selbstständigen Sternwarte ist ein Meridiankreis. Der Wiener, dessen auf das Feinste getheilte Kreise einen Durchmesser von über einen Meter halten, macht es möglich, mit Hülfe des Mikroskops noch Winkel von 1/100 Bogensecunde zu bestimmen. Zur Erläuterung dieser staunenswerthen Genauigkeit will ich hinzufügen, daß ein Millimeter erst in einer Entfernung von über 200 Metern (genau 206 Meter) dem Auge unter dem Winkel einer Bogensecunde erscheint. So würde eine Strecke von zwei Meilen auf der Sonne uns fast genau unter dem Winkel von 0,01 Bogensecunde erscheinen.

Wie schon angedeutet, können die in den genannten drei Sälen fest aufgestellten Instrumente stets nur in ein und derselben Ebene bewegt werden; es mußte deshalb auch für sie in der Richtung der letztern ein Dach und Wände durchschneidender Spalt angebracht werden. Der östliche und der westliche Saal zeigen je zwei von Süd nach Nord gehende, und der nördliche Saal zwei von Ost nach West gehende Durchschnitte dieser Art, die sich durch gut eingerichtete Klappen leicht öffnen und schließen lassen.

Den Abschluß der drei kurzen Arme des Kreuzes bilden wiederum drei, jedoch kleinere Thürme, aber ebenfalls mit drehbaren Kuppeln von je circa 8 Meter Durchmesser. Obgleich die hierher bestimmten Instrumente immer noch von achtunggebietenden Dimensionen sind, so müssen sie doch mit ehrfurchtsvoller Scheu zu dem Riesen in ihrer Mitte aufblicken. – Im westlichen Drehthurm wird ein Aequatoreal (Instrument zur Bestimmung der geraden Aufsteigung und Abweichung der Gestirne) von nahe 300 Millimeter Oeffnung und über 5 Meter Brennweite aufgestellt und soll namentlich zu den laufenden Beobachtungen der sich so rapid mehrenden kleinen Planeten und der Kometen verwandt werden. Von A. Clark zu Cambridgeport, Massachusetts, gebaut, kostet es sammt Montirung 12,000 Gulden.

Die östliche Kuppel dient zur Aufstellung eines Heliometers oder eines Heliographen, und in der nördlichen endlich wird ein Instrument seinen Platz finden, mit welchen man leicht einen sehr großen Theil des Himmels durchforschen kann, hauptsächlich zur Positionsbestimmung von Kometen und anderen solchen am Himmel vagirenden Körpern. Diesem Zweck entsprechend hat das drehbare Kuppeldach nicht einen von der Spitze bis zum Rande sich gleichbleibenden Spalt, sondern es läßt sich fast um einen ganzen Quadranten öffnen, wodurch es ermöglicht wird, gleichzeitig fast den ganzen vierten Theil des Himmels zu übersehen.

Alle diese großen Instrumente sind, wie es jede nur irgendwie genaue Beobachtung erfordert, auf völlig isolirten großen Steinpfeilern aufgestellt, deren die ganze Sternwarte, beiläufig gesagt, 21 besitzt.

Neben den in allen Beobachtungsräumen enthaltenen, außerordentlich genau gehenden Uhren werden noch eine bedeutende Anzahl kleinerer, älterer und neuerer Instrumente, so namentlich die den Bestand der jetzigen Sternwarte bildenden, theils in den Sälen, theils in dem eigens zu diesem Zwecke bestimmten, um den ganzen Fuß der großen Kuppel herumlaufenden Corridor aufgestellt werden.

Im Süden endlich erhebt sich das dem Ganzen sich anschließende Wohngebäude mit einem prachtvollen Treppenhaus, das, ganz mit Glas gedeckt, eine Eleganz entfaltet, deren sich kein fürstlicher Palast zu schämen brauchte. Rings um diese Treppenhalle schließen sich Wohn- und Arbeitsräume, sowie der Saal für die Bibliothek an. Die Frontseite nimmt die Wohnung des Directors ein. Da das Observatorium auch akademische Zwecke zu verfolgen hat, so ist ein Hörsaal für astronomische Vorlesungen vorhanden. Kleine Lichthöfe ermöglichen die innere Erleuchtung und hauptsächlich die Ventilation bequem.

