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Der Dichter des „Narciß“

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Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Der Dichter des „Narciß“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 129–132
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Dichter des „Narciß“.

Der Tod hält gegenwärtig reiche Ernte unter den deutschen Dramatikern; schon vor Karl Gutzkow ist Emil Brachvogel dahingegangen, der Verfasser des „Narciß“, des erfolgreichsten Bühnenstückes der letzten Jahrzehnte.

Am Anfang der fünfziger Jahre machte ich die Bekanntschaft dieses Dichters, es war in Breslau beim alten Präsidenten; man denke dabei aber nicht an einen Oberpräsidenten oder Gerichtspräsidenten – es war ein „Präsident“, der damals mit den staatlichen Behörden auf sehr schlechtem Fuße stand, der Präsident einer wissenschaftlichen Akademie, der Leopoldinisch-karolinischen Gesellschaft der Naturforscher, der alte Nees von Esenbeck. Wie viele interessante Symposien wurden damals unter den Bäumen, in den Lauben seines botanischen Gartens gefeiert! Er hatte seinen philosophischen Cirkel, in welchem über die Lehren der Denker

Emil Brachvogel.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

etwas im Stil der Schelling’schen Naturphilosophie, doch mit freieren Perspectiven debattirt wurde, der langjährige Redacteur der „Schlesischen Zeitung“, Moecke, der spätere Redacteur der „Vossischen Zeitung“ und eifrige Jünger Schopenhauer’s, Otto Lindner, gehörten diesem Cirkel an. Außerdem gab es aber auch freie gesellschaftliche Abende, wo Philosophen, Dichter, christkatholische Prediger, Botaniker, interessante Frauen sich zusammenfanden; es waren damals die bureaux d’esprit von Breslau; doch der alte Nees, in seiner Jugend von Goethe hoch belobt, war wegen seiner christkatholischen Richtung damals mißliebig bei den Behörden, und wurde auch später seines Amtes entsetzt und aus seinem botanischen Garten vertrieben.

An einem dieser gesellschaftlichen Abende traf ich Brachvogel und seine schöne junge Frau; er war damals noch angehender [130] Poet und hatte zwei Stücke geschrieben, welche der alte Nees mir sehr rühmte: „Jean Favard oder die Liebe der Reichen“, ganz im Stil der französischen Effectdramatik gehalten, und die Tragödie: „Aham, der Arzt von Granada“, ein Werk von mehr poetischer Haltung, in welchem der Mangel an Vertrauen als die tragische Schuld des Helden hingestellt wird und zugleich seinen Untergang herbeiführt. Beide Stücke waren im Druck erschienen; doch der Autor war trotzdem so unberühmt geblieben, wie es die Verfasser blos gedruckter Stücke in Deutschland zu bleiben pflegen. Mit „Jean Favard“ hatte eine zweite Berliner Bühne einen Aufführungsversuch gemacht.

Auf den ersten Blick würde man den Dichter für einen jener „haarbuschigen Gesellen“ gehalten haben, von denen Shakespeare spricht; es lag etwas Verworrenes in seinem Aussehen und in seinem Wesen, wozu die wildwuchernde Frisur wesentlich beitrug; doch bei näherer Betrachtung des interessanten Gesichtes erkannte man das Sinnige und Phantasievolle, das sich in diesen Zügen ausprägte, besonders in der hohen Stirn und dem feingeschnittenen Mund, während die kleinen Augen allerdings nicht das genug Beherrschende hatten, welches sonst oft großen feurigen Dichteraugen eigen ist.

