Die Gartenlaube (1879)/Heft 11

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 11. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Das Haus in der Schlucht.
Von Balduin Möllhausen.
(Fortsetzung.)


„Ja, Kordel, in’s Gerede hat man Dich gebracht,“ fuhr Bertus fort, „und am wenigsten durch Deine Schuld; es ist besser, ich verrath’s Dir. Wenn Du’s weißt, kannst Du Dich darnach richten. Die Leute meinen nämlich, es sei ein Jammer, daß Du um des Geldes willen die Frau Jemandes würdest, der nicht nur beinah dreimal so alt, wie Du selber, sondern der auch vom Kopf bis zu den Schuhsohlen herunter nicht so viel werth ist, wie ein einziges Härlein, mit welchem der Wind auf Deiner Stirn spielt.“

„Der Klaas?“ fragte die Kordel entrüstet, „wer hat solche Schande über mich hinausgeschrieen?“

„Er selber, Kordel; gerühmt hat er sich, daß Du und Dein Vater nicht ohne ihn leben könntet; daß schon oftmals ein Fünfzigjähriger ein halbes Kind gefreiet habe, und daß er der Mann sei, frisches Leben in die Schlucht zu bringen, aber auch den Eigensinn Jemandes zu brechen, der sich besser dünke, als andere Menschen. Mochte wohl zu tief in’s Glas gesehen haben, daß er so unehrerbietig sprach.“

„Kann ich auf die Wahrheit Deiner Mittheilungen bauen?“

„So sicher, wie auf meine Hand hier am Steuer.“

„Warum verriethest Du mir das nicht früher?“

„Weil ich fürchtete, Dir entgegen zu sein. Wer konnte wissen, ob’s Dir und Deinem Vater nicht recht, daß der Klaas es in Umlauf setzte, damit es den Leuten später nicht unerwartet komme?“

„Und das hast Du für möglich gehalten, Bertus?“

„Je nun –“ erwiderte er ausweichend, „um Deinetwillen hätte ich wenigstens wünschen mögen, es möchte nicht an dem sein; denn ich kenne ihn. Ob er mich nicht erkannte, oder nicht erkennen wollte, ich ahn’s nicht, und ich selber hatte keine Lust, sein Gedächtniß aufzufrischen. Bin nämlich an Bord desselben Schiffes mit ihm gesegelt, jedoch nur kurze Zeit. Er galt für einen Schurken, dem Niemand über den Weg traute. Woher er jetzt sein Geld hat – und er soll mächtig viel ausgeben – mag Gott wissen.“

„Auch das verheimlichtest Du?“

„Ja, ich verheimlichte es. Wenn der Klaas Dein Mann werden sollte, wär’s ’ne Niedertracht von mir gewesen, ihn und damit auch Dich in den Staub zu ziehen. Mir hätt’s nicht geholfen, Dir aber geschadet, und dazu – nun, Kordel, dazu hatte ich Dich –“ er brach ab. Durch einen kaum bemerkbaren Druck des Steuers machte er es nöthig, sich mit der Segelleine zu beschäftigen.

Kordel beobachtete ihn ruhig. Aber in ihren Augen glühte es, als wolle es in hellen Flammen emporlodern. Sobald das Boot wieder stetige Fahrt gewonnen hatte, hob sie an:

„Sprich es immerhin aus, Bertus – Du hattest mich zu lieb, um mir Schlechtes zu gönnen, und darüber ließest Du noch Böseres auf mich hereinbrechen. Das aber mußt Du wieder gut machen, so viel es in Deinen Kräften steht. Willst Du das?“

„Sage, was ich für Dich thun soll, Kordel, und es geschieht, so wahr Gott mir helfe.“

„Gut, Bertus. Wenn Du also hörst, daß Jemand meinen Namen zusammen mit dem des Klaas in den Mund nimmt, so kläre ihn auf! Sage, Du wüßtest es von mir selber. Beschwöre, ich würde mich lieber von den nächsten Klippen in die Brandung hinabstürzen, bevor ich das Weib eines Mannes würde, der mir Abscheu einflößt. Und woher er sein Geld nimmt? O, meines Vaters Geld ist’s, das er verschwendet, und doch können wir, um meinen Vater zu schonen, nicht mit Gewalt gegen ihn einschreiten. Denn Schweres lastet auf dem armen Manne, und ich möchte weinen bei seinem Anblick.“

„Ich will versuchen, den Leuten Alles auszureden,“ versetzte Bertus dumpf, „aber die Menschen haben ihre Lust am Schlechten; sie werden’s trotz meiner Schwüre nicht glauben. Sie halten Dich für stolz und meinen, Du seist zu vornehm für einen ehrlichen Fischer.“

Kordel beobachtete wieder die regsamen Fluthen, wie sie schäumend an dem Boot vorüberglitten. So verstrichen wohl zehn Minuten. Kein anderer Laut war vernehmbar, als das Rauschen des Wassers vor dem scharfen Bug, und das Hauchen des Windes zwischen der dürftigen Takelage.

„Du magst Dich bereit halten,“ brach Bertus endlich das Schweigen; „ist Dir’s recht, so lande ich Dich gerade vor der Schlucht.“

Kordel kehrte sich um, und unter dem Segel hindurchspähend, sah sie nach dem Strande hinüber. Dann wandte sie sich erschrocken Bertus zu. Sie hatte auf dem Seitenabhange der Schlucht die Gestalten ihres Vaters und des verhaßten Klaas entdeckt. „Nicht vor der Schlucht,“ sprach sie leidenschaftlich", „weiter abwärts der Bucht zu, so weit, daß sie uns nicht sehen, wenn ich das Boot verlasse!“

Eine kurze Bewegung, und das Boot flog herum, so daß Bertus den beiden Männern den Rücken zukehrte. In Kordel schien ein Entschluß zu reifen; denn ihre Brauen rückten wieder [174] näher zusammen, während tiefes Roth sich über ihre lieblichen Züge ausbreitete.

„Die unsinnigen Nachreden müssen verstummen,“ sprach sie nach einer Pause, „und dazu giebt es nur ein sicheres Mittel. Mißtrauen die Leute Deinen Betheuerungen, so sage ihnen in’s Gesicht, Du wüßtest es besser! Sage ihnen, die braune Kordel sei nicht stolz, aber sie habe ihren eigenen Sinn. Sie würde keinen Andern heirathen, als Jemand, dem sie zugethan sei, unbekümmert darum, ob er ein vornehmer Rheder oder ein einfacher Fischerknecht. Zweifeln sie trotzdem, dann behaupte ruhig, die braune Kordel habe längst ihre Wahl getroffen.“

Sie athmete tief auf, und wie einer ihr Gemüth fast erdrückenden Last sich gewaltsam erledigend, stieß sie schnell auf einander die Worte heraus:

„Magst ihnen auch den Namen des Fischerknechtes nennen – ja, erkläre ihnen, es sei der bravste und ehrlichste Bursche weit und breit, und er heiße – heiße Bertus Seger – ja – Bertus, es ist mein Ernst – doch achte auf Dein Boot! Sieh da, das Segel flattert.“

Todtenbleich saß Bertus am Steuer. Er meinte falsch gehört zu haben und konnte nur glauben, daß er als Mittel zur Zerstreuung böswilliger Gerüchte dienen solle.

„Kordel,“ stotterte er, „auch das will ich sagen, schwer, wie es mir werden mag, aber sie glauben’s nicht. Nein, sie können’s nicht glauben – Kordel, strafe mich nicht so hart! Hab’s wohl verdient um Dich, aber ich bin ja vernünftig geworden seit dem verhängnißvollen Abend –“

„Ja, Du hast’s verdient um mich,“ bestätigte Kordel, und die hellen Thränen drangen ihr in die Augen, während ein herzliches Lächeln den Trotzeszug um ihre Lippen verdrängte, „Bertus, Du hast’s um mich verdient mit Deinem treuen Herzen, daß ich Deine Frau werde. Und daß es Dich an jenem Abend hinriß, daß Du mit mir sterben wolltest, gilt mir ebenso gut als Beweis Deiner Anhänglichkeit, wie die Geduld, mit welcher Du Dich in’s Unabänderliche ergabst, und mir Deine Freundschaft nicht entzogst, nachdem ich Dir die letzte Hoffnung genommen hatte. Damit aber alle Welt es erfahre, komme morgen zu meinem Vater und fordere mich zur Frau, und denjenigen möchte ich sehen, der mich zwingen wollte, Dir nicht zu folgen. Ich kümmere mich nicht um Geld und Gut. Hält mein Vater den Klaas höher als mich, so mag er ihm Alles geben und sich dadurch von ihm loskaufen! Deine Frau werde ich dennoch. Sind wir arm, so können wir arbeiten, wie Deine Mutter Deinem Vater geholfen hat, bis ihr die Kräfte versagten, will ich Dir helfen, bis mir’s Auge bricht.“

„Kordel, nimmer hätt’ ich’s gewagt, Dich noch einmal zu fragen,“ brachte Bertus nunmehr mühsam hervor, und das andringende Blut färbte seine braunen Wangen dunkelglühend, während es aus seinen Augen wie Verzückung leuchtete, „aber wenn Du’s selber sagst, Kordel, wär’s sündhaft, zu zweifeln – mir ist’s wie ein Traum – Kordel, wie’s Blut mir wild durch die Adern jagt – eben noch so elend, daß ich am Leben verzagte, und jetzt, Kordel, Kordel –“

„Nun ja, Bertus, aber beruhige Dich! Weißt Du doch, daß ich mich Dir versprochen habe, und das kann keine Macht der Erde lösen. Ja, Bertus, hier in dem Boot haben wir uns verlobt, ernstlich verlobt und wie verständige Menschen, nicht wie Schmetterlinge, die über den Blumen fliegen, sich küssen und ihre schönen Kleider hoffärtig zur Schau tragen. Unser Ja hält fester, als tausend Eide, die draußen in der Welt geschworen werden. Doch nun halt’ auf’s Land, damit ich hinausspringe!“

„Nur noch eine kurze Strecke!“ bat Bertus.

„Nicht weiter!“ fiel Kordel erröthend ein, „denn noch bin ich die eigensinnige braune Kordel. Wir sind jetzt weit genug; von der Schlucht aus sieht uns Niemand mehr.“

Bertus drehte einem Träumenden ähnlich das Steuer. Das Segel flatterte, und von einer krausen Dünung getragen streifte der Kiel des Bootes den Sand.

Kordel hatte sich erhoben.

„Lebe wohl, Bertus!“ sprach sie zärtlich, und ihren Arm um des jungen Mannes Hals legend, küßte sie ihn, „still, still! Bleib sitzen – ich gehöre jetzt Dir,“ und sie küßte ihn zum zweiten Male. Bertus ließ Segelleine und Steuer fahren und streckte beide Arme aus, um sie zu umfangen, als sie gewandt wie ein Eichhorn auf die Bank trat und, bevor die nächste Dünung das beinahe trocken liegende Fahrzeug wieder hob, auf den feuchter Sand sprang. Flüchtig eilte sie aus dem Bereiche der Wellen; dann kehrte sie sich lachend um.

„Auf Wiedersehen, Bertus!“ rief sie dem glücklichen Burschen zu, „richte Alles zum Besten ein! Je schneller ich bei Dir einziehe, um so lieber ist’s mir.“

„Kordel!“ hob Bertus wieder an.

„Fort, fort!“ unterbrach sie ihn, „oder möchtest Du dem Schiff den Boden eindrücken lassen? Was Du mir sagen möchtest, weiß ich, jedes einzelne Wort – auf Wiedersehen! Nun eile nach Hause und sage Deiner Mutter, wie’s mit uns steht!“

„Auf Wiedersehen, Kordel!“ rief Bertus, indem er seinen Südwester um’s Haupt schwang; „jetzt fürchte ich keinen Menschen mehr; ich hasse keinen, wünsche Niemand Schaden. Kordel, meine Kordel!“

Er hatte eine Ruderstange ergriffen und landwärts in den Sand gestoßen. Eine Woge rollte heran und hob das Boot. Indem sie zurückströmte, lehnte er sich mit voller Wucht auf die Stange; gleich darauf schwamm das Boot frei. Anfänglich langsam treibend, nahm es seine Richtung nach der Landzunge hinüber; dann schien etwas von den glücklichen Empfindungen seines Besitzers in dasselbe übergegangen zu sein, so lustig schoß es über die grauen Wellen dahin. Bertus aber in seinem Uebermuth drehte das Steuer, daß das Segel das Wasser beinahe berührte und die vor dem scharfen Bug sich teilenden Wogen feinen Sprühregen über ihn hinsandten. Und je schneller die Fahrt, je höher das Wasser empor spritzte, um so lustiger schwang Bertus seinen Hut. Was kümmerte es ihn, daß er sich längst im Gesichtskreise der Männer in der Schluchtmündung befand, deren Blicke argwöhnisch auf ihm ruhten! Mochten sie denken, was sie wollten. Die Wahrheit mußten sie bald genug erfahren, die schöne, glückliche Wahrheit, die er der ganzen Welt hätte zujubeln mögen.

Kordel blieb so lange auf dem Strande stehen, wie sie den Geliebten zu sehen vermochte, und so oft sie das Schwingen des Hutes entdeckte, ließ sie ihr Tuch grüßend hoch über ihrem Haupte flattern. Dann kehrte sie sich den Strandhöhen zu. Der beruhigende Zauber, welchen der Anblick des davon eilenden Bootes auf sie ausübte, war gebrochen, ihr Antlitz erhielt einen sorgenvollen Ausdruck, während sie sich auf einem Umwege der Schlucht näherte.




6.

Schon als Kordel das Boot bestiegen, welches sie heim tragen sollte, hatte Seiling sich zu seiner Warte auf dem Uferabhange hinauf begeben. In gewohnter Weise seinen düstern Betrachtungen nachzuhängen, hinderte ihn Klaas, der sich bald darauf zu ihm gesellte. Seiling hatte übrigens in den letzten Wochen stark gealtert.

„Da bringt der Lump die Kordel,“ sagte Klaas, indem er den Gefährten auf das im Wellentumult daher treibende Boot aufmerksam machte; „eine feine Art für ein junges Ding, mit einem verliebten Burschen die Woche ein paar Mal unbewacht zwischen Himmel und Wasser zu schweben! Deine Sache wär’s, dergleichen nicht zu dulden.“

„Die Kordel geht auf rechten Wegen,“ antwortete Seiling dumpf, „und ihr etwas zu verbieten – hm, dazu fehlt mir die Lust und – nun ja – der Muth.“

„So werde ich’s ihr vorhalten,“ versetzte Klaas mit tückischem Seitenblick auf Seiling, „sie muß von dem Häringsknecht lassen, sag’ ich Dir, und wenn ich darauf bestehe, so weiß ich warum.“

Seiling’s Antlitz verzog sich zu einen ungläubigen Lächeln.

„Ich will sie schon bekehren,“ fuhr Klaas höhnisch fort, „und Du bist der Mann, mir eine Hand dabei zu leihen. Ich hab’s jetzt satt, von ihr wie ein Landstreicher behandelt zu werden. Bietet sie mir doch kaum die Tageszeit, und trägt sie mir’s Essen auf, geschieht’s, wie wenn sie Lust hätte, mir Rattengift darüber zu streuen. Nein, Maat, so begegnet man keinem Freunde und obenein einem Verwandten des leibeigenen Vaters – hahaha! – ich meine des leibeigenen Vaters.“

„Ich Dir eine Hand leihen?“ fragte Seiling erbleichend. „Höre, Klaas, mit mir verfahre, wie Dir’s beliebt – und ich dächte, wenn’s lange so weiter geht, wirst Du bald genug ein Ende mit Allem gemacht haben – aber an die Ruhe der Kordel rühre nicht!“

[175] „Nun, steuerst Du nicht gegen den Strom, so hat alle Noth ihr Ende. Bei Gott, Mann, kein hartes Wort soll zwischen uns fallen, und daß die Kordel umgänglicher wird, ist meine Sache –“

„Satan!“ fuhr Seiling auf, „weißt Du, was Du verlangst?“

„Sollt’s wohl wissen, calculir’ ich,“ antwortete Klaas anscheinend sorglos, „ich verlange die Kordel zur Frau. Sie hat lange genug in Deinem Fahrwasser gekreuzt, um endlich auch einmal von mir in’s Schlepptau genommen zu werden.“

„Nimmermehr geschieht das,“ versetzte Seiling entschlossen.

„Und ’s wird doch geschehen,“ hieß es zurück, „entweder heute noch schaffen wir klar Deck in der Sache, oder ich verlasse Dein Haus, und was das bedeutet, weißt Du am besten. Ist Dir an Dir selber nichts gelegen, so steht’s um das Mädchen anders. Und ich calculir’, wenn Du’s Ankertau kappst und auf die eine oder die andere Art abtreibst, kenne ich erst recht Mittel, der widerhaarigen Kraft einen richtigen Curs vorzuschreiben. Du verstehst mich.“

Seiling fiel auf seinen Sitz zurück. Erschöpfung schien ihn zu übermannen.