Noch in diesem Jahre vielleicht wird die Sternwarte in Thätigkeit treten, und es kann die Wissenschaft mit Recht stolz sein auf diese herrliche Schöpfung Österreichs. Leider erlebte Karl Ludwig von Littrow die Erfüllung seiner sehnlichsten Wünsche nicht mehr. Er starb am 16. November 1877 in Venedig. In ihm wurde der Wissenschaft einer der eifrigsten und genialsten Förderer entrissen.

L. Ambronn.




Irrende Sterne.
Novelle von Georg Horn.
(Fortsetzung.)
Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


9.

Es war einen Tag später. In ihrem abendlich dunklen Zimmer saß Regina in stillem Brüten.

Sie war nicht bei dem gestrigen Feste gewesen. Sie kannte Wandelt’s, hatte jedoch keine geselligen Beziehungen zu ihnen, und die Geheimräthin lud nur Leute ein, die nach irgend einer Richtung für sie wieder ausgiebig waren. Was sollte ihr dieses Mädchen ohne gesellschaftliche Stellung, ohne glänzende Toilette, die mit ihrer Persönlichkeit, ihren Anschauungen nicht jenen leichten Verkehr bot, welchen die Gesellschaft von ihren Theilnehmern fordert; die man als „Clavierlotte“ nicht einmal an das Piano setzen konnte, um einen Contretanz zu spielen! Was hätte auch für Regina selbst das Fest Verlockendes gehabt? Erich war ja nicht da! Daß er sobald wieder zurückkommen, daß seine Rückkehr eine Katastrophe, wie die eben geschilderte, herbeiführen würde, das hatte sie nicht geahnt. Sie brauchte keine anderen Menschen, keine Zerstreuung. In ihrem Stübchen mit sich allein zu sein, mit ihren Empfindungen, ihren Hoffnungen, ihrem Hinausträumen und Hinstreben auf ein ersehntes Ziel – wo hätte es für sie einen höhern Genuß geben können? Geliebt, geliebt von dem Manne, von dem sie es sein wollte – sie keine Einsame mehr!

Sie wußte, was sie that, als sie Doris zu dem Feste freundlich hindrängte. Sie hatte nie mit Lideman ein Wort ohne Zeugen gesprochen, aber sie verstand ihn, durchschaute ihn und seine Absichten. Er war ihr stiller Verbündeter. Durch ihn konnte sie zu ihrem Ziele gelangen, konnte das Band, das Doris und Erich vereinte, zerrissen werden. Und wenn die Dinge zwischen Beiden ferner eine Entwickelung wie bisher nahmen, dann war sie ihres Sieges gewiß.

Erich, Erich! Der Gedanke an ihn versetzte sie wie in eine glühende Atmosphäre, die ihr den Athem zu rauben drohte. Sie sprang von dem Sitze und riß das Fenster auf, um die Abendluft hereinströmen zu lassen. Sie hörte nicht, wie es an ihre Thür klopfte. Ein zweites Mal, stärker. Ihr Herz zog sich in jäher Bewegung zusammen. Wenn Erich es wäre – wenn er zurückgekommen! Nein, der kahle Schädel ihres alten Freundes über ihr erschien in der Thür.

Herr Warbusch setzte sich, ohne ihre Einladung abzuwarten, auf einen Stuhl, schlug die kurzen Beine über einander und klatschte vor Freude mit beiden Händen auf dieselben. So hatte ihn Regina nie gesehen, und Herr Warbusch las auch ganz deutlich die stumme Verwunderung darüber in ihrem Gesichte.

„Wissen Sie denn noch nichts, verehrte Freundin? Leviathan ist geborsten – mit eitel Geprassel und Gestank, daß das Entsetzen darüber heute noch wie ein Dunstkreis über der Stadt steht.“

„Was ist? Wer?“

[155] Die Fragerin ahnte etwas, aber sie wagte es nicht zu denken.

