Die Gartenlaube (1879)/Heft 10
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No. 10. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Das Boot tanzte gewaltig auf den rollenden Wogen. Kordel saß noch immer schweigend und düster blickend neben Bertus. Wer hätte errathen, was in ihrem Innern vorging! Am wenigsten kümmerte sie sich um die schwarzen Wälle, welche ringsum aus der grauen Atmosphäre auftauchten und wieder versanken. Unempfindlich gegen Regen und Sturm saß sie da; gleichgültig gegen die Richtung, welche das flinke Boot verfolgte.
„Ich weiß, was Dir im Kopfe herumgeht,“ hob Bertus nach einer langen Pause wieder an, „und ich nehm’s Dir nicht übel, denn ich hab’s verdient. Versprichst Du, daß meine Mutter nicht vergessen sein soll, so versuch’ ich mein Schicksal wieder draußen auf dem Meere; eine gute Heuer finde ich alle Tage auf einem Schiff nach Ostindien, Australien oder wer weiß wohin; mir ist Alles einerlei. Nur ein paar Wochen Zeit gönne mir, damit’s der alten Frau nicht zu plötzlich komme!“
„Thu’, was Du für gut hältst!“ antwortete Kordel.
Sie hatten die Grenze erreicht, auf welcher der um die Landzunge herumsausende Wind die See am tiefsten aufwühlte. Trotzdem rollten die Wogen hier mit größter Regelmäßigkeit, sodaß es Bertus erleichtert wurde, das Boot in einem stetigen Curs zu erhalten. Freilich ging es höher hinauf und tiefer hinab, allein unter der sicheren Faust im Steuer schwand die Gefahr des Kenterns.
„Wie die Nußschale fliegt!“ bemerkte Kordel nach längerem Schweigen; „sollte man nicht meinen, sie wolle in den Himmel hinein?“
„Oder auf den Meeresboden hinab,“ meinte Bertus, wie beiläufig, „aber sei unbesorgt, ’s geht nichts über einen regelmäßigen Seegang. Ein sechsjähriges Kind möchte ihm mit dem Steuer begegnen.“
„Denkst Du auch an die Heimfahrt?“
„Nein; ’s ist keines Gedankens werth.“
Wiederum eine lange Pause. Bertus blickte starr nach vorn, während Kordel seine umschattete Gestalt sinnend von der Seite betrachtete. Beide achteten weder des Sprühwassers noch des Regens, welche unablässig die dem Winde zugekehrten Wangen peitschten.
„Meine Finger erstarren,“ hob Kordel von neuem an, „das Holz ist eisig und naß. Gefällt Dir’s und hindert’s Dich nicht, so schlinge ich meinen Arm um Dich.“
„Es hindert mich nicht, Kordel; sitzest Du fester, so thu’s immerhin!“ antwortete ihr Gefährte so kalt wie die feuchte Bank, an welche sie sich, mit beiden Händen anklammerte.
Kordel zögerte. Vor einer halben Stunde würde der Vorschlag Bertus mit wildem Entzücken erfüllt haben. Jetzt schien er keinen Eindruck auf ihn auszuüben. Eine Minute verrann; dann legte sie ihren Arm um den jungen Seemann, jedoch nicht schüchtern, sondern mit derselben ruhigen Sicherheit, mit welcher sie zuvor das Holz ergriffen hatte. Darauf blieben Beide stumm. Erst als sie sich dem Strande näherten, bemerkte Bertus eintönig:
„Vor der Schlucht kann ich nicht anlegen. Die Brandung ist zu schwer. Ich selbst mache mir nichts draus, und ginge das Boot in Stücken, Du aber würdest Deine Noth haben, das Land zu erreichen, ohne von einer See eingeholt zu werden. Ist Dir’s recht, so lande ich Dich hundert Faden weiter unterhalb. Die paar Schritte sind für Deine leichten Füße nichts.“
„Wenigstens nicht zu viel,“ antwortete Kordel ebenso gleichmüthig; „mach’ es, wie Du willst! Mir ist Alles recht. Am liebsten wär’ ich auf dem Landwege heimgekehrt.“
„Vielleicht das nächste Mal,“ meinte Bertus; „verliere nicht das Gleichgewicht, während ich das Segel stelle!“
Mit der freien Hand löste er die Leine von dem Pflock; nachdem er sie einige Spannen durch den Ring zu sich gezogen hatte, befestigte er sie wieder. Zugleich rührte er das Steuer, und nun fiel das Boot von seinem bisherigen Curs im rechten Winkel ab und kehrte den Bug der Landzunge zu.
Es war wieder Schweigen eingetreten. Bertus strengte sich auf’s Aeußerste an, auf den Strandhöhen, die gleich schwarzen Schatten dalagen, Merkmale zu unterscheiden, nach welchen er sein Anlaufen berechnen konnte. Endlich – sie mochten sich in schräger Richtung der Brandung bis auf zehn Faden genähert haben – seufzte er erleichtert auf.
„Halte Dich bereit!“ sagte er erregt, „kennst ja die Stelle, wo das Land schroff in die Tiefe abfällt. Nur vorbeistreichen kann ich auf dem Rücken einer Dünung, aber so nahe, daß ein Sprung Dich in Sicherheit bringt.“
„Sage, wenn’s Zeit ist!“ antwortete Kordel, ihren Korb unter der Bank hervorziehend; „Regenrock und Südwester schicke ich nächster Tage Deiner Mutter zurück – vielleicht bring’ ich Beides selber,“ fügte sie nach kurzem Ueberlegen hinzu.
„Wie’s Dir am bequemsten ist!“ versetzte Bertus. „Ist Dir’s zu weit, so hol’ ich’s gern.“
„Nein, ich bring’s; Deine Mutter soll nicht um Andere leiden, oder gar schlechter von mir denken. Grüße sie, und für Deine Mühe danke ich; hier ist meine Hand.“
[158] „Schon gut, Kordel, ich darf Leine und Steuer nicht freigeben, oder wir vergessen den richtigen Augenblick.“
„Wie Du willst,“ preßte es sich zwischen Kordel’s fest auf einander ruhenden Zähnen hervor, denn sie wußte, daß es nur in seinem Willen lag, die Leine noch einige Male um den Pflock zu schlagen und dadurch seine Hand frei zu machen; „hoffentlich bereitet die Heimkehr Dir keine Schwierigkeit.“
„Kinderspiel!“ hieß es spöttisch zurück, „braucht man nur an sich allein zu denken, macht sich Alles doppelt leicht. Werde ich mit den Sturzsee’n nicht fertig, so werden sie’s mit mir.“
„Vergiß nicht Deine Mutter!“ fuhr Kordel leidenschaftlich auf.
„Halt’ Dich bereit!“ umging Bertus eine Antwort.
Kordel athmete lang und tief. Sie erhob sich, und die freie Hand auf seine Schulter legend, stellte sie den rechten Fuß auf die Bank.
Nun befanden sie sich der Brandung so nahe, daß sie bei der gedämpften Wirkung des versteckten Mondes die Beschaffenheit des Ufers einigermaßen zu unterscheiden vermochten. An Halten war nicht zu denken, und es gehörte eine sichere Hand dazu, das leichte Fahrzeug unter Beihülfe des schwachen Windes über die auf einander folgenden Dünungen hinweg zu steuern, ohne von einer derselben auf’s Land geworfen zu werden. Bertus hatte einen bestimmten Punkt in’s Auge gefaßt und berechnete zugleich die Pausen zwischen dem Steigen und Fallen des weißen Gischtes, an welchem das Boot in beinahe unmittelbarer Nähe hinschoß. Da beugte Kordel sich zu ihm nieder. Mochte sie Schlimmes befürchten, wenn er sich in der verzweifelten Stimmung von ihr trennte, oder zog es sie zu ihm hin? Sie neigte ihre Lippen seinem Ohr zu, wie um ihre Worte nicht in dem Brausen und Rauschen verhallen zu lassen.
„Halte fest, Bertus!“ sprach sie ernst, „ein Mißgriff, und wir liegen in der Brandung. Die Hand wolltest Du mir nicht geben, drum muß ich Dir auf andere Art danken. Vergiß nicht Deine Mutter, – nicht – mich!“
Sie küßte ihn auf die Stirn. Sie fühlte, wie heftiges Zittern seine Gestalt durchlief, wie er seine ganze Kraft aufbot, den Augenblick eines süßen Rausches nicht auch den Zeitpunkt ihres beiderseitigen Verderbens werden zu lassen.
„Fertig, Kordel!“ rief er laut, daß es das Brausen ringsum übertönte.
Kordel richtete sich empor und faßte über die bewegliche Brandung hinweg das aus dieser steil aufsteigende Land in’s Auge. Eine Woge hob das Boot. Bertus ließ es mit kühner Wendung bis in fast unmittelbare Nähe des abschüssigen Ufers tragen. Einige Secunden schien die Gewalt der Strömung die des Windes zu überwiegen, der Schaum es verschlingen zu wollen. In demselben Augenblicke aber, in welchem das zurückweichende Wasser sich mit dem auf das Segel ausgeübten und durch das Steuer geregelten Druck einigte, ertönte sein lautes: „Jetzt!“
Kordel sprang landwärts.
„Glückliche Fahrt!“ rief sie, sobald sie sicheren Boden gewonnen hatte und aus dem Bereich der herbeirollenden Fluthen geschlüpft war.
Ein Jubelruf antwortete vom Wasser her. Kaum noch vermochte sie das entfliehende Segel zu unterscheiden. Sinnend blickte sie demselben nach. – Als Boot und Segel längst ist der Finsterniß verschwunden waren, stand sie noch immer auf derselben Stelle.
Ein Viertelstündchen später hatte Kordel die heimathliche Schlucht erreicht. Die beiden Fenster, hinter welchen sie die Abende gemeinschaftlich mit ihrem Vater zu verbringen pflegte, waren nach gewohnter Weise hell. Ahnungslos trat sie durch die Hausthür; ahnungslos entledigte sie sich der triefenden Oberkleider – plötzlich hielt sie erschrocken inne, denn eine fremde Stimme war zu ihr herausgedrungen. Dann hörte sie ihren Vater sprechen. „Keine Andere, als Kordel,“ glaubte sie ihn sagen zu hören.
Das Lachen eines Unbekannten folgte. „’s ist ziemlich spät für ’n junges Ding,“ klang es barsch.
„Kordel ist kein Kind mehr,“ versetzte der Vater wie entschuldigend; „sie pflegt ihren eigenen Weg zu gehen, und ich hindere sie nicht daran.“
„Das muß anders werden,“ hieß es zurück, „solch junges Ding gehört vor Einbruch der Nacht zwischen seine vier Pfähle, zumal wenn’s gilt, einen alten Vater zu bedienen.“
Hatte der Umstand, zum ersten Male Besuch bei ihrem Vater vorzufinden, Kordel erschreckt, so erfüllten die vernommenen Worte sie mit Widerwillen gegen den Unbekannten. Schnell näherte sie sich der Thür und trat ein. Sie warf dem Fremden einen finsteren Blick zu. Er saß mit dem Ausdrucke düsteren Trotzes ihrem Vater gegenüber an dem mit Speisen und Getränken beladenen Tische, und die kurze Thonpfeife im Munde, vergaß er beim Anblicke des großen schönen Mädchens nicht nur das Rauchen, sondern auch das Grüßen. Ohne den Gast weiter zu beachten, reichte Kordel ihrem Vater die Hand. Dabei sah sie ihn fest an; ihrem scharfen Blicke entging nicht, daß die böse Stimmung, über welche sie bei der Fischerwittwe klagte, in erhöhtem Grade Besitz von ihm ergriffen hatte; in seiner Haltung offenbarte es sich sogar wie tiefe Erschöpfung.
„Ich komme von der alten Seger,“ sagte sie ruhig, jedoch ihren Vater fortgesetzt beobachtend, „das Wetter hielt mich etwas länger auf.“
„Bist Du auf dem Landwege gekommen?“ fragte Seiling ausdruckslos und in der dumpfen Absicht, keine auffällige Wortkargheit an den Tag zu legen.
„Nein, Vater,“ antwortete Kordel, und der Fremde schien immer noch nicht für sie anwesend zu sein, „der Bertus hat mich herübergesegelt.“
„Bei solchem Wetter?“ spann Seiling das Gespräch gleichsam mechanisch weiter; „der Bertus wird das Meer so lange herausfordern, bis es eines guten Tages ihn und Dich mit ihm herunterholt.“
In Kordel’s Antlitz schoß es blutroth. Vor ihrem Geiste zog die in dem Boote erlebte Scene vorüber, und unwillkürlich wendete sie ihr stolz getragenes Haupt, daß die Beleuchtung der Lampe ihr Antlitz nicht traf.
„Das Wetter ist böse genug,“ sagte sie erregt, „allein der Bertus versteht es, seines Vaters Boot zu handhaben.“
„Das ist also die Kordel!“ hob jetzt Klaas mit billigendem Kopfnicken an; „bei Gott, Peter Seiling, wer hätt’s dem Kinde angesehen, als Du’s zum ersten Male auf dem Arme trugst, was draus werden könnte!“ und Seiling anschauend, blinzelte er bezeichnend mit den Augen, während ein häßliches Grinsen um seine wulstigen Lippen spielte.
Seiling erbleichte; Kordel maß mit prüfenden Blicken den breitschulterigen Fremden vom Kopfe bis zu den Füßen.
Doch Klaas gönnte ihr keine Zeit zum Nachdenken. Mit schlauer Berechnung Seiling an seine Abhängigkeit erinnernd, fuhr er erheuchelt sorglos fort: „Achtzehn Jahre sind seitdem verstrichen. Eine verteufelt lange Zeit, und ’s ist nicht zum Erstaunen, wenn die Cordula einen Anverwandten ihrer verstorbenen Mutter nicht auf den ersten Blick erkennt. Achtzehn Jahre, Mann, und doch scheint mir’s, als hätten wir uns gestern erst von einander getrennt. Es war ein regnerischer Tag, und eine Nacht so schwarz, daß man Planken draus hätte schneiden können –“
„Es ist wahr, Kordel,“ fiel Seiling bebenden Herzens ein, um die Mittheilungen des redseligen Landstreichers zum Abschlusse zu bringen, „er ist unser Anverwandter – der einzige, den wir noch besitzen – ich habe mich entschlossen, ihn bei mir zu behalten.“
Kordel sah ihre Vater fest an. Sein Wesen befremdete sie mehr und mehr. Ihr ahnte nichts Gutes.
„Ich wußte nicht –“ sagte sie –
„Ich wußte selber nicht – –“ versetzte Seiling hastig, „denn ich meinte, er sei seit vielen Jahren todt –“
„Während ich so flott war, wie ein frisch vom Stapel gelassener Klipper drei Tage vor’m Auslaufen,“ fiel Klaas lachend ein, „aber ich will des Teufels sein, Mädchen, wenn das ’ne Art ist, einem künftigen Hausgenossen Willkomm zu trinken,“ und er streckte Kordel seine Hand entgegen, „baumeln will ich, wenn Dein Vater nicht die ehrlichste Haut ist, die jemals ein Segel beschlug, oder sich ’nen guten Spargroschen aus dem californischen Sande herauswühlte.“
„Aus dem californischen Sande?“ fragte Kordel bei der unerwarteten Kunde erstaunt, und statt die gebotene Hand zu nehmen, sah sie auf ihren Vater, der zustimmend nickte.
„So ist’s,“ fuhr Klaas fort, „und wenn er Dir verschwieg, woher seine Spargroschen stammen, so will ich Dir’s anvertrauen; [159] denn hier sind wir unter uns, und einen Grund, Dir’s zu verheimlichen giebt’s nicht. Ja, manche Unze rothes Gold hat Dein ehrlicher Vater mühsam aus dem californischen Sande herausgewaschen, und manchen Schweiß- und Blutstropfen dafür eingescharrt – ist’s nicht so, Peter Seiling?“ kehrte er sich diesem zu, der kaum noch die Kraft besaß, sein Haupt zustimmend zu neigen. „Ja, Cordula, wir sind nicht nur Verwandte, sondern auch gute Freunde; für ein Ding aber von Deinem Alter, und meines Freundes Tochter obenein sollt’ sich’s wohl schicken, einem Anverwandten nicht mit Hoffahrt zu begegnen.“
„Kordel, der Mann hat Recht,“ nahm Seiling mit sichtbarer Anstrengung das Wort, „reich’ ihm die Hand und sei gut Freund mit ihm, denn er verdient’s. Hat langer Seedienst ihm eine rauhe Art des Redens gegeben, so ist er deshalb nicht schlechter geworden,“ fügte er hinzu, mühsam redend, als wollten die Worte ihm auf der Zunge ersterben.