Ich las die beiden Stücke, die mir bisher unbekannt geblieben waren, mit großem Interesse und erkundigte mich dann nach den Lebensverhältnissen des Dichters; ich erfuhr, daß Brachvogel in Breslau am 29. April 1824 geboren sei, von einer gemüthskranken, schwermüthigen Mutter, und daß nach dem frühen Tode seines Vaters im Jahre 1830 seiner Erziehung die feste, liebende Hand gefehlt habe; er habe indeß die Realschule am Zwinger und das Magdaleneum besucht, sei dann bei einem Kupferstecher in die Lehre gegeben worden, habe sich aber von diesem Berufe wieder abgewendet und einen verunglückten Versuch als Schauspieler in Wien gemacht. Nach dieser letzteren Mittheilung konnte ich mir das „falsche Pathos“ erklären, das ihm bisweilen beim Gespräch im Leben eigen, aber auch in seinen Schriften zu finden war.

Längere Zeit vernahm ich dann wenig von ihm; ich rechnete ihn zu den Talenten, deren Entwickelung durch ungünstige Verhältnisse im Keim erstickt war; er bewegte sich in untergeordneten Lebensstellungen, wurde in Berlin Secretär des Kroll’schen Theaters und seit 1855 in dem Wolff’schen Telegraphenbureau beschäftigt.

Da kam plötzlich zu uns nach Schlesien die Kunde von einem großen Erfolg, den ein Stück Brachvogel’s am Berliner Hoftheater errungen hatte; von einem Erfolg, der nicht durch die Claque im Theater und in der Presse geschaffen, sondern mit Hülfe eines genialen Darstellers Dessoir errungen war und sich so nachhaltig erwies, daß das Stück bald die Runde über alle deutschen Bühnen machte und sich auf allen Repertoiren behauptete.

Dieses Stück führte den Titel „Narciß“, und der Verfasser erwachte eines Morgens als ein berühmter Mann. Herr von Hülsen wollte anfangs ein anderes Stück Brachvogel’s „Ali und Sarah“ zur Aufführung bringen, doch entschied er sich für den „Narciß“, nachdem der Regisseur Düringer und der Schauspieler Dessoir, für den die Hauptrolle bestimmt war, dieses Drama für die Bühne umgedichtet, manche Scene ganz beseitigt und manche Abschlüsse wirksamer gestaltet hatten.

Der „Narciß“ ist die glänzendste Blüthe des Brachvogel’schen Talentes, das vorher und nachher auch manche taube Blüthen gezeitigt hat. Wer kennt dieses Drama nicht? Die ersten Schauspieler haben die Titelrolle gespielt, Dessoir, der sie mit seltenem Erfolg creirte, Dawison, der besonders in der Schlußscene des vierten Actes ein hinreißendes Feuer entwickelte, Emil Devrient, Friedrich Haase; bald waren es die Liebhaber, bald die Charakterdarsteller, welche auf allen ihren Gastreisen das Paradepferd des „Narciß“ vorritten. Ein Bühnenstück von solchem Erfolg gehört in Deutschland zu den Seltenheiten.

Anfangs fragte man sich: wer ist Narciß – vielleicht jener schöne Jüngling der Mythe, der sein Bild in einer Quelle sah und sich in dasselbe verliebte? Haben wir es mit einer Tragödie der Selbstvergötterung zu thun? Doch nein, der Held war ein Franzose, der zur Zeit der Pompadour lebte, vor der großen Revolution, und das Stück lehnte sich an die Skizze Diderot’s: „Rameau’s Neffe“ an, welche Goethe übersetzt hat. In dieser Skizze ist bereits das ganze Charakterbild des Narciß, der Ton seiner philosophischen Sprechweise gegeben; ja auch der Pagode findet sich bereits darin, und die kleine hübsche Frau, welche der Neffe Rameau’s verloren hat.

An dieses Motiv knüpfte Brachvogel die eigene Erfindung an; die verlorene Frau wurde bei ihm zur Pompadour, Narciß in eine Hofintrigue verwickelt, welche zum Zweck hat, die allgewaltige Maitresse zu stürzen und zwar durch einen psychologischen Mord, durch eine Komödie, in welcher Narciß, der ehemalige Gatte, wie alle Andern wissen, nur er nicht, die Hauptrolle spielt. Er erkennt sein Weib und erwacht aus der rührenden Freude des Wiedersehens mit der schrecklichen Entdeckung, daß sein Weib die verabscheute Furie Frankreich’s ist; beide, schon längst dem Tode geweiht, brechen zusammen in Folge der gewaltigen Aufregung und sterben am Herzschlage.