„Wer, wer?“

„Er – der hier unten in dem winzigen gesellschaftlichen Gewimmel die Rolle übernommen, die droben über uns am Firmamente Jupiter spielt: alle Bahnen zu kreuzen, zu verwirren, Planeten wie Asteroiden. Nun ist er ausgebrannt, Schlacke geworden. Auch sitzt er hinter festen Riegeln!“

„Was? Wer?“

Es war fast wie ein Schrei, der sich ihren Lippen entrang. Nun wußte sie alles, nun hätte der Alte Lideman’s Namen gar nicht mehr zu nennen brauchen. So lebhaft von Freude und innerstem Vergnügen war dieser jedoch bewegt, daß ihm völlig die Wandlung entging, die mit Regina vorgegangen war. Sie wankte nach einem Sitze und saß da, als hätte ihr Herz zu schlagen aufgehört. Ihre Züge waren wie verfallen; der Alte merkte es nicht. Er schlug immer wieder mit den Händen auf die Kniee und stieß fröhliche Lachlaute aus. Dabei erzählte er die näheren Umstände und bemerkte, daß Herr von Rechting zu dem Feste gekommen.

„Und wissen Sie, verehrte Freundin, wer dem Herrn Präsidenten die Larve, die er der Welt gegenüber trug, herabgerissen? Ich – ich war das Werkzeug.“

„Sie haßten ihn?“

„Ja, ja – ich haßte ihn. Nicht darum, weil er der Präsident, der Disponent des Geschäftes und ich der gehorsame Buchhalter. Solch gemeiner Gesinnung werden Sie mich nicht für fähig halten. Wer sich über die Erde hinausschwingt , der lernt anders denken. Er freilich behandelte mich immer wie einen Untergebenen – einen gedankenlosen Zahlenmenschen, eine Rechenmaschine, der nur eine Marotte hatte, die Sternguckerei. Diese Marotte schien ihm aber ganz bequem. Dadurch, meinte er, würde ich nicht sehen, was unter meinen Fingern hier unten vorging. Darum schenkte er mir auch ganz besonderes Vertrauen – die Correspondenz zu besorgen, die er – was sagen Sie dazu? – als geheimer politischer Agent mit dem Nachbarstaate führte. In Chiffreschrift natürlich. Aber die war nicht schwer zu errathen. Einem Schurken dienen zu müssen, der mein schönes, stolzes Vaterland verrieth! O Fräulein, oft ging es über meine Kraft, und es wühlte und gährte in mir, und ein paar Mal hatte ich darüber schon meinen Wasserkrug am Brunnen zerschlagen aus Unmuth, daß ich noch länger zusah. Das Rumoren über Ihnen, das war oft der Ausdruck meiner Wuth darüber. Einmal aber machte ich doch Miene, ihm einen deutlichen Fingerzeig zu geben, daß ich Alles durchschaute. Ich konnte es nicht länger mehr verantworten. Da bekam ich von ihm eine Einladung zum Diner und eine Cigarre – etwas ganz besonders Feines – sechshundert Mark pro Mille. Ja, etwas ganz Besonderes unterm Deckblatte – Sie haben mich damals in meinem Zustande gesehen. Der Doctor meinte zwar – eine Blutstockung. Es war aber doch Gift. Nun war ich, dem Präsidenten gegenüber, wieder mäuschenstille und wurde wieder dumm wie ein alter blödsinniger Sterngucker. Sehr dumm mußte ich aussehen, damit er glaubte, ich hätte nichts gemerkt, woher die Blutstockung gekommen. Ha, ha! Wie er mich bedauert hat, mit seinem unschuldigen Krokodilgesicht! Und er hat mich behalten – das war die Hauptsache. Meine Zeit abwarten – das mußte ich können. Die Beule mußte reif werden, die That – das Verbrechen positiv. Was kam heraus am Ende? Nichts Besondres; blos ein Bischen Auslieferung unseres Mobilisirungsplanes. Mit dem schuftigen Diener eines Generals hatte er sich zu diesem Zweck in Verbindung gesetzt – Pechner heißt der Mensch – ein Tölpel, den er durch Geld kirre kriegte. Die Pläne wurden aber nicht ausgeliefert. Ich war es, der sie in die Hände des Ministers zurücklieferte und die Anzeige machte. Darauf wurde Herr von Rechting entsandt. Ich weiß das vom Minister selbst – und das Uebrige – der Rest sind Schloß und Riegel und eine recht interessante Assisenverhandlung, zu der sich dieselben Menschen, die bei dem Präsidenten gegessen und getrunken und getanzt haben, um die Billets streiten werden.“