Kordel betrachtete Klaas forschend. Sein zuversichtliches Grinsen verwandelte ihren Widerwillen in Haß.
„Bin ich ein Kind?“ fragte sie achselzuckend, und dichter zog sie die starken schwarzen Brauen zusammen, „ein Kind, welchem man lehrt, wie’s einen Fremden begrüßen soll, ohne es um seinen eigenen Willen zu befragen? Bietet mein Vater Euch eine Heimstätte, so ist mir’s recht. Mich dagegen kann man nicht zu etwas zwingen, das mir widerstrebt.“
Sie kehrte sich ab, um zu gehen, als Seiling sie aufhielt.
„Kordel, Du hast eine böse Fahrt gehabt,“ hob er an, „Unwetter macht hungrig und durstig,“ und er wies auf den gedeckten Tisch, „da, komm her, setze Dich und leiste uns Gesellschaft.“
„Ich habe gegessen und getrunken, Vater,“ antwortete Kordel, sich wieder abkehrend, „Wind und Regen haben mich ermüdet. Ich bedarf mehr der Ruhe als der Speisen.“
Sie schritt davon, und die Thür schloß sich hinter ihr.
Die beiden Männer schwiegen, ein Geräusch ließ sich über ihnen vernehmen – Kordel betrat das Giebelzimmer über ihren Häuptern.
„Das ist ein Satansmädchen geworden,“ bemerkte Klaas und rauchte gemächlich seine Pfeife, die er während Kordel’s Anwesenheit fast hatte ausgehen lassen, über der Lampe an; „gewiß ein hart Stück Arbeit, mit ihr fertig zu werden, wenn sie Einem erst über den Kopf gewachsen ist. ’s Einzige wäre, sie mit Jemand zusammenzusplissen, der eine widerhaarige Kraft zu steuern verstände. Zu jung dürfte er nicht sein. Ich calculire, ein Mann in meinem Alter möchte bald genug eine vernünftige Frau draus machen.“
Seiling fuhr empor. Aus seinen Augen sprühte es unheimlich, und die Hände vor sich auf den Tisch legend, ballte er sie, als wäre er im Begriffe, Jemand zu würgen.
„Klaas,“ versetzte er kaum verständlich, „zerlumpt und zerfetzt bist Du zu mir gekommen. In mein Haus habe ich Dich aufgenommen, Dich gekleidet, Dir einen wöchentlichen Nothgroschen und frei Quartier auf unbestimmte Zeit versprochen, und was ich einmal versprach, das halte ich. Hüte Dich aber, die Grenze zu überschreiten, oder Du erfährst, daß mein Leben mir nicht mehr werth ist, als dieses zerbrechliche Werkzeug,“ und er zermalmte die vor ihm liegende Thonpfeife mit einem einzigen Griffe seiner harten Hand.
Klaas, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und das Haupt auf den knochigen Fäusten rastend, sah mit boshaftem Grinsen in Seiling’s Augen.
„Es ist wahr,“ meinte er gleichmütig, „bequem genug hast Du mir’s gemacht, wär’s aber auch geschehen, hielte ich Dich weniger fest am Geitau? Und was Du eine Grenze nennst, hängen will ich, wenn ich’s begreife. Ereifere Dich also nicht, sondern calculire vernünftig! Ich bin nun einmal hier vor Anker gegangen, und finde ich eine gute Pflege, so kommt’s nicht unverdient. Aber dumm und blind, wie die Augen einer chinesischen Dschonke, wären wir Beide, wollten wir uns gegenseitig das Leben verbittern und zur Last machen. Wirst in mir stets einen gefälligen Maat finden – mit dem Mädchen werde ich schon fertig – will sogar zu meinen Worten sehen, daß Dich nichts wurmt, aber auch Du sollst mit mir verfahren, wie mit einem guten Anverwandten, und ziehen wir denselben Strang, so haben wir Beide den Profit davon. Da, Maat, hier ist meine Hand, zum Zeichen guter Freundschaft, und daß mir’s Ernst ist, nicht mit Dir in Havarie zu geraten, so lange Du selber nicht vergißt, was Du mir schuldest. Andern Falls beweise ich Dir, daß mein Leben mir nicht mehr werth ist, als Dir das Deinige. Also her die Hand!“
Seiling’s Haltung war wieder erschlafft. Einem Träumenden ähnlich, legte er seine Hand in die gebotene. Kaum aber hatte er sie berührt, als er zitternd zurückfuhr.
„Thust Du,“ sagte der Andere, „als hätte ich in eine Theertonne gegriffen! Möchte berechnen, wessen Hand die sauberste.“ Er lachte wiederum, und Rumflasche und Zucker zu sich heranziehend, begann er mit dem Ausdrucke Jemandes, der einen Gast bewirthet, zwei Gläser zu füllen. „’s ist nichts ohne einen Trunk,“ erklärte er mit widerwärtiger Vertraulichkeit; „ein Vertrag, der nicht durch einen steifen Grog eingeweiht wurde, hat keine Gültigkeit.“
Er schob Seiling das eine Glas hin, und das andere emporhebend, stieß er kräftig gegen jenes. „Gut Glück zu uns Beiden!“ lautete sein Toast, „der Abend dauert noch, und zu lange haben wir uns nicht gesehen, als daß wir das Wiedersehen nicht feiern sollten; wo diese Flasche Rum hergekommen ist, finden wir mehr.“
Wie ein Schlaftrunkener hob Seiling das Glas und stürzte den Trunk auf einen Zug hinunter. Klaas füllte die Gläser sofort wieder, ohne daß Seiling Einwendungen erhob. Im Gegenteil: in demselben Maße, in welchem das berauschende Getränk auf ihn wirkte, schien auch sein Durst sich zu steigern. Es erfüllte ihn der dumpfe Trieb, Vergessenheit zu suchen. Während aber Klaas sich mehr und mehr erheiterte, wurde Seiling mürrischer. Mehrfach überraschte Klaas ihn, daß seine heftig geröteten Augen mit einem unzweideutigen Ausdruck verhaltenen Grimmes auf ihm ruhten.
Mitternacht war nicht fern, als Seiling endlich mit unsicherer Hand seinem Gaste nach dem Boden hinaufleuchtete und ihm dort eine Kammer anwies. Nicht auf nächtigenden Besuch eingerichtet, breitete er auf dem Fußboden eine Seegrasmatratze aus, welcher er zwei wollene Decken beifügte. Ein besseres Lager verlangte Klaas nicht; doch meinte er, als Seiling ihn verließ, daß es seines Freundes würdiger wäre, wenn er baldigst für ein gemächlicheres Unterkommen und vor allen Dingen für ausreichend neue Wäsche und Kleidungsstücke sorge.
Schwankend und keines Gedankens mehr fähig, begab Seiling sich in sein Zimmer hinab und warf sich unentkleidet auf’s Bett. Das Entsetzen, welches Klaas’ Erscheinen ihm einflößte, die Verzweiflung, welche ihn im Verkehr mit demselben ergriff, die bösen Gedanken an die Zukunft, Alles ging unter in der seine Sinne umnachtenden Betäubung.
Eine halbe Stunde hatte Todtenstille im Hause geherrscht, als seine Zimmertür sich leise öffnete und Kordel, ein Licht in der Hand, in derselben erschien. Das Geräusch unter ihr hatte sie so lange wach erhalten. Wie eine Ahnung drohenden Unheils lastete es auf ihrem Gemüth. Jetzt aber, da sie den Vater in todähnlichem Schlafe vor sich liegen sah, ihn, der sich nie eine Unmäßigkeit hatte zu Schulden kommen lassen, jetzt schauderte sie zurück. Sie errieth, daß mit dem Fremden ein Feind unter ihr Dach eingezogen sei, den zu bekämpfen ihre Kräfte nicht ausreichten. Die unheimlichen Beziehungen, welche ihn an ihren Vater knüpften, ängstigten sie. Lange betrachtete sie den tief und rauh Athmenden, der auf seinen Zügen noch immer die sprechenden Spuren der jüngsten Erregungen trug. Seine Brust hob und senkte sich, wie bei einem Erstickenden. Die Hände hatte er krampfhaft geballt, als hätte er im Traum mit Jemand auf Leben und Tod gerungen.
Da bewegten sich seine Lippen. Gespannt neigte Kordel sich über ihn hin. Es war klar: beeinflußt durch den Lichtschein, begann seine Phantasie zu arbeiten. Bilder, wie ihm solche während seines Zusammenseins mit Klaas vorgeschwebt haben mochten, wiederholten sich, jedoch in wirrer Folge und entstellt.
„Klaas, Du bist ein Schurke,“ entwand es sich endlich seinen knirschenden Zähnen mit dem Ausdruck unbezähmbarer Wuth, „ich handelte aus Nothwehr, Du – Du mordest mit Ueberlegung – ach, meine arme Kordel!“ – er knirschte wieder mit den Zähnen, und von neuem legte sich Erstarrung um seine Sinne.
Kordel zögerte. Erst nachdem sie sich überzeugt hatte, daß sie vergeblich auf weitere Kundgebungen harren würde, verließ sie [160] das Gemach. Ihre Haltung war gebeugt, bleich ihr Antlitz. Was sie gehört hatte, genügte, einen furchtbaren Verdacht in ihr anzuregen, einen Verdacht, welchem bestimmte Formen zu verleihen sie sich mit aller Macht sträubte.
In ihrem Zimmer warf sie sich auf ihr Lager. Sie löschte das Licht aus, aber vergeblich sehnte sie den Schlaf herbei. Es war eine unheimliche Nacht. Erfolglos beschwor Kordel das Bild des ehrlichen Bertus vor ihre Seele; erfolglos suchte sie die von dem Vater unbewußt ausgestoßenen Worte als von einer unzurechnungsfähigen Phantasie geboren zu deuten, erfolglos in dem Fremden nur einen früheren Gefährten zu entdecken, dessen Bekanntschaft ihr Vater sich heute schämte, und den zurückzuweisen er das Herz nicht hatte. Denn nimmermehr – sagte sie sich – hätte er einem solchen eine entscheidende Gewalt über sich eingeräumt. Wie sie so dachte, warf der Sturm den Regen ungestüm an die Fensterscheiben.
Im Dorfe hatte man sich allmählich an den Anblick des fremden Mannes gewöhnt. Man erstaunte nicht länger, daß Seiling sich dazu bequemte, die langjährige Abgeschiedenheit seines Lebens durch Aufnahme eines Verwandten zu unterbrechen, und zwar eines Mannes, der in jeder Beziehung so gänzlich verschieden von ihm war.
In der Dorfschenke war Klaas sehr bald heimisch geworden. Hinter dem Glase erzählte er geräuschvoll seine Seegeschichten, welche ein nichts weniger als günstiges Licht auf seine Vergangenheit warfen, und geberdete sich zeitweise sogar, als ob ohne seinen Willen kein Ziegel auf dem Dache des Schluchthauses verschoben werden dürfe. Seiling war noch verschlossener geworden. Nur selten sah man ihn aus der Ferne, und dann schlich er grübelnd einher, wie seufzend unter einer schweren Last oder heimgesucht von Krankheit. Im Geheimen bedauerte man den stillen Nachbar, zu welchem der leichtfertige Verwandte so wenig paßte, wie eine kreischende Möve in einen Taubenschlag. Mehr noch bemitleidete man die schöne Kordel, von welcher man voraussetzte, daß sie empfindlicher denn je zuvor unter der Mißstimmung ihres Vaters zu leiden habe. Ihre Besuche bei der Fischerwittwe wiederholte sie nach alter Weise, und wie gewöhnlich fuhr Bertus sie des Abends heimwärts. Schweigend saß sie ihm dann gegenüber.
Auch Bertus war ernster geworden. Das veränderte Wesen Kordel’s entging ihm so wenig, wie seiner Mutter. Letztere meinte den Grund dafür in der unwillkommenen Vergrößerung von Seiling’s Hausstand zu entdecken. Bertus dagegen dachte anders. Denn gerade seit jenem Abend, als sie die Fahrt über die Einbuchtung wagten, war Kordel eine Andere geworden.
Und wieder saßen sie, wie damals, beisammen im Boot. Sie waren so früh von der Landzunge aufgebrochen, daß Kordel vor Abend zu Hause sein konnte. Die See war rauh, die Luft kalt. Eine ziemliche Strecke hatten sie zurückgelegt, ohne daß ein Wort gewechselt worden wäre. Kordel spähte düster über Bord in die Wogen hinein. Bertus hielt das Steuer und beobachtete eine Möve, welche in geringer Höhe die gleiche Richtung mit dem Boot verfolgte. Sein Herz war voll zum Ueberströmen, allein so oft er einen Blick auf Kordel warf, sank ihm der Muth wieder – und doch mußte es einmal herunter von seiner Seele. „Ein Gotteszeichen,“ dachte er, „soll entscheiden.“ Begleitete der Vogel sie ganz hinüber, so wollte er nichts sagen. Kehrte er dagegen um, so sollte ihm das als ein Zeichen gelten, Kordel anzureden. Und er kehrte um, als etwa ein Drittheil der Entfernung hinter dem Boote lag. „Kordel!“ stieß Bertus hervor.
Kordel sah auf; den Blick fest auf des jungen Mannes ehrliches Antlitz heftend, gewahrte sie in demselben einen Ausdruck des Zagens und der Besorgniß, der ihre ganze Theilnahme weckte.
Bertus wartete nicht auf eine Frage, sondern fuhr mit eigenthümlicher Hast fort: „Verzeihe mir, wenn ich Deine Gedanken störe, allein ich möchte Dich bitten, mir Auskunft über etwas zu ertheilen. Fürchte auch nicht Reden, deren ich hinterher mich schämen müßte!“
„So sprich!“ antwortete Kordel und sah wieder seitwärts, um zu verheimlichen, daß die angeregte Erinnerung ihr Antlitz dunkel erglühen machte, „sprich in Gottes Namen! Zu verzeihen habe ich Dir nichts, und woran Du vielleicht in diesem Augenblicke denkst, das habe ich längst vergessen.“
„Alles?“ fragte Bertus ängstlich.
„Alles,“ bestätigte Kordel, ohne aufzuschauen.
Bertus seufzte tief auf. Kordel’s Antwort hatte ihn bis in’s Herz hinein getroffen. Er schwankte einige Secunden, wie zweifelnd, ob fernere Erörterungen nicht überflüssig seien, dann hob er mit mühsam erzwungener Ruhe an:
„Es muß herunter von meiner Seele, denn es quält mich Tag und Nacht, daß Du seit dem unseligen Abend anders geworden bist. Du sagst zwar, Du habest Alles vergessen aber ich fürchte, es nagt noch immer an Deinem Gedächtnisse, daß ich durch meine Tollheit Dich erschreckte.“
„Beunruhige Dich nicht!“ versetzte Kordel milder, und die düsteren Falten verschwanden zwischen ihren Brauen, „der Mensch ist oft nicht Herr seiner Sinne, und in einer guten Stunde soll man ihn nicht verantwortlich für das machen, was er in einer bösen beging.“
„Du hast wohl Recht, Kordel, und bist so viel besser als ich,“ erklärte Bertus herbe, „ich denke auch nicht daran, Dich für das Gute verantwortlich zu machen, welches Du in einer großen Erregung mir erwiesest – ich meine, als Du von mir gingst – Kordel, wie ich hernach über die Bucht gekommen bin, weiß ich heute noch nicht, aber ich meinte, die Seen wären Wolken, von welchen ich getragen würde, und das Brausen des Wassers tönte mir wie Gesang in die Ohren. Dann kamen vermessene Gedanken. Ich glaubte, eine Frage an Dich richten zu dürfen, obwohl ich mir immer sagte, daß ich Deiner nicht würdig sei. Aber als ich Dich darauf zum ersten Male wieder sah und in Deine Augen schaute, da entdeckte ich, daß etwas in meiner Rechnung nicht stimmte. Ich überlegte und härmte mich ab, weil ich wußte, daß ich selber die Aenderung verschuldete und Du Dich vielleicht schämtest. Thu’ das nicht, liebe Kordel! Durch nichts mehr sollst Du an die böse Stunde erinnert werden – wenn ich selbst es auch nicht vergessen mag – und nur um das Eine bitte ich Dich: wenn Dich etwas grämt und wurmt, so verschließe es nicht in Dir! Vertraue mir es an! Und wenn es in meiner Macht liegt, Dir zu helfen, und kostete es mein Leben, so findest Du mich stets zu Deinen Diensten.“
Ruhig hatte Kordel ihn ausreden lassen. Dann antwortete sie in warmem Tone, obwohl ihre Stirn sich dabei wieder ein wenig kraus zog:
„Warum nennst Du es nicht beim rechten Namen? Ja, ich habe Dich geküßt, und dessen brauche ich mich nicht zu schämen. Deine Hände hielten Steuer und Leine, so daß Du die meinige nicht ergreifen konntest. Und einen freundlichen Dank war ich Dir für Deine Mühe schuldig. Auch wollte ich Dich nicht mit herbem Andenken zu Deiner Mutter heimkehren lassen. Daß Du Anderes daraus entnehmen solltest – nein, Bertus, das beabsichtigte ich nicht. Du bist nicht schlechter als ich, und ich kenne keinen Mann, zu dem ich mehr Vertrauen besäße, als zu Dir, doch Dein Weib kann ich niemals werden. Ich will damit nicht sagen, daß ich Dir nicht herzlich gut wäre, nein, Bertus, mit einer Unwahrheit möchte ich mein Gewissen nicht beschweren, aber ich kann nicht Dein sein, weil ich überhaupt keines Mannes Weib sein will oder kann. Mit dieser Erklärung sei zufrieden. Hörst Du’s aber gern von mir, so bekenne ich offen, daß, wenn ich fremden Rath brauche, ich zu Dir komme, zu Dir, meinem besten Freunde – ja, Bertus, so groß ist mein Vertrauen zu Dir, und hier ist meine Hand darauf.“
Sie reichte ihm die Hand, und schaute sie jetzt düsterer, so geschah’s nur, weil sie gewahrte, daß die frische Lebensfarbe Bertus’ Antlitz verlassen hatte und er so traurig in ihre Augen sah, wie Jemand, dem jede Hoffnung auf irdisches Glück unwiderruflich abgesprochen wurde.