„Thu’, was Dir beliebt!“ sprach er nach längerem Schweigen, „die Kordel will ich in ihrem Sarge sehen, bevor ich Deinen Plänen freien Weg gebe.“

„Ist das Dein letztes Wort?“

„Mein letztes Wort.“

Klaas zuckte die Achseln.

„So ist’s nicht meine Schuld, wenn’s über Dich sammt Deiner Kordel hereinbricht,“ erklärte er, sich abkehrend; „ich gehe jetzt, um im Kruge Quartier zu nehmen. Die Leute werden erstaunen, wenn sie hören, weshalb ich nicht länger meine Füße unter Deinen Tisch stellen mag,“ und bedächtig stieg er niederwärts. „Ei, sieh doch das junge Volk!“ rief er nach einigen Schritten. „Legt der Bursche sein Boot nicht um? Verdammt! Die möchten hinter dem Vorsprunge noch ein Liebesfest feiern! ’s wird ein schönes Erwachen sein heute Abend.“

Seiling blickte nach dem Boote hinüber. Indem er sich wendete, trat Kordel in seinen Gesichtskreis. Wiederum flackerte es wie Entschlossenheit in seinen Augen auf, um indessen ebenso schnell zu erlöschen. Ein wilder Kampf tobte in seinem Innern, ein Kampf zwischen dem Selbsterhaltungstriebe und der Angst um diejenige, die seinem Herzen am nächsten stand. Das Boot glitt hinter den Vorsprung. Seiling raffte sich empor. Klaas war bereits unten angekommen.

„Klaas!“ rief er ihm nach, „bleibe und überlege!“

„Hab’ Alles zehnmal übergeholt!“ antwortete Klaas, ohne seine Bewegung einzustellen, „entweder wir einigen uns heute, oder ’s giebt ein Unglück!“

In der nächsten Minute befand Seiling sich bei ihm.

„Mann,“ flüsterte er, ihn zitternd am Arm ergreifend, „was schreist Du’s in die Welt hinaus? Ist’s Dir nicht genug mit mir? Willst Du auch das Mädchen unter die Füße treten?“

„Nicht meine Schuld!“ versetzte Klaas achselzuckend; „’s könnte Alles klipp und klar sein, allein Du willst nicht.“

„Gönne mir wenigstens Bedenkzeit!“ stöhnte Seiling verzweiflungsvoll, „laß’ mich die Kordel ausforschen, oder suche sie zuvor für Dich zu stimmen!“

„Nicht ’ne Stunde Bedenkzeit!“ fiel Klaas ein, der sein Spiel gewonnen sah, „entweder heute noch klar Deck, oder niemals.“

„Aber wenn nun die Kordel durchaus nicht will?“

„So kenne ich Mittel, ihr den Kopf gerade zu setzen,“ erwiderte Klaas mit einem teuflischen Grinsen, „nur ein paar Worte will ich ihr sagen, und sie sollen helfen, verlaß Dich darauf!“

„Sie darf’s nicht erfahren,“ lispelte Seiling leichenblaß und wie betäubt von diesem letzten Schlage, „nein – es wäre schlimmer als Alles – sprich nicht mehr davon! – ich will sie bitten um ihrer selbst willen, daß sie –“ Schaudernd brach er ab.

„Mehr verlange ich nicht,“ erwiderte Klaas gut gelaunt, „und wenn Du genau berechnest, was auf dem Spiele steht, wirst Du Dein Bestes von selber thun.“

Langsam stiegen sie nach dem Abhange hinauf. Mechanisch setzte Seiling einen Fuß vor den andern. Auf der alten Stelle eingetroffen, kehrten Beide ihre Blicke seewärts. Das Boot schoß eben hinter dem Vorsprunge hervor. Klaas knirschte mit den Zähnen, als er gewahrte, wie Bertus seinen Hut schwang.

„’s ist die höchste Zeit, den Unsinn zu stoppen,“ sprach er finster, „magst immerhin nach Hause gehen und die Kordel in’s Gebet nehmen! Setz’ alle Segel bei! Binnen jetzt und vierundzwanzig Stunden ist Alles geordnet, oder ’s kümmert mich nicht, wie bald es über Bord mit Euch geht.“

Als seien die Worte seines Gefährten ein Befehl gewesen, kehrte Seiling sich der Schlucht zu. Klaas blickte ihm nach, bis er hinter Gestein und Buschwerk verschwand. Dann zündete er seine Pfeife an, und wieder zum Strande hinabsteigend, schlug er die Richtung nach dem Dorfe ein. – –!

Spät Abends heimkehrend, fand er Seiling allein. Kordel hatte sich nach einem langen Gespräche mit ihm in ihr Zimmer hinauf begeben. Ihr letztes Wort war gewesen. „Ich frage nicht, was Dich in seine Gewalt brachte. Wenn ein böses Verhängniß Dich bedroht, so ist es meine Pflicht, Dich zu retten. Sage dem Klaas, Dir zu Liebe würde ich Manches thun, allein ich bedürfe der Zeit, um Alles in meinem Kopfe zurecht zu legen.“ Droben saß die Aermste regungslos in unheimlicher Entschlossenheit. Der Sturz von dem Gipfel glücklicher Hoffnungen in den Abgrund einer gräßlichen Gegenwart war ein zu jäher, zu tiefer; hätte sie vor wenigen Stunden das Schreckliche geahnt, nimmermehr wäre das Glück verheißende, bindende Wort gesprochen worden, welches schon am folgenden Tage wie ein dürres Blatt verweht werden sollte. Schaudernd trachtete sie das Bild des dämonischen Gastes zu verscheuchen – vergeblich.

„Ich überlebe es nicht,“ flüsterte sie, „ich will’s nicht überleben.“ –

Am folgenden Tage befleißigte Klaas sich eines nach seinen Begriffen zuvorkommenden Benehmens. Die Antwort Kordel’s, welche ihm durch Seiling übermittelt wurde, hatte ihn befriedigt, und gern gestand er die kurze Bedenkzeit zu. Die einzige Andeutung, welche er vorsichtig Kordel gegenüber sich erlaubte, war, daß er ihr beim Morgengruße die Hand bot. Sein Blick ruhte dabei forschend auf dem schönen bleichen Antlitze mit dem gänzlich veränderten Ausdrucke, den finster gerunzelten Brauen, den gleichsam drohend schauenden Augen und den wie von verhaltenem Schmerze zusammengepreßten Lippen. Was sich in ihrem Aeußeren offenbarte – mochte es immerhin wenig zu seinen Gunsten sprechen – galt ihm als Beweis, daß Seiling ihn nicht täuschte, daß in der That eine Vereinbarung stattgefunden hatte. Vor der dargereichten Hand bebte Kordel schaudernd zurück. Indem sie aber einen Blick zu ihrem Vater hinübersandte und in dessen Zügen verzweiflungsvolles Flehen entdeckte, zwang sie sich zum ersten Male zu einer Berührung des verhaßten Hausgenossen. Bei diesem neuen Beweise des Einverständnisses zwischen Vater und Tochter nickte Klaas grinsend. Dann verabschiedete er sich, mit schlauer Berechnung den Wünschen Beider entgegenkommend, um den größten Theil des Tages fern von ihnen im Dorfkruge zu verbringen. Auch Kordel verließ das Haus. Auf dem Pfade, welchen sie Tags zuvor nach ihrem Abschiede von Bertus zur Heimkehr wählte, begab sie sich in den Wald. Doch nicht zum Strande stieg sie hinab, sondern da, wo der Pfad sich in einer schluchtartigen Vertiefung hinabschlängelte, ließ sie sich auf der Böschung im Schutze dichter Haselgebüsche nieder. Das Haupt mit den Händen, die Arme auf die Kniee stützend, saß sie lange dort. Der Herbstwind strich rauh durch die Baumwipfel und entführte bald hier, bald dort ein gelbes oder rothes Blatt. Eintönig rauschten dazu die den Strand übersprudelnden Wellen, und verdüsternd spiegelte sich in der regsamen See der grau bewölkte Himmel. –

„Sie thut sich ein Leid an,“ hatte ihr Vater vor sich hingesprochen, als sie starren Antlitzes von ihm schied; „sie thut sich ein Leid an,“ zitterte es fort und fort in seinem Innern, indem er planlos in Haus und Garten sich ab und zu bewegte. Er ertrug die Unruhe nicht länger. Sorgfältig um sich spähend, folgte er seiner Kordel nach. Er wollte sie nicht stören; nur sehen wollte er sie, nur über sie wachen, um sie vor einer That der Verzweiflung zu bewahren. Nicht lange war er einhergeschlichen, als er sie in dem Hohlpfade entdeckte. Was sie empfand, war so sprechend in ihrer gebeugten Haltung ausgeprägt, daß er jammernd hätte zu ihr hineilen mögen; und doch wühlte in seiner eigenen Brust eine Verzweiflung, daß er sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Allmählich begannen seine Gedanken sich wieder zu ordnen. Wenn Kordel aufsah, mußte sie ihn bemerken, und sie konnte sich doch nur hierher begeben haben, um allein zu [176] sein. Vorsichtig trat er aus dem Pfade, daß bemooste Felsblöcke und Strauchwerk ihn bald vollständig verbargen. Dort, wo er das Mädchen im Auge behielt, legte er sich nieder. Kurze Zeit nachher unterschied er Schritte, die vom Strande heraufkamen; eine heitere Stimme sandte Kordel einen jubelnden Liebesgruß zu, und schärfer hinüberspähend, erkannte Seiling den festlich gekleideten Bertus, der beim Anblick der Geliebten seine Schritte beschleunigte. Eine kurze Strecke vor Kordel blieb derselbe stehen, und wie von einer tödtlichen Lähmung befallen, starrte er auf sie hin. Kordel hatte sich aufgerichtet und ihm ihr Antlitz zugekehrt. Sie wollte sich erheben, sank aber erschöpft zurück.

„Bertus!“ rief sie, und in ihrer Stimme offenbarte sich ein so tiefes Weh, daß Seiling mit krampfhaftem Griff die Finger in das bemooste Erdreich eingrub, „komm’, Bertus, setze Dich zu mir! Ich ging hierher, um Dich zu erwarten. Fasse Muth, Bertus, sei ein Mann – komm’ – die Treue, die ich Dir gelobt, halte ich, und müßte ich mit Dir vereint auf den Meeresboden hinunter.“

Da belebten des jungen Mannes Züge sich wieder. Als er sich neben Kordel setzte, diese leidenschaftlich ihre Arme um seinen Nacken schlang, ihn weinend küßte und vor heftigem Schluchzen die Worte auf ihren Lippen erstarben, da errieth er freilich, daß seinen Hoffnungen sich Hindernisse entgegenstellten, vor welchen selbst das starke Mädchen zurückbebte. Minuten verrannen, während welcher er seine ganze Beredsamkeit aufbot, die Geliebte zu trösten; er beschwor sie, was auch immer über sie hereingebrochen sei, auf seine Treue zu bauen; er betheuerte ihr, nimmermehr von ihr zu lassen, bis der Tod sie von einander trennen würde. Und als habe bei seinen letzten Worten neue Lebenskraft sie durchströmt, richtete Kordel sich mit einer heftigen Bewegung empor. Ihre Thränen waren versiecht, düstere Entschlossenheit glühte aus ihren prachtvollen Augen, indem sie Bertus fest ansah und seine beiden Hände ergriff.

„Nein, der Tod wird uns nicht trennen,“ sprach sie mit geisterhafter Ruhe; „wenn Du heute noch so denkst, wie damals, als Du das Boot in den Wind hineinsteuertest, so soll er uns vereinigen.“

Bertus starrte auf Kordel, wie den Sinn ihrer Worte nicht begreifend. Er brauchte Zeit, um das, was seine Brust zerriß, in Worte kleiden zu können.

„Du zweifelst?“ fragte Kordel vorwurfsvoll.

„Nein, Kordel!“ antwortete Bertus tief aufathmend, „kann ich nicht mit Dir leben, so kann ich mit Dir sterben, so wahr mir Gott helfe! Aber ich sah Dich an, Deine Augen, Deine Lippen. Ich schauderte bei dem Gedanken, daß Alles das starr werden, das Wasser mit Deinem Haar spielen würde – Kordel – ich will allein gehen; aber Du, Kordel –“

„Meine Arme werden sich um Deinen Hals legen, meine Lippen sich auf die Deinigen pressen, Bertus, und so kann der Tod nichts Schreckliches für uns haben. Nicht heute oder morgen soll es geschehen. Ich muß zuvor wissen, ob es wirklich kein anderes Mittel giebt, meinen Vater der Gewalt des entsetzlichen Klaas –“

„Der Klaas – der Schurke steckt hinter Allem?“ fiel Bertus wild auflodernd ein, und Kordel die rechte Hand entziehend, schüttelte er die Faust drohend in der Richtung nach dem Dorfe.

„Ja, Bertus, er steckt hinter Allem,“ antwortete Kordel. „Was zu Grunde liegt, ich errath’s nicht; es genügt, zu wissen, daß mein Vater ihm unbedingt zu Willen sein muß. Als junge Männer sind sie zusammen gewesen, und aus jenen Zeiten stammt es. Meine Sache ist es nicht, in meinen Vater zu dringen und vielleicht zu sehen, wie er die eigene Tochter scheut. Es mag wohl gar so schlimm sein, daß es Schande über Dich brächte, würde ich Deine Frau –“

„Und hätte Dein Vater eine Sündenlast auf dem Gewissen, daß die ganze Welt vor ihm zurückschreckte, so würde mich das nicht von Deiner Seite verdrängen,“ unterbrach Bertus sie leidenschaftlich. „Du hast Dich mir versprochen, und klebt Unehrliches an Deines Vaters Gut, so laß es fahren! Ich kann für Dich arbeiten –“

„Du denkst rechtschaffen,“ fiel Kordel milde ein, „und darum bist Du mir so fest an’s Herz gewachsen. Ich aber denke nicht schlechter, und deshalb würde ich es nie über mich gewinnen, eine Schande, die an meinem Namen haftet, Dir als Heirathsgut einzutragen. Aber das bekümmert mich jetzt nicht; etwas viel Schlimmeres soll mir jenes Geheimnisses halber angethan werden. Es ist so, wie Du gestern gesagt hast: Klaas begehrt mich zur Frau, und mein Vater hat einwilligen müssen. Ich bin im ersten Augenblick auf die Forderung eingegangen, weil ich mir nicht anders zu helfen wußte. Löse ich mein Versprechen durch den Tod, so kann Klaas meinen Vater schon bei Lebzeiten beerben und hat keine Ursache mehr, ihn zu peinigen. Nur Zeit habe ich mir ausbedungen; wie lange – das weiß ich nicht. Vielleicht findet sich noch Rettung. Geschieht’s nicht, und der Tag ist da – Bertus“ – und düstere Entschlossenheit glühte aus ihren schönen Augen, „dann sorge ich für Deine Mutter durch eine Schrift, in welcher ich ihr Alles schenke, was mir gehört und mir zusteht, und zu Dir komme ich in der Nacht, und auf Deinem Boot segeln wir auf’s Meer hinaus, so weit und so lange, bis Wind und Wetter sich unser erbarmen. Ja, Bertus, das soll unsere Hochzeitsnacht sein, und als rechtschaffene Menschen haben wir gelebt – als rechtschaffene Menschen sind wir gestorben.“

„Aber wie soll da Rettung möglich sein?“ fragte Bertus, und seine Stimme zitterte vor Jammer, indem er Kordel’s Hand zwischen den seinen hielt und bange in ihre großen leuchtenden Augen schaute.