Regina schien während der Aufklärung, die sie hier durch ihren Nachbar empfing, äußerlich theilnahmlos, als wäre sie jeder Bewegung beraubt. Im grellen Gegensatze dazu stand die von äußerster Befriedigung eingegebene bewegliche Freude des alten Buchhalters.

„Nun, was sagen Sie zu dem Allen, verehrte Freundin? Habe ich das nicht gut gemacht? Oft schon schwebte es mir auf den Lippen, um Ihnen gegenüber von meiner geheimen Wissenschaft etwas verlauten zu lassen, aber immer wieder habe ich es zurückgedrängt. Man soll nie sagen, was man thun will. Und nun habe ich eine Sonne ausgelöscht. Wenn Sie wollen, treibe ich mit meiner Wissenschaft eine Art Astrologie. Was mich von Menschen und deren Thun umwimmelt, und was meinen blöden Augen unerklärbar ist, das stelle ich mir allemal unter einem Sternbilde vor. Jedem Menschen, der mich interessirt im Guten oder Bösen, geb’ ich den Namen eines Lichtkörpers, eines Fixsternes, Planeten oder Asteroïden, und nun aus den Bahnen und Bewegungen derselben ihr Zuneigen und Abirren beobachtend, deute ich mir das Leben um mich – das oft viel verworrener ist, als die Bilder da oben. Ah, wie prächtig!“

Mit diesem Ausruf war der Alte an das Fenster getreten und hatte es aufgerissen.

„Sehen – sehen Sie doch! Das hatte ich nicht erwartet! Da haben Sie die Situation. Venus war mit Jupiter in eine Conjunction getreten – und nun steht er wieder ferner von ihr als je. Kommen Sie mit hinauf! Wir wollen das weiter verfolgen. Der Himmel ist so hell –“

„Nein – nein – mein Himmel ist dunkel – dunkel!“ rief es in der Verzweifelnden.

Sie wies es ab, seiner Einladung zu folgen. Unter anderen Umständen würde diese Weigerung Herrn Warbusch verletzt haben. Aber heute war er in gehobener Stimmung. Er hatte, um in seiner eigentümlichen Anschauungsweise zu sprechen, einen Stern erlöschen machen. Der Präsident war durch ihn gefallen. Diese Genugthuung nahm er mit hinauf in seine Stube.

Regina kannte die Einzelnheiten der Vorgänge bei dem gestrigen Feste noch nicht. In ihrer inneren Anschauung ergab sich jedoch bald eine tiefgreifende Beziehung zwischen jenen Begebenheiten und ihrem eigenen Schicksal. Auf Lideman und sein Gelingen bei Doris war ihr ganzes Planen und Handeln gerichtet. Und nun waren alle diese fein gezogenen Linien gestört; ihre Berechnungen hatten sich als falsch erwiesen; jede Aussicht auf den Besitz des geliebten Mannes war ihr auf immer entrückt. Ihr Blick ging hinauf an den gestirnten Himmel. Wie oft war sie in Gedanken an Erich der Bahn Jupiters da oben gefolgt – nun war er von Venus ferner denn je!

Jetzt begann das Gewissen sein Gericht über ihr Thun. An starken Stämmen rüttelt der Orkan am wildesten, und der Sturm ihrer vom Gewissen aufgerüttelten Gedanken zog über sie hin. Immer wieder bäumte sie sich mit ihrer zähen, vollen Widerstandskraft dagegen auf. Mit der ganzen Energie ihres Willens, mit vollem Bewußtsein war sie daran gewesen, einen frevelhaften Eingriff in Herzensrechte zu machen, die in sich selbst und durch das äußere Gesetz geschützt waren. Ja – das hatte sie gethan. Warum aber war Gott an ihr vorübergegangen, als er die Stirn anderer Frauen mit jenem geheimnißvollen Zeichen segnete, durch welches das Weib zur Liebe und zum Glücke bestimmt ward?