„Das schneidet in’s Herz und klingt zugleich tröstlich,“ versetzte Bertus zögernd, „ich will daher nicht klagen. Da aber Du selber behauptest, Niemand angehören zu wollen, darf ich’s wohl verrathen, womit man Dich in’s Gerede gebracht hat, ohne daß Du mich verdächtigst, ich möchte einen Anderen in Deinen Augen herabsetzen.“
„In’s Gerede?" fuhr Kordel leidenschaftlich auf, und heftig zog sie die Hand, welche Bertus noch immer hielt, zurück.
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Es war am 7. October des Jahres 1848. Auf der Tagesordnung der Gesetzgebenden Versammlung stand der Artikel 43 der Constitution: Das französische Volk überträgt einem Bürger Frankreichs die vollziehende Gewalt mit dem Titel „Präsident der französischen Republik“. Da erhob sich auf der äußerten Linken ein noch jugendlicher Mann und bekämpfte den Artikel ruhig, aber energisch, zeigte mit zwingender Logik und weit ausschauendem Blick, daß in demselben der Todeskeim der Republik verborgen liege und daß er die spanische Wand sei, hinter der die Monarchie bereits ihre Toilette mache. Nicht das französische Volk, sondern die Nationalversammlung soll wählen, nicht einen Präsidenten der Republik, sondern einen „Präsidenten des Ministerraths“ auf unbestimmte Frist, der zu jeder Zeit abgesetzt werden kann. So lautete das so berühmt gewordene „Amendement Grevy“; es fiel mit 150 Stimmen gegen 643, und unter diesen war auch Thiers mit seinem Anhang, der den Orleans die Thür offen halten wollte.
Der dritte Präsident der dritten Republik ist der erste Republikaner, welcher mit der Präsidentenwürde bekleidet wird. Thiers und Mac Mahon hatten schon in verschiedenen Tempeln gekniet; Thiers stand zu ihr aus Opportunitätsgründen, denn „Frankreich besitzt nur einen Thron und drei Dynastien, die sich um ihn balgen,“ rief er in Bordeaux, und Mac Mahon hatte die Republik als Parole erhalten; er stand vor ihr Wache im soldatischen Pflichtgefühl.
Die Republik blieb Thiers und Mac Mahon stets eine fremde Sprache; die eiserne Nothwendigkeit hatte sie ihnen am Spätabend des Lebens gelehrt; ihre Schlagworte, ihre Gemeinplätze waren ihnen wohl geläufig, ja sie hatten es in ihr bis zu einer gewissen Fertigkeit gebracht, und der Schriftsteller Thiers kannte ihre Feinheiten ganz genau; sie konnten sie mehr oder weniger correct sprechen, aber niemals in ihr denken. Das ist bei Grevy anders: die Republik ist seine Muttersprache.
Dieser dritte Präsident der Republik, dessen soliden echtfarbigen liberalen Republikanismus selbst Blanqui nicht anzweifelt, Jules Grevy, hat in seiner äußeren Erscheinung und in seinem ganzen Wesen auch nicht einen französischen Zug; er trägt nicht den Stempel der gallischen Race; er gleicht mehr einem behäbigen amerikanischen oder schweizerischen Bürger; sein strammer schmaler Rundbart ist in Frankreich eine Rarität, wo der Henri-Quatre zur Nationaltracht gehört oder der romanische längliche Vollbart, wie ihn Gambetta und die vertrauenswürdigen Republikaner tragen, oder die schmalen Cotelettes, wie sie in der Weise Thiers’ die alten Herren vom Faubourg, die Aerzte und Gelehrten lieben; nicht das kleinste rothe Pünktchen ist auf seinem schwarzem Rock zu erspähen, und während hier das rothe Bändchen aus allen Knopflöchern der Fracks, Westen, Paletots und selbst der Schlafröcke sprießt, mögen die Imperialisten, Republikaner oder selbst Socialisten einhüllen, ist sein Knopfloch noch jungfräulich, und weder von Duellen noch von Liebesskandalen kann sein Biograph berichten. Nicht einmal sein Vortrag ist französisch; jenes Pathos mit den einschlägigen Gesten, über die jeder Franzose verfügt, mag er nun auf der Tribüne, an der Barre, auf dem Katheder, auf der Bühne oder auf der Kanzel stehen, das Alexandrinerthum, das ihnen in Kehle und Gliedern steckt, ist ihm fremd.
Ein Feind der tönenden Phrase, hält er seine Rede kurz, ruhig, knapp und stramm, ohne auffallende Tonbeugung; ruhig, gleichmäßig fließt sie dahin, in beinahe monotoner Einfachhheit, aber doch stets vornehm, nicht darauf eingerichtet, die Massen zu entflammen, die Menge in wildem Ansturm mitzureißen; er will nicht überreden, sondern überzeugen, nicht glänzen durch in tausend Facetten geschliffene Phrasen, nicht durch grelle Theaterblitze blenden und durch wuchtig in die Menge geschleuderte Kraftworte Applaus erzwingen. Er hat nur die Sache im Auge, für die er eintritt, und er tritt nur für sie ein, wenn es – seine Sache ist. Seine Rede ist der tönende Ausdruck seiner ruhigen, klaren Gedankenarbeit; er sucht nicht den Kopf des Hörers zu verwirren und zu betäuben, um ihn dann um so sicherer bei dem rathlosen Gemüthe zu packen; er appellirt an den Verstand, an die Logik seiner Hörer, und das geschieht in so schlichter, man könnte schier sagen gemüthlicher Weise, daß er sein Uebergewicht nicht fühlen läßt und niemals durch dasselbe verletzt.
Der große diplomatische Allerweltsbezwinger Talleyrand sagt freilich: „Der Mensch hat die Sprache, um seine Gedanken zu verbergen“, aber das ist nicht die Sprache der Menschen, sondern der Officiösen aller Länder, denen im Prokrustesbett der Opportunität die ehrlich-geraden Glieder des Menschenverstandes ausgerenkt werden, aber der große Buffon sagte: „Der Styl ist der Mensch selber,“ der Styl im weitesten Sinne, wie sich ein Mensch giebt, wie er sich zur Mit- und Außenwelt stellt und stellen muß aus innerer Naturnothwendigkeit – das ist der ganze volle Mensch selbst. Aus Grevy’s Rede tritt uns der ganze Mann rein und scharf entgegen: Ein Mann von dem Recht durchdrungen und erhoben, das mit uns geboren, ein nimmermüder Vertheidiger desselben, sobald er es einmal als solches erkannt hat, vom Gegner nicht eingeschüchtert, vom Freund nicht überredet, kein juridischer Rabulist, kein auf dem Advocatenturf bewunderter Paragraphenreiter, stets klappernd mit dem Werkzeug. Die fleckenlose Reinheit seines Charakters, die bezwingende Unparteilichkeit seines Wesens, das, von jeder aufschäumenden Leidenschaftlichkeit unberührt, dem Anprall und den Einschüchterungsversuchen der Feinde ebenso widersteht, wie den Lockungen der Parteigänger, – sein Charakter, nicht seine Thaten haben ihn auf den Präsidentenstuhl erhoben und ihm die Thore des Elysée eröffnet.
Thiers und Mac Mahon – Beide gehörten schon lange der Geschichte Frankreichs an, bevor sie die Regierung desselben antraten; Thiers war der „nationale Historiker“, der große Redner, der in allen Regierungskünsten langjährig Geübte, der Mann, den ganz Europa kannte und der ganz Europa kannte, der in den schwersten Stunden der Noth der zusammenbrechenden belle France – ein Greis – Rettung und Befreiung brachte; der Graf Marie Edmé Patrik Maurice von Mac Mahon, der Nachkomme jenes getreuen ritterlichen Oberst Mac Mahon, der mit seinem entthronten Gebieter, dem König Jacob dem Zweiten von England, nach Frankreich kam, war der Sieger von Magenta und, was – unglaublich und doch Thatsache! – noch mehr galt, der „glorreich Besiegte“ von Wörth, dem Frankreich nach dieser Niederlage einen Ehrensäbel spendete; er war der Held, der eigenhändig auf dem Malakoff Frankreichs Fahne aufgepflanzt, später die Commune niedergeworfen hatte, dessen Persönlichkeit, unbeschadet der Hoffnungen, welche die Kirche und die monarchischen Parteien auf ihn setzten, für den Bürger, den Geschäftsmann und Bauer, in deren Gliedern noch alle Schrecken des Krieges nachzitterten, Bürge war für die zur Abarbeitung der Milliarden nöthige Ruhe. Und diese Hoffnung hat der scheidende Präsident auch vollauf gerechtfertigt.
Und doch ist der Marschall gefallen?
Der Marschall ist nicht gefallen; man hat seine Abdankung provocirt: die geforderte Absetzung der Armee-Commandanten, die Amnestie, der drohende Proceß des Ministeriums vom 16. Mai, sie haben ihm die Thürklinke des Elysée in die Hand gedrückt. Der Marschall scheidet, und keine Thräne wird ihm nachgeweint; die Monarchisten, welche in ihm den neuerstandenen Monk erhofften, halten sich von ihm für getäuscht und verrathen, durch ihn den günstigen, nie mehr (?) vielleicht wiederkehrenden Augenblick verpaßt, und die Republikaner können ihm den 16.Mai wohl verzeihen, aber nicht vergessen. Darin sind beide Theile einig, daß der Ex-Präsident das Pulver nicht erfunden hat; darum ist aber der Marschall noch kein Cretin, wie die Einen behaupten, um ihn zu entlasten, die Anderen, um ihn zu belasten. Freilich ist er ebenso wenig ein Staatsmann; er ist ein schlichter, ehrlicher Soldat, der loyal und ehrenhaft auf die Gewalt verzichtete.
„Ein Kreuz oder einen Degen,“ rief Veuillot im Königspalaste von Versailles, und die Majorität der Nationalversammlung von 1873 sah Beides in dem Herzog; die Kirche wollte in ihm den Mann seiner Frau, deren Frömmigkeit bereits Feuerproben bestanden hatte; die Legitimisten, mit deren Blüthe er abermals durch seine fromme Gemahlin verwandt ist, erinnerten sich, daß sein Vater, Pair von Frankreich, mit Karl dem Zehnten eng befreundet war; die Orleanisten wußten, daß [163] Mac Mahon mit dem Prinzen Aumale immer gute Cameradschaft gehalten hatte; die Imperialisten sahen in Mac Mahon nur den Herzog von Magenta, den glorreichen Helden des Kaiserreiches, dem Napoleon den Marschallsstab und den Herzogshut verlieh, und so hofften und forderten sie jeder ihren Theil: die Kirche, daß am Elysée das Kreuz – die Legitimisten, daß die weiße Fahne Heinrich’s des Vierten – die Imperialisten, daß die kaiserlichen Adler aufgepflanzt würden, als aber die Tricolore fürder darauf flaggte und Mac Mahon am 16. Mai nicht Alarm schlagen und das Abgeordnetenhaus nicht sprengen ließ, haben sie ihn Alle zusammen verleugnet, verdammt, in Acht erklärt und, wie die Bonapartisten von der Tribüne herab durch ihren Bravo, Herrn Paul de Cassagnac, beschimpft.
Nicht durch das, was er that, sondern durch das, was er nicht that als Präsident der Republik, ist ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte Frankreichs gesichert. Daß er den frivolen Lockungen der Bonapartisten nicht folgte, die Kammer nicht sprengte und nicht an die Armee appellirte, und daß er, ohne auf seinen Schein zu bestehen und die ihm noch gewährleistete Amtsdauer abzuwarten, freiwillig jetzt auf die Gewalt resignirte, das ehrt ihn wie kaum sonst etwas. Ob Mac Mahon so und nicht anders aus Ueberzeugung handelte, oder weil ihm im Augenblicke der Entscheidung die Weihe der Offenbarung ausblieb – wer will es entscheiden? Kamen ihm doch sonst im entscheidenden Augenblicke stets die „Erscheinungen“ zu Hülfe. In der Nacht vom 7. auf den 8. September 1855 erschien ihm im Traume ein Engel mit dem kaiserlichen Adler, und Tags darauf pflanzte er eigenhändig Frankreichs Fahne auf den Malakoff-Thurm; als der Kampf auf dem Schlachtfelde von Magenta hin und her schwankte, sich endlich zu Gunsten der Oesterreicher zu wenden und selbst Napoleon’s Gefangennahme unvermeidlich scheint, da tritt plötzlich Mac Mahon, der bei Turbigo das linke Ufer des Ticino inne hatte und weder den Donner der Kanonen von Magenta hören, noch eine Nachricht erhalten konnte, unerwartet als Retter Frankreichs auf: „le général par intuition divine – les nuages passant au-dessus sa tête lui apportent la nouvelle du danger, qui menace la France“ (der General durch göttliche Eingebung – die über seinem Haupte hinziehenden Wolken bringen ihm die Nachricht von der Gefahr, welche Frankreich bedroht) heißt es im officiellen französischen Generalstabsberichte. „Der General wußte nicht, wohin er marschirte, und traf auf dem Schlachtfelde von Magenta ein,“ lautet die beste deutsche Uebersetzung, und sie ist von Niemand Geringerem als von – Moltke. Mac Mahon hat als Präsident der Republik keine „Erscheinungen“ mehr gehabt, wie es scheint.
Aber Beide, Mac Mahon und Thiers, gehörten, wie gesagt, schon lange der Geschichte an, bevor sie die Regierung antraten. Der Eine brachte den Ruhm des nationalen Historikers, der wie kein Zweiter den Chauvinismus der Franzosen unter wissenschaftlicher Maske groß gezogen hatte, die langjährige Thätigkeit des Staatsmannes, der stets unter der Toga mit dem Säbel rasselte, und den zuletzt noch die Aureole des Patrioten umstrahlte, der Andere den lorbeerbekränzten Degen mit. Grevy bringt nur leichtes Gepäck in’s Elysée, nur den Talar des Advocaten.