Diese Scene ist die größte Effectscene unserer modernen Bühne; sie ist von Brachvogel mit hinreißender dramatischer Energie durchgeführt und hat eine grandiose Steigerung. Gleichwohl bewegt sie sich nicht auf den Höhen der reinen Tragik; ihre Voraussetzungen sind pathologischer Art; wir sehen Narciß schon im ersten Act bei dem Anfall eines innern Leidens zusammenbrechen, wir sehen die Pompadour als eine dem Tode geweihte Kranke; die letzte Scene ist nicht blos eine dramatische, sondern auch eine Lazarethkrisis, welche die beiden Patienten nicht überstehen.

Die meisten auf der Bühne uns vorgeführten Situationen des Stückes sind von großer Wirkung; Brachvogel hat sich, wie schon sein „Jean Favard“ beweist, an französischen Mustern gebildet, was theatralischen Effect betrifft; er hat eine phantasievolle Anschauung der Bühne und außerdem den dramatischen Nerv, besonders wo es starke Contraste in Scene zu setzen gilt.

Dagegen steht die Motivirung, die Intrigue sehr zurück; man pflegt ihr weniger nachzuspüren, wenn das, was auf der Bühne vor unseren Augen vorgeht, eine starke Wirkung hat. Sonst würden wir die Mischung deutscher übertriebener Empfindsamkeit mit der rücksichtslosesten Bosheit, welche die Maschinerie des Stückes in Bewegung setzt, um so störender empfinden. Oder ist es entfernt glaublich, daß ein Hofmann am Hofe Ludwig’s des Fünfzehnten, ein Herzog von Choiseul, blos deshalb der wüthendste Gegner der Pompadour wird, weil diese ihm erklärt, sie habe ihn nie geliebt, sie habe sich ihm ohne Liebe hingegeben?

Das mag auch der Grund sein, warum „Narciß“ nicht auf die französische Bühne gekommen ist; es war der Aufführung näher als irgend ein anderes deutsches Stück; denn ich sah im Jahre 1866 das Manuscript der Uebersetzung bereits auf dem Tische im Zimmer des damaligen Directors der kaiserlichen Theater, Camille Doucet, liegen. Der feine Akademiker fragte mich nach dem Erfolg des Stückes in Deutschland; ich gestand ein, daß er ein ebenso glänzender, wie nachhaltiger sei. Doucet zuckte mit den Achseln; für Frankreich müsse das Stück gänzlich umgearbeitet werden; in dieser Gestalt, mit dieser Motivirung sei es unmöglich.

In der That ist dieser Narciß kein Franzose; er ist ein Deutscher oder vielmehr – ein Schlesier. Bei der Holtei-Feier in Breslau schilderte Professor Weinhold den schlesischen Volkscharakter: „Der Schlesier ist ein Kaleidoskop; je nachdem er geschüttelt wird, bietet er dem Auge verschiedene Figuren: er liebt die Musik, hat Neigung für Phantastisches, aber er ist auch derb und realistisch bis zum Aeußersten, leichtsinnig und sinnlich, verfällt in weichliche Unentschlossenheit und läßt seine guten Anlagen in Trägheit oder dilettantischer Zerfahrenheit verkommen.“ Diese Mischung des Phantastischen und Derben, des Sentimentalen und Cynischen ist im „Narciß“ mit typischer Mustergültigkeit ausgeprägt; doch auch das ganze Dichternaturell Brachvogel’s trägt einige unverkennbare Züge des schlesischen Volkscharakters. Hierzu kommen die Eigenheiten des Autodidakten. Brachvogel hat wohl längere Zeit die Vorlesungen an der Breslauer Universität besucht, doch, wie wir gesehen, keine geregelte Vorbildung genossen. Glänzender Reichthum der Phantasie, Weichheit der Empfindung, lebensvolle Anschauung der Situationen gehen daher bei ihm Hand in Hand mit einer gewissen Zerflossenheit der Zeichnung, mit einer auf der Spitze stehenden Motivirung, vor Allem aber fehlt dem Dichterwein, den er uns credenzt, die feine Blume des classischen Geschmacks und der geläuterten Bildung; daher auch die ungleiche Höhe der einzelnen Schöpfungen und noch einem überraschend glücklichen Wurf eine Reihe von Fehlgriffen.