Sie mußte abseits stehen bleiben. Keine starke Hand preßte sie an ein Herz, Niemand flüsterte ihr zu: „Du bist mein!“ Sie hatte das früher auch wohl gedacht, aber jetzt empfand sie es erst mit voller Gewalt, denn er, der Einzige, für den sie Leben und Alles gelassen hätte – er war ihr verloren! Warum hast du mich erschaffen – grollte sie zu Gott empor – warum hast du ein Weib aus mir gemacht, wenn du mich nicht wie mein Geschlecht zur Liebe erschufst? Habe ich kein Herz wie die Anderen? Pocht das meine nicht in volleren Schlägen, als das von Doris, die ein Recht auf diesen Mann gewonnen hat? Warum hast du mir das Blut des Südens verliehen, warum dieses heiße Herz in die Brust gesenkt, wenn es sich innerlich verzehren soll? Warum hast du mir diese Gestalt gegeben und keine andere, welche vor der Welt in allen Reizen einhergeht und gefällt und andere Herzen entzündet? Und wenn du das brennende Feuer südlicher Lebenslust in mir entzündetest – warum benahmst du mir dann den unbefangenen Genuß? Wozu gabst du mir daneben die rauhe, ungelenke Art des Nordens, warum den nordischen Zug des Gedankens, der aus der Leidenschaft ein Raffinement macht, des sittlichen Bewußtseins, das über die Leidenschaft wachen soll und dieselbe richtet? Warum lässest du mich die Schuld derselben so schwer empfinden? Ergebung in einen höheren Willen – Demuth und Geduld! Ja, das sind [156] die Lehren, die meiner Jugend eingepflanzt sind, die Lenkseile, die dem Menschen, die einem einsamen, von Liebe verlassenen Weibe an die Hand gegeben werden. Schwache – elende Hülfen – Beschwichtigungen, mit denen man blutleere Individuen zur Ruhe bringt! Ich kann an einem Schöpfer keine Liebe erschauen, der dem Geschöpfe nur die Qual giebt.

So tobte wilder Aufruhr in Regina’s Seele. Dann trat jener Moment ein, wo ein ruhigerer Gang der Gedanken sein Recht verlangt, wo sie sich fragte, wie es denn möglich sei, daß ein Vorfall, der sie äußerlich gar nichts anging, alle Seelenkräfte in ihr in diese heftigen Schwingungen versetzen konnte. War denn mit der Verhaftung des Präsidenten in der That für sie Alles verloren? War nicht Doris von Erich ertappt worden? An jenem Abende, wo dieser bei ihr war, hatte sich die Empfänglichkeit seines Herzens für die Aeußerungen des ihrigen offenbart. Wenn es von seiner Seite auch noch nicht Liebe war, so konnte diese doch daraus entstehen, sobald er von Doris sich losgerissen hatte. Der Schmerz ist in solcher Lage ein mächtiger Vermittler.

Das war eine Combination ihres Gehirns, die aber im nächsten Augenblicke wieder machtlos war – vor Einem, das sich wie mit dunklen schweren Fittigen auf sie legte. Es war die Schuld, die aus dem Bewußtsein ihres Gewissens vor ihr aufstieg. Jede ihrer Handlungen von dem Momente an, wo sie mit der Leidenschaft zu Erich im Herzen in das Leben Beider getreten war, wo sie den Brief an Erich gerichtet hatte – jede war ein Glied in der Kette derselben. Sie war nicht besser, als der Mann, der hinter Schloß und Riegel saß – ein Irrstern, wie dieser. Das Ehrenkleid ihres Charakters war beschmutzt – sie war der Liebe Erich’s nicht mehr werth.