Im Hause Nr. 8 in der Straße St. Arnaud bewohnte bisher Grevy, der verheirathet und Vater einer anmuthig aufblühenden Tochter ist, das dritte Stock; nur der nicht allzu geräumige Salon und das anstoßende Arbeitscabinet dienten zum Empfang der Gäste. Dieses zweifenstrige Arbeitszimmer war von oben bis unten, in allen Enden und Ecken mit Schriften, Büchern, Broschüren gefüllt; auf dem Sopha, auf den Stühlen wieder Schriften und abermals Schriften, und verlegen sah der Gast oft um einen freien Platz aus, wenn ihn der Hausherr zum Sitzen einlud. Auf dem Kamin befanden sich die Büsten von Lafayette und Rousseau, zwischen beiden hatte ein kostbares alterthümliches Schachspiel aus Elfenbein seinen Platz, und in der Ecke stand der große Schreibtisch, von einer mächtigen Bergkette von Schriften flankirt, vor ihm der Hausherr: ein kräftiger, stämmiger Mann, von mehr als mittlerer Größe, mit breiten Schultern und großen starkknochigen Händen; auf dem muskulösen Halse sitzt der mächtige Kopf; ein etwa drei Finger breiter strammer grauer Bart läuft von einem Ohr zum andern und begrenzt das Gesicht, ohne es zu verhüllen; die energisch geschlossenen vollen Lippen, das fleischige Kinn sind frei, wie die gesund gefärbten Wangen. Die Nase ist groß und fleischig, die hohe glatte Stirn erscheint um so größer, als die schlichten hinter den Ohren getheilten Haare auf dem Vorderhaupte bereits spärlich geworden sind; aus den großen Augen dringt ein ruhig prüfender Blick, der aber oft energisch dem Worte und der Glocke zu Hülfe kam, wenn der Präsident der Nationalversammlung, in der es oft tumultuarischer und wüster herging, als bei den Socialdemokraten, Ruhe gebot und Ordnung forderte.
Grevy’s Erscheinung ist nicht, was man gemeinhin interessant nennt, aber sie strömt Ruhe aus und flößt Vertrauen ein; sie ist das beste Bild jener Republik, von der er schon in den Februartagen 1848 als Commissar im Jura sagte: „Ich bringe Euch jene Republik, die nicht erschrecken, sondern beruhigen soll.“
Grevy ist ein gründlicher, starker, aber nicht schneller Arbeiter, ein dauerhafter Fußgänger, ein unermüdlicher passionirter Jäger und ein hochgeschätzter Schachspieler. Er ist kein Gourmand, aber ein starker Esser; er trinkt meist nur leichten Landwein, spricht aber auch im Kreise edler Waidmänner ganz tüchtig der Flasche zu.
François Paul Jules Grevy wurde 1813 in Mont-sous-Vaudrey im Departement Jura als Sohn eines Landwirthes drei Tage nach der Kriegserklärung Oesterreichs an Frankreich geboren. Er studirte die Rechte in Paris; ein siebenzehnjähriger Bursch, betheiligte er sich werkthätig an der Julirevolution und war unter den Vordersten, die eine kleine Caserne erstürmten, in welcher sich noch einige Schweizergarden verbarricadirt hielten, während die übrigen Truppen bereits mit dem Volke fraternisirten. Es ist das erste und auch wohl das letzte Mal, daß Grevy mit den Waffen in der Hand für die Freiheit kämpfte, aber daß dem noch unbärtigen, kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling nicht etwa die rasche Wallung jugendlichen Ungestüms, die mitreißende Gewalt des allgemeinen Beispiels und die jugendliche Kampfeslust die Muskete in die Hand drückte, das zeigte sich bald. Nicht für Louis Philipp, für die Freiheit hatte er gestürmt, und der birnköpfige Parapluiekönig galt ihm just soviel, wie der fromme Karl der Zehnte.
Kaum Advocat geworden, tritt er für die Blanqui, Barbès und Martin Bernard ein; er gehört zur republikanischen Opposition des Bürgerkönigthums, ohne von sich viel reden zu machen, und sein Name klingt nicht außerhalb der Partei. Als aber die Februar-Revolution ausbricht, sendet ihn die provisorische Regierung als Regierungscommissär in sein Departement, wo er, der flotte Jäger, mit den Gutsherren und Bauern von je auf bestem Fuße steht; seine Mäßigung und Unparteilichkeit heben ihn auf den Schild aller Parteien; 65,150 Stimmen führen ihn in die Constituirende Versammlung; noch 7218 Stimmen mehr vereinigen sich für seinen Sitz in der Gesetzgebenden. Hier hält er sich ebenso fern dem „Montagne“, das heißt den Socialisten, wie den mit den Royalisten vereinigten republikanischen Parteigängern und tritt in entschiedenster Opposition gegen die Politik des Elysée auf. Da kommt der zweite December, und um Grevy strahlt der Glorienschein des Propheten; zu spät erkennen Thiers und Consorten, daß sie durch die Niederstimmung des Amendement Grevy dem Kaiserreiche die Thore geöffnet haben. Auch Grevy kommt nach Mazas. Nach einiger Zeit wieder in Freiheit gesetzt, zieht er sich ganz vom politischen Leben zurück, meidet auch in seinem Berufe als Advocat, dem er sich fast ausschließlich widmet, die politischen Processe und begnügt sich mit dem Brode und den dazu gehörigen Trüffeln und Fasanen eines Sachwalters der höheren Finance und der großen Actienunternehmungen.
Man wolle nicht vergessen, daß in Frankreich der blutige Schwamm der großen Revolution die socialen Schattirungen stark durcheinander gewischt hat; man wolle nicht vergessen, daß dort Jedermann aristokratische Passionen pflegt, wenn es seine Mittel erlauben, und daß dort Reichthum den Demokraten nicht schändet; der alte Raspail hinterließ zweimal so viel Millionen, als sein Name Buchstaben hat, Monnier, der wilde Republikaner, der vielmillionenreiche, ist Chocoladefabrikant, und Gambetta legte trotz immer wiederholten und heftigsten Andrängens der Gegner bis heute noch keine Rechnung über die Millionen ab, die unter seiner Dictatur verschwanden.
Erst sechszehn Jahre später betrat Grevy wieder die politische Bühne. Ein Abgeordnetensitz war in seinem Departement erledigt. Die republikanische Partei bestimmte ihn zu candidiren, und sein [164] Sieg war so glänzend, die Niederlage der Regierung so furchtbar, wie sie keine seit 1852 erlitten hatte, ja so niederschmetternd, daß sie im nächsten Jahre gelegentlich der allgemeinen Wahlen es nicht mehr wagte, neben Grevy einen Gegencandidaten aufzustellen. Er wurde Präsident der Gauche fermée im Gegensatze zu der Gauche ouverte von Ernst Picard, welche sich schon mehr dem linken Centrum näherte, und stand in starrer Opposition zum Kaiserreiche, ohne daß er von sich viel reden machte. Nur einmal stimmte er mit der Regierung; das kam so: wenige Monate vor Ausbruch des Krieges hatten die Orleans eine Petition an das Abgeordnetenhaus gerichtet um Aufhebung ihres Exils. Thiers hatte das ausgeheckt und die Opposition größtenteils gewonnen, der es nur erwünscht kam, einen Streich gegen das Kaiserreich zu führen und dann galten ja die Prinzen des Hauses Orleans für liberal, und der Prinz Aumale empfing die Republikaner in Twickenham um die Wette mit dem „rothen Prinzen“. Aber Grevy war nicht von der Partie; er stimmte mit der Regierung dagegen „da er keinem Prätendenten die Stange halten wollte“.
Der Sturz des Kaiserreichs und seine Nachfolge scheinen nicht nach Grevy’s Sinn gewesen zu sein, und trotz dem Andrängen seiner Freunde, und obgleich er die Mission erhielt, mit der Regierung im Stadthause in Verbindung zu treten und an der Wahl der „Vertheidigungsregierung“ Theil zu nehmen, unterließ er Beides und ging nach Tours. Von hier aus reclamirte er während des Krieges die Einberufung einer Constituante und protestirte gegen die Auflösung der Generalräthe durch Gambetta. Die Zwei sympathisirten niemals mit einander, und wäre des Exdictators Wunsch und Hoffnung in Erfüllung gegangen, so säße heute der greise Dufaure und nicht der vollkräftige Grevy im Elysée. Die Versammlung von Bordeaux erwählte ihn mit 519 Stimmen von 538 zum Präsidenten; dem Abgeordnetenhause präsidirte er aber vom Februar 1876 bis zum 30. Januar 1879. Seine letzte Amtsverrichtung als Präsident war die Mittheilung des Briefes Mac Mahon’s, worin dieser seine Abdankung als Präsident anzeigte und begründete.
Es war am 30. Januar dreieinhalb Uhr, als Grevy den Brief verlas (zu derselben Zeit theilte der Präsident des Senats gleichfalls denselben mit); dieselbe Stille während und nach der Verlesung – kein Ausdruck des Bedauerns, kein Beifallszeichen! Der Präsident verliest die Paragraphen 3 und 7 der Constitution, wonach sich bei Vacanz der Präsidentschaft die beiden Kammern unter dem Präsidium des Senats zu vereinigen und zur Wahl des neuen Präsidenten zu schreiten haben. Die Sitzung wird auf eine Stunde aufgehoben, sie hatte nur sieben Minuten gedauert; der Saal wird geräumt. Die Deputirten und Senatoren eilen an’s Büffet, das Publicum in die Restaurationen, indeß wird der Saal eingerichtet: das heißt es werden noch drei bis vier Bänke in den Halbkreis gestellt, welcher die Tribüne umschreibt, und Stühle so viele und wo sie nur immer anzubringen sind.
Es schlägt viereinhalb Uhr; der Saal ist gefüllt, die Tribünen sind von den schönsten Frauen und von jenem tout Paris besetzt, das bei ähnlichen Veranlassungen niemals fehlt, das diplomatische Corps ist in allen seinen Spitzen vertreten. Jetzt ertönt Trommelschlag; die Huissiers erscheinen, ihnen folgt das Präsidium des Senats. Die Deputirten und Senatoren sitzen, wie sie der Zufall placirt: Rouher neben Victor Hugo, Dufaure an der Seite von Naquet, Gambetta auf der Ministerbank. Nachdem der Präsident, Martel, nochmals die Abdankung des Herzogs den vereinigten Häusern mitgeteilt hat, schreitet er zur Abstimmung. Als Dufaure auf der Tribüne erscheint, seine Stimme abzugeben, begrüßt ihn eine dreifache Beifallssalve; um sechsdreiviertel Uhr ist die Abstimmung vorüber, um sieben Uhr fünfundzwanzig Minuten die Stimmenprüfung vollendet. Mit 563 Stimmen von 622 ist Grevy zum Präsidenten der Republik auf sieben Jahre erwählt. Die Verkündigung seiner Wahl löst einen Beifallssturm im ganzen Hause, nur die Rechte bleibt still. Im Verlaufe von vier Stunden hatte Frankreich seinen Herrscher gewechselt.
In diesem Frankreich, wo seit schier hundert Jahren kein Regierungswechsel sich vollzog, ohne daß das Blut seiner Söhne die Straßen der Hauptstadt tränkte, hat sich heute derselbe in der kurzen Frist von vier Stunden abgespielt – just Zeit genug, um ein nicht zu üppiges Mahl zu verdauen – und die Läden in Paris waren nicht geschlossen; der friedliche Bürger zitterte nicht in seinem Heim; keine Schüsse fielen; keine Barricaden wurden gestürmt. Die Börse blieb ruhig; in allen Werkstätten wurde gearbeitet, in allen Theatern gespielt! … So geschehen im zehnten Jahre der dritten Republik, am 30. Januar 1879.
Ein Erdbeben, eine Feuersbrunst während eines Orkans, vielleicht selbst das Ausbleiben der Sonne hätte nicht eine so hochgehende Aufregung in der uralten Thermenstadt Teplitz hervorbringen können, wie das plötzliche Verschwinden der Stadtquelle, der starken Hauptquelle in der Nacht vom 12. zum 13. Februar.
Am 12. Abends erhob sich ein plötzlicher Sturmwind, der in kurzen, starken Stößen über das stattliche Teplitz dahinfuhr, und wenige Minuten später verlor die Quelle, die seit Menschengedenken brausend aus zwei Löwenköpfen in der Stärke zweier Mannesarme hervorschoß, ihren Druck und rann, wie ein gebrochenes Leben, schwach und unregelmäßig.
Die Beamten der Stadt und des Stadtbades durchwachten eine bange Nacht. Wie das Bett eines Sterbenden umstanden sie die uralte Quellenfassung, belauschten jede Veränderung, jede Fluctuation, wie der Arzt den Pulsschlag eines Kranken, um endlich eine Art Todesröcheln zu vernehmen, mit welchem die Quelle in die Erde zurücktrat. Früh gegen 8 Uhr rannen die letzten Tropfen aus der Mündung, und damit waren sämmtliche Bäder der Stadt Teplitz ohne jenes köstliche Gut, von dem Hunderttausende mit dankerfülltem Herzen sprechen; nur das beim benachbarten Badeorte Schönau liegende Steinbad hatte, gleich den sämmtlichen Schönauer Quellen (Schlangenbad, Neubad und Wiesenbad) sich in der bisherigen Kraft und Fülle erhalten.
Man konnte das schwere Unglück nicht fassen; am allermeisten lehnte man sich gegen die Annahme auf, daß die Quelle in die ersäuften Schächte bei Dux, die zwei Stunden entfernt sind, abfließe. Jede Sensationsnachricht wurde nach Kräften unterdrückt, an das Stadtbad heftete man Zettel an: „Wegen Reparatur geschlossen!“
Eine solche Katastrophe drängt sich nicht in die Sinne, wie ein Brand oder eine Ueberschwemmung; seine volle Größe zu ermessen, muß den rechnenden Gedanken der Betheiligten überlassen bleiben, aber auch dem Unbeteiligten wird das Herz schwer, wenn er die Straßen durchwandelt, die langen Bäderreihen, die stattlichen Häuser, die Paläste, die vielen großstädtischen Geschäfte betrachtet, die gar nicht im Verhältniß zur Einwohnerzahl der Stadt stehen, wenn er das kleine, prächtige Theater, die Hunderte von Gasthöfen und Wirthschaften, Promenaden und öffentliche Einrichtungen aller Art auf seinen Wegen antrifft. Das Alles sind Schöpfungen, die im Vertrauen auf die berühmte Heilquelle in’s Leben traten, welche nach einer Inschrift im Stadtbad 1100 Jahre in reicher Segensfülle sprudelt – und nun? –
Der Chronist Bohuslaus Balbin erzählt in einem Werke, das vor 200 Jahren gedruckt wurde, die Teplitzer Quellen seien in grauer Zeit einmal ausgeblieben, weil die Badeverwaltung – Badegeld erhoben und erst nach Aufhebung dieser Abgabe sei die erzürnte Quelle wieder erschienen. Mit Recht vermutet man, er habe nur gegen die erneute Einführung von Badegeld agitiren wollen und darum das Märchen erfunden.
Während des Erdbebens zu Lissabon am 1. November 1755 blieb die Quelle eine Minute, nach andern fünf Minuten aus, um gleich darauf mit stärkerer Macht wieder hervorzubrechen und die sämmtlichen Bäder, die sie speist, zu überschwemmen. Seit diesem Tag, der übrigens die Quelle zu Natters in Tirol ganz verschwinden ließ, ist die Teplitzer Quelle unangefochten geblieben, wenn auch ihr Druck nachgelassen haben soll. Die Befürchtung, daß durch die Kohlenschürfungen in der Teplitzer Gegend einmal eine Katastrophe über die Stadt hereinbrechen könne, theilten schon Viele. Professor Dr. Reuß warnte bereits vor zwölf Jahren vor einem möglichen Unglück, und ein jüngst verstorbener Dr. Hering [165] soll den Stadtverordneten einmal zugerufen haben. „Ihr werdet Eure Quellen noch mit der Laterne suchen müssen.“ Beide Herren dachten wohl an die nahen, aber nicht an die Duxer Schächte, die in der That nie beanstandet worden sind und von denen nach menschlichem Ermessen auch nichts zu fürchten war.
Die Meinung der Geologen über das zukünftige Schicksal der Quelle, die ja noch in der Tiefe der Erde vorhanden sein muß, gehen weit aus einander, nur darüber sind sie einig, daß sie in die ersäuften Schächte bei Dux getreten ist. Die Schachtsohlen liegen bedeutend tiefer, als der Quellenmund zu Teplitz. Die Leitung dahin scheint ein Plänerrücken zu bilden, der augenscheinlich Klüfte und große Reservoirs in sich birgt. Dieser Rücken wurde an denkbar ungünstigster Stelle im Döllinger Schacht angebrochen; die Reservoirs leerten sich, und die Teplitzer Quelle verlor den Druck, ergoß sich zunächst in diese Hohlräume und mischte sich in die wilden Wässer der Schächte, die sie von 15 auf 21 Grad Réaumur anwärmte. Der Sachverhalt spiegelt sich am verständlichsten in dem Bruch einer Haus-Wasserleitung: bricht diese im Keller, so haben die Etagen kein Wasser.