„Ich möchte die Hoffnung nicht ganz aufgeben,“ antwortete sie unendlich milde, und die Gluth in ihren Augen schien zu erlöschen „aber Bertus, wenn alles vorbei ist – noch ist es Zeit; sage offen, möchtest Du Dich Deiner Mutter erhalten? Ich schwöre Dir’s zu, muß ich allein gehen, so geschieht’s mit einem letzten Segenswunsch für Dich.“

„Damit die alte Frau mich langsam hinsterben sieht?“ fuhr er leidenschaftlich auf. „Nein, Kordel, es ist besser, sie übersteht’s auf einmal. Ist’s mit uns Beiden zu Ende, so tröstet es sie, daß wir mit einander gingen – doch laß’ das, Kordel! Nicht von solchen Dingen rede, nicht vom Ueberlegen! Wo Du bleibst, da bleibe ich. Nenne mir die Stunde – suche einen Tag aus, an welchem der Sturm heult und die See’n branden,“ und enthusiastischer strahlten seine Augen, fester, heller klang seine Stimme, „und ich hole Dich zur Hochzeitsfahrt in meinem Boot. Mein Lebelang habe ich mit Stürmen und Windstillen, mit Brandungen und Sturzsee’n gerungen, und ein schöneres Ende giebt’s nicht, als im Salzwasser, welches mich so lange trug. Nein, Kordel, kann’s nicht anders sein, hat die Welt kein Erbarmen mit uns, so wollen wir der Welt aus dem Wege gehen,“ und Kordel umschlingend, zog er sie an sich, und sie herzend und küssend vergaß er Alles, was eben noch seine Seele mit Entsetzen erfüllte. Kordel weinte. Es lispelte in dem bleichen Laub über ihnen und um sie her, es brauste von unten herauf; es knisterte zwischen den dürren Blättern die bereits auf dem Erdboden lagen. Sie hörten es nicht. Sie sahen nicht, wie nur wenige Schritte von ihnen ein wahres Leichenantlitz sich etwas höher hob, zwei geröthete, von starken weißen Brauen beschattete Augen sich in erlöschendem Feuer auf sie richteten und dann hinter den welken Farrenkrautbüschen verschwanden. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung folgte zwischen Gras und Gestrüpp. Dann wurde es still. Nur das Laub rauschte vor einem stärkeren Luftzuge über den beiden in tiefem Weh und treuer Liebe sich einander zuneigenden Herzen, und vom Strande herauf drang nach alter Weise das hohle Brausen. –

Als eine Stunde später Bertus sich allein nach seinem Boote begab, um die Heimfahrt anzutreten, hörte er, bevor er den offenen Strand erreichte, seinen Namen rufen. Gleich darauf stand er vor Seiling. In den eigenen Zügen die sprechenden Spuren der jüngsten Erregung tragend, meinte er in dem Antlitz des vor ihm Stehenden eine gewisse würdevolle Ruhe zu entdecken, welche im Widerspruch zu Allem stand, was er über ihn und seine Beziehungen zu Klaas gehört hatte. Ehrerbietig grüßte er. Seiling dagegen, ohne den Gruß zu erwidern, flüsterte ihm zu: „Willst Du die Kordel für Dich retten, so sei um Mitternacht auf dieser Stelle! Ich werde Dich erwarten. Sei vorsichtig! Niemand, nicht einmal Kordel darf die Wahrheit ahnen.“

Bevor Bertus sich von seinem maßlosen Erstaunen erholt hatte, war Seiling hinter dem nächsten Gebüsch verschwunden.

Schwankend, wie durch die unerwartete Kunde berauscht, schritt Bertus über den Strand. Einige Minuten später sah Kordel von der Höhe aus das kleine Segel auf ungestümer See seine Richtung nach der Landzunge hinüber eilfertig verfolgen.

[177]
Das Zodiakallicht.

Die Beobachtung der totalen Sonnenfinsterniß vom 29. Juli vorigen Jahres hat außer der Vulcanfrage, über welche wir den Lesern auf Seite 642 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ berichtet haben, noch andere wichtige Fragen in Fluß gebracht, von denen wir eine der merkwürdigsten, die Frage nach der Natur des Thierkreis- oder Zodiakallichtes, im Folgenden näher betrachten wollen.

Die Sonnenfinsterniß vom 29. Juli 1878.

Das Zodiakallicht von Deutz aus gesehen.

Die geflügelte Sonnenscheibe der Aegypter.

Ich stelle mir gern unsere alljährige Reise um die Sonne als eine kostenlose Vergnügungsrundreise durch das Weltall vor, bei welcher man alle Tage etwas Neues sieht. Jeden Abend sehen wir in Folge unserer Vorwärtsbewegung neue Sterne aufgehen, jeden Morgen neue Blumen aufblühen; auf der einen Hälfte Weges bekommen wir etwas von der eisigen Natur der Polarzone, auf der andern von der Wärme der Aequatorländer zu spüren, und wie Tamino in der „Zauberflöte“ müssen wir zu gewissen Zeiten unter Nebel und strömenden Wassern und an bestimmten Tagen durch feurige Sternschnuppenschauer unsern Weg fortsetzen. Zu den angenehmen Ueberraschungen dieser Rundreise, welche für den Tropenbewohner bei Weitem nicht so abwechselungsreich ist, wie für uns, gehört nun auch um die Frühlings- und Herbstnachtgleiche die Erscheinung des Thierkreislichtes, bei der man aber auf dem Posten sein muß, um sie zu sehen. Die meisten Menschen sterben, ohne dieses, wie so viele andere Naturschauspiele beobachtet zu haben. Ein großer Theil der Schuld liegt an der Unvollkommenheit unserer Reisehandbücher oder Wenalls-Bädeker, das heißt der Kalender, die nicht einmal die Vollständigkeit jenes altenglischen Almanachs erreichen, in welchem wenigstens die „feurigen Thränen des heiligen Laurentius“, das heißt der Sternschnuppenschauer vom 10. August, verzeichnet standen. Es wäre sehr wünschenswerth, daß Jemand, der dazu Muße und Geschick hätte, endlich einmal dem deutschen Volke einen solchen Allerwelts-Bädeker, das heißt ein Jahrbuch der Natur schreiben wollte, aus welchem man für jeden Tag des Jahres ersehen könnte, welche Himmelserscheinungen, welches Durchschnittswetter man zu gewärtigen hat, welche Pflanzen Knospen treiben und blühen, welche Thiere aus dem Winterschlaf erwachen, einwandern und abziehen etc. Als Abschlagszahlung auf ein solches Buch wollen wir heute Zeit und Ort des Zodiakallichtes so eingehend zu beschreiben suchen, daß es Jeder darnach finden kann.

Wenn im Februar und März an einem klaren, mondscheinfreien Abend gegen sieben oder acht Uhr die Dämmerung vollständig vergangen und die Sterne hervorgetreten sind, wird man unweit der Stelle des Westhimmels, an welcher die Sonne versunken ist, eine weißliche, ausgedehnte Lichtpyramide erscheinen sehen, deren zarte Helligkeit kaum derjenigen der Milchstraße gleich kommt, und die an ihren Rändern allmählich in die Dunkelheit übergeht. Sie ist, ziemlich hoch aufsteigend, schräge nach Süden geneigt, und während ihr Fundament in der untergegangenen Sonne gesucht werden muß, richtet sich die Spitze gegen die Hyaden, eine kleine Sterngruppe zwischen den Plejaden (Siebengestirn) und Aldebaran, sämmtlich im Sternbilde des Stieres, also gegen eine auffallende und leicht auffindbare Gegend des Himmels. Jenes Sternbild des Stieres gehört bekanntlich zum sogenannten Thierkreise oder Zodiacus, der breiten Himmelsstraße, auf welcher Sonne, Mond und Planeten zu wandeln scheinen und deren Mittelgeleise Ekliptik genannt wird, weil auf ihm die Begegnungen von Sonne und Mond stattfinden, die uns als Verfinsterungen (Eklipsen) erscheinen. Innerhalb dieses wegen der schiefen Stellung der Erdachse seine scheinbare Lage im Jahreslaufe ändernden Himmelsgürtels, auf welchem alle inneren Angelegenheiten des Sonnenreiches vor sich gehen, erscheint nun die [178] erwähnte Lichtpyramide ebenfalls stets und hat davon ihren Namen erhalten; sie geht mit den betreffenden Thierkreisbildern unter und auf und ist nur dann gut zu sehen, wenn Thierkreis und Ekliptik möglichst steil sich erheben, was für unsere Breiten namentlich an den Abenden der Frühlingsnachtgleiche stattfindet. Man würde die um diese Jahreszeit ziemlich auffallende Erscheinung viel häufiger bemerken, wenn die Abende dann häufiger klar wären, vielleicht geben uns die mondscheinfreien Abende der zweiten Hälfte des März Gelegenheit, sie zu sehen. Die zarte Lichterscheinung, welche übrigens nicht in jedem Jahre völlig gleiche Helligkeit zu haben scheint, will eben aufgesucht sein, aber wer sich nur die Richtung der Lichtpyramide nach den Hyaden merkt, wird sie beinahe in jedem Frühjahr ein oder das andere Mal zu Gesicht bekommen.

Im Herbste begegnen wir ihr auf unserer Rundreise um die Sonne zum zweiten Male unter passablen Sichtbarkeitsbedingungen, aber wir haben sie dann am Osthorizont und vor der Morgendämmerung zu suchen; die Lichtpyramide ist dann (Mitte October) stärker gegen den Horizont geneigt als im Frühjahr und richtet sich von der noch tief verborgenen Sonne, durch die Sternbilder des Löwen und Krebses, gegen die Zwillinge (Castor und Pollux). Auch im Winter und Sommer ist das Thierkreislicht bisweilen deutlich bemerkbar – geübtere Beobachter wissen es beinahe alle Tage im Jahr aufzusuchen, aber im Allgemeinen sind dann die drei Bedingungen deutlicher Wahrnehmung: steile Erhebung des Thierkreises, reine Luft und kurze Dämmerung, seltener vereinigt anzutreffen.

Je mehr wir aber gegen den Aequator wandern, um so günstiger werden alle drei Bedingungen: die Sonnenbahn nähert sich immer mehr einer senkrechten Durchkreuzung der Horizonte, die Luft wird reiner und die Dämmerung kürzer, die fast senkrecht sich erhebende Pyramide des Zodiakallichtes wird zu einem beständigen Schmuck der Tropennächte. „Wer Jahre lang in der Palmenzone gelebt hat,“ so erzählt Humboldt im „Kosmos“, „dem bleibt eine liebliche Erinnerung von dem milden Glanze, mit dem das Thierkreislicht, pyramidal aufsteigend, einen Theil der immer gleich langen Tropennächte erleuchtet. Ich habe es, und zwar nicht blos in der dünnen und trockenen Atmosphäre der Andesgipfel, sondern auch in den grenzenlosen Grasfluren (Llanos) von Venezuela, wie am Meeresufer unter dem ewig heitern Himmel von Cumana, bisweilen intensiv leuchtender als die Milchstraße im Schützen gesehen. Von einer ganz besonderen Schönheit war die Erscheinung, wenn kleines duftiges Gewölk sich malerisch abhob von dem erleuchteten Hintergrunde.“ Mitunter tritt es in jenen Breiten mit einer solchen Pracht auf, daß es wie die Abend- und Morgenröthe am gegenüberliegenden Horizonte einen Wiederschein hervorruft und vom Lichte des ersten oder letzten Mondviertels durchaus nicht beeinträchtigt wird, während Mondschein bei uns die Wahrnehmbarkeit durchweg in Frage stellt.

Immerhin erreicht das Zodiakallicht an manchen Frühjahrsabenden auch bei uns eine solche Auffälligkeit, daß man sich wundern muß, wie diese Himmelserscheinung, namentlich den am Mittelmeer wohnenden Astronomen Jahrtausende lang hat entgehen können. Die älteste zweifellose Erwähnung und Beschreibung desselben rührt nämlich von Childrey, dem Caplan des Lord Henry Somerset, her und ist in einem 1661 erschienenen Buche desselben (Britannia Baconica) enthalten. Dem berühmten italienischen Astronomen Domenicus Cassini kommt das Verdienst zu, dieses bis dahin übersehene Phänomen im Frühjahr 1683 zuerst genauer studirt zu haben, worauf der französische Naturforscher Mairan siebenzig Jahre später (1754) nachwies, daß sämmtliche Erscheinungsformen des Zodiakallichtes durch die Annahme verständlich würden, daß wir in demselben die in der Aequator-Ebene beträchtlich ausgedehnte, selbstleuchtende oder erleuchtete Atmosphäre der Sonne sähen. Man müsse sich diese Dunsthülle in Folge der Achsendrehung der Sonne so stark abgeplattet denken, daß sie Linsenform angenommen habe und sich über dem Aequator der Sonne unvergleichlich höher erhebe, als über den Polen.

In der That stimmen mit dieser Annahme die Erscheinungsformen auf’s Beste. Die Ebene des Sonnenäquators, mit welcher der größte Durchschnitt des Zodiakallichtes zusammenfällt, ist gegen die Ebene der Erdbahn um ungefähr 7 Grad geneigt, woraus sich bei ihrer unverrückbaren Lage im Weltraum der Gestaltenwechsel sowohl, wie die stets der Ekliptik sich nähernde Lage des Zodiakallichtes erklärt. Je nachdem wir die Lichtlinse dieser vorausgesetzten Sonnenatmosphäre mehr en face oder en profil sehen, wird sie schmaler oder breiter aussehen müssen, und je nach unserer gegenseitigen Stellung erheblich die Gestalt wechseln können, und so würde sich erklären, weshalb das Thierkreislicht in seiner Form zwischen Obelisk und Pyramide schwanken kann. Ganz im Profil gesehen, würde sich die Sonne beinahe einem Kometen vergleichen lassen, der zwei sich gegenüberstehende Schweife entwickelt, von denen der eine der Sonne des Morgens vorausgeht und der andere ihr des Abends folgt, die aber beide ihrer großen Lichtschwäche wegen nur sichtbar sein könnten, wenn die Sonne selbst eine bestimmte Tiefe unter dem Horizonte einnimmt.

Diese so leicht faßliche Annahme wurde indessen von dem großen Laplace lebhaft bekämpft. Nach derselben, sagte er, müsse man voraussetzen, daß sich die Sonnenatmosphäre über dem Aequator bis zur Marsbahn erstrecke, während man aus den Gravitationsgesetzen folgern müsse, daß sie sich noch lange nicht einmal bis zur Mercurbahn ausdehnen könne, und er neigte daher der schon von Cassini ausgesprochenen Ansicht zu, daß zwischen Venus und Mars ein aus Dünsten oder zahlreichen kleineren Meteormassen bestehender Ring um die Sonne kreise möchte, der, von ihr beleuchtet, uns in seine verschiedenen Lagen ähnlich erscheinen könnte, wie die vorausgesetzte Sonnenatmosphäre. Auch diese Erklärung hat die Naturforscher aus verschiedenen Gründen nicht befriedigen können, und man hat noch manche andere Vermuthungen aufgestellt, z. B. daß das Zodiakallicht eine dem Nordlicht ähnliche Erscheinung sei, die nur zu bestimmten Zeiten sichtbar werde, wogegen aber die Beständigkeit der Sichtbarkeit in den Tropen spricht. Der fleißigste Beobachter des Zodiakallichtes in der Neuzeit, Professor Heis in Münster, glaubte dasselbe als einen von der Sonne beschienenen Nebel- oder Dunstring deuten zu können, der, dem Ringe des Saturn vergleichbar, innerhalb der Mondbahn um die Erde kreise.

Mit den Untersuchungsmitteln der Neuzeit, Polariskop und Spectroskop, hat man nachweisen können, daß das Thierkreislicht im Wesentlichen aus zurückgeworfenem Sonnenlichte besteht. Zwar giebt es auch hier Meinungsverschiedenheiten, und eine Reihe von Beobachtern, wie z. B. Angström und Respighi, wollen in dem Spectrum desselben in der That eine auch dem Nordlicht eigene helle Linie wahrgenommen haben, andere eine entsprechende zuckende Bewegung, während die meisten Beobachter die vollkommenste Ruhe der Lichterscheinung hervorheben. Einzelne sahen den Fuß des Lichtkegels in röthlichen Schimmer getaucht, was man vielleicht den Dünsten des Horizontes zuschreiben darf. Als der merkwürdigste Umstand dürfte zu betrachten sein, daß das Zodiakallicht – was doch, falls es eine Atmosphäre oder einen Ring um die Sonne darstellt, der Fall sein müßte – bei totalen Sonnenfinsternissen bisher niemals zweifellos wahrgenommen zu sein scheint. Zwar giebt es einige ältere und neuere Finsternißbeobachtungen, die von Strahlenbündeln reden, welche von der Sonne ausgingen, aber man weiß, namentlich bei den älteren, nicht, ob damit nicht sogenannte Protuberanzen, Eruptionen glühender Gasmassen gemeint waren, wie sie vor fünf bis zehn Jahren häufig in ausgezeichneter Schönheit beobachtet wurden.

Bekanntlich sieht man nun bei totalen Sonnenfinsternissen stets eine ziemlich ausgedehnte, meistens in silberweißem Lichte strahlende Atmosphäre der Sonne, die sogenannte Corona, welche den schwarzen Mond alsdann wie ein strahlenwerfender Heiligenschein umgiebt. Diese Atmosphäre wird aus Schichten gebildet, die sich gegen das Spectroskop ungleich verhalten und wahrscheinlich nach außen an Dichtigkeit und Hitze abnehmen. Man nennt diese Gashüllen, die den Sonnenkörper wie die Schale einer Zwiebel umgeben, von innen nach außen gezählt: Photosphäre, umkehrende Schicht, Chromosphäre und Corona. Wahrscheinlich werden die untersten aus schweren, in intensiver Gluth befindlichen Metalldämpfen gebildet, worauf dann immer leichtere Dampf- und Gasmassen folgen, die sich, ihrer verschiedenen Schwere entsprechend, schichtenweise über einander lagern, wobei die inneren, heißeren Massen bei heftigen Processen häufig weit in die äußeren und kühleren Schichten hinausgeschleudert werden. Jedenfalls finden noch in der sogenannten Chromosphäre Glühprocesse statt, denn sie ergiebt leuchtende Linien im Spectrum, unter andern auch jene wahrscheinlich dem Eisen angehörige Nordlichtlinie, [179] die man auch im Zodiakallicht wiederholt wahrgenommen hat, namentlich in seinen unteren, dem Sonnenkörper näheren Regionen.

