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Die Gartenlaube (1879)/Heft 12

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[189]

No. 12. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.

Das Haus in der Schlucht.
Von Balduin Möllhausen.
(Schluß.)
7.

Pünktlich um Mitternacht war Bertus zur Stelle. Seiling erwartete ihn schon, und eine gewisse Zärtlichkeit lag in seiner Stimme, als er den jungen Mann begrüßte.

„Wir brauchen nicht weit zu gehen,“ fuhr er fort, „hier auf dem nackten Strande belauscht uns am wenigsten Jemand. Denn ich will Dir nicht nur ein Geheimniß anvertrauen, sondern Dir auch die Kordel, für welche allein ich so lange gelebt und gesorgt habe, für alle Ewigkeit als Dein Eigen übergeben.“

Sie setzten sich auf eine Geröllanhäufung, und während der Wind ihre Schläfe umsauste, nahm Seiling seine Mittheilungen wieder auf:

„Es ist wohl an die zweiundzwanzig Jahre her,“ sprach er in ruhigem, überlegendem Tone, „als Klaas und ich in San Francisco das Schiff, auf welchem wir als Matrosen dienten, verließen und uns landeinwärts wendeten. In den Goldminen trafen wir mit einem Deutschen, Namens Hager, und dessen junger Frau zusammen, und da es sich einzeln weniger ergiebig arbeitete, so kamen wir überein, beim Goldwaschen unser Glück gemeinschaftlich zu versuchen. Der Klaas war keine gute Zugabe, allein da er zu schaffen verstand und wir Sonnabends jedesmal unsern Erwerb redlich theilten, so hing Keiner von dem Andern ab. Handelte es sich doch nur darum, daß wir uns gegenseitig in die Hände arbeiteten. Wir hatten eine Hütte gebaut, in welcher Hager’s Frau die häuslichen Obliegenheiten verrichtete und für unsere Beköstigung sorgte, wofür Klaas und ich sie natürlich entschädigten, und die schlechtesten Tage meines Lebens waren es nicht, welche ich dort verlebte. Das Glück war uns günstig, allein während Hager und ich unsern Gewinn zusammenhielten und allmählich nicht unbeträchtliche Summen ersparten, verwendete Klaas die Sonntage dazu, das, was er im Laufe der Woche erworben hatte, zu verspielen und zu verjubeln. Drei Jahre waren hingegangen, und meine Ersparnisse beliefen sich auf etwa siebentausend Dollars; eine gleiche Summe hatte Hager erübrigt. Da trat ein Ereigniß ein, welches eine Störung in unserem gemeinschaftlichen Wirken verursachte: dem Hager wurde ein Töchterchen geboren. Doch die Freude seiner Vaterschaft sollte nicht lange ungetrübt bleiben, denn das Kind war kaum einige Wochen alt, als die Mutter sich hinlegte und nach kurzer Krankheit starb. Unser nächster Gedanke drehte sich um das Auseinandergehen. Hager und ich waren auch in dieser Absicht einig, gaben aber dem dringenden Zureden des Klaas nach und verpflichteten uns, noch unbestimmte Zeit beisammen zu bleiben. Wollte Gott, es wäre nicht geschehen! Dann stände es heute besser um mich und auch wohl um die Kordel –“

„So ist sie nicht Eure Tochter?“ fiel Bertus fast athemlos vor Erstaunen ein.

„Nicht meine Tochter,“ bestätigte Seiling tief aufschluchzend, „nein, nicht meine Tochter, obwohl sie mir an’s Herz gewachsen ist, wie ein Kind seinem leiblichen Vater. Sie ist die Tochter jener armen Frau und –“ schaudernd brach er ab und entfernte die Schweißtropfen von seiner Stirn: „Störe mich nicht mit Fragen, Bertus! Ich muß Alles so abspinnen, wie ich’s in meinem Kopfe zurecht gelegt habe, oder das Gedächtniß übermannt mich, daß ich nicht weiter kann. – Das Goldwaschen und das Kinderpflegen wollte nicht zusammen passen. Hatten wir früher in leidlicher Eintracht gelebt, so war’s jetzt bald dem Einen, bald dem Andern nicht recht, und wenn einmal eine kleine Havarie zwischen mir und dem Hager ausgebrochen war, hatte der Klaas eine Art, den Unfrieden zu schüren, daß Keiner dem Andern mehr traute. Und dabei blieb’s nicht. Klaas zog den Hager allmählich zu sich hinüber, und dieser, ohne seine gute Frau und im Kummer um dieselbe, gab nur zu leicht den Schmeichelreden des Verführers Raum und betheiligte sich an Spiel und Trunk. Ich rieth wohl zur Umkehr und bat den Hager, an sein Kind zu denken, allein er wurde um so grimmiger gegen mich, und Reden führte er, wie sie ihm allein der Klaas eingegeben haben konnte. Er nannte mich einen schamlosen Verführer, der ihm das Andenken an seine Frau in Galle verwandelt habe, und meinte, es müsse seinen Grund haben, daß ich so besorgt um die kleine Kordel sei. Ich schwieg zu solchen himmelschreienden Anklagen, aber im Geheimen beschloß ich, die erste Gelegenheit zu benutzen, um mich mit den Beiden gänzlich aus einander zu setzen und meiner Wege zu ziehen. Bevor ich indessen meinen Vorsatz ausführte, kam’s zur Entscheidung. Hager nannte mich eines Tages den niederträchtigsten Schurken, der jemals eines ehrlichen Mannes Weib verführt habe. Das war mir zu viel. Vor ihn hintretend forderte ich, daß er im nüchternen Zustande seine Anklagen wiederholen möge, damit ich sie widerlegen könne. Da lachte er laut auf, wie ein Wahnwitziger; und seinen Revolver hervorziehend, schoß er zweimal nach mir, ohne mich zu treffen. Als er aber zum dritten Male die Mordwaffe hob, sah ich wohl ein, daß es um mich geschehen sei. Was in den nächsten Minuten geschah, ist mir nie recht klar geworden. Meine Sinne hatten mich verlassen, und als ich wieder zu mir selbst kam, sah [190] ich den armen Hager todt daliegen. In seiner Brust steckte mein Messer, der Klaas, den ich vorher nicht gesehen hatte, knieete neben ihm, und als wären tausend Geschütze vor meinen Ohren abgebrannt worden, ertönte seine Stimme, indem er ausrief: ‚Peter Seiling, Du bist ein Mörder; Du hast den Hager erstochen.’“

Die letzten Worte sprach Seiling leise und schwer verständlich; dann schwieg er und starrte wie abwehrend vor sich hin.