Der Vorgang des Anbruchs hat dreiundzwanzig Menschenopfer gefordert. Zwei czechische Bergleute hauen Montag, am 10. Februar, im Döllinger Schacht, in welchem der sündlichste Raubbau getrieben worden sein soll, eine Kohlenwand an. Ein armstarker Strahl weißlichen Wassers treibt dem Einen in’s Gesicht; sie flüchten sich etwa zehn Meter nach rückwärts und beabsichtigen dort den Vorgang noch eine Weile zu betrachten – da bricht plötzlich die ganze Kohlenwand herein, und ein ungeheurer Wasserstrom ergießt sich in die Baue. Das Wasser trieb die Luft mit solcher Gewalt aus, daß sich ein förmlicher Sturmwind erhob, der im Augenblick sämmtliche Grubenlichter verlöschte. Die Arbeiter in der Nähe der Förderschächte (der Ausfahrten) retteten sich mit verzweifelter Anstrengung aus den Fluthen, die ihnen in einer halben Minute bis zur Brust gestiegen waren. Leider mußten sie einundzwanzig Cameraden ihrem Schicksale überlassen, da dieselben wohl zehn Minuten entfernt in einer Seitenstrecke arbeiteten. Die Nachbarschächte wurden gewarnt, sodaß bis auf zwei Italiener, die sich weigerten, vor Beendigung der Schicht auszufahren, Niemand verunglückte.
Sechs Mann flüchteten sich unter ein sogenanntes Lichtloch ohne Ausfahrt. Das Wasser stieg rapid, und in ihrer Angst erklommen sie Gerüste, die sie in der Eile aus Schwellen und Schienen hergestellt. Die herbeieilenden Bewohner von Dux und Ossegg hörten die braven Czechen in der dunklen Tiefe laut beten, und kaum je hat ein Gebet directeren Erfolg gehabt, als das ihre. Seile wurden herbeigeschafft, freilich ohne jeglichen Anhalt daran. Ein Bergschüler sollte wieder hinabgestürzt sein, doch ist das Fabel; sämmtliche Mannschaft auf Schacht „Fortschritt“ wurde gerettet. Die Gesammtwassermasse, die bis zum 17. Februar Mittags in die Schächte gedrungen, schätzt man auf über eine Million Cubikmeter, und noch immer steigt sie ziemlich regelmäßig in zwölf Stunden auf 1,10 Meter. Ueber die Verluste der Grubenbesitzer, der Arbeiter und besonders der Dux-Bodenbacher Eisenbahn werden die Acten selbstredend noch nicht so bald geschlossen werden.
Jedes Gutachten der Sachverständigen, jedes Urtheil aus der mit und von den Quellen lebenden Bevölkerung gleicht einem großen Fragezeichen; jedes neue Vorkommniß ist bis zur Stunde als ein neues Räthsel anzusehen; dennoch halten wir es für unsere Pflicht, den weitesten Kreisen ein Gutachten zugänglich zu machen, welches die von gediegenen Fachmännern als die besten anerkannten Mittel zur Rettung der Hauptquelle und damit zugleich die größte Beruhigung für die Heilbedürftigen, wie für alle Freunde und Bewohner von Teplitz bietet.
Bekanntlich hat sich in Teplitz, als die Betäubung des ersten Schreckens überwunden war und die Noth zur That aufforderte, eine Commission gebildet, welcher das kaiserliche Ackerbauministerium in Wien den Bergrath H. Wolf und die Professoren Gustav Laube und Eduard Sueß zur Verfügung stellte. Aus der Feder des letztern stammt das Gutachten, welches wir unseren Lesern hier im Auszug mittheilen:
„In Betreff der für die Benützbarkeit der Wässer während der kommenden Saison vorzukehrenden Schritte,“ sagt Professor Sueß, „bin ich mit meinen Fachgenossen Wolf und Laube der Ansicht, daß sofort an die Vertiefung der Mündung der wichtigsten Quelle, und zwar der Urqelle selbst, zu schreiten ist. Dies hat durch Schachtabteufung mit ununterbrochener Tag- und Nachtarbeit zu geschehen. Bei dieser Gelegenheit wird das Verflächen der heute sichtbaren Hauptspalte zu verfolgen sein, und wird sich daraus ergeben, ob und in welchem Ausmaße in der Tiefe eine Auslenkung nöthig wird. Es ist durchaus nicht anzunehmen , daß das Thermalwasser in dieser Spalte sich tiefer gesenkt habe, als das heutige Niveau der Wässer im Döllinger-Schachte. Die Vergleichung dieses Niveau ergiebt eine Tiefe des Wasserstandes von beiläufig 22 Meter unter den normalen Ausflüssen an den Löwenköpfen, aber es ist sehr möglich, daß das Thermalwasser schon in geringerer Tiefe gefunden werden wird. Hierbei ist für die Löwenköpfe eine Seehöhe von 203,15 Meter, für die Grubenwässer ein Niveau von 182 Meter angenommen, wobei die letzteren noch in einem langsamen Steigen begriffen sind, während die Hauptentleerung heute noch gegen Victoria und Gisela stattfindet.
Die Wirksamkeit der eben genannten Vorkehrungen beruht auf der Voraussetzung, daß während der kommenden Saison nicht an das Auspumpen der Kohlenwerke geschritten werde; da jedoch von den Gewerkschaften wahrscheinlich diese Arbeit für eine spätere Zeit in Aussicht genommen werden wird, so muß heute schon die dauernde Sicherung der Thermen von Teplitz in Betracht kommen. Es ist möglich, daß es den vereinten Kräften der Gewerke gelingt, die ersäuften Strecken zu retten, bei dem Ausschöpfen derselben vorübergehend das Niveau der Thermalquellen von Teplitz noch weiter herabzudrücken, als es heute steht, dann die Einbruchsstelle zu schließen, und so einen dem früheren Zustande annähernd ähnlichen Zustand der Dinge wieder herzustellen. Aber die Interessen, welche für die Stadt Teplitz auf dem Spiele stehen, sind viel zu groß, als daß man sie abhängig machen könnte von den Wechselfällen ähnlicher Arbeiten. Die Sicherstellung dieser Interessen ist nur zu erreichen, indem man sich entschließt, den Quellen nachzugehen bis zu einer Tiefe, welche beträchtlicher ist als die Tiefe der Einbruchsstelle im Döllinger-Werke, das ist zu einer Tiefe von mindestens 50 bis 60 Meter. Hierbei ist wieder die Ausflußstelle bei den Löwenköpfen mit einer Seehöhe von 203,15, jene des Einbruches mit 152,81 Meter angenommen. Ich erlaube mir vorzuschlagen, daß, abgesehen von [166] der Schachtherstellung, an der Urquelle eine zweite, selbstständige Abteufung, und zwar beiläufig bis auf 60 Meter, unternommen werde. Der Ort dieser zweiten Abteufung ist nach den localen Umständen zu ermitteln; die Art der technischen Ausführung ist Sache einer weiteren Erörterung. Ich halte es jedoch für sehr dringend, daß auch diese Arbeit jetzt schon in Angriff komme. Es liegt die Versuchung nahe, eine Tiefbohrung weit über das angegebene Maß hinaus in Vorschlag zu bringen, durch welche nach meiner bestimmten Ueberzeugung eine heiße Springquelle von bedeutender Mächtigkeit erzielt werden könnte, aber sowohl die Rücksicht auf die speciellen medizinischen Anforderungen, welchen durch eine solche heiße Springquelle kaum entsprochen würde, wie auch die Befürchtung, ob nicht doch durch eine solche Tiefbohrung die Schönauer Quellengruppe trotz der Selbstständigkeit, welche dieselbe an der Oberfläche zeigt, in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, veranlassen mich, eine solche Tiefbohrung nicht anzurathen.
Es ist daher meine Ansicht, daß die schweren Besorgnisse über die Zukunft der Stadt Teplitz, welche da und dort geäußert wurden, durch die Natur der Dinge nicht gerechtfertigt sind, und daß die bestehenden Schwierigkeiten keineswegs unüberwindlich sind, wenn auch wahrscheinlich ein Theil der Teplitzer Thermen in künftigen Jahren einer Hebevorrichtung bedürfen wird.“
Die vom Professor Sueß vorgeschlagene Schachtarbeit hat begonnen. Am 22. Februar geschah der erste Spatenstich. Die Leitung der Abteufung ist dem Sprengtechniker Julius Mahler[WS 1] übergeben worden. Dem Gedeihen dieses Unternehmens wünschen gewiß viele Tausende mit uns ein herzliches Glück auf!
Schon seit Jahrzehnten ist übrigens – um dies zum Schluß noch zu erwähnen – unter der herrlichen Thalmulde zwischen Erz- und Mittelgebirg nicht Alles mehr beim Alten. Vor circa vierzig Jahren sprudelte plötzlich unfern des Dorfes Loosch zwischen Dux und Teplitz ein gewaltiger lauwarmer Quell, der sogenannte Riesenquell, hervor. Bis vor drei Jahren trieb er lustig ein Mühlwerk; ein stattliches Bad, die sogenannte „Grünze“, hatte sich in der Nähe angesiedelt, und kein Mensch dachte daran, daß er je ausbleiben könne; da ward er schwächer und schwächer, und heute gleicht sein Becken eher einem ausgebrannten Krater, als einem Quell. Unweit von Brüx, bei Kopitz, brach im Februar 1877 ein starker warmer Sprudel hervor, und den Bewohnern des Städtchens Waltsch fiel es schon längere Zeit auf, daß über einer Wiese in der Nähe der Stadt nie Schnee liegen blieb. Man grub nach, fand zwar kein Wasser, aber dafür bis auf 22 Grad Réaumur erwärmtes Erdreich. Dagegen entdeckte man vor fünf Jahren zu Tschausch beim Kohlenbohren starke warme Quellen. In zweifelloser Verbindung mit der Teplitzer Katastrophe stehen die Erdeinsenkungen bei Loosch, in der Nähe des eben erwähnten Riesenquells, welche am 13. und 14. Februar, also kurz nach der Teplitzer Katastrophe, niedergingen. Hier scheinen entweder große unterirdische Bassins zu liegen, oder es haben die sämmtlichen fraglichen Quellen hier ihren Quellherd. (Bei Loosch geht auch der mehrfach erwähnte Plänerrücken in ein mächtiges Kalksteinlager über, das stark abgebaut wird.) Der eingefügte Situationsplan giebt nähere Auskunft über Lage und Umfang dieser Einbrüche.
Teplitz, am 23. Februar 1879
Lange bevor die Forscher im Besitze der Hülfsmittel waren, welche die Grenzen der Beobachtung heutzutage in ungeahnter Weise erweiterten, nannten schon die Italiener die Luft, welche zur wärmeren Jahreszeit aus den pontinischen Sümpfen aufsteigt oder über den feuchten Reisfeldern der Lombardei schwebt, die Malaria, das heißt: schlechte Luft. Die Erfahrung hat gelehrt, daß das Verweilen in solcher Luft böse Fieber zur Folge hat, die gar häufig mit dem Tode enden, und daher sucht man sie zu meiden, so weit es die Verhältnisse zulassen. Trotzdem aber fordert die Malaria alljährlich ihre Opfer, weder Hoch noch Niedrig verschonend. Italien ist jedoch nicht das einzige Land, dessen feuchte Niederungen die Malaria erzeugen, sondern fast überall, wo die Bedingungen zu Fäulniß organischer, namentlich thierischer Substanzen vorhanden sind, also in Sümpfen, austrocknenden Seen, moorigen Lachen etc., kann sich ein Gift bilden, das der Luft mitgeteilt und auf dem Wege der Athmung in den Körper aufgenommen wird, um daselbst eine Wirkung zu üben, die, je nach der Art des Giftes und der Disposition des Befallenen, sich in verschiedener Form äußert.
Im Gegensatz zu den Ansteckungsstoffen, welche ein erkrankter Organismus erzeugt, hat man die dem Erdboden entsteigenden Luftgifte mit dem Namen der Miasmen belegt, und eine Reihe hervorragender Forscher ist bemüht, das eigenartige Wesen derselben zu ergründen.
Diese Aufgabe ist nicht so einfach, wie sie beim ersten Anblicke erscheinen möchte; sie erfordert die peinlichste Sorgfalt und kritische Aufmerksamkeit, damit keine Täuschungen unterlaufen, die zu falschen Schlüssen Veranlassung geben. Beschäftigen wir uns einmal näher mit einer solchen Untersuchung der Luft auf fremde Bestandtheile, und zwar auf solche Bestandtheile organischer Natur, welche von den Medicinern als Krankheitserreger angesehen werden.
Wir haben zu diesem Zwecke nicht nötig, einen Abstecher nach den pontinischen Sümpfen zu machen, sondern die Luft dumpfer Felder bietet uns schon brauchbares Material; ja die Luft eines gewöhnlichen Zimmers oder die der Gasse wird sich bei genauer Prüfung selten als frei von gewissen Fremdkörpern zeigen, deren Unschädlichkeit berechtigtem Zweifel unterliegt.
Wie aber fangen wir nun die Fremdkörperchen, die so klein sind, daß sie selbst bei starker Vergrößerung durch das Mikroskop kaum wahrgenommen werden können?
Da wir noch kein Netz besitzen, dessen Maschen so fein sind, um damit Sonnenstäubchen aus der Luft zu fischen, müssen wir uns eines anderen Mittels bedienen, das zum erwünschten Ziele führt. Dieses Mittel ist – die Thaubildung.
In jeder Luft mittlerer Temperatur befinden sich reichliche Mengen von Wasserdampf, oder, wie wir ihn im täglichen Leben nennen, Wasserdunst. Bringen wir nun einen kalten Gegenstand in die wärmere, mit Wasserdampf geschwängerte Luft, so schlägt sich das Wasser in Gestalt kleiner Thautropfen an demselben nieder, wie zu seinem Aerger jeder Brillentragende erfährt, der im Winter aus dem Freien in ein warmes Gemach tritt. Der sich verdichtende Wasserdunst reißt dabei die winzigen Körperchen mit sich und überliefert sie in den Thautröpfchen dem Forscher zur weiteren Prüfung.
In der Praxis bedient man sich zum Fang der Sonnenstäubchen – so wollen wir die zahllosen Arten von Fremdkörpern nennen, welche in der Luft aufzutreten pflegen – kleiner trichterförmiger Glasgefäße, oder der bekannten röhrenförmigen Reagenzgläschen, die das unentbehrliche Handwerkszeug des Chemikers bilden. In ein solches Gefäß werden einige Gramme Glaubersalz gegeben, auf welches man, nachdem das Gefäßchen mit einem weichen Leder sauber abgetrocknet wurde, etwas Salzsäure gießt. Das Glaubersalz löst sich rapide in der Salzsäure und absorbirt bei diesem Vorgange die Wärme aus seiner nächsten Umgebung, und zwar in dem Maße, daß die Temperatur mehrere Grad unter den Nullpunkt herabsinkt. Sofort beginnt der Wasserdunst der Luft sich auf der Oberfläche des Glases in Gestalt von Tröpfchen – Thaubildung – niederzuschlagen; die Tröpfchen werden zum Tropfen, der sich an der Spitze des Gesäßes ansammelt und nun auf eine reine Glasplatte gebracht werden kann.
Die mikroskopische Untersuchung dieses Tropfens läßt hierauf mit Leichtigkeit die gröberen Verunreinigungen der Luft erkennen: Trümmer von Pflanzen und Thierkörpern, Blütenstaub, Sand und Gesteinstrümmer, Pflanzenfasern, Pilzsporen u. dergl. m., allein sie ist nicht im Stande, die feinsten Keime der mikroskopisch kleinen Organismen zur Wahrnehmung zu bringen, welche als die wahren Attentäter auf Gesundheit und Leben zu betrachten sind. Das etwaige Vorhandensein dieser Keime muß daher auf einem Umwege ermittelt werden, und zwar geschieht dies durch Aussaat und Cultur. Zu diesem Zwecke wird zerhacktes Fleisch oder Blutflüssigkeit, oder sonst eine passende organische Substanz mit Wasser gekocht und die erhaltene Flüssigkeit in dünnwandige Glasfläschchen filtrirt, die etwa bis zur Hälfte angefüllt sein dürfen. Der Hals [167] der Fläschchen ist lang und dünn und wird oben zugeschmolzen. In einem geeigneten Apparat werden dieselben nun wenigstens mehrere Stunden erhitzt und zwar einige Grad über den Siedepunkt des Wassers, um Alles, was Leben oder Lebenskeim heißt, durch die Hitze zu zerstören. Sobald die Fläschchen dann bis auf Blutwärme abgekühlt sind, wird die Spitze abgebrochen und ein wenig von dem gesammelten Thau hineingegeben. Dünne Haarröhrchen aus Glas, die kurz vorher ausgeglüht waren, taucht man in den zu untersuchenden Tropfen, von dem ein Theil nach dem physikalischen Gesetze der Haarröhrchenanziehung aufgesogen wird. Dieses Röhrchen wird rasch in die Glasflasche geworfen, welche sofort wieder in der Flamme der Gebläselampe zugeschmolzen werden muß. Etwa fünf Flaschen werden als Saatäcker benutzt und in der beschriebenen Weise mit Aussaat versehen, während fünf andere unberührt bleiben, um zur Controlle zu dienen.