Wie von der Gewalt Gottes, so wurde sie von diesem Bewußtsein getroffen. Unter dieser tiefsten Demüthigung, die über ein Weib kommen kann, sank sie zu Boden. Ihre wirren Gedanken gingen in jenen Abend zurück, wo sie zu sich die Worte gesprochen hatte: Ja, ich will! – an den See, unter die rauschenden Bäume, zu den schwarzen, jagenden Wolken darüber, in das dunkle unbewegte Wasser. Wenn ein Mensch darin versinkt – eine augenblickliche Bewegung, ein Laut, dann wieder Stille, als wenn nichts geschehen. Alle Qual ist geendet.

Ein paar Minuten später verließ sie ihre Wohnung.




10.

Die Verhaftung Lideman’s am Abende des Gartenfestes hatte unter den Gästen eine Bestürzung hervorgerufen, die in einer allgemeinen Flucht endete. Jedermann rief nach Dienern, nach Wagen, welche letztere, weil auf eine spätere Stunde bestellt, natürlich nicht da waren. So begnügten sich die Meisten, zu Fuß den ziemlich langen Weg nach der Stadt anzutreten.

Doris war der Anblick der peinlichen Situation erspart geblieben. Sie wartete vorn im Hause, eingehüllt in ihren Mantel, auf ihren Mann. Aber sie erfuhr, was vorgegangen war. Einer der Diener eilte mit verstörten Mienen durch das Zimmer und rief ihr die Neuigkeit zu. Zu gleicher Zeit erschien indeß Erich, bot ihr den Arm und sagte nichts als:

„Es ist gut. Jetzt nach Hause!“

Der Wagen, der einzige im Moment gegenwärtige, hielt noch von der Ankunft Erich’s her vor der Thür; Erich half seiner Frau hinein und setzte sich an ihre Seite. Kein Wort wurde zwischen dem Ehepaare gewechselt, aber leise Seufzer aus Doris’ Brust sagten dem Gatten deutlich genug, was sie unter all den Vorgängen des Abends litt. Draußen huschten Häuser und Menschen im Schatten vorüber. Das Schweigen fing an, Beiden peinlich zu werden.

„Sag’, was ist denn vorgefallen, Erich?“ fragte Doris endlich in scheuem, gepreßtem Tone.

„Der Präsident ist verhaftet worden,“ war die Antwort.

Dann war es wieder still, wie vorher.

„Erich, Erich!“

„Was willst Du, mein Kind? – Wir werden bald zu Hause sein.“

Es war Doris, als müßte sie aus dem Wagen springen und ihren Weg zu Fuß fortsetzen – überall hin, wohin ihre Verzweiflung sie führte, nur nicht nach Hause. Und doch kamen sie ihrer Wohnung immer näher, an den großen eleganten Häusern des fashionablen Stadttheils vorbei, inmitten deren ihr bescheidenes Haus lag. O, hätte sie es nie verlassen! Sie zog die Kapuze ihres Mantels über ihre Stirn. Die Menschen, die zu beiden Seiten auf den Trottoirs sich in lauer Sommernacht ergingen, sie erschienen ihr, als bildeten sie ein Spalier und erzählten sich die Geschichte von Lideman; sie schienen auf sie gewartet zu haben, um mit Fingern auf sie zu deuten. Die Welt mußte sich ja immer mit ihr beschäftigen – das war die schöne, reizende Frau so gewöhnt. Da hielt der Wagen vor dem Hause. Doris wartete nicht, bis ihr Mann ausstieg und den Schlag öffnete, um ihr hinauszuhelfen. Mit einer heftigen Bewegung verließ sie den Wagen und eilte der Pforte des Häuschens zu. Wie leichten Herzens war sie vor wenigen Stunden daraus geschieden und wie schwerbeladen in ihrem Innern kehrte sie zurück!

Ihr Herz drängte sie, nach Liddy zu sehen. Sie flog die Treppe hinauf. Auf dem Corridor aber, wo sich die Wege nach dem Zimmer des Kindes und dem Arbeitsgemache Erich’s trennten, blieb sie stehen. Langsam kam er die Treppe herauf. Jetzt stand er vor ihr, eisige Ruhe in den Zügen. Ihre Kniee zitterten, und sie empfand etwas, als müßte sie vor ihrem Gatten niedersinken und ihn um Verzeihung bitten.