[131] Das nächste in Berlin zur Aufführung gekommene Stück Brachvogel’s, „Adalbert von Babenberg“ (1858), war ein Ritterschauspiel, wenigstens nach dem Eindruck, den es auf der Bühne machte. Es sollte die Tragödie der deutschen Treue sein. Der Held ist ein wenig politischer, aber vertrauensfester Deutscher, welcher ein Opfer der gegen ihn angezettelten Intriguen wird; doch diese Vertrauensseligkeit giebt ihm einen schwächlichen Zug; sein Untergang ist mehr traurig als tragisch. In „Mons de Caus“ (1859) that Brachvogel einen glücklicheren Griff, was die Wahl des Helden betrifft: der Erfinder der Dampfmaschine, der in’s Irrenhaus gesperrt wird, ist ein tragischer Held, in dessen Schicksal das Geschick der großen Entdecker und Erfinder und vieler anderer schöpferischer Geister sich spiegelt, doch hier zeigte Brachvogel ein so geringes Talent dramatischer Architektonik, daß er schon am Schlusse des zweiten Actes seinen Helden nach Bicêtre bringen läßt, was nach allen dramatischen Regeln erst am Schlusse des vierten Actes geschehen konnte. So gewann der Dichter Platz für eine zweite, eingeschachtelte Tragödie, deren Held der Marquis von Cinq-Mars ist, und das Interesse war unrettbar zersplittert; ein Charakter des Stückes indeß, der Spion Bradamonte, beweist das frische, schöpferische Talent des Dichters. Mit dem Schauspiel „Der Usurpator“, dessen Held, Cromwell, durchaus nicht im historisch großen Stil behandelt ist, nahm Brachvogel zunächst Abschied von der Bühne, da keines der nachgeborenen dramatischen Geschwister des „Narciß“ sich auf ihr zu behaupten vermochte; er wandte sich dem Roman zu, nicht ohne hin und wieder zu seiner alten Liebe zurückzukehren. So hatte er mit dem „Fräulein von Montpensier“ (1865) wieder einen größeren Bühnenerfolg. Das Stück hat die nervöse dramatische Unruhe, die flackernde Beleuchtung, die den Brachvogel’schen Productionen eigen ist, aber es hat wieder einige glänzende dramatische Scenen, markig ausgeführt und mit echtem Theaterinstinct geschaffen. Weniger gilt dies von den späteren Dramatisirungen einzelner Romanstoffe: „Die Harfenschule“ (1869) und „Hogarth“ (1870). In dem Schauspiel „Alte Schweden“ (1874) herrscht ein kräftiger Haudegenstil und altbrandenburgischer Patriotismus; es fand in Berlin gute Aufnahme, doch der Inhalt desselben war zu anekdotisch und zu unbedeutend.

Die Ungleichheit der errungenen Erfolge stimmte den Dichter selbst skeptisch in Bezug auf alles , was das Drama betrifft; er erklärte in seinen theatralischen Studien, es habe jede Kunst eine meist vollständig abgeschlossene Wissenschaft, welche ihr allein eigen sei, zur Grundlage; die Poesie allein, zumal die dramatische Poesie, entbehre derselben. Das ist nicht der Fall; es giebt Grundzüge dramatischer Architektonik, von denen auch ein bedeutendes Talent nur zu eigenem Schaden abweicht; dies war auch bei Brachvogel der Fall: der Mangel an künstlerischem Formgefühl, der sich auch in seinen „Gedichten“ in einer oft geradezu befremdenden Weise ausspricht, der Mangel an feinem Geschmack, an Sinn für künstlerische Gliederung war besonders im Drama seinem Talente hinderlich, das, von seltenstem Phantasiereichthum und von lebendigster theatralischer Anschauung, es im Grunde doch nur zu einem einzigen glücklichen Wurf und glänzenden Erfolg gebracht hat.