Aber die Strahlen jenes leuchtenden Kranzes, dessen Schichten man kurz unter dem Namen Corona zusammenfaßt, erreichten gewöhnlich nicht eine solche Ausdehnung, daß man sie mit dem Zodiakallichte hätte in Verbindung bringen können. Ganz anders bei der letzten in Nordamerika beobachteten Sonnenfinsterniß. Fast alle auf sehr von einander entfernten Stationen vertheilte Beobachter sahen die Sonne in der Richtung der Ekliptik zwei Lichtflügel aussenden, die sich jederseits sechs Grad von der Sonne ausbreitete und dem Zodiakallicht entsprechen würden. Man sieht in der von dem englischen Astronomen Lockyer, der zur Beobachtung nach Amerika gereist war, entworfenen Skizze, daß der eine dieser hellleuchtenden Flügel wie ein Fischschwanz ausgeschnitten erschien. Merkwürdiger Weise sah man diese Erscheinung nur mit bloßem Auge; im Fernrohr verschwand sie, wahrscheinlich weil der zarte Lichtschimmer durch die Vergrößerung (Vertheilung auf größere Flächen) zu sehr geschwächt wird. Langley, der bei besonders klarer Luft auf Pike’s Peak beobachtete, konnte „die dem Zodiakallicht ähnliche Corona“ auf der eine Seite zwölf Sonnendurchmesser weit verfolgen. Newcomb und Sampson sahen ebenfalls diese merkwürdigen Lichtfahnen, und zwar um so besser, wenn sie den übrigen Theil der Corona mit einem Schirm verdeckten.

Wahrscheinlich war die von den meisten Beobachtern constatirte ungewöhnliche Lichtschwäche der Corona gegen sonst, die ihrerseits mit der längst bekannten periodischen Abnahme der Sonnenflecken und Protuberanzen zusammenhängen mag, die Ursache, daß man, von dem Coronalichte weniger geblendet als sonst, diese Lichtfahnen überhaupt wahrnehmen konnte, und Professor Newcomb will in ihnen, wohl mit Recht, nur den innersten und hellsten Kern des Zodiakallichtes wieder erkennen, während die Coronahelligkeit immer noch zu bedeutend gewesen sein möchte, um die matter leuchtenden äußersten Umrisse hervortreten zu lassen. Professor Cleveland aber, der ebenfalls vom Pike’s Peak – einem circa 14,000 Fuß hohen Gipfel der Felsengebirge in Colorado – die Sonnenfinsterniß beobachtete, glaubt aus der Erscheinung der Lichtfahne, die er sehr schön sah, schließen zu sollen, daß sie nicht von einer beleuchteten Atmosphäre der Sonne, sondern von einem um sie kreisenden Meteor-Ringe hervorgebracht seien. In der That würde man sich die Gestalt der einer Schwalbenschwanz-Flamme ähnlichen Hälfte am leichtesten aus der Beleuchtung eines an dieser Stelle durchbrochenen Ringes erklären können, und damit würde die schon ältere Theorie, daß das Sonnenfeuer durch hereinstürzende Meteor-Massen genährt werde – wofür auch neue spectroskopische Beobachtungen sprechen – eine weitere Stütze erhalten. Wie dem auch sein mag, jedenfalls ist durch diese Beobachtung der Beweis erbracht worden, daß das Zodiakallicht ohne Zweifel zu den Umkreisungs-Phänomenen der Sonne gehört.

Für die Wahrscheinlichkeit, daß diese ausgebreiteten Sonnenflügel bei totalen Finsternissen öfter wahrgenommen worden sind, sprechen eine Reihe mythologischer Darstellungen der alten Aegypter höchst eindringlich. Zu unzähligen Malen über Tempelpforten und auf Denkmälern haben sie die Sonnenscheibe mit zwei weit ausgebreiteten Flügeln versehen dargestellt, und den Sonnengott (Ra-Osiris) geschildert, wie er, in einer Lichtbarke dahinsegelnd, seinen Weg vollendet. Diese Symbole wären somit ein nahezu getreuer Ausdruck der wirklichen Naturerscheinung, wie sie sich gelegentlich, wenn auch selten, dem Auge darbietet. Ueberhaupt wäre es seltsam, wenn das Zodiakallicht in den seiner Beobachtung günstigeren Ländern nicht häufiger die menschliche Phantasie erregt habe sollte. So berichtet z. B. ein altaztekisches Manuscript der Pariser Bibliothek, welches Humboldt aufgefunden hat, daß der König Moutezuma 1509 in einem pyramidalen Lichte, welches man vierzig Nächte lang auf der Hochebene von Mexico am östlichen Himmel erscheinen sah, ein Unglückszeichen erblickt habe. Es kann das wohl nur das Zodiakallicht gewesen sein, und dann wäre diese aztekische Aufzeichnung über dasselbe die älteste, welche man kennt.

Carus Sterne.



Die Pest.
II. Zeitliche und örtliche Verhältnisse der Krankheitsverbreitung. – Ursächliche Momente.

Wenn ein mächtiger unterirdischer Quell in der einsamen Senkung eines Gebirgsthales plötzlich durch das Erdreich bricht, wenn er seine Umgebungen überströmt und endlich weit und breit Alles mit einem gleichmäßigen Wasserspiegel bedeckt, – wer vermag dann genau zu sagen, an welcher Stelle das Unheil seinen Anfang nahm? Zwar ist es Diesem oder Jenem noch dunkel in der Erinnerung, daß eine Uferstrecke erst neuerdings bedeckt wurde, aber eine genaue Vorstellung von der Zeitfolge, in der Alles verschwand, von dem Punkte des Durchbruchs läßt sich nicht gewinnen. Da fängt der Quell an, schwächer zu fließen; immer mehr Erdreich wird frei, und endlich legt sich von wenigen noch übrig gebliebenen kleinen Seen auch der vorletzte trocken: im letzten findet man die Durchbruchsöffnung des verhängnißvollen Quells.

Unter diesem Bilde stellen sich uns die geographischen und geschichtlichen Verhältnisse der Verbreitung der Pest dar. Grausend und wehklagend eröffnen uns die Chronisten des vierzehnten Jahrhunderts den Ausblick auf die Hochfluth des „großen Sterbens“, wie es den asiatisch-europäischen Continent von den Ostgrenzen Chinas bis zum atlantischen Ocean überzog; selbst entsetzt und Entsetzen erregend zeigen sie uns, wie von den 105 Millionen Menschen Europas 25 Millionen der Pest zum Opfer fielen. Wer fragte damals nach einer Beweisführung, ob alle die als „Pest“ oder „Pestilenz“ verzeichneten Volkskrankheiten des Mittelalters diesen Namen auch verdienten? Wer mochte auf der Flucht und im Schrecken prüfen, ob die erste wirkliche Pest unter Justinian im Jahre 543 nach Europa gelangte, oder ob man berechtigt war, im engeren Sinne zu sprechen von der Pest des Thucydides? Wer konnte sich so gründlich in die Tiefe des allgemeinen Unglücks versenken, um die Quelle zu entdecken, von welcher aus die Seuche über die Welt gekommen war?

Als durch die Forschung gesichert darf angenommen werden, daß in Europa die große Pest der Jahre 1346 bis 1347 am frühesten in Sicilien, Cypern, Griechenland, Sardinien und Corsica ausbrach, daß sie sich im folgenden Jahre von den südlichen Küsten her über Spanien und Frankreich, gleichzeitig von hier aus nach England und von Italien nach Dalmatien verbreitete. Das Jahr 1349 bringt die Verseuchung Deutschlands sowohl von Kärnthen und Mähren, wie andererseits vom Rhein aus, während gleichzeitig von England her Norwegen, Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein ergriffen wurden. Von Süden und von Norden her treffen dann beide Ströme der Seuche in Norddeutschland zusammen, und zu gleicher Zeit werden in östlicher Richtung Ungarn, Böhmen und Polen, endlich 1350 und 1351 Rußland – zuerst das mittlere, dann das nördliche und südliche – überfluthet. Die Angaben, daß in Wien 40,000, in Neapel 60,000, in London 100,000 Pesttodesfälle innerhalb weniger Monate vorgekommen, erscheinen fabelhaft, obgleich sie sich auf die übereinstimmenden Zeugnisse der glaubwürdigsten Berichterstatter stützen.

Von 1357 bis 1360 erneuern sich an verschiedenen Stellen Europas die wüthendsten Pestausbrüche, sodaß zuerst die Donauländer, dann Oberitalien und England, 1360 Ostdeutschland, Polen und Rußland in der entsetzlichsten Weise heimgesucht werden. Doch beginnt in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts eine entschiedene Ebbe, besonders auch bezüglich der Tödtlichkeit der Pest. Der sehr angesehene Arzt Chalin de Vinario stellte eine Vergleichung der durch die verschiedenen Pestepidemien verursachten Sterblichkeit an und kam zu dem Resultat, daß im Jahre 1348 zwei Drittel der Bevölkerungen erkrankten und dabei fast keiner genesen sei; 1361 sei die Hälfte erkrankt, sehr wenige genesen; 1371 betrug bei Genesung Vieler die Zahl der Erkrankungsfälle ein Zehntel, und auf die Epidemie von 1382 rechnet er nur ein Zwanzigstel Erkrankungsfälle, von denen die meisten in Genesung übergingen.

[180] Die Hochfluth der Seuche war vorüber; sie beginnt bereits im fünfzehnten Jahrhundert von den erreichten Grenzen zurückzutreten. Wird auch in den Jahren 1409 bis 1430 Rußland, in den schlimmen Jahren 1449, 1460, 1473 Deutschland, gegen das Ende der siebenziger Jahre Italien stark von der Pest befallen, so finden wir doch eine gleichzeitig und gleichmäßig ausgedehnte Verseuchung weder in diesem noch in dem folgenden Jahrhundert wieder, das nur noch zwei größere Pestepidemien (1533 und 1574) aufzuweisen hat.

Im siebenzehnten Jahrhundert beginnt bereits eine definitive Befreiung für einen Theil der früher verseuchten Länder Europas. England, das sich schon frühzeitig durch ein sehr ausgebildetes Sperrsystem zu schützen versucht hatte, übersteht 1665, Irland bereits im Jahre 1650 seine letzte Epidemie. Nordfrankreich und die Schweiz kennen nach 1668, Spanien nach 1681, Schweden und Dänemark sogar nach 1657 keine Pest mehr. Das westliche Deutschland reinigt sich um 1667, ein großer Theil des östlichen von 1682 ab. Auf anderen Punkten ist die Befreiung nur eine scheinbare: mit neuer Kraft stößt der Strom der Seuche noch in den beiden ersten Decennien des 18. Jahrhunderts über die Türkei nach Ungarn und Polen, nach Schlesien, Posen, Preußen, Rußland, nach Steyermark, Böhmen und der Lausitz vor, mit einer verheerenden Welle überschwemmt sie den Süden Frankreichs im Jahre 1721. Dann erfolgt ein weiteres Ebben: Siebenbürgen, Ungarn, Südrußland, Polen, Dalmatien, kurz die der Türkei zunächst liegenden Gebiete stellen sich in dieser Periode (1717 bis 1797) als die Ufer des Pestbezirkes dar. Im Anfange des laufenden Jahrhunderts walten ähnliche Verhältnisse, nur daß das eigentliche Pestgebiet sich immer mehr einengt und nur durch gelegentliche Durchbrüche (nach der Walachei, nach Griechenland, nach Siebenbürgen, den Küsten Italiens) von der Gefährlichkeit seiner Nachbarschaft Beweise liefert. Nach 1830 endlich lernen wir als einzig von der Pest leidende Gebiete noch die europäische Türkei, Syrien und Aegypten kennen und sehen die Bewohner dieser Länder im Streit über den unheilvollen Besitz: die Aegypter behaupten, daß ihnen die Pest stets aus der Türkei und Syrien, und die Syrer, daß ihnen die Krankheit immer aus der Türkei und Aegypten gebracht worden ist. Am heftigsten aber lehnten die Türken es ab, die ursprünglichen Erzeuger und Besitzer der Pest zu sein, und wurden nicht wenig in ihrer Behauptung bestärkt, als nach der Einführung strenger Quarantänen, das heißt seit dem Jahre 1838, die Krankheit auch aus Constantinopel wie aus der ganzen europäischen Türkei spurlos verschwand, während sie in Kleinasien und Aegypten noch mehrere Jahre später verheerend auftrat.

Was – im Hinblick auf unser Eingangs gebrauchtes Bild – das Anschwellen der Pestfluth bis 1346 betrifft, so ist uns in der That der Vorgang desselben fast verborgen. Erst nach langem Streiten ist die Frage über das erste Auftreten der Pest in Europa dahin entschieden worden, daß nicht das Jahr 430 vor, sondern das Jahr 543 nach Christi Geburt als dieser verhängnißvolle Zeitpunkt anzusehen ist: Thucydides beobachtete in jenem Jahre – wie man jetzt allgemein annimmt – nicht die Pest, sondern eine typhusartige Seuche, und erst dem Zeitalter des Kaisers Justinian war es vorbehalten, die Pest in Byzanz kennen zu lernen und sie als neue Krankheit zu beschreiben. Die Ergebnisse der Pestforschung über das siebente bis dreizehnte Jahrhundert aber kommen selbst diesem Resultate auch nicht annähernd gleich. Die Schriftsteller dieser Zeit liefern eben keine naturgetreue Beschreibungen, sondern begnügen sich, die Dauer der Seuche, die Zahl der von ihnen hingerafften Opfer anzugeben und vom Zorne Gottes, von widrigen Constellationen, Erdbeben, Meteoren und ungünstiger Witterung zu erzählen, ohne sich um die Entstehung und Ausbreitung der Epidemien, um ihre Ausgangspunkte und Wege zu kümmern. Dürfen wir nun – so fragen wir weiter – wenigstens in Beobachtung des allmählichen Zurücktretens schließen, daß die verengten Grenzen der jetzt noch übrigen Pestbezirke den Quellboden der ganzen Seuche darstellen? Ein Zufall hat das Rechte geliefert, mit einiger Zuversicht diese Frage zu bejahen, und dieser Zufall war eine Entdeckung in der Bibliothek des Vaticans, welche in das Ende der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts fällt. Der Cardinal Angelo Mai fand dort eine Handschrift des Oribasius auf, in welcher nach Rufus von Ephesus, der im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte, Stellen aus einem alten griechischen Schriftsteller Dionysius (wahrscheinlich 280 vor Christo) angeführt werden. Dieser beschreibt dir Pestbubonen und das hitzige Fieber und bemerkt ausdrücklich, „daß diese Zustände vorzüglich in den Gegenden von Libyen, Aegypten und Syrien entstehen“. So bleibt, wenn wir diesen unbefangenen Worten Glauben schenken wollen, von dem ganzen große Gebiet, auf welchem die Pest geherrscht, nur Kleinasien, Syrien und Aegypten übrig, in denen wir die Heimath der Pest suchen und vermuthen dürfen. Die letzte Pestepidemie in Syrien hatte im Jahre 1841 bis 1842 geherrscht; in Aegypten war die Seuche 1841 noch sehr verbreitet; 1843 beschränkte sie sich auf die Gegenden am östliche Nilarme; seit 1845 schien sie auch hier vollkommen verschwunden zu sein. – Eine eigentümliche fragwürdige Stellung nehmen bis jetzt die indischen Pestbezirke ein. Denn wenn es auch allenfalls zuzugeben ist, daß die Epidemien in Kutch und Sindh, sowie in Pali (dem Hauptstapelplatz für den Handel zwischen der Küste und den nordwestlichen Provinzen von Indien) auf Einschleppung von der Levante aus beruhen könnten, so wird dies von der Pest der an den südlichen Abhängen des Himalaya gelegenen Provinzen Gurwal und Kumaon doch kaum behauptet werden dürfen, und die Vermuthung erscheint nicht ungerechtfertigt, daß auch in den wenig durchforschten Theilen Indiens und Chinas Stammländer der Pest existiren können, die nur deshalb als solche unbekannt geblieben sind, weil sie keine Gelegenheit zur Weiterverschleppung der Krankheit darboten.