„Du willst nach dem Kinde sehen?“ Kalt und herzlos berührten sie Klang und Ausdruck seiner Stimme. „Ich muß noch arbeiten,“ fügte er hinzu, „bis spät in die Nacht.“

Damit ging er an ihr vorüber.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Hero und Leander. (Zu dem Bilde auf S. 145.) Ein tüchtiger Münchener Künstler hat das Schwierige gewagt, den Ausgang jener rührenden Liebesgeschichte im Bilde darzustellen, welche unsern Schiller zu einer seiner schönsten Balladen begeisterte. Ein alter Stoff - denn schon Musäos sang im Alterthum von der Aphroditepriesterin zu Sestos, welche den in Schönheit blühenden Leander von Abydos, am jenseitigen Ufer des Hellespontos, liebte und ihm allnächtlich die Leuchte am Thurm aushing, damit er, durch die dunklen Fluthen zu ihr schwimmend, die Richtung nicht verfehlen sollte, bis der Sturm eines Nachts die Leuchte löschte und die Wogen am Morgen die Leiche des Ertrunkenen an’s Ufer spülten, der verzweifelten Geliebten vor die Füße. Das ist der tragische Höhepunkt der Geschichte, den unser heutiges Bild in erschütternder Wahrheit zeichnet: die Klippen der Küste von Sestos im ersten Morgengrauen die Wogen noch unruhig, in der ausklingenden Bewegung der Sturmnacht mit leichten Schaumkämmen gegen das Gestein brandend und den Körper des unglücklichen Schwimmers schaukelnd, wenige Schritte weiter neben der verloschenen Fackel die Aermste, mit verwirrten Sinnen vom Ufer her auf das Opfer treuer Liebe niederstarrend. Die Dialektik der Verzweiflung kommt schnell beim Entschlusse des Selbstmordes an. Die Schiller'sche Hero spricht:

„Ich erkenn’ euch, finstre Mächte!
Strenge treibt ihr eure Rechte,
Furchtbar, unerbittlich ein.
Früh schon ist mein Lauf beschlossen,
Doch das Glück hab’ ich genossen,
Und das schönste Loos war mein.
Lebend hab ich deinem Tempel
Mich geweiht als Priesterin,
Dir ein freudig Opfer sterb’ ich,
Venus, große Königin.“

Und die Wasser des Hellesponts nehmen das freiwillige Opfer zu dem erzwungenen. Die Geschichte ist, wie bemerkt, alt; wer weiß, wo die Wurzel ihres Ursprungs liegt. Ein verwandter Klang tönt in unserem rührend schönen Volksliede von den „zwei Königskindern, die einander so lieb hatten“. Beide Fassungen sind wohl Kinder derselben Sage, nur aus verschiedenem Boden erwachsen, und es gewährt einen eigenen Reiz, die Eigenart des einen und des andern Volksgeistes an ihnen zu studiren.




Berichtigung. Am Schluß unserer Quittung in Nr. 6 über die Beträge, welche uns für die von zwiefachem Unglück heimgesuchten Oesterreicher zugegangen sind, ist irrthümlich des Comités für die in Bosnien verwandten Militärs nicht erwähnt worden. Man lese also:

„Wir schließen hiermit unsere Sammlung und haben den Gesummtbetrag derselben mit Mk. 2742.45 dem Comité in Taufers und demjenigen für die in Bosnien stehenden österreichisch-ungarischen Truppen übermitteln lassen.“ D. Red.




Kleiner Briefkasten.


J. P. in New-York. Sie irren sich in der Zeit. Das fünfundzwanzigjährige Stiftungsfest des Neunzehner-Taubert’schen Gesangvereins findet bestimmt den 15. und 16. März dieses Jahres im Trianon des Leipziger Schützenhauses statt, auch beabsichtigt dieser Verein von jenem Tage ab sich „Harmonie" zu nennen.

Anmerkungen (Wikisource)