„Ihr handeltet aus Nothwehr, Peter Seiling,“ nahm nach einer Pause Bertus das Wort, der bisher kaum zu athmen gewagt hatte, „Keiner an Eurer Stelle hätte es anders gemacht.“

Seiling richtete sich auf. Die glühende Stirn der kalten Brise preisgebend, sog er, wie um sich zu kräftigen, in tiefen Zügen die feuchte Seeluft ein.

„Ja, ich handelte aus Nothwehr,“ antwortete er gefaßt, „und dennoch wär’s besser gewesen, wenn die Kugel, die hart an meinem Kopf vorbeisauste, mich hingestreckt hätte. Denn ob aus Nothwehr, durch Zufall oder um einen Raub auszuführen: das vergossene Blut bleibt dasselbe. In den achtzehn Jahren, in welchen ich bei der Kordel gewissenhaft Vaterstelle vertrat, betrachtete ich sie kein einziges Mal ohne den Gedanken: ich habe deines Vaters Leben auf dem Gewissen; kein einziges Mal lachte sie mir zu, nicht den kleinsten Liebesdienst erwies sie mir nach Kinderart, ohne daß ich bei mir selber sprach: wenn sie’s wüßte! Ja, das waren schreckliche Jahre, und doch ist’s Spielerei gegen das, was ich seit des Klaas’ Eintreffen erduldete. Und dabei die Gewißheit, daß er selber den Zank zwischen mir und dem Hager schürte, um’s zum Zusammenstoß zu bringen und seinen Vortheil davon zu ziehen! Und wäre ich das Opfer des Streites geworden, so hätte er den Hager ebenso verfolgt, wie mich. Denn der Klaas ist eine so hinterlistige Natur, wie nur je eine ungestraft einen Mitmenschen in’s Elend stürzte, und zum Fluch ist er Allen geworden, die jemals mit ihm verkehrten, ohne daß es in deren Macht gelegen hätte, ihn abzuschütteln.“

„Ich kenne ihn,“ versetzte Bertus, als Seiling wiederum schwieg, „der Zufall führte mich mit ihm auf einem Schiffe zusammen. Er wurde verachtet –“

„So erzählte mir Kordel gestern Abend,“ nahm Seiling lebhaft das Wort, „gestern Abend, als sie – – doch mag das ruhen! Geschehenes ist nicht zu ändern. Meine Geschichte will ich zu Ende bringen, und was dann folgt – nun, ich denke, Ihr Beide sollt mir kein schlechtes Andenken nachtragen.“ Er seufzte und strich mit der Hand über seine feuchte Stirn. „Wie mir zu Muthe war, als ich den todten Hager vor mir liegen sah, was soll ich’s heut noch auffrischen? Erst Klaas brachte mich wieder zur Besinnung, indem er mir zuraunte, daß ich fort müsse, wenn ich nicht gehangen werden wolle. Das Wort hängen aber machte mich wild; denn es lag am Tage: wurde dieses Ereigniß unter den Minenarbeitern ruchbar, so gab’s keine Rettung für mich. Der Richter Lynch zaudert nicht lange, und wie hätte ich beweisen sollen, daß ich wirklich aus Nothwehr handelte? Keine Seele hätt’s mir geglaubt, und der Klaas wäre nicht der Mann gewesen, für mich zu zeugen, obwohl er Alles beobachtet haben mußte. Ueber dergleichen viel nachzudenken, hatte ich auch keinen Sinn. Den Hager begruben wir in selbiger Nacht heimlich. Am folgenden Morgen zahlte ich dem Klaas für sein Schweigen zweitausend Dollars aus; zugleich übertrug ich mein Anrecht an die gemeinschaftliche Waschstelle auf ihn, worauf ich mit dem Kinde, von welchem er nichts wissen wollte, nach Sacramento floh. Mein Gold und das des Hager nahm ich mit. Klaas wußte nicht, wie viel es im Ganzen war, und ich hütete mich, es ihm zu verrathen, denn er hätte sich schwerlich mit der empfangenen Summe zufrieden gegeben, wohl gar das Kind um des Geldes willen an sich genommen. Vielleicht calculirte er auch, daß, wenn die Sache vor’s Gericht kam, er mit leeren Händen ausgegangen wäre. Mein Versprechen, mit ihm in San Francisco zusammenzutreffen, hielt ich nicht. Ich fürchtete ihn zu sehr. Mein Kopf war ja allmählich klarer geworden, und als ich mir Alles genau überlegte, fand ich heraus, daß ohne sein Dazuthun das furchtbare Verhängniß schwerlich über den Hager und mich hereingebrochen wäre. Mein nächstes Ziel war Bremen, und als es dem Klaas nach langjährigem Forschen endlich gelang, mich aufzufinden, floh ich hierher. Doch auch hier sollte ich meine Tage nicht ruhig beschließen – und verdient hätt’ ich’s wohl um der Reue willen und weil ich das Kind von ganzer Seele liebte und mein eigenes Vermögen mit dem seines Vaters getreu für die Kordel verwaltete – nein, es war mir nicht vergönnt; sonst hätte das Unglück den Klaas nicht abermals auf meine Spuren geführt. Was seit seinem Eintreffen hier vorgegangen ist, weißt Du. Alles habe ich erduldet, sogar in seine Verheirathung mit dem Mädchen gewilligt. Ich mußte ihm gehorchen, um nicht öffentlich als Mörder hingestellt zu werden. Hätt’s nur meine eigene Person betroffen, so wäre mir nichts dran gelegen gewesen; wie bald ist’s vorbei mit mir, allein die Kordel, die Kordel! Unter die Erde hätte es sie gebracht, wäre ihr kund geworden, mit wem sie seit ihrer frühesten Kindheit lebte, wen sie so lange Vater nannte, und in ihrer Natur liegt’s, daß sie lieber zu Grunde geht, bevor sie eine Schande an ihrem Namen duldet.