Jede auf gewisse geographische Bezirke beschränkte oder nur in bestimmten Zeitabschnitten auffallend herrschende, dann wieder zurücktretende oder ganz verschwindende Krankheit regt in hervorragender Weise den Scharfsinn an, die besonderen Umstände zu erforschen, welche vorhanden sein mußten oder fehlten, um so auffällige Erscheinungen zu erzeugen. Hinsichtlich des Ortes der Epidemien interessiren uns Klima, Lage und Bodenverhältnisse, hinsichtlich der Zeit besondere Wetter- und Erdveränderungen, Völkerwanderungen und die wechselnde Lebensweise der Menschen.

Es stellt sich bald heraus, daß die Wichtigkeit des geographischen und klimatischen Elements bei der Pest eine sehr verschiedene ist, je nachdem es sich um die Stammländer oder um die in zweiter Reihe befallenen Bezirke handelt. Während für die ersteren wichtige Fingerzeige auf gewisse Bedingungen des Klimas und des Bodens hinweisen, bedarf es für die letzteren nur der Einschleppung eines wohlgezüchteten Pestkeimes, um jede dieser Einflüsse als gleichgültig erscheinen zu lassen.

„Nicht die Verschiedenheit des Himmelsstriches, nicht der Süden oder die reine Luft des Nordens, nicht Wärme noch Kälte des Klimas vermögen die entsetzliche Krankheit aufzuhalten. Sie dringt in die Gebirge, wie in die Thäler, in Binnenländer, wie zu Inseln, in Ebenen, wie in hügeliges Gelände; nicht Wald noch See noch Sumpf läßt sie verschont. Sie folgt dem Menschen auf den Wellen des Oceans; sie dringt in Dörfer, Lager und Städte. Vergebens wird die Kälte des Winters herbeigesehnt, die Seuche achtet nicht der Milde des Frühlings, noch der Gluth des Sommers, nicht des Wechsels des Mondes und des Standes der Gestirne, nicht des feuchten Südwindes und rauhen Nords.“ Dies sind die Worte eines der wichtigsten Pest-Berichterstatter, des belgischen Arztes Covino.

Etwas anders liegen, wie bereits angedeutet, die Verhältnisse hinsichtlich des Klimas der Stammländer, besonders Aegyptens. Das Erlöschen der Epidemien fällt hier nach übereinstimmenden Zeugnissen mit dem Auftreten der stärkeren Sommerhitze (22 bis 25 Grad Réaumur) zusammen; niemals hat ferner die Krankheit Assuan (nahe der Grenze von Nubien) überschritten, um in dieses einem tropischen Klima unterworfene Land einzubrechen. Diese beiden Thatsachen sind jedoch die einzigen, welche selbst hier für klimatische Zusammenhänge sprechen; der von älteren Beobachtern behauptete gefährliche Einfluß des Wüstenwindes (Chamsin) ist längst durch Widersprüche in Frage gestellt worden.

In ähnlicher Weise läßt sich für Aegypten eine Eigenthümlichkeit des Bodens ermitteln, welche als pestbegünstigend angesehen werden darf: die Nilüberschwemmungen. Die überwiegend meisten Beobachter sprechen sich dafür aus, daß fast stets durch dieselben herbeigeführte sehr starke Durchfeuchtungen des Bodens der Pestentstehung wesentlich förderlich gewesen sind. Selten und sparsam trat sie in den sandigen Theilen und der Wüste auf; an den Nilufern, in den niedrig und feucht gelegenen Stadtteile Kairos herrschte sie vor. Doch wäre es vollkommen [181] unzulässig, diese Thatsache für die Wanderzüge der Pest zu verallgemeinern oder gar ihr eine Verwandtschaft mit den „Sumpffiebern“ aufdrängen zu wollen. Auf Kreide und Trachyt, auf Kalkboden und Urgestein hat sie sich ausgebreitet, und die selten angeführten Fälle, in denen sie einen hohen Berg oder eine Hügelkette verschonte, lassen bei ihrer Vereinzelung alle anderen Erklärungen ebenso gut zu wie die, daß die Krankheit durch die Bodenhöhe abgehalten werde. Auffallend ist übrigens, daß mit völliger Uebereinstimmung aus den großen Pestjahren des vierzehnten Jahrhunderts unerhörte Naturerscheinungen, so 1337 und 1338 in China sechstägige und zehntägige Erdbeben, 1348 allgemeine Erderschütterungen durch ganz Europa, Orkane, Sturmfluthen, Ueberschwemmungen, berichtet werden, um so auffallender, als die gegenwärtige Epidemie mit den nämlichen Naturerscheinungen zusammentrifft. (Man könnte wirklich versucht sein, die Falb’sche Hochfluth-Theorie mit ihrer auch nach Pettenkofer seuchenbefördernden Grundwasserhebung zur Erklärung herbeizuholen; wenn die Theorie nur wissenschaftlich anerkannt wäre! D. Red.)

Man muß mit einigem Befremden eingestehen, daß für eine dem Anschein nach so streng begrenzte Krankheit das Ergebniß der geographischen und klimatischen Bedingungen ein dürftiges ist, und mit um so größerem Interesse wenden wir uns dem Menschen selbst und denjenigen menschlichen Verhältnissen zu, welche zur Erklärung der Pestentstehung herangezogen werden können. Kein Lebensalter wird verschont; in gleichem Maße sinken Männer und Frauen, Greise und Kinder dahin; vereinzelt wird angegeben, daß jenseits des fünfzigsten Lebensjahres die Erkrankungen seltener seien; daß junge Mädchen und hoffnungsvolle Mütter stärker ergriffen werden; daß ein melancholisches und phlegmatisches Temperament mehr disponire als ein sanguinisches und cholerisches. Auch hinsichtlich der Racen finden sich nur zerstreute Angaben: ein stärkeres Erkranken der Neger in Aegypten, ein Freibleiben der Engländer von der Himalayapest werden erwähnt. Viel dreister und bestimmter treten schon in alten Pestberichten Erklärungen auf, nach denen die Seuche am frühesten und stärksten in den niederen Volksclassen ihre Opfer suchte.

„Diese Haufen von Armseligen und Schlechtgenährten,“ sagt Covino, „die unter dem unbeschränkten Einflusse des feindlichsten der Gestirne, des Saturnus stehen, fallen dem Todesengel vor Allen zur Beute. Nächst ihnen erliegen Personen von mittlerer Körperstärke, die dem Monde und Mercur Untergebenen, während dagegen Vornehme, Heerführer und Richter, denen alle Bequemlichkeit und jeder Genuß des Lebens beschieden ist, selten ergriffen werden.“

Diese Beobachtung, die sich ähnlich ausgedrückt in den meisten Darstellungen wiederfindet, führt fast unmittelbar auf die Frage, ob man Elend, Hunger und Schmutz etwa auch für die Entstehung der Pest verantwortlich zu machen habe?

Zur Beantwortung dieser Frage verlohnt es sich wohl, einen prüfenden Blick auf das Stammland der Pest zu werfen. Wer, wie der Verfasser dieses Aufsatzes vor zwei Jahren, Aegypten bereist hat, wer aus eigener Anschauung jene zerfallenden Lehmhöhlen der ägyptischen Dörfer kennt, wer mit schaudernder Verwunderung die starrenden Schmutzkrusten auf dem Leibe und in den Kleidern der Bewohner betrachtete und – roch, wer die gänzliche Indolenz begreifen lernte, mit der die Aegypter sich von Krankheiten und


Das Urtheil des Paris.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von G. Süs.

[182] Ungeziefer zerfressen lassen, wird mit schneller Ueberzeugung bereit sein, dort Alles wiederzufinden, was von dieser Seite her für die Pesterzeugung geltend gemacht werden könnte. Hinsichtlich der Nahrung sei es gestattet, folgende Bemerkungen aus des Verfassers „Geographisch-medicinischer Reise um die Erde“ zu wiederholen, welche am kürzesten über diese Frage orientiren: „In den Hospitalberichten über eingeborene Kranke spielen fieberhafte Magendarmaffectionen, Schwindsucht, Scrophulose, Typhen die Hauptrolle. Alle Welt leidet in diesem Lande an Verdauungsbeschwerden, und wie kann es anders sein unter einer so erbärmlichen Bevölkerung, welche sich von ungekochten Speisen nährt, von allerlei schlechter Pflanzenkost, von Käse und schwerem hartem Brod, das außerordentlich arm an stickstoffhaltigen Bestandtheilen und schwer zu verdauen ist. Der Mensch ist hier fast nur Pflanzenfresser; die seltenen Fleischmahlzeiten bestehen aus geschmacklosem, trockenfaserigem, oft auch aus direct verdorbenem Fleisch.“ Für die Anschauung, welche die Pest direct aus derartigen Zuständen hervorgehen ließ, spricht noch Manches: Schilderungen der indischen Pestländer schließen sich in Bezug auf das erbärmliche stumpfsinnige Schmutzdasein der Bewohner sehr nahe an die in Aegypten herrschende Misère an, und die Erfahrung hat auch bei den Wanderzügen der Pest ausnahmslos gelehrt, daß sie da am besten gedeiht und Herrschaft gewinnt, wo die Bevölkerung sich am weitesten vom Ideale eines civilisirten Zustandes entfernt.

Doch hat die Forschung sich nicht der Ueberzeugung verschließen dürfen, daß es auch sehr elende Bevölkerungen giebt, wohl noch weit unter den Aegyptern stehende, welche nie zu der traurigen Berühmtheit gelangt sind, hervorragende Pestgebiete oder gar Stammländer der Pest zu bewohnen. Diese Ueberzeugung hat einige französische Gelehrte dazu gedrängt, Aegypten in einer anderen Beziehung zum Gegenstande ihrer Untersuchungen zu machen. Die hierher von der französischen Regierung im Jahre 1828 entsandte Commission faßte das Zeugniß des Herodot und Strabo in’s Auge, welche das gesunde Klima Aegyptens preisen und seinen Bewohnern ein besonders langes Leben nachrühmen, und hielt einen Gegensatz zwischen jenen alten glücklichen Zuständen und den selbsterforschten für ausgemacht. Es schien ein gänzlicher Umschwung stattgefunden zu haben, und da die von uns angeführte Stelle des Rufus damals noch unentdeckt war, konnte es geschehen, daß man die Pest in derselben Zeit zuerst in Aegypten auftreten ließ, welche für Europa als erste Pestperiode festgestellt war, man nahm das Jahr 543 als das Jahr der ersten Epidemie an. Bei näherem Eingehen stellte es sich nun heraus, daß es sich annähernd genau um den Zeitpunkt handelte, in welchem die Einbalsamirung der Leichen, als eine dem Christenthum widersprechende Einrichtung, abgeschafft und der Gebrauch der Beerdigung allgemein eingeführt worden war. Bedenkt man dazu, daß die Art des Begrabens bei den Aegyptern (zum Theil schon in Folge von Bodeneigenthümlichkeiten) eine sehr mangelhafte war und geblieben ist, daß die Atmosphäre noch heutzutage um die Begräbnißplätze mit den Zersetzungsproducten der verwesenden Cadaver erfüllt erscheint, daß die Secte der Kopten die Leichen sogar in den Wänden und den Fußboden der Wohnhäuser, lose eingemauert, verwesen läßt, so wird man die Beweisführung der französischen Commission begreiflich finden: „So lange die Leichen einbalsamirt wurden, gab es keine Pest; mit Aufhören jener Maßregel erschien die Seuche; mit der gefährlichen Neuerung des Begrabens wurde die gefährlichste aller bekannten Krankheiten geschaffen.“

Es bedurfte der unzweideutigen Mittheilung des Rufus nicht, um die anscheinend so greifbare Hypothese zu widerlegen. Die Voraussetzung, als sei das Einbalsamiren ein Act der öffentlichen Gesundheitspflege und eine auf die ganze Masse des Volkes ausgedehnte Maßregel gewesen, ist falsch. Nimmt man die mittlere Dauer des menschlichen Lebens auf dreiunddreißig Jahre an (für Aegypten übrigens eine entschieden viel zu hohe Ziffer), so stirbt in einem Jahrhundert die dreifache Zahl der mittleren Bevölkerung eines Landes; innerhalb 4000 Jahren wären also in Aegypten 120 Bevölkerungen verstorben: die mittlere Stärke einer Generation zu 7,500,000 Individuen gerechnet, 900 Millionen, welche als Mumien einen Raum beansprucht hätten, weit größer als die Oberfläche von ganz Aegypten. Auch haben noch andere Nachforschungen erwiesen: daß nur die Angehörigen der privilegirten Classen und einige mit dem religiösen Cultus in Verbindung stehende Thiere zur Einbalsamirung gelangten, während im Uebrigen Menschen und Thier vor wie nach der Verwesung anheimgegeben worden sind.

Erweist sich somit jene Folgerung als nicht stichhaltig, so werden wir doch das wichtige Thema der Beerdigungsverunreinigungen sehr fest in’s Auge zu fassen haben. Maßgebende Stimmen haben die Aufmerksamkeit auf das schauerliche Treiben einiger persischen Stämme gelenkt, welche Tausende ihrer Leichen im verwesten Zustande nach besonders heiligen Orten bringen, und die Bedeutung hervorgehoben, welche diese Züge wohl für die Entstehung der diesjährigen Epidemie haben konnten, und wir haben sicher ein volles Recht, dem unheimlichen, widerwärtigen und schädlichen Unwesen, welches niedrigstehende Nationen mit den Leichen treiben, eine ähnliche Bedeutung für das Gedeihen der Pest beizulegen, wie wir sie für eine ärmlich-verkommene Lebensweise in Anspruch nahmen. Auch mag man immerhin beide Uebel aus einer Wurzel entsprossen sich denken; je ärmlicher und dumpfer ein Volk dahinlebt, je roher seine Culturbegriffe sind, desto weniger weiß es zu erfassen, daß die Leiche nichts Unvergängliches mehr enthält, und desto schonungsloser zerrt es den Cadaver in das Reich der Lebenden zurück.

Näheren Aufschluß über die letzte Quelle der Pestkrankheit, die eigentliche Beschaffenheit und Entstehung des Pestgiftes geben die berührten Verhältnisse an sich, wie wir gesehen haben, nicht. Wir kommen vielmehr schließlich zu dem Begriffe des Krankheitsstoffes, zum „Keim“, wie sich die neuen Ansteckungstheorien ausdrücken. Diesen Keim, seine Wirkungen und Lebensbedingungen, sowie seine Verbreitung und seine Zerstörung gedenken wir zum Gegenstande einiger weiterer Erörterungen zu machen.

Dr. A. W.




Land und Leute.


Nr. 40. Die höchste Stadt im Reich.


Das Aschenbrödel unter den deutschen Gebirgen, das sächsische Erzgebirge, trägt die höchste Stadt im Reich auf seinem Scheitel. Dicht an der Grenze des reichen Böhmerlandes, da wo sich der Fichtelberg und der Keilberg wie zwei Riesengräber über das Kammplateau erheben, umgeben von rauhen Schönheiten und selbst eine rauhe Schönheit, liegt an den Gehängen des mächtigen Bergstocks das Bergstädtchen Oberwiesenthal, vom Volksmund kurz das Wiesenthal genannt. Der Ackerbauer hätte wohl nie an dieser Stätte den Pflug eingesetzt, um sie zu colonisiren; was fragt aber der Bergmann nach dauernden Lebensbedingungen? Er gründet Städte, unbekümmert um ihr ferneres Schicksal; wenn der Bergsegen auf die Neige geht, wandert er lustig weiter, wie es der Goldsucher noch heute im fernen Westen thut. So sind im höheren Erzgebirge eine ganze Anzahl Ortschaften entstanden, die wehmüthig der verschütteten Bergzechen gedenken und verlassen auf ihrer Scholle stehen, die sie nicht ernähren kann. Nur angestrengteste Arbeit, Genügsamkeit und ein harter Kampf mit der Natur konnte die künstlich hervorgerufene Existenz solcher Städte und Orte zu einer dauernden gestalten. Dieser Orte höchstgelegener ist die Stadt Oberwiesenthal, und in ihr tritt denn auch der Kampf um’s Dasein in den härteste Formen auf.[1] Wer die höchste Stadt im deutschen Reiche besuchen will, der muß sich entschließen, bei der böhmischen Stadt Weipert die Bahn zu verlassen und sein [183] Ziel zu Fuß zu erstreben; denn dort, drei Stunden von Oberwiesenthal entfernt, wendet sich der Schienenweg über das niedrige Kammplateau und umgeht somit diesen Ort.

Eine echte und gerechte Berg- und Waldluft weht uns an, sobald wir auf dem sogenannten Vierensteig die großen Wiesenthaler Forste betreten haben. Der landschaftliche Wechsel ist nicht reich, die ernste Eintönigkeit des Nadelwaldes wird selten durch eine Lichtung, nie aber durch eine Laubholzgruppe unterbrochen. Eine fortwährend neue Anregung gewähren die Fichten, sofern man in ihrer eigenartigen Zeichensprache ein wenig Studien getrieben. Je höher wir steigen, je verkrümmter sehen wir sie ihre kümmerlichen Jahrestriebe dem kühlen Strahl der Sonne entgegenstrecken, je wehmüthiger die weißgrauen Wetterflechten wie feuchte Thränentücher herabhängen. In den höheren Beständen begegnet man keinem Baum, der nicht eine lange Leidensgeschichte von der Kargheit der Sonne oder von Unglückstagen zu berichten hätte, an denen er durch Schnee, Eisduft und Sturm Ast-, Stamm- und Wipfelbrüche erlitten.