Weit freier konnte sich Brachvogel auf dem Gebiete des Romans bewegen, hier hörten die einschränkenden Hindernisse der knappen Technik des Dramas, hier die strengeren, von Brachvogel freilich in Abrede gestellten Ansprüche der grundlegenden Aesthetik auf. Hierzu kamen noch äußerliche Rücksichten: ein einziger Erfolg eines Dramatikers gewährt ihm keine Lebensstellung; spätere halbe Erfolge nöthigen ihn zu einem schweren Kampfe um seine Existenz. Brachvogel, der eine Zeitlang das Journal des Johanniterordens redigirt, doch im Jahre 1863 aus Meinungsverschiedenheiten die Redaction niedergelegt hatte, mußte sich jetzt als Schriftsteller allein durchschlagen; er vertauschte den Aufenthalt in Berlin auf längere Zeit mit demjenigen in kleineren Städten, wie Weißenfels und Görlitz. Der Roman eines namhaften Autors findet immer seinen Verleger und sein Publicum – und Brachvogel entwickelte auf dem Gebiete des Romans eine erstaunliche Fruchtbarkeit; er hat mehr als sechszehn drei- bis vierbändige Romane geschrieben, von denen einige bei der Leserwelt entschiedenes Glück machten. Allen gemeinsam ist ein großer Reichthum der Phantasie und eine Lebendigkeit der Schilderung, die nur hin und wieder, bei Ortsschilderungen, in’s äußerlich Topographische verläuft, das der Phantasie kein klares Bild giebt; aus diesem Reichthume geht die in Romanen beliebte Romantik der Situationen hervor, in denen Brachvogel bisweilen mit Glück auf den dramatischen Effect hinarbeitet; es ist Mark und Leben in vielen derselben und die Neigung zu philosophischer Weltbetrachtung, die ihm eigen ist, versetzt die Leser immer in eine Sphäre, die über den Bereich der gewöhnlichen Leihbibliothekenlectüre sich erhebt.

Freilich waren, abgesehen von einigen glänzenden Aperçus, seine philosophischen Ergüsse meist Ausflüsse einer unklaren Skepsis, wie denn auch den meisten seiner Romane eine feste, kunstgerecht sich aufgipfelnde Gliederung fehlt und ihre Architektonik viele blinde Fenster aufweist. Geniale, im Leben durch eigenes Verschulden scheiternde Künstlernaturen, die an den „Narciß“ anklingen, behandelte er mit Vorliebe: so den Musiker „Friedemann Bach“, den ältesten Sohn des Sebastian Bach, in einem Romane, der vielleicht sein bester geblieben ist, da er historische und kunsthistorische Portraits in Fülle enthält und eine phantastisch ausstaffirte Zigeunerromantik; hierher gehört auch das Bild des unglücklichen Dichters Schubart, des Gefangenen vom Hohenasperg, welches er uns in dem Romane „Schubart und seine Zeitgenossen“ entwirft; auch hier ist es ein unglückliches haltloses Genie, dessen selbstverschuldetes Mißgeschick uns vorgeführt wird.

Auf dem Gebiete des historischen Romans hat sich Brachvogel mehrmals zur Abart des biographischen verirrt, der uns gleichsam nur eine phantastisch aufgeputzte Lebensgeschichte giebt. Das gilt besonders von dem Romane „Ludwig der Vierzehnte oder die Komödie des Lebens“, in welchem das Leben des großen Königs von der Jugend bis zum höchsten Alter geschildert wird und fast alle Geliebten desselben der Reihe nach eine Rolle spielen, die Hauptrolle freilich jene Anna Stuart, deren Herz er nie gewonnen hat.