All’ das soll jetzt sein Ende nehmen. Ich habe meinen Plan gemacht, und Du wirst mir helfen, ihn auszuführen. Wie Du mit der Kordel stehst, weiß ich; ebenso, daß sie bei Dir besser aufgehoben ist, als bei irgend einem andern Menschen. Ich habe daher heute im Geheimen eine Schrift aufgesetzt, in welcher ich in Eure Verheirathung willige, zugleich meine ganze Habe und die des – des verstorbenen Hager auf die Kordel übertrage. Kann der Kordel das Ende ihres Vaters verschwiegen bleiben, so ist’s gut, wenn nicht, so hast Du’s in Deiner Hand, ihr Alles, was ich Dir anvertraute, mitzutheilen. An ihrem rechtmäßigen Besitz wird dadurch nichts geändert. Hier ist’s,“ und er reichte Bertus ein zusammengeschnürtes Paket; „unter den Papieren wirst Du ein Bild finden. Ich hab’ es oft betrachtet, und so oft ich’s that, ergriff mich der ganze Schauder des fürchterlichen Augenblicks, der mich zum Mörder machte. Es ist das Bild ihres Vaters. Gieb’s ihr, Bertus, und sage, es sei ein guter Freund von mir! Mach’ mit Allem, was das Paket enthält, wie Du es für am besten befindest. Gelingt Dir’s, bei der Kordel einen freundlichen Gedanken an mich rege zu halten, so danke ich Dir’s noch in meinem Grabe.“

Er verstummte; das Haupt geneigt, schien er nachzusinnen, ob er in seinen Mittheilungen ausführlich genug gewesen. Bertus beobachtete die in nächtliche Schatten gehüllte Gestalt an seiner Seite mit unbeschreiblichen Empfindungen. Das Vernommene, welches zugleich eine neue freundliche Wandlung seiner vernichteten Hoffnungen in sich barg, hatte ihn bis in’s Mark hinein erschüttert. Minuten verrannen in drückendem Schweigen.

„Alles, Alles soll geschehen, wie Ihr es anordnet,“ sprach er, und seine Stimme klang zaghaft und doch überzeugend, „es soll mir sein wie ein Vermächtniß meines eigenen Vaters –“

„Das weiß ich,“ unterbrach Seiling ihn, und sich mit einer lebhaften Bewegung aufrichtend, drückte er des jungen Mannes Hand, „ja, ich weiß, daß Du ein ehrlicher Bursche bist, und darum schenke ich Dir mein ganzes Vertrauen Ich weiß aber auch, daß für die Kordel ohne Dich kein Glück auf Erden, und darum wünsche ich, daß Ihr Euch zusammengebt und in Eurem Glück alt mit einander werdet.“

Er lachte bitter vor sich hin, daß es Bertus erschreckte.

„Aber Ihr? – Ihr sprecht so seltsam,“ begann dieser zögernd.

„Ich?“ fragte Seiling unheimlich sorglos, „nun ja, ist man im Begriff von Jemand zu scheiden, den man über Alles liebt, dann mag Einem wohl seltsam um’s Herz sein. Und fort muß ich, bleiben kann ich nicht länger, soll ich nicht Zeuge sein, wie der Klaas noch im letzten Augenblick der Kordel das Leben vergiftet. Doch Du wirst Dich jetzt auf den Heimweg begeben; noch läßt’s der Wind zu; morgen weht’s freilich anders. Das Barometer ist gefallen, und was das bedeutet, ist Dir als Seemann nicht fremd. Morgen Abend komm’ in mein Haus, aber auf dem Landwege, Bertus, denn morgen um diese Zeit kocht’s hier vor uns, wie in einem Theekessel am Neujahrsabend, oder ich müßte mich nicht mehr auf’s Wetter verstehen. Findest Du die Kordel allein, dann grüße sie recht herzlich von mir! Sag’ ihr, ich wäre gegangen, um sie von dem schurkischen Klaas zu befreien. Ob ich jemals wiederkehrte, wüßte ich nicht. Und was sonst noch zu besprechen ist, kannst Du mit ihr abmachen, die Zeit Eurer Hochzeit und –“

„So wollt Ihr fort, bevor –“ hob Bertus an.

„Ueberlege Alles,“ fiel der Alte hastig ein, „und Du wirst begreifen, daß meines Bleibens hier nicht länger ist. Also kein Wort mehr davon. Thue, was ich Dich heiße, und laß’ mich handeln, wie’s mir gefällt! Ja, ich gehe, um nicht mehr zurückzukehren. [191] Ob zu Lande oder zu Wasser, weiß ich nicht – ’s kümmert auch Keinen. Mit mir nehme ich an Geld und Sachen nicht mehr, als ich gebrauche, um an mein Ziel zu gelangen,“ und wiederum erschreckte sein herbes Lachen den jungen Seemann. „Sollte der Klaas sich in dem Schluchthause zeigen, so bist Du Mannes genug, ihn vor die Thür zu werfen; denn an die Habe der Kordel hat er nicht die leisesten Ansprüche, ebenso wenig an Euer Mitleid. Verschwindet er nicht gutwillig von der Insel, so ruft die Gerichtsbarkeit gegen ihn auf! Doch es wird nicht nöthig sein. Ich kenne ihn; er wird sich auf meine Spuren begeben, um mich einzuholen – es soll ihm schwer genug gemacht werden – nein, ich will’s ihm sogar erleichtern, damit er von hier fortkommt, bevor er seine Geheimnisse in die Welt hinausgeschrieen hat – doch das ist meine Sache – beeile Dich jetzt, heimzukehren! Es ist kalt und feucht hier, und wir Beide haben mancherlei zu überlegen, bevor es Tag wird.“

Er erhob sich und schritt nach dem Boote des Bertus hinüber. Dieser folgte ihm.

„Ich habe Dir nichts mehr zu sagen,“ rief Seiling, und die Hand auf’s Boot legend, wartete er darauf, daß Bertus auf der anderen Seite ähnlich verfuhr; „was Du sonst noch wissen möchtest, erfährst Du früh genug. Noch ein Wort: von dem, was ich Dir heute anvertraute, machst Du nur im dringendsten Nothfall Gebrauch. Ist Dir’s möglich, die Kordel als Kordel Seiling zu freien und das Geheimniß dereinst mit in die Erde zu nehmen, so ist’s um so besser für alle Theile. Noch einmal, Bertus,“ und seine Stimme zitterte, indem er diesem über das Boot hin die Hand reichte, „daß ich Euch Beide segne, ist selbstverständlich, und ich habe lange und schwer genug gesühnt, um glauben zu dürfen, daß mein Segen Euch nicht zum Fluche wird – und nun: ahoi!“

Fest lehnte er sich gegen das Boot. Bertus, wie betäubt durch die jüngsten Erfahrungen und das unheimlich sorglose Wesen Seiling’s, folgte seinem Beispiel. Eine heranrollende Woge erleichterte ihnen die Arbeit, Bertus sprang in das Boot, und eine Ruderstange handhabend, gelangte er bald weit genug, um das Segel stellen zu können. Ein letztes Lebewohl wurde gewechselt, und nach einigen Minuten verschwand das kleine Segel ist der Dunkelheit.