Sobald wir den Fuß des Fichtelbergs erklommen, thut sich eine weite Lichtung auf, und mitteninne, an den Gehängen dieses 1217 Meter hohen Berges liegen die hellschimmernden Häuser des Städtchens eng zusammengeschaart, wie eine frierende Heerde. Gewiß stutzt jeder Beschauer beim ersten Anblick der Stadt; sie zeigt in ihrer Bauart keine Abweichungen, die landschaftlich mitsprechen könnten, und doch sieht sie so ganz anders aus, wie die gleich großen Städtchen im Tieflande. Man betrachtet sie, wie man einen bärtigen Freund, der vom Rasirer kommt, im ersten Augenblicke verwundert ansieht, bis man die Ursache entdeckt. Unserer Stadt fehlt die Umkleidung des Laubwerks vollständig, die den kleinen Tieflandstädten so malerisch zu Gesicht steht.

Beim Eintritte in die Gassen drängen sich uns sofort die starken Mauern der Gebäude in’s Auge. An den Giebelwänden lehnen die Schlitten, die man des lumpigen Bischen Sommers wegen nicht erst unter Dach und Fach bringt. Die Hausthüren sind weit zurück in’s Innere verlegt; Laubwerk, das den Häusern kleinerer Städte so häufig ein behagliches poetisches Ansehen verleiht, ist nicht vorhanden; dafür sind die Fenster von feuchtdunklen Flecken umrahmt, die ihnen das Ansehen verweinter Augen geben. Die Gärtchen neben den Häusern entbehren der Lauben; in geschütztem Winkel fristet hier und da ein jämmerlich verkrüppeltes Obstbäumchen ein absolut fruchtloses Dasein, und die wenigen Ziersträucher erheben ihre obersten Zweige mit rührender Schüchternheit über die Mauerköpfe empor, als traueten sie dem Landfrieden nicht. Auf dem Kirchhofe, der die neue, stattliche Kirche umgiebt, liegt die Pietät im harten Zwiespalte mit der Natur. Die wenigen Rosenstöcke, die zum Blühen gelangen, öffnen ihre Knospen erst im Herbste, und nicht selten schneit’s dann hinein. Keine Spur jener dunklen, ernst stimmenden Lebensbäume der Friedhöfe im Unterlande; die Immergrün- und Sedum-Einfassungen der Gräberreihen ersetzen Moose und Wetterflechten, welche sich von selbst einfinden. Den Kränzen von Preiselbeerlaub, die sinnige Hände den stillen Schläfern auf die wahrhaft „kühle Erde“ niederlegten, sind künstliche Blumen eingefügt; lebendige sieht man selten, und dann sind es solche, die an den Fenstern gezogen werden – Fremdlinge auf der rauhen Gräberstätte.

Im Innern der Häuser zeigen sich die Thüren mit Stroh gepanzert; die Fugen sind mit Tuchstreifen ausgeschlagen; die Fenstergewände umbettet man mit Moospolstern; die Dielen finden sich häufig mit Stroh belegt. Ein bekanntes Schutzmittel, die Winterfenster, fehlen sonderbarer Weise den meisten Häusern gänzlich; wahrscheinlich blickt man zu vertrauensvoll auf die mit architektonischer Accuratesse aufgeschichteten Holzfeimen; auch haben die riesigen Kachelöfen, die sich in den älteren Häusern auf zwei gewaltigen Beinen in die Zimmer hereinschieben, etwas Beruhigendes an sich.

Ein Frühjahr im landläufigen Sinne giebt es für den Wiesenthaler nicht. Wenn der Tiefländer jauchzenden Herzens das Erwachen der Natur verfolgt, dann bessert der Wiesenthaler erst seine Schlittenbahn aus, indem er von den Schneewehen das Material für die dünneren, durchthauten Schneelagen entnimmt. Unsere Frühlingsregen sind für ihn Frühlingsschnee; unsere ersten Staubwirbel sind ihm im günstigsten Falle die letzten wirbelnden Schneeflocken. Kommt es dann zur Schneeschmelze, so schließt sich ihr der Sommer fast unmittelbar an. Die lange zurückgehaltene Keimkraft der Erbe treibt jetzt die Gräser und Saaten wie mit Zauberhänden empor, und urplötzlich steht die Stadt inmitten einer sommerlichen Landschaft.

Ein Sommertag in diesen Höhen hat nun allerdings Reize, die denen im Tiefland nie zu eigen werden. Die Luft ist von einer Klarheit, daß Entfernungen gar nicht mehr taxirbar sind. Die Umrisse, die Wellenlinien des Erdbodens treten mit einer ganz fremdartigen, scharfen Plastik vor den Beschauer, und die Farben, besonders das Grün, erscheinen so intensiv und gesättigt, daß man die Schöpfung in Verdacht haben könnte, sie habe einen Porcellanmaler zu Rathe gezogen. Diese Herren, die bekanntlich ihre Farben mit großer Entschiedenheit auftragen, würden hier das Urbild ihrer landschaftlichen Ideale wiederfinden. Und solcher Sommertage erfreut sich der Wiesenthaler gar nicht selten. Der Grund hiervon mag wohl darin liegen, daß die aufgehenden Wasserdünste erst fern von den Gebirgsstöcken sich zu Wolken zusammenballen.

Die Gewitter entladen sich stets mit einer im Tiefland ganz unbekannten Energie, und in hartnäckiger Ausdauer treiben sie es zuweilen in’s Fabelhafte. Schon ganze Tage lang hingen sie an den Bergen, wenn sie einmal die Wetterscheide des Hochkammes überschritten, und konnten sich nicht wieder besänftigen. Da blitzt es und kracht es unmittelbar über den Dächern stundenlang, indeß die Gewitterwolken durch die Gassen der Stadt dahinjagen wie ein wildes Heer, von Stürmen gepeitscht, zerspellt und zerrissen. Wer Blitz und Donner nicht scheut, kann sich ein gewaltiges Schauspiel mit ansehen, wenn er die Gehänge des Fichtelberges hinaufsteigt; er wird zwar nicht über dem Gewitter stehen, aber die Entladungen geschehen doch zumeist unter ihm, sodaß er in die kochenden und schäumenden Nebelmassen, die den Thalkessel erfüllen, von oben hineinzusehen vermag.

Die wenigen Laubbäume halten sich bis in den todten Herbst hinein grün, auch leider sehr oft das Getreide. Wenn der Tiefländer keltert oder die Obstbäume von ihren Lasten befreit, beginnt der Wiesenthaler erst mit dem Roggenschnitt, sofern eine gütige Herbstsonne die Reife herbeiführte. Im schlimmeren Falle (wie im jüngsten Jahre) muß er Hafer und Korn wohl gar grün verfüttern, wenn es ihm nicht gelingt, die Garben an den Luken seiner Scheuer zu trocknen. Den Kartoffelausnehmern müssen häufig die Schneeschaufler vorangehen. Da giebt’s denn oft eine recht frostige Ernte und nach ihr eine noch frostigere Ackerbestellung, denn der Pflug darf nicht säumen und wenn er sich seine Furchen durch den Schnee bahnen müßte.

Von den absolut trüben Tagen darf man die große Hälfte als Nebeltage bezeichnen, die fast sämmtlich auf den todten Herbst fallen. Diese sterbenskranke Jahreszeit ist zwar Niemandes Freund, aber in Wiesenthal trägt sie ganz absonderlich trübselige Züge. Da hängen oft ganze Wochen lang kalte, feuchte Nebel über der Stadt, von denen der Volksmund sagt, man könne sie in Säcke stopfen; da werfen die Oellaternen ein trauriges, dumpfes Licht in die bleigrauen Wände hinein und flimmern wie Grubenlichter in den Teufen, oder werfen graue Strahlen aus, die sich wie gespensterhafte Windmühlenflügel erst in unermessenen Höhen verlieren; da will es scheinen, als ob die Schläge der Thurmuhr aus unbekannten Regionen herniederdrängen, die den Tag verkünden, der nicht anbrechen will, oder das Scheiden des Tages, den man kaum wahrgenommen.

Sobald mit dem ersten großen Schneefall der Winter eingezogen, ist er auch auf ein gutes halbes Jahr ständig geworden, und damit hat die Jahreszeit begonnen, um die wir Tiefländer den Wiesenthaler trotz aller wilden, unbändigen Launen des gestrengen weißbärtigen Herrn beneiden dürfen. Unsere Winter sind oft nichts als todte Herbste, die mit ihrem Schnee- und Regengemisch dem Germanen, der von Urzeit her seinen soliden Winter gewöhnt ist, besser vom Halse blieben. Freilich habe ich hierbei nur die Natur-Aesthetik im Sinne; wirthschaftlich hat die frostige Tyrannei ihre schweren Gebresten.

Bei ruhiger Luft unterscheidet sich ein obererzgebirgischer Schneefall von einem solchen im Tiefland nur durch seine Ausdauer, und doch ist er ein übel angesehener Gast; bei den Forstleuten bereitet der stille Duckmäuser geradezu Schrecken. Mit heuchlerischer Ruhe streut er blind seine Flocken über die Wälder aus, als wolle er sie liebend bedecken vor Sturm und Unbill, aber er selber ist ein Vernichter der böswilligsten Art. Tief [184] unter ihm knicken und brechen Aeste, Wipfel und Stämmchen zu Hunderttausenden, sodaß junge Bestände nach der Schneeschmelze den Eindruck machen, als seien Straßenwalzen darüber hingegangen. Die Schneestürme, die namentlich gern des Nachts von dem Gebirgssattel zwischen Keil- und Fichtelberg mit rasender Gewalt hereinbrechen, sind, so wild sie sich auch geberden mögen, immer noch willkommenere Gäste, als jener stille Schleicher mit seinen gefälligen Manieren, selbst wenn sie den Schnee tagelang in horizontaler Richtung durch die Gassen treiben und in den Schornsteinen und über die Dächer hinheulen, daß dem abgehärtetsten Gebirgler im Herzen bange wird. Nach einer solchen richtigen Schneesturm-Nacht gewährt die Stadt zuweilen einen ganz seltsamen Anblick. Die Häuser tragen buchstäblich Schneemäntel. Wo nur der geringste Vorsprung Anhalt gab, bildeten sich, durch den Druck des Sturmes verdichtet, weiße, frostige Hüllen an den Wänden; die nicht verschütteten Fenster haben sich ganz hinter krystallenen Jalousien verhüllt, und selbst die Geschäftsfirmen an den Häusern zeigen sich weiß verhängt. Freilich dauert die Herrlichkeit dieser Hermelindraperien nicht lange; sobald der Druck nachläßt, blättern die Hüllen von den Wänden herab, wie die Spähne auf den Zimmerplätzen. Ein ganz unbeschreiblich schönes, seltsames Bild gewährt es aber, wenn in der Nacht der Sturm plötzlich schweigt, der Nachthimmel sich aufheitert, das Mondlicht über die erstarrten fremdartigen Gebilde seine magischen Schatten hinwirft und die flimmernden Gestirne in den Myriaden von Eiskrystallen sich widerspiegeln, sodaß die Schneeflächen aufleuchten, als hätte man Millionen von Diamanten über sie ausgesäet.

Oft aber geschieht es auch, daß durch einen Schneesturm in wenig Stunden die Straßen der Stadt halb verschüttet und unpassirbar gemacht werden; die Insassen ganzer Häuserreihen sind eingekerkert, die Zimmer in den Erdgeschossen finster wie Kellerräume. Man gräbt sich heraus oder benutzt wohl gar Fenster in den oberen Stockwerken als Hausthüren. Die alten Bestände der benachbarten Forste geben dann das seltsame Bild eines Waldes von riesengroßen Korallen, und die jüngeren, die zumeist ganz verschüttet sind, erscheinen wie ein im Sturm erstarrtes Meer; jedes Bäumchen stellt den unsichtbaren Träger einer Woge dar, dabei zeigt sich der Schnee von einer Weiße, wie sie der Städter im Tiefland nie, der Dörfler aber nur bei frischem Schneefall und strenger Kälte zu schauen bekommt; die leiseste Wirkung der Sonne nimmt ihm ja den Schmelz.

Die nunmehrigen Verkehrsbahnen außerhalb der Stadt haben mit den Richtungen der alten Straßen, soweit diese nicht ausgeschaufelt werden können, gar nichts zu thun, und häufig geschieht’s, daß ein Schlittengaul über die Wipfelzweige einer Eberesche strauchelt, auf der vor Wochen noch der Staar sein Lied gepfiffen. Für den Stadtverkehr haben diese starken Schneefälle die Schöpfung einer ganz eigenartigen Wintergarnison, der sogenannten „Trampelgarde“, zur Folge gehabt. Sie besteht meist aus Arbeitern, die ihrer gewohnten Beschäftigung des Schnees wegen nicht nachgehen können. Nach mäßigerem Schneewetter lassen sie ihre Waffe, die Schippe (Schaufel), ruhen, formiren sich zu enggeschlossenen Colonnen und „trampeln“ Bahn durch die frischgefallene Schneedecke; dabei sagen die weidlich behandschuhten und bestiefelten Trampler gleich den Zimmerleuten beim Pfahlrammen einen Tactspruch her, der kurz und bündig lautet:

„Tritt für Tritt,
Der Orz geht mit.“

Rührend ist es anzusehen, wenn sie vor einzelne Häuser ziehen, in denen sie Schulkinder wissen, sie nehmen dann die kleinsten davon auf den Arm und tragen sie, unbeschadet des Trampeldienstes, nach dem Schulhause. Bei großen Schneefällen müssen die Gassen ausgeschaufelt werden, und nach schweren Stürmen wird der Trampelgardist nicht selten zum Bergmann; sobald der Tagebau unmöglich geworden, legt er Schneezechen an, wie unser Bild eine solche zeigt.

Der Winter macht gesellig auch im Unterlande, wie viel mehr aber drängt ein solcher Winter den Bewohnern des Obergebirges diese Tugend auf! Hantirungen im Freien sind nicht möglich; der Verkehr stockt, und wer mit dem Walde zu schaffen hat, ist ganz auf das Haus angewiesen, denn die Waldwege sind monatelang unpassirbar. Wohl stehen dann die Grünröcke oft unruhig an den Fenstern, durchhauchen die Eisblumen, schauen hinaus in die verschneiten Forste und gedenken seufzend des Wildes, das sie in besseren Tagen gehegt und geschützt und das nun nach den tieferen Revieren ausgetreten, um sich dort vom ersten besten Sonntagsjäger todtschießen zu lassen, oder sie tragen schwere Bekümmerniß um die grünen, schlankstämmigen Pfleglinge draußen im Walde, die sie unter ungeheuerem Schneedruck duldend wissen und die sie wahrscheinlich im Frühling als eine Armee von Krüppeln wiedersehen werden.

Wie die Honoratioren in kleinen Städten ihre Zeit verbringen, das ist schon oft geschildert worden; wir brauchen uns, um ein Bild der Wiesenthaler vornehmen Welt zu haben, nur noch die erzgebirgische Offenheit, Treuherzigkeit und einen gewissen weltbürgerlichen Freimuth hinzuzudenken, so haben wir die rechte Vorstellung gewonnen; der Gebildete weiß ja überall je nach dem Maße seiner Veranlagung ein Eden in ein Kamtschatka und ein Kamtschatka in ein Eden umzuwandeln. Geselliger drängen sich aber auch die Leute aus dem Volk in den strengen Wintertagen zusammen um die behaglichen Oefen in den halbdunklen, schneeverschütteten Zimmern. Wie oft hat man schon die Obererzgebirgler beklagt, daß sie zu mehreren Familien in einem Zimmer wohnen müssen! Es ist das erst in zweiter Linie eine Folge der Dürftigkeit, hat doch z. B. Wiesenthal für seine 2000 Einwohner Räume zur vollen Genüge, und die Stadt erscheint für diese Zahl eher häuserreich als häuserarm.