Enthielt nun die zu untersuchende Luft Keime von Fäulniß erregenden Organismen, so trübt sich der Inhalt der Flaschen nach einigen Tagen, und wenn dann ein Tröpfchen der trüben Flüssigkeit mit dem Mikroskop geprüft wird, so zeigen sich in demselben Millionen jener Organismen, die wegen ihrer Stäbchenform Bakterien (siehe Nr. 4 d. J.) genannt worden sind. Die gesammelten Keime, welche als solche mit absoluter Sicherheit nicht unterschieden werden konnten, haben sich in der Nährflüssigkeit zu ausgebildeten Individuen ihrer Gattung entwickelt und eine Nachkommenschaft erzeugt, deren Anzahl eine erschreckende ist und die rückwärts darauf schließen läßt, daß ihre Keime in der Luft vorhanden waren, welche zur Untersuchung diente. Tritt ferner in den zugeschmolzenen, nicht geöffneten Fläschchen keine Trübung – keine Entwickelung von Organismen ein, so erhält dieser Schluß eine zweite, durch das Experiment erhärtete Begründung.
Diese Methode leidet nun aber freilich an einem großen Fehler, der darin seinen Grund hat, daß beim Abbrechen der Spitze etwas Luft in das Fläschchen dringt und daß diese Luft Keime enthalten kann, welche sich entwickeln, und deshalb kann eine Luft, welche keine Keime enthält, in den Verdacht der Schädlichkeit gelangen, welchen sie von Rechtswegen nicht verdient. Ferner ereignet es sich, daß in den Controllflaschen trotz aller Vorsichtsmaßregeln die Entwickelung von Organismen stattfindet, ein Umstand, der nur dadurch erklärt werden kann, daß Keime in die Flüssigkeit hineingeriethen, welche die Siedhitze vertrugen, ohne der Zerstörung anheim zu fallen.
Professor Cohn in Breslau hat gefunden, daß Keime von Bacillus (einer Bakterienart) eine dreitägige Erwärmung auf achtzig Grad ertragen können, ohne das Vermögen der Weiterentwickelung einzubüßen. Andererseits zeigte Herr A. Frisch, daß auf Bakterien und andere niedere hierher gehörende Organismen eine Kälte von siebenundachtzig Grad unter dem Gefrierpunkt in keiner Weise vernichtend einwirkte. Im Gegenteil, die Bakterien vermochten, nachdem das Gemach von fester Kohlensäure und Aether, welches den erwähnten Kältegrad erzeugt, aufgethaut war, fröhlich in geeigneter Nährflüssigkeit weiter zu vegetiren.
Nun sind die Bakterien, Vibrionen und andere ähnliche Organismen, welche pflanzliche und thierische Substanzen in Fäulniß versetzen, noch durchaus nicht als die alleinigen Krankheitserreger anzusehen, zumal sie nicht unter allen Umständen, sondern nur dann schädlich wirken, wenn im lebenden Körper solche Bedingungen vorhanden sind, welche ihre Weiterentwickelung befördern.
Die Miasmen des gelben Fiebers, des Wechselfiebers, der Malariakrankheit, des Typhus, der Cholera sind noch nicht mit genügender Sicherheit ermittelt, man weiß vorläufig nur, daß die Luft sie übertragen kann, daß sie die Luft vergiften. Es werden jedoch die Wege, welche zur Auffindung der Bakterien dienen, auch hier zu Resultaten führen, zumal angenommen werden muß, daß die Miasmen organisirt sind, sich weiter entwickeln und gezüchtet werden können, denn dieselben Desinfectionsmittel, welche die Bakterien und Consorten tödten, pflegen auch die Miasmen unschädlich zu machen.
Von Wichtigkeit ist nun weiter die Frage: auf welche Weise die schädlichen Organismen aus faulenden Flüssigkeiten, aus den Sümpfen, Gräben und Cloaken in die Luft gelangen, denn an die Beantwortung derselben knüpfen sich die Maßregeln, welche zum Schutze gegen das Luftgift in Betracht gezogen werden können.
Herr E. Frankland hat zu diesem Zwecke Untersuchungen angestellt, welche auf folgenden Beobachtungen fußen:
Der Ausbruch der asiatischen Cholera in Southampton im Jahre 1866 wurde von Professor Parkes auf die Verbreitung von inficirter Cloakenflüssigkeit durch die Luft zurückgeführt, da nachweisbar die Entleerungen einiger mit einem Dampfschiffe gelandeter Cholerakranker in den Abzugscanal gelangt waren. In diesem Falle wurde die Verbreitung des Giftes durch das Auspumpen der inficirten Flüssigkeit und das Entleeren derselben in einen offenen Canal von acht Fuß Länge veranlaßt. In den anliegenden reinen und luftigen Häusern brach wenige Tage, nachdem das Pumpen begonnen, eine heftige Epidemie asiatischer Cholera aus, an der 107 Personen starben. Gleichwohl wurde das Auspumpen während 14 Tagen Tag und Nacht hindurch fortgesetzt. Schließlich brachte man an die Stelle der offenen Leitung eine geschlossene Eisenröhre, und von diesem Tage an nahm die Zahl der Erkrankungen ab, sodaß innerhalb einer Woche nach dem Bedecken der Leitung die Epidemie erloschen war.
In diesem Falle war die Verbreitung des Giftes in der Luft nicht schwer zu erklären, aber keineswegs wurde damit die Frage gelöst, auf welche Weise kleine Organismen oder die Keime derselben aus stehendem, ruhigem Wasser den Weg ist die Luft finden, da ihnen Flugapparate selbstredend fehlen. Herr Frankland bediente sich zur Beantwortung dieser Frage eines Stoffes, der mit Leichtigkeit in den kleinsten Mengen erkannt werden kann und zwar durch den Spectral-Apparat. Es war dies das Chlorlithium, von dem eine Spur die Flamme roth färbt und im Spectroskop eine charakteristische rothe und eine gelbe Linie erkennen läßt. Er löste das Salz in Wasser auf, welches sich in einem Becherglase befand, und rührte es mit einem Stäbchen heftig um. Wenn nur ein hunderttausendstel Milligramm Chlorlithium in die Luft übergegangen wäre, hätte es im Spectroskop erkannt werden müssen. Es zeigte sich jedoch keine Spur desselben. Selbst als ein kräftiger Luftstrom – dem Winde gleich – über die Chlorlithium-Lösung geleitet wurde, ergab sich, daß wohl das Wasser der Lösung verdunstete, aber kein Lithium mit fortgerissen wurde. Hierauf warf Herr Frankland Marmorstücke ist die Lösung und fügte Salzsäure hinzu, worauf sich Kohlensäure entwickelte, die in Gestalt neuer Blasen an die Oberfläche drang. Sofort ließ sich Lithium in der Luft oberhalb des Gefäßes erkennen, ja es gelang, diese Luft durch einen schwachen Zug einundzwanzig Fuß weit fortzuführen, ohne daß der Gehalt an Lithium merklich abgenommen hätte.
Wenn wir eine in Fäulniß begriffene Flüssigkeit betrachten, so finden wir, daß sie meistens Gasblasen entwickelt, schaumig ist und sich daher ähnlich verhalten muß, wie die Chlorlithium-Lösung in dem letztgenannten Versuche des Herrn Frankland. Es kommt also darauf an, daß zur Fäulniß geeignete Flüssigkeiten aus dem Bereiche menschlicher Wohnungen geleitet werden, ehe sie wirklich in Fäulniß gerathen, Gasblasen entwickeln und die in ihnen enthaltenen Organismen, Keime etc. der Luft übermitteln. Somit giebt Frankland’s Untersuchung einen Fingerzeig für die Anlage von Canalisationen, bei denen jedes Stagniren ihres Inhaltes vermieden werden muß.
Ferner ist die Entwässerung sumpfiger Gegenden ein Gegenstand, der Aufmerksamkeit verdient, sobald in der Nähe derselben sich Wohnstätten der Menschen befinden. In wärmeren Strichen hat sich der Anbau eines australischen Baumes, des Eucalyptus globulus (siehe „Gartenlaube“ 1876, Nr. 5), in Sümpfen bewährt, denn dieser rasch wachsende Baum verwandelt in kurzer Zeit den Sumpf in einen luftreinigenden Wald. Auch unsere bekannte Sonnenblume ist hier zu nennen, indem sie ungesunde Sumpfstrecken zeitweilig in Culturland umwandelte. Frische, kräftige Vegetation arbeitet der Vermehrung niederer Organismen entgegen, da sie die Stoffe in ihren Kreislauf zieht, welche jene zu ihrer Existenz bedürfen, und so das Recht des Stärkeren zur Geltung bringt. Der Boden der Urwälder entwickelt in den ersten Jahren seiner Urbarmachung fiebererzeugende, den Ansiedlern oft verderblich werdende Miasmen, weil das bisherige Verhältniß zwischen Bodenfeuchtigkeit und der Vegetation gestört wurde. Sobald aber Getreide und Culturpflanzen gedeihlich sprießen, stellt sich die alte Ordnung wieder ein, Gifte und Gegengifte liegen in der Natur neben einander; die Aufgabe des Menschen ist, beide zu erkennen, damit er dem einen wehre, indem er sich das andere dienstbar macht.
Der Carneval ist vorüber. Noch weilen die Gedanken der nach Scherz und Lust wieder Ernüchterten bei dem bunten Tumult des Faschings, wo die ausgelassene Phantasie ihr närrisches Spiel trieb, und mit Sättigung und Festesmüdigkeit, vielleicht auch mit ein Bischen Katzenjammer, ist die Zeit der ruhigen Rückschau, die Zeit vernünftigen Nachdenkens über das Erlebte, gekommen. Das ist der richtige Augenblick, um sich über den Ursprung der Masken und die damit verbundenen Feste etwas eingehender zu unterrichten.
Wie unter Einführung der Maske die erhabensten Schöpfungen der griechischen tragischen Literatur entstanden, so spielt sie auch im Culturleben des Mittelalters und bis in die neueste Zeit eine gewichtige und interessante Rolle. Das Wort Maske stammt aus dem Arabischen. „Maskara“ bedeutet in der Sprache des Koran soviel wie Unsinn, Possen machen. Davon ist auch das italienische Wort maschera abgeleitet, worunter die Italiener ein falsches Gesicht verstehen, welches das natürliche Gesicht bedeckt, das vielleicht noch falscher ist. Diese Etymologie hat Alles für sich. Im Mittellatein hat das Wort masca in der lombardischen Gesetzgebung die Bedeutung des Unheimlichen; masca ist soviel wie eine Hexe. In Savoyen, in der Dauphiné und in den südlichen Provinzen Frankreichs hat das Wort denselben Sinn behalten, und in der Gegend von Toulon versteht man unter pas de la masque einen Pfad, der von einem weiblichen Gespenst begangen wird. In der Bedeutung: Hexe wird das Wort auch von den alten französischen komischen Schriftstellern gebraucht, namentlich von Molière. Wir erinnern nur an jene Stelle aus dem Stück: „Der eingebildete Kranke“, wo dieser zu seiner Enkeltochter die Worte sagt: „Aha, kleine Maske (das heißt: kleine Hexe), du sagst mir nicht, daß du in dem Zimmer deiner Schwester einen Mann gesehen hast?“
Es ist gar kein Zweifel, daß die Maske orientalischen Ursprungs und von da in die griechische Cultur herüber gekommen ist – zuerst in die Tragödie, die ja bekanntlich aus den Satyrspielen bei dem Bacchusfeste entstanden war. Thespis nimmt man als den Erfinder des Dramas an, als denjenigen, welcher zuerst in die Dyonysos-Gesänge bei den Weinfesten eine handelnde Person einführte. Das Gesicht derselben war mit Hefe bemalt, um die betreffende Persönlichkeit zu charakterisiren. Erst Aeschylos, der erhabenste der griechischen Tragiker, ersetzte dieses angemalte Gesicht durch eine Maske. Bekanntlich erschienen die griechischen Schauspieler nur in Masken auf der Bühne. In den großen antiken Theatern, wo der natürliche Mensch in Folge der riesigen Räumlichkeiten dem Auge sonst fast entschwunden wäre, war dieses Hülfsmittel zur Erhöhung des Effectes nothwendig; denn der Ausdruck der Physiognomie wäre für die Mehrzahl der Zuschauer sonst ganz verloren gewesen. Durch die Maske ward ein schärferer Ausdruck möglich. Sie hatte bekanntlich eine mechanische Vorrichtung, durch welche der Schauspieler die Stimme anwachsen lassen und dem Charakter so einen erhöhten Ausdruck verleihe konnte. Dazu kam noch der Kothurn, eine Art hoher Schuh, wodurch die normalen körperlichen Verhältnisse mit der idealen Handlung und dem dargestellten Charakter auch äußerlich gesteigert wurden. Die Alten hatten tragische und komische Masken, und in den satirischen Stücken gaben sie der Maske das getreue Gesicht der Persönlichkeit, welche der Dichter zum Gegenstand des öffentlichen Gelächters machen wollte. Der Schauspieler, welcher in der Komödie des Aristophanes: „Die Wolken“ den Sokratesdarstellte, trug eine Maske, welche vollkommen dem Gesichte des Philosophen glich. Aristophanes hatte sich aber damit nicht begnügt; er war tadelnswerther Weise noch viel weiter gegangen, indem er dem Sophisten im Stücke den Namen des Weisesten seiner Zeit beilegte. Molière macht es ähnlich. Die Schauspieler, welche in dem Stücke „L’Amour médecin“ auftraten, kamen in Masken auf die Scene, die den damals in Paris renommirtesten Aerzten auf das Täuschendste ähnlich waren. Darin allerdings beschränkte sich Molière, daß er in den Grenzen des Lächerlichen blieb und seine Satire nicht in Beschimpfungen ausarten ließ, wie Aristophanes es that, dessen Opfer Sokrates von der Bühne zum Tode gebracht wurde, womit allerdings der Scherz ein Ende hatte. Der Gebrauch der Masken beschränkte sich bei den Alten auf die Bühne. Im alltäglichen Leben fand sie keine Anwendung, obschon man von Poppäa behauptet, daß sie Masken getragen habe, um sich die Frische ihres Teints zu erhalten.
Im deutschen Mittelalter war der Gebrauch der Maske sehr verbreitet. Der Mummenschanz war in der Zeit vom heiligen Drei-Königsfeste bis zu Aschermittwoch ein Volksvergnügen, wie es heutzutage noch unser Carneval ist. Das originale deutsche Wort für Maske ist: Schönbart. In Nürnberg z. B. war das Schönbartlaufen eine der beliebtesten Volksvergnügungen. (Siehe vorige Nummer. „Nürnbergs Volksbelustigungen im 16. und 17. Jahrhundert“.)
In Frankreich unter Franz dem Ersten war der Gebrauch der Maske bei allen Damen in täglicher Uebung. Auf der Straße, der Promenade, bei Besuchen, ja selbst in der Kirche legten sie ihre „loup“ nicht ab, das heißt: jene Halbmaske von schwarzem Sammet, deren Gebrauch jedenfalls aus Italien herüber kam. Später wurden die Masken durch die Mouches (Schönpflästerchen) ersetzt. Die Maske wurde das beliebteste Hülfsmittel der weiblichen Koketterie, und unter ihrem Schutze vollführten die Galanterie und die Eifersucht ihre Thaten. Die galanten Frauen maskirten sich, um auf Abenteuer auszugehen, und die eifersüchtigen Männer zwangen ihre Frauen, die Maske vorzunehmen, damit sie von den abenteuernden Gesellen nicht erkannt würden. Noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts gebrauchten die Männer auf der Insel Zante diese Vorsicht, um ihre Frauen vor Wilddieben des Herzens zu schützen.
In Venedig wurde die Maske geradezu ein Kleidungsstück, wenigstens in der einen Hälfte des Jahres; sie verschaffte ihren Trägern den Vortheil der freien Bewegung. Der Genuß gewisser Vergnügungen vertrug sich nicht mit der Würde des Patricier-Kleides, das die Leute in ihre Neigungen doch sehr beschränkte. Nur während des Carnevals durfte es abgelegt werden, und darum verlängerten die Nobili diese Zeit, so weit es irgend ging.