Seiling hatte wieder auf der Geröllanhäufung Platz genommen. Nur kurze Zeit saß er dort. Dann schlich er heimwärts.




8.

Peter Seiling’s Barometer hatte richtig prophezeit gehabt: am folgenden Tage blies eine scharfe Kühlte von der Spitze der Landzunge herüber. Schwarzes Gewölk beschleunigte den Einbruch des abendlichen Dunkels, und wer nicht hinaus mußte, saß im behaglichen Geplauder mit den Hausgenossen hinter verschlossenen Thüren und Fenstern. Nur ein Mann weilte draußen im Wettergebraus. Als hätte er besonderes Wohlgefallen an dem Tosen des erbitterten Elementes, war er zur Zeit des sich schnell verdichtenden Zwielichtes aus der bekannten Schlucht getreten. In der linken Hand trug er eine leichte Reisetasche; mit der rechten stützte er sich matt auf seinen Stock. Die Dämmerung verschleierte die weißen Brauen, den weißen Bart und die todtenbleichen Züge Peter Seiling’s. Vor der Schlucht auf dem Strande blieb er stehen. Wie unentschlossen über die einzuschlagende Richtung, spähte er aufwärts und abwärts. Erst als er eine Gestalt zu erkennen glaubte, welche zwischen ihm und dem Dorfe vorsichtig den Schatten der Strandhöhen suchte und, augenscheinlich ihn beobachtend, die eigenen Bewegungen nach den seinigen abmaß, kehrte er sich langsamen Schrittes der Einbuchtung zu. Bevor die Gestalt durch die Dunkelheit seinen Blicken ganz entzogen wurde, überzeugte er sich mehrfach, daß sie ihm folgte und allmählich näher rückte. So gelangte er um den nächsten Vorsprung herum, wo, bedingt durch den Schutz der Landzunge, die Brandung eine mäßigere war. Eine Wanderung von zehn Minuten brachte ihn an die Stelle, auf welcher Bertus bei rauhem Wetter die Kordel an’s Land zu setzen pflegte. Mehrere Fischerböte waren daselbst vor der erwachenden Kühlte geborgen worden. Auch Seiling’s Boot lag dort, hatte aber als Unterlage zwei runde Hölzer erhalten, sodaß er nur den es stützenden Geröllblock zu entfernen brauchte, um es durch einen leichten Stoß in die Brandung und, unter der Wirkung des nach vorne drängenden Gewichtes, über dieselbe hinauszusenden.

Als Seiling eintraf, war es bereits so dunkel, daß in der Entfernung von fünfzig Ellen die Umrisse aller Gegenstände mit den nächtlichen Schatten zusammenfielen. Ohne Säumen warf er die Reisetasche in das Boot, worauf er den Mast einsetzte und das dicht gereffte Segel so befestigte, daß es nur des Oeffnens einer Schleife bedurfte, um es sofort dem Winde preiszugeben. Auch das Steuerruder hing er ein, dafür Sorge tragend, daß es beim Hinabschießen von dem Uferabhange nicht hinderte oder zerbrochen werden konnte. Wie um dem Fahrzeug dadurch erhöhte Widerstandskraft zu verleihen, zog er die zum Anschließen bestimmte Kette unterhalb des Steuergriffes hin von Bord zu Bord. Deren loses Ende mit dem Ringe und dem Vorhängeschloß, in welchem der Schlüssel steckte, legte er unter die Steuerbank. Mit Bedacht prüfte er Alles noch einmal; nachdem er sich überzeugt hatte, daß an der Zurüstung nichts fehlte, sprach er wie in Gedanken, jedoch ungewöhnlich laut vor sich hin:

„So wird’s gehen, ja, so wird’s gehen. Es hat schon Mancher eine weite Reise mit geringeren Mitteln angetreten.“

„Also eine Reise willst Du antreten?“ fragte Klaas, neben ihm aus dem Dunkel auftauchend, und er legte seine Hand auf Seiling’s Schulter, „aber des Teufels will ich sein, wenn Du mir heute wieder durch die Finger gleitest.“

„Wer behauptet, daß ich Dir durch die Finger gleiten möchte?“ fragte Seiling ruhig zurück, „habe ich etwa meinen Aufbruch verheimlicht?“

„Nein das hast Du nicht,“ höhnte Klaas grimmig, „packtest wenigstens die Reisetasche unter meinen Augen. Konnte bei dem Wetter nicht anders denken, als Du wolltest landeinwärts kreuzen. Jetzt seh’ ich freilich, wie die Sachen stehen. Zu dem Bertus willst Du hinüber, und von dort wer weiß, wohin. Meinst, wenn Du aus dem Wege bist, sei’s vorbei mit mir auf dieser Insel. Aber ich bin der Mann für Dich; verlaß’ Dich drauf!“

„Du sollst mich nicht hindern, wenn’s mir gefällt, den Bertus zu besuchen,“ erwiderte Seiling in herausforderndem Tone.

Er schritt um das Boot herum, und sich bückend, schob er den Geröllblock zur Seite. Dann, bevor Klaas seine Absicht ahnte, ergriff er mit beiden Händen den Rand des Bootes, welches sich auf den ersten Druck sogleich in Bewegung setzte.

Klaas hatte offenbar erwartet, daß das Flottmachen nur unter großer Anstrengung möglich, errieth indessen schnell, welcher Mittel Seiling sich bediente. Mit einem tollen Fluche packte er das Boot auf der andern Seite, um es in seinem Lauf zu hemmen, allein auf dem abschüssigen Uferrande überwog dessen Gewicht seine Kräfte bei Weitem. Einige Schritte wurde er mit fortgezogen, sobald er aber gewahrte, daß Seiling sich in das Boot hineinschwang, folgte er in blinder Wuth seinem Beispiel, und in der nächsten Secunde wurden sie durch einen brausenden Schaumberg hindurch getragen. Gleichzeitig traf der heftige Wind das von Seiling’s Hand gelöste Segel, und anstatt von der nächsten Woge auf den Strand zurückgeworfen zu werden, schoß das leichte Fahrzeug nach derselben hinauf.