In erster Linie ist es wohl der Drang nach Geselligkeit, und dann erst kommt der wirthschaftliche Vortheil der gemeinschaftlichen Feuerung in Frage. Nur getrennt durch einen Kreidestrich auf der Diele „hüfern“ sie sich an einander, Männlein und Weiblein, und plaudern, singen, lachen und arbeiten und schlagen so dem unfreundlichen Gesellen draußen ein Schnippchen, so wild er auch durch die Schornsteine heulen und an den Fensterladen rütteln mag. Aus allen Winkeln ertönt das eigenthümliche Geräusch des Klöppelns. Wie ein Waldbächlein, das über sein Kieselbett lebendig dahinfließt, rauscht das leise Geklapper von zehn, fünfzehn Klöpplerinnen zusammen. Die Männer sitzen am Posamentirstuhl oder fertigen Stecknadeln nach Urväterweise; dabei erzählt man sich häufig traditionelle Gruselgeschichten, die stets mit der unfreundlichen Natur des Obererzgebirges in Zusammenhang stehen und ihren lieblosen Charakter wiederspiegeln. Gesungen wird fast ausschließlich das heitere Genre der Volksdichtung, und wenn ein Lied auch nicht sonderlich heiteren Inhaltes ist, so bricht man doch regelmäßig am Schluß des Gesanges in ein helles Gelächter aus, in das die Matronen ebenso lebhaft wie die fünfjährigen Weltbürgerinnen einstimmen, welche mit ihren kleinen täppischen Händen die Klöppelhölzer gar anmuthig durch einander werfen. Und bei all diesem hellen Vergnügen hinter den Eisblumen der Fenster läßt man keine Minute ungenützt verstreichen. Welchen Werth hier die Zeit hat, das beweisen die Antworten, die dem Fremden zu Theil werden, wenn er nach Verdienst und Arbeitsquantum fragt.

„Wenn ich net an den Ofen muß,“ spricht die Frau, und der Mann: „Wenn ich mei’ Pfeif’ net anbrenne muß, do breng ich in der Stunn das und das.“

Man sieht, die Leutchen haben ihre Leistungskraft nach Secunden berechnet.

Der Wiesenthaler weiß dem Feind aller Orten zu begegnen. Der Unbill des Wetters setzt er seinen natürlichen Frohmuth entgegen; die Lust an der Arbeit ist sein Vergnügen; der kargen Natur begegnet er mit einer rührenden Genügsamkeit; den Druck der Verhältnisse, der sonst so viel Bitterkeit in die Menschenseele wirft, besiegt er durch ein sorgloses Herz, das ihm die Bedürfnißlosigkeit geschenkt. Man darf dreist behaupten, daß hinter dem Wiesenthaler, wenn er in seinen Friedhof eingeht, die gleich große, wenn nicht eine größere Summe von Freuden liegt, wie hinter dem reichgesegneten Tiefländer, den man pomphaft zur Erde bestattet. Möge er sich seinen unbewußten Idealismus für alle Zeiten bewahren! Er hat ihn auf seiner rauhen Höhe nöthig. – Nicht in dem, was ihm seine Scholle giebt, sondern in dem, was er ihr entgegen bringt, liegt sein Glück und seine Wohlfahrt.

Gampe.



[185]

Oberwiesenthal im sächsischen Erzgebirge.
Zeichnung von H. Heubner.
Nach photographischen Aufnahmen von Louis Herrmann in Oberwiesenthal.

[186]

Irrende Sterne.
Novelle von Georg Horn.
(Fortsetzung.)
Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Als Lideman in das zur Zusammenkunft bestimmte Zimmer trat, war der Eindruck, den Rechting von ihm empfing, ein mitleiderweckender. Die lächelnde vornehme Ruhe, die der Bankpräsident sonst zu zeigen pflegte, war von ihm gewichen. Er suchte nach einem Wort – er konnte nicht sprechen. Rechting fragte nach seinen Wünschen.

„Wünsche? Ich habe nur einen – den Tod.“

Lideman war ein so trauriges Bild menschlicher Vernichtung, daß Rechting die Erinnerung an den Aufschrei – den Hülferuf seiner Frau in sich wachrufen mußte, um sich nicht von Mitleid bemeistern zu lassen.

„Ich möchte nichts sehnlicher wünschen, als das Ende aller Dinge,“ nahm Lideman wieder das Wort – „wenn Eines mir nicht noch höher stände – meine Rechtfertigung vor der Welt.“

„Ihre Rechtfertigung, Herr Präsident?“

„Präsident!“ wiederholte der Gefangene mit dem Ausdrucke herben Schmerzes. „Die Rolle ist aus – Lideman sans phrase! Wenn ich nicht wüßte, daß die Ironie Ihnen fremd – nein, Sie spotten nicht, Sie sind ein Mann, der stets Gefühl und Herz hatte. Vielleicht werden Sie meine Bitte unterstützen – mit dem Ansehen Ihrer Person –“

„Diese Bitte ist? Wenn ich Ihnen etwa Erleichterungen verschaffen kann, die sich mit den gesetzlichen Bestimmungen vertragen –“

„Meine vorläufige Freilassung gegen eine hohe Caution wünsche ich. Ich muß auf freiem Fuße sein, um meine Unschuld vor der Welt beweisen zu können. Jetzt, als ein armer gefangener Mann, bin ich ein Mensch, der ohne Arme ist. Ich werde mich nicht dem Bereiche der Gerechtigkeit entziehen. Mein gutes Gewissen kann allen Proceduren entgegensehen. Wenn eine Erinnerung an unsern freundschaftlichen Verkehr in Ihrem edlen Herzen zurückgeblieben ist, so bitte ich Sie, Ihren Einfluß –“

Auf eine heftig abweisende Geberde Rechting’s schwieg er, während er zugleich mit lauerndem Blicke den Ausdruck der Empfindung in den Mienen seines Gegenüber verfolgte.

„Ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen, Herr Lideman.“

„Warum wenig Hoffnung, Herr von Rechting? Ihr Wort ist von großem Einfluß –“

„Warum? Weil – Ueberzeugung, Ehre und Pflicht es mir verbieten – weil ich es war, der die Beweise für Ihre Schuld ergründete, weil ich als Staatsanwalt die öffentliche Anklage gegen Sie zu erheben beordert bin und weil ich nach Pflicht und Recht Ihren Antrag nie unterstützen könnte.“

Lideman starrte den Staatsanwalt gläsern an, und seine Unterlippe bewegte sich wie im Fieber.

„Ich darf nichts thun,“ fuhr Rechting fort, „als was Ehre und Pflicht mir gebieten. Mit Ihrer Rechtfertigung dürfte es schlimm stehen. Ich erinnere Sie nur an einen Menschen, an den Diener des Generals W. – nun, Sie wissen ja: an Pechner, mit dem Sie sich in verräterische Verbindungen eingelassen haben. Sie haben ihn durch Geld bestochen, daß er Ihnen Schriftstücke aus dem Ressort des Generals am Abend auslieferte; die Nacht über ließen Sie dieselben copiren, sodaß sie des folgenden Tages wieder auf dem Tische des Chefs lagen, scheinbar unberührt. Ich weiß Alles. Dieser Mensch hat gegen Sie ausgesagt. Es war auch von weiteren Auslieferungen die Rede –“

Lideman setzte die Maske der Ueberraschung auf.

„Von Festungsplänen zum Beispiel, um Ihnen noch mehr zu sagen. Vielleicht hatten Sie betreffs Copirung derselben eine Persönlichkeit in’s Auge gefaßt, die Ihnen das besorgen sollte – Sie erinnern sich wohl noch einer Unterhaltung, die Sie in Ihrem Garten mit einem jungen Ingenieur hatten. Den Namen brauche ich Ihnen nicht zu sagen –“

„Lichtner!“ zischte der Angeklagte zwischen den gepreßten Lippen hervor. „Sie haben wohl gelauscht, Herr von Rechting?“

Der Staatsanwalt maß ihn mit stolzen Blicken.

„Verzeihen Sie, Herr von Rechting! Ich bin gereizt, weil ich unglücklich geworden bin. Ich wollte nur sagen, daß, wenn Lichtner gegen mich schwört, er einen Meineid schwört.“

„Sorgen Sie sich nicht – er wird nicht gegen Sie aufgerufen werden. Was ich Ihnen hier sagte, war eine rein private Bemerkung. Ich habe die Mittheilung von ihm selbst. Uebrigens habe ich noch ganz andre Dinge entdeckt. Ich war verreist, Herr Lideman, im Auslande –“

Lideman stieß einen Laut der Ueberraschung aus und starrte Rechting wie in plötzlich gewonnenem Verständniß an. Dann senkte er das Haupt. Er gab sich dem Anschein nach gefangen.

„Vor wenig Monaten noch,“ sagte er gedrückt, „war ich jeden Abend zu Ihnen zum Thee geladen – und nun laden Sie mich vor die Geschworenen. Diese werden mich verurteilen – wie Alle sicher sein können, verurtheilt zu werden, deren Verbrechen darin besteht, daß sie sich über den Unsinn der nationalen Grenzsperren hinwegsetzten. Hier bin ich gebrandmarkt – jenseits der Grenze werde ich vielleicht Ehrenbürger. Das sind so wechselnde Begriffe – je nach dem beschränkten nationalen Standpunkte. Ein praktischer Mann wird fragen: was hat er denn gethan? Er hat einen internationalen Austausch getrieben – ein Geschäft wie jedes andere. Sie werden mich verstehen. Es wird Ihnen auch Manches in milderem Lichte erscheinen, wenn ich Sie einen Blick in mein armes Herz thun lasse. Eine Leidenschaft hat mich ruinirt – eine Frau. Was soll ich Ihnen weiter sagen? Ein großes Vermögen zu gewinnen, ihr mit allen Lockungen desselben zu erscheinen – die alte Geschichte vom goldenen Regen der Danaë – auch vielleicht mit äußeren Auszeichnungen, die auf die Herzen der Frauen jeder Zeit ihre sichere Wirkungen üben. Hier haben Sie die Erklärung!“

War das der Name seiner Frau, der Erich aus diesen halb verschleierten Worten entgegen klang? Es überlief ihn heiß, daß er Mühe hatte, sich nicht zu Thätlichkeiten hinreißen zu lassen. Lideman nahm den Kampf Rechting’s für ein Aufwallen des Mitleids an.

„Nehmen Sie ein Stück Papier, Herr von Rechting, schreiben Sie ein paar Worte an den Untersuchungsrichter, etwa so: ‚Stellen Sie, verehrter Herr College, das Verfahren gegen den Bankpräsidenten ein! Ich habe eine andere Ansicht von den Verhältnissen bekommen.’ Fertig – todt die ganze Geschichte!“

„Ich habe Sie absichtlich nicht unterbrochen,“ sagte Erich mit tiefem Atemholen, „um eine Blick in das dunkle Gewirre Ihres Charakters, in Ihre tiefe Verkommenheit zu werfen. Wenn ich etwas innerlichst bereue, so ist es der Schritt, der uns gesellschaftlich zusammen geführt hat. Nichts mehr davon! Sie muthen mir, dem Manne, gegen dessen Glück und Ehre Sie den Todesstoß zu führen im Begriffe waren, eine Schurkerei zu! Und wenn Sie mir mit alle Banden des Blutes an’s Herz geknüpft wären – wenn ich Ihr Leben retten könnte – ich möchte kein solches retten.“

Er machte Miene zu gehen.

„So soll ich also vernichtet werden!“ rief Lideman.

„Sie werden Gerechtigkeit finden.“

Der Gefangene lachte höhnisch auf.

„Damit Sie nicht überrascht werden, möchte ich Sie auf Eins aufmerksam machen, Herr von Rechting.“

In den Blicken Lideman’s schimmerte etwas wie Bosheit.

„Die Geschäftsbücher, die vielleicht der Untersuchungsrichter an sich nehmen wird – es ist das immer so – das Cassabuch und das Hauptbuch – in diesen ist ein Posten gebucht – eine ziemlich beträchtliche Summe, welche –“ und hier nahm seine Rede ein langsameres Tempo an, „welche für ein Geschenk ausgegeben wurde, das Frau von Rechting, die Gattin des Herrn Staatsanwalts von Rechting, vom Bankpräsideten Lideman erhalten hatte – in allen Ehren – heißt das.“

Eine Pause. Lideman hatte die Wirkung seiner Worte richtig berechnet. Der Staatsanwalt hatte die Augen geschlossen – nur die tiefe Blässe seines Gesichts verriet, mit welcher Wucht der Schlag ihn getroffen.

„Gebucht,“ wiederholte Lideman, „– schwarz auf weiß – Cassabuch – Hauptbuch! Sehen Sie, Herr von Rechting, gewöhnlich trägt ein Geschäftsmann solche Privatausgaben nicht ein, aber bei einem größeren Posten – und ich weiß eigentlich selbst [187] nicht, wie es dazu kam. Vielleicht schwebte mir im Momente eine Situation wie die gegenwärtige im Geiste vor. Kurz, ich gab meinem Buchhalter den Auftrag. Aber denken Sie nichts Arges dabei! Ihre Frau Gemahlin ist über alle Verleumdung erhaben. Daß Ihnen die Sache nicht sehr angenehm – kann ich mir lebhaft denken, aber sagen mußte ich es Ihnen – aus alter Freundschaft.“

Lange saß Erich regungslos da; er ließ Gedanken und Empfindungen wirr und wild durch Gehirn und Herz jagen. Wie verworrene Träume, wie visionäre Vorstellungen wirkten die Worte Lideman’s in ihm nach; jeder klare Begriff entwand sich ihm in diesem Chaos von Schuld, Anklage und Jammer. Das Geschenk des Schurken – der Name seiner Frau in den Büchern – vor der Welt bloßgestellt – von ihrem Urtheile beschmutzt, geschändet! Als er sich erhob, sah, er, daß er allein war. Er schlug die Hände vor das Gesicht. Doris – Doris!

Eines stieg aus den dunklen Wogen in seinem Innern auf, ein Gedanke, klar, scharf wie die Schneide eines Richtschwertes. Sollte ein Mensch wie dieser, fragte er sich, ein derartiges Geschenk spenden, ohne etwas empfangen zu haben? Warum gerade betonte er ihre Schuldlosigkeit? O Gott, o Gott! Wie auf einen Fels hatte er auf Doris gebaut! Die Fittige eines Engels der Offenbarung hätten nach seinen Gedanken nicht reiner sein können, als der Wandel seiner Frau in Pflicht, Ehre und Zucht. Kein Argwohn, kein Mißton, am wenigsten ein Zweifel hatten in seiner Seele Platz gefunden – und nun? Der vertraute Verkehr Lideman’s in seinem Hause, der Vorschlag desselben auf Betheiligung an seinen Geschäften, das Fest in seinem Landhause – Glied reihte sich an Glied zu einer Kette.

Er sprang auf und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, als wollte er alle ferneren Gedanken niederhalten. Die weiteren Consequenzen hätten ihn dem Wahnsinne nahe gebracht. O Doris – Doris , rief es in ihm, habe ich Dich nicht gekleidet mit meiner Ehre, mit der Sorge meiner Liebe? Habe ich Dich nicht gesättigt mit meinem ganzen Herzen? Unglückseliges Weib, was hat Dich getrieben, diesen Schritt zu thun? Die Schande hatte seine Schwelle überschritten, sie wohnte bei ihm, und er – er hatte vielleicht schon von ihren Tellern gegessen. Doris – Doris!

Dann ging die Brandung in ihm nieder. Doris erschien vor seinem inneren Blicke, so, wie er sie zum ersten Male gesehen auf der Düne im Abendsonnenglanz, da er sich gesagt hatte: Du bist mein. Reizvoll, sanft lächelnd, die Unschuld auf ihrer Stirn. Konnte dieses von ihm so heiß geliebte Wesen, konnte sich dieses in das Geschöpf umwandeln, um das er jetzt die Angst seines Herzens trug? Nie, nie! rief es in ihm. Mit aller Kraft der Empfindung hielt er jenes Bild von ihr fest. Wie wohl wurde ihm auf einmal um’s Herz! Und dann so ruhig, daß er aufathmete, als hätte sich jegliches Schwere von ihm abgewälzt. Wie hätte sie sich auch so weit vergessen können? Sein Weib, die Mutter seines Kindes! Mochte es immerhin wahr sein, was Lideman da von dem Geschenk gesprochen, mochten die Bücher den Ruf von Doris in dem Auge der Welt brandmarken – für ihn wenigstens mußte sich eine befriedigende Aufklärung finden. Der Strom der alten Liebe floß mit voller Macht in ihn zurück und spülte alles Unreine hinaus, allen Zorn, allen Verdacht und alle Anklagen.

Da klopfte es an die Thür. Der Bureaudiener war es in Begleitung des Unterbeamten, welcher die Bücher des Bankvereins an sich nehmen sollte und die amtliche Ermächtigung von ihm verlangte. Mit zitternder Hand gab Erich das Verlangte und ermahnte zur Eile. Sie sollten die Bücher schnell zur Stelle schaffen, so rasch wie möglich.

Die Beamten kamen nach einer Weile mit den Büchern zurück. Sie legten eine ganze Last der großen in graues Leder mit Messingbeschlägen gebundenen Folianten vor dem Staatsanwalt nieder.