Aus dem Maskengebrauch entwickelte sich die Maskerade, worunter eine Versammlung von maskirten Personen verstanden sein soll, die zusammen kommt, um Tänze, Scenen etc. aufzuführen.
Das traurigste Fest dieser Art, das die Geschichte kennt, wird aus der Regierung Karl’s des Sechsten von Frankreich erzählt. Bei einer Hochzeit, welcher der Hof beiwohnte, verkleideten sich der König und fünf Herren seines Gefolges als Wilde. Sie trugen Kleider von Leinwand, die mit Pech getränkt war; darauf waren Haare von Werg geleimt. Unvorsichtiger Weise nahte sich eine Fackel den Masken und steckte sie in Brand. Bald stand die ganze Truppe in Flammen, und ein Schrei des Schreckens durchtönte den Saal. Eine Dame vom Hofe rettete den König, indem sie ihn mit ihrem Mantel bedeckte, aber der König verfiel in Folge der Aufregung in Wahnsinn, von dem er nie wieder geheilt wurde. Mit Ausnahme eines Einzigen, der Geistesgegenwart genug hatte, um sich in eine Wassertruhe zu stürzen, starben alle übrigen Theilnehmer an dieser Maskerade unter den gräßlichsten Schmerzen. Die Tanzmelodien wurden zum Requiem.
Einem gleichen unglücklichen Zwischenfalle hatte Scarron seine Verunstaltung zu verdanken. Bei einer Maskerade war er von Kopf bis zu Fuß in ein Federgewand gekleidet – mutwillige Menschen steckten es in Brand. Man will behaupten, daß er gar kein Kleid anhatte und daß die Federn des Vogels, den er vorstellte, mit Pech auf die bloße Haut befestigt waren. Um dem Feuer zu entgehen, warf sich der arme Teufel in das Wasser. Kreuzlahm kam er heraus, was ihn aber nicht verhinderte, Mademoiselle d’Aubigné zu heirathen und durch sein ganzes Leben der lustigste Mensch seines Jahrhunderts zu bleiben.
Die Maskerade waren namentlich ein beliebtes Vergnügen der Höfe. In Shakespeare’s „Heinrich der Achte“ erscheint dieser bei einem Balle des Cardinals Wolsey als Schäfer verkleidet. Diese Figur als Schäfer, erinnert sie uns nicht an jene Fabel, in welcher der Wolf dieses Kleid wählt?
Noch drastischer im Contraste möchte für uns ein Ball am Hofe Karl’s des Neunten von Frankreich sein, der uns durch eine Darstellung eines zeitgenössischen Malers erhalten worden ist. Der Monarch und alle seine Hofleute sind auf diesem Bilde in Costümen
[169][170] der bekannten komischen venetianischen Masken dargestellt. Der finstere, fanatische Herzog von Guise figurirt darin als Scaramuzzia, der Herzog von Anjou, der spätere ebenso weibische wie grausame Heinrich der Dritte als Harlekin, der Cardinal von Lothringen als Pantalon, Katharina von Medicis als Columbine, und der allerchristlichste König erscheint in der Maske des Brighella. Das Gewand des ausgelassensten Muthwillens an diesen Menschen, die mit Feuer, Gift und Dolch ihre unheilvollen Pläne verfolgten!
Wie die Masken von einer dichterischen Kunstübung ausgingen, so mündeten die Maskeraden wieder ebendahin: aus ihnen entwickelte sich die moderne Oper. Zuerst verband man mit den Maskeraden mythologische Darstellungen, Tänze, dann traten Personen auf, welche sprachen oder sangen, es wurden die Chöre eingeführt, kurz die ganze Oper ist in diesen Anfängen deutlich erkennbar. Noch im vorigen Jahrhundert trugen die Tänzer auf dem französischen Operntheater Masken, und es war gar nicht so selten, daß Leute aus der Gesellschaft und selbst Herren vom Hofe sich unter die Tänzer mischten und sich vom Publicum Beifall zuklatschen ließen. Selbst ein Helvetius hat sich in seiner Jugend dieses Vergnügen gar oft erlaubt.
Die Palais und die Straßenecken waren lange Zeit die einzigen Orte, wo sich die Maskeraden versammeln konnten. Was man heutzutage einen Maskenball nennt – diese Form öffentlichen Vergnügens datirt erst aus der Zeit des Regenten. Philipp von Orleans war bekanntlich, was das Amüsement anbelangt, nichts weniger als intolerant. Er fand gar kein Bedenken darin, dem Carnevalsscherz ein Local zu eröffnen, ihn gleichsam salonfähig zu machen, und die Oper in Paris erhielt von ihm die Erlaubniß, in ihren Räumen maskirte Bälle zu geben. Damit aber die Maske nicht zum Vorwand rohen Treibens mißbraucht würde, war der Eintrittspreis ein so hoher, daß nur Leute aus der besten Gesellschaft daran teilnehmen konnten. Die Folge davon war, daß die grotesken Farcen aufhörten. An Stelle der Charaktermaske trat der Domino. So grobkörnig auch früher die Carnevalsscherze gewesen waren, so hatten sie doch noch eine gewisse Summe naturwüchsiger Volkskomik repräsentirt. Das hörte nun ganz auf.
Von Frankreich aus haben sich die Maskenbälle über die ganze Erde verbreitet. Ihr Treiben beginnt mit dem Ende der zwölf heiligen Nächte und verstummt vor der ersten Mahnung des Aschermittwochs. Am üppigsten stehen sie noch immer in Italien im Flor, von wo her auch die typischen Figuren stammen, die noch heute alle Faschingsbälle der Welt bevölkern, die Columbinen, der Harlekin, Domino etc.. In Italien spielt auch die Scene unseres Bildes, das uns in das Garderobezimmer einer Carnevalmaskerade führt. Da kommt sie eben hereingetänzelt, die kokette Bürgers- oder Kaufmannstochter von Venedig – denn hier hat der Maler des Bildes seinen Wohnsitz –, den säumigen Liebhaber, welcher so unausstehlich langsam Toilette macht, in neckischer Weise zum Aufbruche mahnend. Ertönt doch schon längst die lockende Musik aus den maskenerfüllten Sälen. Nun nur noch ein Ruck – und der Amatore hat den Arm glücklich im Rock, und dann schreiten sie, ein stolzes Paar, durch das bunte Volk der Masken, von Saal zu Saal.
Es ist doch ein eigener Zauber, der Zauber der Maske! Wie kommt es, fragt sich der Einsichtige, der den Gang der Zeiten nach ihrem inneren Treiben beobachtet, wie kommt es, daß sich der Gebrauch der Masken, die doch nichts als eine Aeußerlichkeit sind, so lange durch die Jahrhunderte und durch die ernsten und trübsten Zeiten erhalten konnte? Die Antwort wird auf psychologischem Gebiete zu suchen sein: in dem Bestreben der Mehrzahl der Menschen – für etwas Anderes gehalten zu werden, als sie in der That sind!
Doris hätte niederstürzen mögen, aber sie hielt sich aufrecht. Es kam jetzt – gegenüber der herben Begegnung, die sie in ihren Gedanken nicht verdient hatte – die Energie des verbissenen Schmerzes über sie. Mit festem, energischem Schritte nahm sie den Weg nach dem Zimmer, in welchem das Kind mit dem Mädchen schlief. Beide lagen im leisen Schlafe. Die Lampe war tief herabgeschraubt, und der grüne Schirm warf auf das Kind einen gedämpften Schein, der, wie es dem Reflex von Grün eigenthümlich, Liddy mit einem rosigen Schimmer verklärte. Doris nahm sich nicht die Zeit den Mantel abzunehmen. Sie beugte sich über das Bettchen und beobachtete die tiefen Athemzüge ihres Kindes.
Das blonde seidene Haar Liddy’s begann sich schon in Löckchen über der Stirn zu kräuseln; der zarte Mund war halb geöffnet und ließ zwei kleine Zähne sehen; das eine Händchen lag unter dem vollen Kinne – Liddy glich ihrem Vater in dem blonden Haar, in dem Schnitte der Nase und des Mundes, sogar in der Form der Nägel an den kleinen Händen. Doris glaubte in dem Kinde das Bild Erich’s zu sehen. Alles, was sie dem Gatten hatte vertrauen wollen, drängte über der Wiege mit erneuter Gewalt zum Aussprechen und sprengte die Bande, die sich um ihr Herz gelegt hatten. Erfaßt von einer Eingebung erhob sie sich, um das Zimmer zu verlassen. Allen Trotz, alles selbstsüchtige Gefühl von sich werfend, war sie auf dem Wege nach Erich, um sich rückhaltslos an sein Herz zu werfen und nicht eher wieder von ihm zu gehen, als bis er wieder seine liebewarmen Arme um sie geschlungen hätte.
Da hörte sie seine Thür gehen – seine Schritte nahmen die Richtung treppabwärts. Sie stürzte in den Salon, von dem aus sie nach der Straße sehen konnte. In Hut und Regenmantel ging er durch den Vorgarten, schloß diesen ab und verschwand auf der Straße. Sie war allein. Keine Frage, wohin er gegangen, keinerlei Verdacht stieg in ihr auf – nur die schmerzliche Empfindung überfiel sie plötzlich, daß sie ohne ihn war. Quälende Unruhe trieb sie zurück an das Bett des Kindes. Und was sie hier innerlich durchlebte, das waren Augenblicke der Selbstprüfung. Abgewandt allem Aeußern, zählte sie die Minuten nicht, die, zu Stunden werdend, über sie hinflogen – ihr innerer und äußerer Blick war auf das Kind gerichtet, das ihr Richter ward. War nicht die Schuld des Gedankens, deren sie sich Erich gegenüber zu zeihen hatte, durch eine andere und größere längst vorbereitet? Hatte sie ihren Mann geliebt, wie ein Weib denjenigen lieben soll, der ihr sein Leben gegeben hat, seine Ehre, sein Gut, seine Kraft, Herz und Gedanken – Alles, was ein Mann einem Weibe zu geben hat? War er ihr seit ihrer Verbindung das Erste und Höchste auf der Welt gewesen, hatte sie zu ihm fest im Herzen, stark im Gedanken gestanden, nur das suchend, was er wollte, mit zartem Verständniß ihn stützend, mit treuer Sorge ihn begleitend, nie an sich selbst denkend, ihren Willen, ihre Neigungen, ihre Launen seinem besseren Ermessen unterordnend, nichts für sich begehrend, Alles für ihn, nichts liebend, außer was er liebte, sich selbst wollend und sehend nur in ihm allein?
Das Kind bewegte das Händchen, als gäbe es eine Antwort. „Nein,“ schien es zu sagen, „so hast Du mich nicht geliebt!“ Aus Doris’ Augen stürzte ein Thränenstrom. Sie riß das Kind aus dem Schlafe und drückte es leidenschaftlich an ihre Brust, sodaß Liddy zu weinen anfing.
„Was ist denn geschehen, Doris?“
Es war Erich’s Stimme, die so fragte. Doris hätte vor Freuden aufjauchzen mögen, daß er wieder bei ihr war. Eine einzige Bewegung deutete ihm den Zustand ihrer Seele. Aber er wies auf das Kind.
„Laß’ es schlafen!“ sagte er kurz, fast herb.
Wie Frost wirkte diese Bemerkung auf Doris. Sie wandte sich nicht ihrem Manne zu, sondern bettete das Kind wieder auf sein Lager.
„Ich glaubte Dich schon längst zu Bett, Doris.“
„Ich konnte nicht schlafen, Erich. Es ist fast schon ein Uhr; Du warst fort, und ich ängstigte mich um Dich.“
„Ich fand ein Billet des Ministers vor, das mich zu ihm [171] rief. Eine sehr wichtige Sache – darum mein Ausgang, mein längeres Fortbleiben.“
„Ein Wort, Erich – und ich wäre beruhigt gewesen.“
„Warst Du je um mich beunruhigt?“ fragte er bitter. „Es war ja eine eilige Sache.“
„Ich tadele Dich auch nicht, Erich. Ich bin zufrieden mit Allem, was Du thust.“
Er warf einen überraschten Blick auf seine Frau, denn diese ergebene Stimmung an ihr war ihm neu. Dann aber ging er nach einer hingeworfenen Frage über das Befinden des Kindes mit kurzem. „Gute Nacht!“ hinaus.
Vielleicht hätte sich sein Herz ihr milder, weicher erwiesen, wenn nicht etwas Anderes, Neues dasselbe schwer bedrückt hätte.
Erich war, wie er bereits bemerkt hatte, vom Minister ein Billet zugegangen, das er in sein Zimmer eintretend auf seinem Schreibtische fand. Der Inhalt hatte ihn noch an demselben Abende zu seinem Chef berufen, so spät es auch sein möge. Er leistete dem Rufe Folge und machte sich auf den Weg.
Es war kurz vor zwölf Uhr, als er beim Minister eintrat. Derselbe empfing ihn mit großer Freundlichkeit und mit jenem Schmunzeln, hinter dem sich bei großen Herren stets eine Ueberraschung zu verbergen pflegt.
„Ich weiß Alles,“ sagte er im Eintreten zu Erich. „Sie sehen, mein College, der Justizminister, war mit seinen Weisungen an die Criminalbehörde nicht lässig.“
„Ja, das muß ich sagen,“ bemerkte Erich. „Ich war von der Reise zurückgekommen, aus dem Eisenbahncoupé heraus zu Excellenz geeilt, um meinen Bericht zu erstatten – von hier nach Hause, um Frau und Kind zu begrüßen – “
„Frau von Rechting geht es gut?“
„Wenn eine Frau bei einem Feste ist, geht es ihr immer gut,“ bemerkte der Assessor mit scherzendem Tone.
„Frau von Rechting zürnte mir wohl, daß ich ihr ihren Mann entführte?“
„Um so glücklicher war sie, Excellenz, als ich zurückkam.“
„Man freut sich, eine so glückliche Ehe zu sehen, wie die Ihre. Bei welchem Feste war sie denn?“
„Meine Frau war bei Wandelt’s eingeladen.“
„Welch ein Zusammentreffen!“ rief der Minister.
„Und ich kam, sie von dem Gartenfeste abzuholen.“
„Noch besser!“
„Dort, Excellenz, bewunderte ich eben die Exactität, mit der unsere Vollzugsorgane arbeiten. Ich war ganz erstaunt, als ich, im Garten angekommen, schon auf einen der Criminalbeamten stieß. Seit meiner Rückkehr von der Reise waren kaum zwei Stunden vergangen.“
„Die Sache erklärt sich daraus, daß auf Ihren Chiffrebericht, den Sie mir sandten, hier Alles vorgesehen war. Sie haben dem Vaterlande, mein lieber Rechting, einen großen Dienst geleistet. Vielleicht haben Sie demselben einen Krieg erspart.“
„Die Anerkennung, Euer Excellenz, gebührt nicht mir, sondern dem Manne, der Ihnen die Anzeige gemacht und das kostbare Schriftstück in Ihre Hände zurückgegeben hat.“
„Ja, ja, Herr Warbusch! Es kam mir zu Statten, daß der Mann keine Ressorts kennt,“ sagte der Minister lachend hinzu, „und mir die Sache zur Anzeige brachte, statt dem Kriegsminister. Wer weiß, was geschehen würde, hätten unsere Nachbarn den Plan in die Hände bekommen! In dieser Beziehung war die Entdeckung von unberechenbarem Werthe. Ihr Verdienst halte ich dabei aufrecht, wenn Sie dasselbe auch schmälern wollen. Durch Ihren Scharfsinn, Ihren Eifer, durch Ihre Hingebung an die Sache haben Sie mir alle Maschen dieses Netzes von Verrath an die Hand gegeben. Ich mußte Beweise in Händen haben, um auf die Nachbarregierung eine Pression üben zu können. Quos ego! Und dieses Material haben Sie mir, lieber Rechting, durch Ihre Reise geliefert. Ich danke Ihnen. Um Ihnen aber einen Beweis zu geben, wie unzufrieden ich mit Ihnen bin, theile ich Ihnen mit, daß, nach einem Uebereinkommen mit dem Justizminister, Sie zum Staatsanwalt am hiesigen Orte ernannt worden sind.“
„Excellenz!“
„Der Fall Lideman soll Ihr erstes Debüt als Staatsanwalt sein.“
Es entstand eine Pause. Als der Minister den Schirm der Lampe in die Höhe schob, um an dem jungen Beamten den Eindruck seiner Freudenbotschaft zu beobachten, bemerkte er in den Mienen Rechting’s den Ausdruck der Bestürzung.