„Der niederträchtigste Schurkenstreich, der je von einem Mörder ausgeführt wurde!“ brüllte Klaas, nachdem er auf der andern Seite der Brandung das Gleichgewicht zurückgewonnen hatte, „aber Du sollst mir’s bezahlen, und müßte ich selber dafür in Ketten liegen.“

Seiling hatte auf der Steuerbank Platz genommen.

„Soll ich umkehren?“ fragte er spöttisch.

„Um im tiefen Wasser zu kentern und zu schwimmen, wie ’n Zehncentneranker?“ tobte Klaas wiederum auf dem Gipfel seiner Wuth.

Das waren die letzten Worte, die ein Mann, der am Ufer stand, noch vernahm. Es war Bertus. Er stand da, wo eben das Boot noch gelegen hatte. Auf dem Landwege nach dem Schluchthause – denn der See hatte er sich bei dem Wetter nicht anzuvertrauen gewagt – hatte er die Stimmen der beiden Männer erkannt. Unheil ahnend, war er herbeigeeilt und kam gerade früh genug, um das Boot wie einen Schatten in dem Schaum verschwinden zu sehen. Athemlos starrte er dahin, von woher die Stimmen zuletzt zu ihm gedrungen waren. Ihm fehlte die Geistesgegenwart, seine Nähe kund zu geben. Und was hätte sein Ruf auch geholfen? Niemand kannte das Fahrwasser besser als er, es wußte aber auch Keiner genauer, als er, was eine Fahrt bei einem solchen Wetter in schwarzer Nacht bedeutete. Und [192] dennoch: blieb das Boot unter dem Schutze der Landzunge, so mochte es schließlich in der Nähe seines Heimathsortes auf den Strand laufen. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Er erinnerte sich der Worte, welche Seiling am vorhergehenden Abend zu ihm gesprochen hatte; sie verbürgten am wenigsten, daß jener die Grenze des schweren Seeganges meiden werde.

Wie ein Alp wälzte es sich Bertus auf die Brust. Lange dauerte es, bevor er es über sich gewann, seinen Weg nach dem Schluchthause fortzusetzen. – –

Die Nacht verrann, und als der Tag graute, da saßen Kordel und Bertus noch immer Hand in Hand an dem Fenster, von welchem aus Seiling auf die See hinaus zu spähen pflegte. Die Lampe war längst ausgebrannt. In jedem Augenblick meinten sie, den Hülferuf eines Sterbenden zu vernehmen. Doch nichts unterbrach das dumpfe Heulen des Sturmes.

„Das ist mir ein Beweis Deiner Treue und Deines unbegrenzten Vertrauens, daß Du mir nichts verschweigst,“ hatte Kordel tief erschüttert zu Bertus gesagt, sobald dieser, in der Ueberzeugung, nur noch eines Todten zu gedenken, mit seinen Mittheilungen zu Ende gekommen.

„Kordel, ich konnt’s nicht allein tragen,“ entgegnete Bertus aus überströmendem Herzen; „mit dem Geheimniß auf der Seele hätte ich Dir nicht mehr gerade in die Augen sehen können. Und nach solcher Sühne, meinte ich, sei’s nicht so schwer, zu verzeihen – wenn das Vergessen auch unmöglich ist.“

„Wir sehen ihn nicht wieder,“ antwortete Kordel dumpf, „ich kenne ihn, er hat sein Leben lang zu schwer zu tragen gehabt, als daß er da draußen auch nur ein Augenlid zu seiner Rettung heben möchte. Wie leicht wurde es damals uns selber, mit dem Tode zu spielen, wie leicht befreundeten wir uns gestern noch mit dem Gedanken an ein gemeinsames Grab!“

Mit heimlichem Grausen zog Bertus die Geliebte in seine Arme; schweigend beobachteten Beide den anbrechenden Tag, der ihnen die See in wildem Aufruhr zeigte. Mit goldigen Rändern schmückte die Sonne die aus einander stäubenden Wolken, aber heftiger schnob der Wind über die tosende Wasserfläche. Dunkler erschienen die Wogen im Gegensatz zu dem lieblichen Himmelsblau, blendender die sie krönenden Schaumkämme.

Ein Fischer wurde in der Schluchtmündung sichtbar. Seine Hast galt Bertus als böse Vorbedeutung. Er rieth Kordel, das Haus nicht zu verlassen, dann eilte er Jenem entgegen und mit ihm nach dem Strande hinunter. Auf dem halben Wege nach dem Dorfe fanden sie die Bewohner desselben versammelt. Sie umstanden Seiling’s zerschelltes Boot. Weiter nach dem Strande hinauf lagen die Leichen von Seiling und Klaas. Man hatte sie nicht von einander trennen können; so fest hielten sie sich umklammert. Aus ihren erstarrten Zügen sprach tödtliche Feindschaft.

„Die arme, braune Kordel!“ ertönte bald hier, bald dort eine mitleidige Stimme.

„Ich hab’s dem Klaas auf der Stelle angesehen, daß er Arges mit dem Seiling im Sinne hatte,“ meinte ein alter Fischer; „er wollte ihn hinterrücks auf die Seite schaffen und ist selber mit hinab gerissen worden.“

Er wies auf die von Bord zu Bord gezogene Kette, an welche die Handhabe des Steuers angeschlossen war. Der Schlüssel des Vorhängeschlosses fehlte. War er den Ringenden entfallen oder absichtlich über Bord geworfen worden? Bertus ahnte den Zusammenhang. Aus der Lage des Wracks und der Richtung des Seeganges berechnete er, daß Seiling erst auf halbem Wege nach der Landzunge hinüber das Steuer befestigt haben konnte. In dem Kampfe, welcher darauf zwischen den beiden Todfeinden offenbar entbrannte, hatte Klaas zum Messer gegriffen, denn noch hielt die starre Faust die mit Perlmutterschalen versehene Waffe, in deren eine der Name Peter Seiling’s eingekratzt war. Seiling war unverwundet geblieben, dagegen zeigte die Segelleine mehrere Einschnitte, als wäre Jemand bei dem Versuche, sie gewaltsam zu lösen, gehindert worden. Wie lange der Kampf gedauert haben mochte, ließ sich ebenfalls annähernd berechnen. Es mußte ein furchtbares Ringen gewesen sein. –