Wie leicht war es ihm, den guten Ruf seiner Frau vor der Welt zu retten! Ein Blatt – ein Riß! Er öffnete eines der großen Bücher und blätterte darin mit zitternder Hand. In dem Gewirre von Summen und Zahlen suchte er. Dann aber warf er das Buch bei Seite. Eine Fälschung! Auf welche Irrwege drohten ihn Angst und Verzweiflung zu bringen! – In seinem Schmerzgefühle um seine Frau, in dem Haß gegen den Verbrecher fühlte er es wie eine tiefe Genugthuung, daß der Verbrecher am Staate, der Verbrecher an seinem Eheglück, ihm, dem Staatsanwalt, in die Hände geliefert war. Aber bei weiterer Ueberlegung der Sachlage stellte sich Rechting die Nothwendigkeit dar, den Minister um seine Demission zu bitten. Wo ein derartiger Beweis gegen die Frau dessen vorlag, der die öffentliche Anklage zu führen hatte, ergab sich diese Nothwendigkeit von selbst. Für ihn blieb gewiß die Ehre seiner Frau unbefleckt – er wollte dann Doris und Liddy mit sich an einen fernen Ort nehmen, wo Niemand ihr und dem Kinde mit einem Verdachte in den Weg kommen würde. Er war nur noch unschlüssig, ob er geraden Weges zum Minister gehen sollte, oder nach Hause. Nach letzterem verlangte sein Herz, und dem folgte er. Sein Weg führte ihn an dem Hause des Bankvereins vorüber. Es war ein reges Ab- und Zugehen. Die Verhaftung des Präsidenten hatte den Ruf des Hauses erschüttert, und die Meisten holten sich ihre Depositen ab. Zehn Schritte vor ihm kam eine hohe weibliche Gestalt heraus, in einem dunklen Mantel, der die Gestalt vollständig einhüllte. „Regina!“ sagte sich Erich und beschleunigte seine Schritte, um sie zu erreichen. Er hatte Mühe. An einer Ecke, um die sie bog, war er ihr nahegekommen und hatte ihren Namen angerufen. Sie wandte sich um. Die Züge, in die Erich schaute, konnten Regina gehören, jawohl, aber jetzt waren sie verfallen, verzerrt, erdfahl. Ein fremdes Wesen stand vor ihm, das ihn mit den großen grauen Augen anstarrte, als hätte es eine plötzliche Vision. War es Regina oder eine Fremde? fragte sich Erich. Aber dann kam ein flehender Blick so thränenschwer zu ihm herüber, als wollte er sagen: Störe meine Bahn nicht! Laß mich ruhig meines Weges gehen! Ohne Zweifel – es war die Freundin seines Hauses, so unerklärlich ihm auch diese stumme Bitte, dieses leise Abwinken mit der Hand erschien. Dann war sie seinen Blicken entschwunden.

Sollte er ihr folgen? Nein, sie hatte ihm ja abgewinkt – sie schien ihm seltsam unnahbar. Jede Heimsuchung des Herzens drückt dem davon betroffenen Wesen, und wäre es auch noch so schwer von Schuld beladen, eine Weihe auf, die es außerhalb des gewöhnlichen Empfindens stellt. Seine Gedanken gingen ihr auch nicht weiter nach. Dazu war er zu sehr mit seiner Frau beschäftigt. Regina war ihm nichts weiter als eine Freundin.

So wie jetzt hatte es ihn lange nicht nach Hause gedrängt, und seine Schritte waren von der Furcht beflügelt, es möchte jetzt, wo die alte Liebe wieder neue, frische Keime zu treiben begann, Doris etwas begegnet sein.

Zu Hause angekommen, fragte er fast athemlos nach seiner Frau. Sie war ausgegangen, lautete der Bericht des Mädchens. Allein? Nein, Fräulein Else hatte sie abgeholt – vervollständigte das Mädchen ihren Bericht. Damit wurde Erich ruhiger. Er versuchte zu arbeiten, aber er fand keine Ruhe. In dieser Situation war es ihm nicht unlieb, daß ihm der Besuch des alten Buchhalters, des Herrn Warbusch, angemeldet wurde.

„Die Bücher des Hauses sind in Ihren Händen, Herr von Rechting,“ begann dieser. „Da ein Geschäft, wie das unsere, Ordnung verlangt, und selbst solche unliebsame Zwischenfälle den Fortgang der Geschäfte nicht stören dürfen, so wollte ich ergebenst fragen, wann wir Hoffnung hätten, dieselben zurück zu erhalten.“

Die Antwort Rechting’s lautete dahin, daß die Bücher wohl noch eine Weile unter den Augen des Gerichts bleiben würden.

Herr Warbusch wollte sich mit diesem Bescheide schon empfehlen, als Erich ihn noch einen Augenblick zu bleiben bat. Seine Stimme war unsicher, als er das Wort an ihn richtete:

„Wissen Sie wohl von einer Summe, die auf meinen Namen gebucht ist?“

„Auf Ihren Namen, Herr Staatsanwalt? Weiß ich nichts – nein – aber auf den Ihrer Frau Gemahlin.“

Rechting mußte die Hand auf das Herz drücken – fest – um nicht den Klageschrei seines Innern lautbar werden zu lassen.

„Sie wissen, der Herr Präsident ist ein generöser und galanter Mann. Da ließ er mich – am Nachmittag vor seiner Verhaftung war’s – zu sich in sein Cabinet kommen. Vor ihm stand ein Korb mit köstlichen weißen Blumen – Magnolien heißt man sie. Ich war schon verwundert, daß mir so etwas zu Theil werden sollte. Es war doch mein Geburtstag nicht – und Baares ist mir lieber als Blumen. Aber für mich war das Präsent auch gar nicht. In seiner Hand hielt der Präsident ein [188] recht ansehnliches, blausammetnes Schmucketui. Das legte er in den Korb unter die Blumen. ‚Daß ich’s nicht vergesse,’ sagte er mir, ‚buchen Sie eine Summe von fünfzehntausend Mark für ein Geschenk an Frau von Rechting.’ Ich horchte noch einmal hin, fragte auch, da es nicht Styl ist, derartige Ausgaben – aber er bestand darauf. In demselben Augenblicke trat der Diener ein, und diesem gab er einen Auftrag für Frau von Wandelt, und dann sollte er den Korb zu Frau von Rechting bringen. Er empfahl ihm große Vorsicht.“

„Und die Summe ist gebucht worden?“ fragte Erich mit fast stockendem Athem.

„Ich hatte mir die Sache aufbehalten – mit dem Buchen – nur vorläufig meine Notiz gemacht. Vielleicht besann sich der Präsident, wollte sagen Herr Lideman, anders und redressirte eine derartige Unregelmäßigkeit in den Büchern, die ich nicht ausstehen kann. Da kam die Verhaftung – die Summe fehlte in der Casse, also mußte ich sie wohl oder übel buchen. Es mußte geschehen, ehe die Bücher abgeholt wurden.“

„Weiter, weiter, Herr Warbusch!“

„Der Name der Frau von Rechting wurde aber nicht eingeschrieben. Ihr Ruf sollte fleckenlos vor der Welt bleiben, wie ihre Ehre und die Ehre ihres Gatten.“

„Sie sind ein edler Mensch,“ rief Erich.

„Ich? Wieso? Fräulein Regina war’s, welche so zu mir gesprochen hatte.“

„Regina? – Regina?“ rief Erich.

„Ja, ja, dieselbe. Denken Sie – sie ist wiedergekommen! Aber in welchem Zustande! Ich hätte um sie weinen mögen. Diese geisterbleichen Züge, dieses zerschlagene Gemüth, die ganze Erscheinung – Gram, Reue, Magdalena. Wo sie war? Ich weiß es nicht; ich wagte auch nicht danach zu fragen. Sie kam im rechten Augenblicke. Ich brauchte Jemanden, der mir in dieser Sache rathen konnte. Ich theilte ihr meine Scrupel mit – da sagte sie die Worte, die Sie gehört haben, Herr von Rechting. Ich mußte ihr mein Wort geben, daß ich Ihnen nichts davon sagen würde, und ich hätte es auch gehalten, wenn Sie selbst nicht die Sache berührt hätten. Vor einer Stunde brachte sie mir die fünfzehntausend Mark auf das Comptoir.“

Rechting mußte an sich halten, daß er den Alten nicht an sein Herz schloß.

„Suchen Sie überall in den Büchern, Herr Staatsanwalt, und Sie werden nirgends den Namen Ihrer Frau Gemahlin finden, und wenn Sie ihn auch mit der Loupe suchen wollten. Und daß ich’s nicht vergesse – hier eine andere Angelegenheit – im Auftrag eines alten Freundes, des Fabrikbesitzers Lichtner. Lesen Sie später – und dann bitte ich um Bescheid. So etwas muß überlegt werden.“

Er legte ein Couvert hin, in das ein Schriftstück eingeschlossen war. Dann empfahl er sich und bat nur, daß die Bücher sobald als möglich zurückgegeben würden damit keine Stockung im Geschäft vorkomme.

Beim Abschied reichte ihm noch Rechting beide Hände, schüttelte die seinigen und zog sie an sein Herz – unfähig, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Warbusch wurde fast ärgerlich.

„Aber ich sagte doch, Herr von Rechting: nicht ich – Ich habe keinen Groschen zu verschenken. Die Hände von Fräulein Regina müssen Sie an Ihr Herz ziehen.“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Höhlenclub. In Wien hat sich Anfangs dieses Jahres ein Verein von Alpenfreunden, in Verbindung mit wissenschaftlichen Capacitäten, constituirt, welcher sich die Aufgabe stellt, den unzähligen Höhlen und unterirdischen Naturgängen der weiten österreichischen Hochgebirge eine planmäßig geleitete, aus wissenschaftlicher Basis gründlich durchgeführte Untersuchung angedeihen zu lassen.

Wir begegnen an der Spitze dieses in seiner Art bisher wohl einzig dastehenden Unternehmens Namen wie: Franz von Hauer, Director der kaiserlich königlichen geologischen Reichsanstalt, und zahlreichen Celebritäten auf dem Gebiete der praktischen Alpenkunde, in Summa Männern, von deren tatkräftigem und umsichtigem Bemühen in der geplanten Richtung sich mit Zuversicht günstige Resultate erwarten lassen.

Es ist eine bekannte und von der Naturwissenschaft vielfach gewürdigte Thatsache, daß das Innere der österreichischen Hochgebirge, namentlich im Gebiete der sogenannten Kalkalpen, in ganz abnormer Weise zerrissen ist. Besonders ist es die Bergwelt Krains, welche massenhaft unterirdische Zerklüftungen in sich birgt, wie sie in solcher Ausdehnung und Mannigfaltigkeit kaum wieder auf unserem Erdteil vorkommen dürften. Ebenso aber ist es Thatsache, daß die wenigsten dieser unterirdischen Räume bis jetzt gekannt, geschweige denn wissenschaftlich durchforscht worden sind. Wie das in einigen Gebieten Mährens in kleinem Maßstabe der Fall ist, folgen die wild einherstürmenden Alpengewässer Krains in vielen Fällen nicht dem natürlichen Laufe der Thalbildungen, sondern ergießen sich vielfach quer durch die Schluchten aus einer Thalwand in die andere, sodaß manche Gebirgsgegenden wie unterminirt erscheinen. Hier ist eine geheime, noch des Aufschlusses harrende Welt vorhanden, welche in ihrem Innern manchen hochinteressanten historischen Fund bergen dürfte.

Erwägt man ferner, daß, nach in den jüngst verflossenen Jahren gemachten, rein zufälligen Entdeckungen, die Kalkhöhlen der julischen Alpen vereinzelt von einem menschlichen Urgeschlechte bewohnt worden sind, welches in die grauesten Perioden der Steinzeit hinaufreicht – einer Epoche, die überhaupt erst seit drei Jahrzehnten wissenschaftlich erwiesen ist und über welche unsere derzeitige Kenntnisse noch ungemein lückenhaft sind –, so sind wir doppelt berechtigt, an das in Rede stehende Vorhaben für die Gebiete der Alterthumskunde Hoffnungen auf reiche Aufschlüsse über die Vergangenheit nicht nur dieser Länder zu knüpfen. Wer die Bedeutung würdigen kann, welche Entdeckungen wie diejenige der Höhlen von Aurignac in den französischen Pyrenäen, von Lüttich und der im Neanderthale bei Düsseldorf, für die Wissenschaft erlangt haben, und die offenen Fragen kennt, welche, durch jene Entdeckungen angeregt, der Lösung harren, wird diese Mittheilung mit besonderem Interesse begrüßen.

Z–r.


Ein darbender Inhaber des Eisernen Kreuzes. Immer wieder müssen wir auf die Versprechungen zurückkommen, welche beim Beginn des Krieges 1870 in begeisterten Reden feierlich Allen zugesichert wurden, welche „für das Vaterland dem Kampfe und dem Tode entgegengingen“ – und immer wieder müssen wir auf Männer hinweisen, welche durch den Krieg um ihr Brod gekommen sind zusammt ihrer Familie vom „dankbaren Vaterland“ vergessen worden sind. Heute bitte wir für Einen, welcher bei Spicheren, Vionville und vor Metz mitgekämpft, das Eiserne Kreuz zweiter Classe erhalten, sogar für das erster Classe vorgeschlagen war, aber dennoch keine der Invalidenwohlthaten genießt, weil er seine Krankheit zu spät angemeldet. In bittere Noth geraten, mußte er Weib und Kind Zuflucht bei seinen Schwiegereltern suchen lassen, während er selbst dem Erfolg unserer Bitte entgegensieht. Wir bitten für den Mann, der, von angenehmem Aeußern, geistig rüstig und bis auf eine Schwäche des linken Beins auch körperlich kräftig ist, um eine Stellung in einem Hause oder Geschäft; auch zu seiner früheren Beschäftigung als Friseur würde er gern zurückkehren, wenn er durch dieselbe in den Stand gesetzt würde, Weib und Kind wieder zu sich zu rufen und so den zerstörten Familienherd wieder aufzubauen.




Aufruf. Die „Shakespeare-Bibliothek“ in Birmingham, eine der größten, welche existirte, ist durch Feuer zerstört worden. Bei der hohen Verehrung, welche die deutsche Nation dem großen britischen Dichter zollt, muß sie es für ihre Pflicht halten, an der beabsichtigten Wiederherstellung dieser Bibliothek sich nach Kräften zu betheiligen.

Der Vorstand der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft richtet deshalb an alle Autoren oder Herausgeber, desgleichen an alle Verlagsbuchhändler die Bitte, ihm je ein Exemplar der von ihnen verfaßten, herausgegebenen oder verlegten Werke aus dem Gebiete der Shakespeare-Literatur unentgeltlich zu überlassen, um sie der Verwaltung jener Bibliothek, als einen Ehrenbeitrag Deutschlands, seiner Zeit zu übermitteln. Eine gleiche Bitte stellt er an alle Shakespeare-Freunde und Bibliothek-Besitzer, welche etwa Doubletten abzugeben haben.

Die Sendungen gehen an Alexander Huschke’s Hof-Buchhandlung in Weimar.



Kleiner Briefkasten.

M. G. in L. Nein! Verfasser des Artikels „Der Dichter des Narciß“ (in unserer Nummer 8) ist unser hochgeschätzter Mitarbeiter Rudolf von Gottschall.

J. M. Wir bedauern! Bereits Gedrucktes findet nicht Eingang in unser Blatt.

Anfrage: Giebt es Anstalten, in welchen Lehrerinnen für geistig zurückgebliebene Kinder gebildet werden?

Bitte um Auskunft. Sigismund Lachenwitz, der bekannte Thiermaler und humoristische Schriftsteller, welcher, erst achtundvierzig Jahre alt, im Juni 1868 zu Düsseldorf gestorben ist, hat ein Bild: „In der Luft kämpfende Adler“, gemalt, das mit einem anderen: „Eine Katzenhatze“, spurlos verschwunden ist. Ersteres stellt einen Adler dar, der einen Enterich in den Fängen hält; das andere zeigt einen Karrenhund, der an einer Mauer hochaufgerichtet steht und eine Katze auf derselben mit wüthendem Blicke verfolgt, während hinter ihm ein Spitz an den zerschlagenen Eiern aus der umgeworfenen Karre nascht. Beide Bilder sind im Jahre 1866 durch einen Agenten auf eine Ausstellung in New-York gebracht worden und seitdem verschollen. Die Wittwe des Künstlers giebt den Preis jedes Bildes auf fünfhundert Thaler an. Sollte nicht zu ermitteln sein, wo beide Kunstwerke sich gegenwärtig befinden?


  1. Seit Jahren angestellte meteorologische Beobachtungen ergeben für das 119 Meter über der Ostsee gelegene Leipzig eine mittlere Jahrestemperatur von 8,52 Grad Celsius, dagegen muß sich die Station Wiesenthal mit nur 4,75 Grad begnügen. Die Niederschläge betrugen 1870 in Leipzig 577 Millimeter, in Wiesenthal 1104. Zwischen dem letzten und dem ersten Schneefall lagen in Leipzig 209, in Wiesenthal nur 110 Tage. Absolut trübe Tage herrschten über Leipzig 27, über Wiesenthal aber 124.