„Nun, lieber Rechting, Sie haben mir gar nichts darauf zu antworten?“
„Ich bin Euer Excellenz unendlich dankbar. Eine so hervorragende Stellung – es ist Alles , was ich mir nur wünschen konnte – “
„Aber?“ setzte der Minister in gedehntem Tone hinzu.
„Ich habe zu dem Verhafteten in persönlichen, geselligen Verhältnissen gestanden, und ich wünschte wohl, Eure Excellenz, daß gerade dieses Debüt mir erspart bliebe.“
„Um so mehr müssen wir darauf bestehen. Kein Anderer wäre wie Sie in der Lage, diese zum Mindesten dunkle Persönlichkeit zu beurteilen und hier werden Sie gleich eine glänzende Gelegenheit haben, Ihre Objectivität zu zeigen. Ein Vertreter des öffentlichen Rechtsbewußtseins muß an der Stelle, wo andern Menschen das Herz schlägt, das Strafgesetzbuch haben. Ich kannte aus meiner Praxis einen Staatsanwalt, der in zärtlichen Momenten zu seiner Frau sagte. ‚Ach, könnte ich Dich doch einmal anklagen!’“
Bei dieser scherzhaften Erwähnung vermochte Erich eine innere Bewegung nicht zu bemeistern. Er mußte an Doris denken, und damit verband sich gleichsam visionär eine Vorstellung wie von schmerzlichen Erfahrungen und schweren Conflicten, welche die freudige Stimmung verdüsterten, in die ihn sonst seine Beförderung versetzt haben würde.
Beim Abschied bemerkte der Minister ihm noch, daß er in den nächsten Tagen seine Functionen zu beginnen habe.
Am Tage nach jener Unterredung befand sich Rechting bereits in voller Arbeit. Seine Beförderung hatte er seiner Frau erst am nächsten Tage mitgetheilt, aber zur Mitwisserin der inneren Kämpfe, mit denen er an seine Aufgabe ging, machte er sie nicht. Doris war still in sich verschlossen, nicht unfreundlich. Sie gab sich offenbare Mühe, das, was trüb und schwer in ihrem Herzen war, durch eine leichte Miene zu verhüllen. Mit dieser nahm sie auch die Nachricht auf; sie erschien froh, weil sie wußte, daß eine derartige Stellung längst in Erich’s Wünschen lag. Dann aber ward es wieder stille zwischen den Gatten. Das Wort, das den Alp von ihrem Herzen nehmen sollte, wurde nicht gesprochen. Jedes erwartete von dem Andern den Anlaß dazu. Und Jedes scheute sich, zu beginnen.
Um so eifriger ging Erich an das ihm übertragene Werk, und im Laufe der Untersuchungen kam er auf Details, die ihm die mündliche Auskunft des alten Buchhalters nothwendig erscheinen ließen. Er suchte diesen Mittags zu einer Zeit, wo er wußte, daß der Alte nicht in seinem Comptoir war, in der Wohnung auf. Vielleicht sprach bei diesem Gange auch das Bedürfniß mit, sich nach Regina umzusehen. Seit seiner Rückkehr war sie nicht mehr bei ihm erschienen, hatte auch nichts von sich hören lassen. Er klopfte an ihre Thür; diese war verschlossen, auch keine Antwort erscholl von innen. Dagegen fand er Warbusch in seinem Stübchen. Diesen forderte er auf, sämmtliche Geschäftsbücher an die Staatsanwaltschaft auszuantworten. Möglicher Weise fänden sich in denselben Aufschlüsse über die Summen, die Lideman für seine Dienste von der Nachbarregierung bezogen hatte.
„Ich werde die Bücher des Bankvereins amtlich requiriren lassen, wie sich das von selbst versteht, Herr Warbusch. Der Zweck meines Kommens ist das Ersuchen, daß Sie Alles bereit halten möchten, damit die Sache selbst keine Zögerung erleidet.“
Wenn Warbusch mit seinen Händen auf den Knieen rieb, so war das ein Zeichen der Verlegenheit. Er that es auch jetzt und wiederholte mit gedehntem Tone:
„Amtlich, Herr von Rechting?“
„Sie werden diesen Abend im amtlichen Anzeiger meine Ernennung zum Staatsanwalt finden.“
Warbusch machte eine Miene der Ueberraschung. Es war derselben noch der Ausdruck einer andern Regung beigemischt, sodaß sich Rechting veranlaßt fand, nach der Ursache dieser auffallenden Erscheinung zu fragen. Warbusch machte Ausflüchte. Die Ursache seiner Ueberraschung sei die Freude darüber gewesen, daß hier einem Manne wieder einmal dasjenige würde, was ihm [172] von Gott und Rechtswegen gebühre. Weiter brachte der Beamte nichts aus dem Alten heraus.
Indem Rechting sich verabschiedete, fragte er nach Regina; die Thür unten sei verschlossen.
„Wenigstens zehnmal habe ich schon geklopft – mit gleichem Resultate, wie Sie, Herr von – Herr Staatsanwalt.“ Dann erzählte er, daß die Wirthin des Hauses, wie sie ihm gesagt, Regina zum letzten Male vorgestern Abend gesehen habe. Tief eingehüllt in ihren schwarzen Mantel, die Kapuze über das Gesicht gezogen, sei sie noch spät ausgegangen, wie das sonst ihre Gewohnheit nie gewesen. Fast unheimlich habe sie der Ton der Stimme berührt, mit der ihr Fräulein Regina „Gute Nacht“ gesagt habe.
Warbusch schloß mit der Aeußerung der Befürchtung, es möchte ihr etwas zugestoßen sein. Rechting schüttelte dagegen den Kopf. „Sie kennen doch unsere Freundin genugsam – sie hat ihre Eigenthümlichkeiten. Sie wird so unvermutet wieder eintreffen, wie sie gegangen, und ihre Aufklärung über die Abwesenheit wird eine sehr einfache sein.“
„Möchte es sein, wie Sie sagen, Herr von Rechting! Ich muß Ihnen beichten, daß ich eine namenlose Angst in mir trage. Das kommt davon, wenn sich ein so alter Esel, wie ich, an eine Person so attachirt, wie ich es mit Fräulein Regina getan habe. Wenn Sie wüßten, wie ich mich darüber oft ärgere! Glücklich ist nur der, der frei – und frei, wer sein Herz an kein menschliches Wesen hängt. Ich habe mich immer gefürchtet, mir einen Pudel anzuschaffen – und nun passirt mir das mit Fräulein Regina! Die Steuermarke wäre allerdings erspart – aber seit achtundvierzig Stunden ist Fräulein Regina weg!“
Beim Abschied rief Rechting dem alten Manne noch einmal den Zweck seines Kommens in’s Gedächtniß. Dann verabschiedete er sich. An Regina’s Thür horchte er wieder. Alles still.
„Sie werden sehen, Sie werden sehen,“ rief ihm Warbusch oben von der Treppe nach.
Dem alten Manne hatte die Anwesenheit Rechting’s eine achtbare Zurückhaltung auferlegt. Als dieser jedoch verschwunden war und er sich allein sah, fielen die Fesseln derselben. Seine innere Bewegung war so stark, daß sie ihren Ausdruck in einem lauten Selbstgespräch fand. „Den Proceß wird er selbst führen, der Herr Staatsanwalt! Welche Verstrickung der Dinge! Wird er es wirklich thun, auch wenn er sehen muß, daß seine eigene Frau – –? Die Bücher will er sehen – ja, ich muß sie ihm bringen lassen aber was der Herr Principal mir vor wenigen Tagen noch aufgetragen, es muß auch geschehen.“
Im Laufe des Tages ward Rechting auf amtlichem Wege das Ansuchen Lideman’s um eine Unterredung mit ihm mitgetheilt. Unter anderen Umständen hätte Erich dasselbe abgewiesen, so aber verlangte die Pflicht seines Amtes, daß der Staatsanwalt dieser Bitte genügte. Wie schwer wurde ihm dieser Weg nach dem Gefangenenhause! Wie eine trübe Ahnung lag es auf ihm. Aber Rechting war nicht der Mann, der einen gefaßten Entschluß aufgab – eine gegebene Zusage zurückzog. Die Begegnung sollte in dem Bureau stattfinden, welches der Staatsanwalt in dem Gebäude inne hatte.
Es war die erste schwere Stunde, welche der Vertreter des öffentlichen Rechtsbewußtseins mit seinem Herzen zu bestehen hatte. Der Mann, der nun vor ihm erscheinen sollte, war der Gegenstand seiner tiefsten sittlichen Empörung und des höchsten Grades von Abscheu geworden, den er gegen ein menschliches Wesen zu empfinden fähig war.
Aus Bosnien. (Mit Abbildung S. 161.) In manchen Gegenden der Herzegowina und – wohin die „Gartenlaube“ ihre Leser bereits im vorigen Jahrgang (S. 678) geführt hat – Bosniens lebt der arme, gemeine Mann kaum besser als das Stallvieh unserer Bauern. Vier Wände aus rohen Holzbalken mit Lehmfachwerk ausgefüllt, gedeckt durch ein Dach von Stroh und Rasen, bilden die gemeinschaftliche Wohnung für Menschen und Vieh; sie sind Küche, Stall, Schlafstube und Fruchtboden zugleich. Entweder ist in der Mitte ein freier Herdplatz ohne Rauchfang, oder an der Seite ein solcher mit Kamin. Wohlhabendere Leute – ich rede hier übrigens nur von den Häusern christlicher Bewohner – haben ihr Haus, das unter Umständen auch mit Ziegeln oder in bergigen Gegenden mit platten Steinen gedeckt ist, in zwei Räume getheilt. Während der hintere Raum, das Staatszimmer, mehr für das weibliche Geschlecht bestimmt ist, dient der vordere mit dem Herdplatze zum gewöhnlichen Aufenthalt der Familie. Ueber dem Feuer hängt der große eiserne Kochkessel mit der ständigen Speise der Bosniaken, der Mamalika, die auf sehr primitive Art aus dem türkischen Weizen (Kukuruz) bereitet wird. Bei besonderen Gelegenheiten wird dieser Maisspeise noch Fleisch hinzugefügt, Schweinefleisch oder geröstete Hammelfüße; ein noch festlicheres Essen bildet der Pilaff, ein Reisbrei mit Hammel- oder Hühnerfleisch.
Abends sammelt sich die ganze Familie mit den etwa eingekehrten Nachtgästen um den Herd, die Männer ruhig und würdig den Tschibuk rauchend. Hat nicht vielleicht ein fremder Gast neue Nachrichten über Krieg, Politik oder ein anderes interessantes Thema mitgebracht, durch die er eine längere Unterhaltung anregt und belebt, so bereitet sich bald Einer nach dem Anderen das Nachtlager, das heißt er breitet ein Lammfell oder eine Decke als Unterbett in der Nähe des erwärmenden Feuers aus, hüllt sich in einen Teppich und träumt von Krieg und Vogelfang, von Mamalika und Steuern.
Der civilisirte Reisende, der in ein Dorf einkehrt, in dem sich keine Herberge oder Wirthschaft befindet, quartiert sich selbst oder durch Vermittelung der Dorfbehörde in eins der besseren Häuser ein. Ihm wird, wenn man bei ihm aus seinem Aeußeren auf viele paras (Geld) oder Geschenke schließen kann, die zweite, die Staatsstube, zum Nachtquartier eingeräumt. Für alle Bequemlichkeiten freilich, die er genießen will, muß er selbst sorgen.
In der Staatsstube steht ein großer Thonofen, der von dem Herdplatze im vorderen Raum aus geheizt wird. In der einen Wand befindet sich gewöhnlich ein mehr oder weniger kunstvoll aus Holz geschnitzter Wandschrank mit dem Hauspatron, dem Schutzheiligen der Familie (slava). Manchmal sieht man auch ein Bild der heiligen Jungfrau oder andere Heiligenbilder, meistens Geschenke durchreisender Fremden. Von der Decke herab hängen die besten Exemplare der letzten Maisernten, entweder durch ungewöhnliche Größe oder bunte Farbenzeichnung merkwürdig, auch Kränze und Sträuße aus Aehren, die dem heiligen Ivan, der das Haus vor bösen Wettern schützen soll, geweiht sind. Ein oder zwei Fenster, das heißt Löcher in der Wand, die mit geöltem Papier verklebt sind, erhellen nothdürftig das Zimmer.
Nicht so dürftig, wie die der Rajahs (Christen), sind die türkischen Wohnungen eingerichtet. Dieselben sind fast durchgängig zweistöckig und meist mit Ziegeln gedeckt; in den Stuben kann man aufrecht stehen. Das untere Stock ist nur zum Theil zu Ställen ausgebaut; der übrige Theil bildet einen freien Raum, der den Bewohnern und einkehrenden Fremden zum Unterstellen der Pferde dient. Zum oberen Stock, der auf der vorderen Seite einen veranda-ähnlichen Vorbau besitzt, führt eine äußere Treppe. In mohammedanischen Häusern befindet sich immer ein Harem oder Haremlik, eine für das schöne Geschlecht abgesonderte Stube, deren Fenster mit eisernen oder hölzernen Gittern versehen sind. An einer oder zwei Wänden entlang sind in den Zimmern Divans angebracht, auf die man sich aber im Vertrauen auf orientalische Weichlichkeit nicht zu heftig niederlassen darf. Es sind lange Bretterkasten mit ziemlich harten Heumatratzen und bunten dünnen Teppichen belegt.
Die erste Zeichnung, welche diese Nummer schmückt, eine werthvolle Arbeit Professor Zverina’s, der in den türkischen Donauprovinzen interessante Studien gesammelt hat, zeigt uns ein türkisches Wirthshaus, ein „Han“, in Bosnien, das von einer Abtheilung bosnischer und herzegowinischer Insurgenten besetzt ist.
Rechts ist das Hauptwohngebäude mit dem Haremlik; zu der Veranda führt eine primitive Treppe empor, und ein kleiner Vorbau schützt die Eingangsthür in den oberen Stock gegen Wind und Wetter. In der Mitte, durch den aus schweren Balken errichteten Fruchtboden etwas unserem Anblicke verdeckt, befindet sich das gewöhnliche Zimmer mit dem Herdplatze, das jedem Fremden zur Einkehr offen steht. An den Boden ist ein kleines mit Holzschnitzereien verziertes Minaret (eine Art Capelle) angebaut, sicher der Stolz und die Hauptzierde des Hauses. Im unteren Stock, unter der eigentlichen Familienwohnung, sind die Ställe angebracht. Aus der Dachfirst heraus hängt an einer Stange ein rundes Korbgeflecht, das zum Vogelfang benutzt wird (vergleiche Jahrgang 1874, Nr. 29). Die Holzpritsche vor dem Hause dient in geregelten friedlichen Zeiten einem Verkäufer zum Sitze und zur Niederlage seiner Waaren.
Die kleine Insurgentenschaar, welche einen Viehtransport mit sich führt, hält hier ihre Mittagsrast. Auf dem Djebenak vor dem Hause sitzt, durch einen ausgespannten Teppich gegen die Strahlen der Sonne geschützt, der Anführer der Bande und empfängt den Bericht einer Streifpatrouille. Es ist schwüles Wetter; die aufgestellten Posten halten sich mit Mühe wach, fest auf die lange Flinte gestemmt, damit sie nicht umfallen; die armen Posten auf dem Dache befinden sich in einer wenig beneidenswerten Lage, und der Herzegove, dem die Aufsicht über das Vieh anvertraut ist, möchte sich am liebsten zu den Schweinen legen, die er mit neidischen Blicken betrachtet. Die übrigen Leute schlafen, auf dem Rücken oder – was sie nach der Mahlzeit gern thun – auf dem Bauche liegend. Ein Faulpelz hat sich sogar unter der Pritsche mit dem Leibe in den kühlen Sand eingerammelt; vielleicht denkt er auch dadurch der Aufmerksamkeit des Feldherrn zu entgehen, der es von Zeit zu Zeit für seiner Würde angemessen hält, einen wenn auch unnöthigen Befehl zu geben, damit die Disciplin nicht gelockert wird.
Da meldet der Posten auf dem Dache, daß er auf dem Kamme eines nahen Berges eine Patrouille österreichischer Ulanen bemerkt. Die Schlafenden werden geweckt, die Teppiche und das Kaffeegeschirr des Commandanten wieder auf das Saumpferd gepackt, und Rinder und Schweine aus ihrer behaglichen Ruhe aufstörend, setzt sich die kleine Raubschaar in Bewegung, um an einem sichereren Platze das Nachtquartier aufzuschlagen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Sprengtechniker Mahlmann, siehe Berichtigung