Noch selbigen Tages siedelte Kordel nach der Landzunge zu ihrer alten Freundin hinüber, aber Bertus blieb zurück, um für die Beerdigung Seiling’s Sorge zu tragen und Kordel’s Verhältnisse zu ordnen. Das bald darauf öffentlich kundgegebene Eheversprechen zwischen den jungen Leuten überraschte kaum noch Jemand. Befremdlich erschien dagegen, daß das Haus in der Schlucht zum Verkauf ausgeboten wurde und in fremde Hände überging. Lange nachdem Kordel mit Bertus vor den Altar getreten war, um von dort aus ihre Einzug in eine neu begründete Häuslichkeit zu halten, gedachte man des todten Seiling noch immer mit großer Achtung. Hatte er auch nichts Schriftliches darüber hinterlassen so betrachtete Kordel es doch als eine heilige Pflicht, die ihr mündlich ertheilten Aufträge – wie sie standhaft behauptete – gewissenhaft zu erfüllen. Fünftausend Thaler und etwas darüber ließ sie in Seiling’s Namen als Stiftung für die Hinterbliebenen der bei Rettung Schiffbrüchiger verunglückten Fischer gerichtlich eintragen.

„Laß Dich das Geld nicht gereuen!“ sprach sie zu Bertus, „mich würde es nicht ruhig schlafen lassen, hätte ich’s im Schrein behalten.“

„Wollten wir nicht mit leeren Händen anfangen?“ fragte Bertus heiter zurück; „und sendetest Du die siebentausend den fünftausend nach, so wärst Du nicht minder meine eigene braune Kordel.“




Der Dichter des „Heinrich von Schwerin“ und des „Teuerdank“.
Ein Lebensbild von Friedrich Hofmann.


Mit dem Genius, wenn er von der Erde scheidet, geht eine Fülle des Unerschaffenen zu Grunde, das zum Lichte drängt und die letzten Stunden jedes Hochbegabten erschwert, dem nicht ein bewußtloses Hinabschlummern den Abschied von den eigenen Geisteskindern erleichtert. Wer denkt nicht an Anastasius Grün’s erschütternde Klage vor dem sicheren Tode: „O Gott, ich darf ja noch nicht sterben!“

In ähnlicher, doch durch milden Hauch der Auflösung mit der Härte des Schicksals versöhnender Weise, ging der Dichter und Mann von hinnen, dessen Lebensbild wir heute aufstellen.

Gustav von Meyern-Hohenberg ist den Freunden der „Gartenlaube“ so wenig wie dem große Publicum, namentlich der Bühnen, ein Fremder. Unsere Leser lernten ihn zuerst als einen freisinnigen und vaterlandsbegeisterten Lyriker kennen, bis Ernst Keil ihnen denselben auch als Erzähler vorführte. Diese engere Verbindung beider Männer ist eine vom Beginn bis zur gewaltsamen Trennung derselben so seltsame, daß wir sie nicht stillschweigend übergehen dürfen. Ernst Keil befand sich im Juni 1877 in Karlsbad, als ich, in Teplitz der Cur pflegend, ein umfangreiches Manuscript aus Constanz von Gustav von Meyern empfing, mit dem ich seit einem Menschenalter in freundlichem brieflichem und persönlichem Verkehr gestanden. Es war: „Teuerdank’s Brautfahrt“. Das Werk packte mich mit ganz besonderer Kraft, sodaß ich es für meine Pflicht hielt, Ernst Keil darüber zu berichten und ihm, auf seinen Wunsch, das Manuscript nach Karlsbad zu senden. Wenige Tage darnach erhielt ich von ihm eine Postkarte folgenden Inhalts:

„Soeben habe ich die Lectüre des ‚Teuerdank’ beendet, auf einen Ritt, ohne aufzusehen oder aufzustehen. Keine Lectüre für Damen, aber – wenn auch vielfach an Hauff’s ‚Lichtenstein’ erinnernd – ein mächtiges Stück Poesie, dem der ganze Reiz mittelalterlicher Romantik anhängt. Ich habe lange nichts gelesen, was mich so sehr und anhaltend gefesselt hätte, wie diese Brautfahrt, von der man nicht weiß, ob man mehr die erquickende Frische oder das tiefe Studium des Autors bewundern soll. Es versteht sich von selbst, daß die ‚Gartenlaube’ den Roman bringen wird. Habe Sie besten Dank für Uebersendung des Manuscripts! – Mit Gruß Ihr E. K.“

Die Erzählung ist in der „Gartenlaube“ von 1877 erschienen und nach Verabredung dann, und zwar ohne die für die „Gartenlaube“ [193] nothwendig gewesenen Kürzungen, als Buch gedruckt worden.[1] Die Vollendung dieses Druckes sollten beide Männer nicht mehr erleben. Von einer Lungenentzündung ergriffen starb von Meyern am neunten März 1878. Am folgenden Tage brach Ernst Keil’s letzte Krankheit mit großer Heftigkeit aus. Noch einmal, am elften März Nachmittags, schleppte sich der Kranke aus seinen Wohn- zu den Geschäftsräumen herab – so schwer trennte er sich von seinem Arbeitspult. Sein erster Blick dort fiel auf die Anzeige von Meyern’s Tode, die dessen Gemahlin gesandt hatte. Tief erschüttert kam er mit dem schwarzgeränderten Brief in mein Arbeitszimmer. „So ist er auch todt, der Mann mit seiner geistigen Frische und Schaffenslust. Die „Gartenlaube“ darf ihn nicht vergessen. Sorgen Sie für ein Lebensbild Ihres Freundes und sein Portrait dazu.“ Das war Ernst Keil’s letzter geschäftlicher Auftrag. Zwölf Tage später stand das Haus der „Gartenlaube“ in seiner tiefsten Trauer.

Jetzt, wo zum ersten Male die Jahrestage jenes schweren Märzmonates kommen, sei der Erinnerung an unsere Todten dieses Blatt geweiht und dem ehrenden Vermächtniß des einen für den andern nach Kräften genügt!