In dem Roman „Die Grafen Barfuß“ werden wir in Verhältnisse eingeführt, die sich unter den brandenburgisch-preußischen Regierungen abspielen; die Tragödie des Familienhasses hat hier zum Hintergrund die Geschichtschronik Preußens vom Großen Kurfürsten bis zu Friedrich dem Großen; in ähnlicher Weise werden wir in dem Roman „Glancarty“ durch eine ganze Periode der englischen Geschichte hindurchgeführt, die von der Regierung des zweiten Karl Stuart bis zur Thronbesteigung der Königin Anna nach dem Tode Wilhelm’s von Oranien reicht: eine ganze Bildergallerie historischer Berühmtheiten, Marlborough, Shaftesbury, der Herzog von Monmouth, Algernon Sidney, Essex, Newton, wird vor uns hingestellt, während der eigentliche Faden der Handlung durch die Intriguen des Herzogs von Sunderland gebildet wird; selbst in dem Roman „Hamlet“, in welchem die Parallele zwischen Hamlet und Lord Essex in einzelnen Situationen phantasievoll beleuchtet ist und auch geschichtliche Modelle für die anderen Shakespeare’schen Helden gesucht und gefunden werden, verläuft die Darstellung oft in eine Geschichtschronik des Zeitalters der „Elisabeth“; ja der Held des Romans, „der deutsche Michael“, ist fast an allen Hauptereignissen der deutschen Reformationszeit mit betheiligt.

Der Dichter hielt seinen Reichthum nicht genug zu Rathe; die Menge der Ereignisse und Persönlichkeiten läßt zuletzt viele dieser Romane mehr als romanhaft illustrirte Geschichtschroniken erscheinen, und das intime Interesse, welches die künstlerische Beschränkung auf einzelne hervorragende Persönlichkeiten vertheilt, geht darüber verloren. Gleichwohl enthalten alle diese Werke manche ergreifende Situationen und glänzende Schilderungen; einige derselben, wie „Beaumarchais“, in welchem nur die Vorliebe für das Crasse hier und dort bis zum Widrigen geht, haben mehr inneren Zusammenhalt. Besonders gilt dies von dem „Fliegenden Holländer“, der den holländischen Befreiungskrieg zum Hintergrund hat, in welchem aber die Mischung des Historischen und Freierfundenen eine glückliche ist und eine glänzende Erfindung und schwunghafte Darstellung selbst das phantastisch Grelle annehmbar macht.

Was auch die ästhetische Kritik an diesen allzu stoffreichen Romanen, deren Stil überdies ungleich ist und nicht das Gepräge eines geläuterten Geschmackes trägt, aussetzen mag: auf den Ruhm eines deutschen Alexander Dumas des Aelteren darf Brachvogel mit Recht Anspruch machen, was reiche Erfindung und effectvolle Darstellung betrifft; doch wie wenig entsprach der [132] äußere Dichterlohn den Reichthümern, die der Autor des „Monte-Christo“ sich zusammenschrieb und dann verschwendete!

Durch den Tod seiner Frau vereinsamt, schien Brachvogel der poetischen Production in letzter Zeit mehr zu entsagen: er schrieb in allzu prunkhaftem Romanstil mit byzantinischen Schnörkeln eine Sammlung von Biographien der neuesten Helden des deutschen Reiches; er begann eine Geschichte des Berliner Hoftheaters, und so unermüdlich thätig, starb er, mit der Feder in der Hand, eines Abends plötzlich in seinem Studirzimmer, ein treuer Arbeiter in dem erwählten Beruf.

Der Dichter des „Narciß“ wird der deutschen Nation unvergessen bleiben; er war eine liebenswürdige Natur, ein redlich strebender Schriftsteller, der, dem inneren Treiben, dem Schwung und der Phantasie seines schlesischen Naturells folgend, rastlos schuf, dem es stets auf die Leistung ankam und der nie nach flüchtigem Tagesruhm strebte.