Gustav von Meyern-Hohenberg.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Das Lebensbild eines Mannes, der nicht die einfache Laufbahn eines Gelehrten durchmessen, sondern in Hof- und Staatsdiensten dem öffentlichen Leben und den höchsten Gesellschaftskreisen in den denkwürdigsten und wichtigsten Tagen unserer Zeitgeschichte nahe gestanden, in dem engen Rahmen eines Artikels wiederzugeben, ist eine nur unvollkommen zu bewältigende Aufgabe. Wenn ich das reiche Material zu dieser Arbeit übersehe, die vielen Briefe von der Hand des Dahingeschiedenen, von seinem neunten Jahre an bis kurz vor seinen letzten Tagen – welche Fülle von kleinen und großartigen, heiteren und tieftragischen Erlebnissen und Schilderungen, die vom engen Kreise der eigenen Existenz und Familie bis zu den weiten und weiteren des Staates und der hohen Welt sich ausbreiten! Dann die Briefe an ihn und ebenso viele über ihn, dazu die zum Theil angedeuteten, zum Theil beigelegten Berichte diplomatischer Natur aus seiner Feder, und endlich die Zahl seiner zerstreut erschienenen lyrischen und dramatischen Arbeiten – da muß ich wohl den Wunsch aussprechen, daß ein Anderer, den Muße und Geschick besser, als mich, dazu befähigen, dieses reiche Material dazu verwenden möge, an die Spitze einer Gesamtausgabe der Werke dieses Dichters eine ausführliche, farbenreiche Darstellung seines Lebens zu setzen; für sie möchte dann gern das Folgende als ein bescheidener Leitfaden dienen.

Gustav von Meyern wurde am 10. September 1820 in dem braunschweigischen Marktflecken Calvörde geboren, wo sein Vater sich, nach schweren Kriegsdiensten, die ihn als westfälischen Obristlieutenant auch nach Spanien geführt hatten, noch im hohen Mannesalter als Domänenpächter ein festes Heim gegründet. Derselbe konnte seiner zahlreichen Familie kein entsprechendes Vermögen hinterlassen, aber er gab seinen Kindern zwei Schätze mit: ein reiches Wissen und einen festen Willen zum Kampf mit dem Leben; auf Gustav ging dazu auch der gesunde Humor über, welcher dem Vater bis in das höchste Alter treu geblieben war. Neben dem Vater stand die ernste, gewissenhafte Mutter, die namentlich die größeren Kinder nicht durch Zärtlichkeitsbeweise verzog, wie das „überhaupt norddeutsche Art ist". Alle mußten sich in dem großen Familienkreise an bescheidene Verhältnisse gewöhnen, und aus dieser Schule hat Meyern das Beste für sein späteres Leben mitgeommen.

Die ersten Spuren seines Dichtergeistes finde ich in einem Briefe des neunjährigen Knaben, der seiner Schwester jubelnd verkündet. „In dem großen Garten sind schon einige Rosen aufgeblüht und schon eine Nelke!" Praktisch bewährte er ihn als Gymnasiast in Stendal, wo er bei einem Töpfer wohnte. Er verzierte die irdenen Teller und Schüsseln mit selbstgedichteten Reimsprüchen und verhalf damit dem Manne zu vermehrtem Absatz seiner Waare.

Seine juristische Studien begann Meyern in Berlin und setzte sie in Göttingen fort, um sie in Berlin, und zwar mit dem Staatsexamen zu beenden. Hier müssen wir eines Leidens gedenken, das Meyern von Kindheit an durch einen großen Theil seines Lebens viele qualvolle Stunden bereitete, namentlich seine spätere amtliche Pflichterfüllung erschwerte. Er hatte den Sprechfehler des Stotterns, und zwar in der unheimlichen Weise, daß in gewöhnlicher Unterhaltung und oft lange Zeit das Uebel verschwunden schien, aber plötzlich mit seiner peinigenden Gewalt wieder ausbrach, wenn er seelisch erregt war oder öffentlich reden sollte. Wie das Tückische dieses Leidens ein ganzes Mannesleben verbittern, ja vom Mitgenuß des öffentlichen Lebens zurückscheuchen kann, haben wir an Ernst Keil („Gartenlaube" 1878, S. 580) erfahren. Wie dieser hatte auch Meyern kein Mittel zur Heilung von dem Gebrechen unversucht gelassen, das gefährlichste noch in Berlin, wo er sich dem damals von dem berühmten Dieffenbach gegen das Stottern angewandten Zungenschnitt unterwarf. Kurz zuvor sollen zwei Studenten der Operation erlegen sein. Wagniß und Schmerzen waren für Meyern vergeblich. Dieffenbach rieth ihm zu einem zweiten Versuche, und so schwer drückte ihn sein Gebrechen, und mit solcher Energie war er gegen körperlichen Schmerz gerüstet, daß er darauf eingehen wollte, wenn der Professor ihm mit seinem Ehrenwort versichere, daß die zweite Operation nicht wieder vergeblich sei. Das wagte Dieffenbach nicht, und so schied Meyern von Berlin und nahm das unheimliche Gefühl seines Zustandes mit in den Staatsdienst hinüber, in welchen er im November 1842 zu Coburg trat. Er wurde erst im Justizamt, dann im Justizcollegium verwendet. Aber schon nach einem Jahre erkannte er die Unverträglichkeit seines Gebrechens mit seiner Stellung: während einer Eidesleistung, die er zu leiten hatte, kam es plötzlich so heftig über ihn, daß dadurch die feierliche Handlung gestört wurde.

Der meist innere Kampf mit der Wahl eines andere Lebensberufes trübte ihm die folgenden vier Jahre. Zunächst glaubte er als Officier von seinem geheimen Leiden am wenigsten belästigt zu werden. Auch sagte ihm, auf seine Bitte, sein Landesherr (Herzog [194] Ernst von Coburg-Gotha) eine Officierstelle zu, mahnte ihn jedoch zum Ausharren auf der einmal betretenen Bahn, versetzte ihn zur Secretarie der Landesregierung und ernannte ihn zum Kammerjunker. Dennoch quälte ihn die Angst vor seinem Gebrechen fort. Da zeigte sich ihm als eine zweite Berufsaussicht die Schriftstellerei, der er sich bis jetzt aus innerem Drange nur im Stillen ergeben hatte. Sein damaliges verlockendes Vorbild war Gustav von Heeringen, der seiner Zeit viel gelesene Novellist und Reiseschilderer, welcher als Regierungsrath und Kammerherr in Coburg lebte und dem die „Gartenlaube“ im Jahrgang von 1869 („Zwei Mönche einer protestantischen Hochschule. I. Banz und der Pater Roman“) ein Blatt der Erinnerung gewidmet hat. Durch ihn wurde ich schon damals mit Meyern bekannt, den ich mit seinem schönen Liede „Die Klage der Nachtigall“ in meinem „Weihnachtsbaum für 1844“ in der Literatur einführte.

Als endlich kurze Zeit darnach in Mainz sich der deutsche Adelsverein unter dem Prinzen von Solms-Braunfels zur Leitung der Auswanderung nach Amerika bildete, richteten auch Meyern’s hoffende Blicke sich dorthin; ja, so energisch ergriff er den Gedanken, daß er fortan jede freie Stunde abwechselnd bei einem Schreiner und einem Schmiede zubrachte, um in den für den Ansiedler notwendigsten Handwerken sich wenigstens einige Fertigkeit anzueignen. Auch von einer Reise zur See nach Petersburg (1847) kehrte er nicht beruhigter zurück, nur daß die damaligen kriegerischen Aussichten ihn bewogen, statt in den Schreiner- und Schmiedewerkstätten jetzt bei einem Unterofficier sich im Exerciren und Bajonnetfechten zu üben. Da brach die Revolution von 1848 aus, und eine der ersten Forderungen in den Kleinstaaten, und auch in Coburg, war bei der trostlosen politischen Unmündigkeit der Volksmassen die: sofort alle „Fremden“ aus dem Staatsdienst zu entlassen. Die Entrüstung über diese Ungeheuerlichkeit bestärkte ihn, obwohl er schon 1845 das coburgische Staatsbürgerrecht erworben, in dem Entschluß, seine Auswanderung nach Ost-Tennessee nun alles Ernstes vorzubereiten.

Aber gerade diese Revolution sollte Meyern zu einem Wendepunkte seines Lebens führen. Am fünften Mai erhielt er den Befehl, den herzoglichen Bundestagsgesandten, Geheimerath von Stockmar, als Secretär nach Frankfurt am Main zu begleiten. Auf diesem Posten, der ihn zu ausführlicher Berichterstattung über alle Ereignisse in der ersten deutschen Parlamentsstadt an seinen Hof und, im Auftrage des Prinzen Albert, auch nach England verpflichtete, verlebte er die ganze schicksalreiche und verhängnißvolle Zeit unmittelbar an der Quelle aller Bewegungen und in der nächsten Nähe der Hauptpersonen aller Parteien. Damals schrieb er an seine Mutter. „Dein junger Sohn ist in wenigen Wochen ein alter Mann an Erfahrung geworden.“ Man hatte den richtigen Mann gefunden, der keine Gefahr scheute, auch wenn sein Amt ihn an eine ausgesetzte Stelle rief. Bei dem Straßenkampfe am Tage nach Lichnowski’s Ermordung, den er vom Balcon des „Römischen Kaisers“ aus beobachtete, pfiff eine Kugel ihm so nahe am Munde hin, daß sie ihm die Cigarre zertrümmerte. – Als im Juli Baron Stockmar Frankfurt verließ, wurde Meyern als Legationssecretär mit der Vertretung der Gesandtschaft bei der Centralgewalt betraut. Er harrte in Frankfurt aus, bis das große Trauerspiel der Nation zu Ende war.

Briefe vom Prinzen Albert, von Stockmar und vom Minister von Stein in Gotha sprechen sich einstimmig in der Anerkennung von Meyern’s Frankfurter Berichten aus, und da er selbst äußert, daß nicht die ja ohnedies durch den Druck veröffentlichten Parlamentsverhandlungen, sondern das Treiben um das Parlament herum und für und gegen dasselbe der Hauptgegenstand seiner Beobachtungen gewesen sei, so ist über den geschichtlichen Werth dieser Actenstücke kein Zweifel, und ein gewissenhafter Geschichtsforscher über diese Zeit wird ihnen einst in den Archiven von Coburg und London nachzuspüren haben.

Die Frankfurter Thätigkeit zog allerdings Meyern mächtig zur diplomatischen Laufbahn, aber auch die Europamündigkeit und die Sorge wegen seines Gebrechens kehrte zurück. Er schrieb schon im November 1848 unter Anderem an seine Mutter: „Es ist wirklich da am besten, wo es keine Politik giebt. Es wird Einem wirr im Kopfe, wenn sich all die tausenderlei Wege darin kreuzen, in die alle man hier in Frankfurt hineinsieht – und doch laufen sie am Ende immer in einen einzigen großen, wenn auch am wenigsten begangenen Weg, den des einfachen, klaren, gesunden Verstandes und der einfachen, geraden Rechtlichkeit zusammen. Diese Politik endlich einmal in die Welt einzuführen ist die Aufgabe unserer neuen jungen, deutschen Diplomaten; das ist auch der Reiz, den diese Laufbahn für mich haben würde.“ – Er hatte damals für die Kaiserwahl einen geglückten diplomatischen Coup ausgeführt, und in Beziehung darauf schrieb er: „Nachdem ich mich auf diese Weise um das Vaterland verdient gemacht habe, kann ich mich mit gutem Gewissen zurückziehen und nach Amerika gehen. – Wer heutzutage nicht sprechen kann, aus dem kann im öffentlichen Leben nichts werden. Und in Deutschland nichts zu sein, dazu bin ich, glaube ich, zu ehrgeizig.“

Trotz der trostlosen Aussicht für Deutschlands nächste Zukunft, die er von Frankfurt nach Coburg zurückbrachte, hielt ihn doch schließlich seine Vaterlandsliebe am alten Boden fest. Auch nahm seine äußere Stellung eine angenehmere Gestalt an, indem der Herzog ihn näher zu sich zog; er ernannte ihn (1852) zu seinem geheimen Cabinetssecretär. Als solcher und zugleich in seiner Eigenschaft als Kammerjunker begleitete er mit zwei anderen Cavalieren im Frühjahre von 1854 den Herzog auf jener Reise nach Paris, die damals an den Höfen und in der Presse die verschiedenartigsten Beurtheilungen fand und doch nicht ohne Erfolg geblieben ist. Der russisch-türkische Krieg war ausgebrochen; die „Westmächte“ standen vor dem Kampf; die beide Großstaaten des deutschen Bundes hatten noch nicht Stellung genommen und hielten sich in ihrer altdynastischen Würde dem junge Kaiserthum des „Parvenu“ fern. Da unternahm es der Herzog, in seiner Eigenschaft als Souverain und durch seine verwandtschaftlichen Verbindungen besonders dazu geeignet, die Absichten der Betheiligten in Bezug auf Deutschland an der Quelle zu erforschen. Meyern’s Feder war bei alledem thätig, aber so streng beobachtete er das Amtsgeheimniß, daß aus seinen brieflichen Mittheilungen nur zu entziffern ist, daß die Möglichkeit der damaligen Neutralität Preußens des Herzogs Verdienst war.

Meyern’s Briefe aus Paris sind noch heute lehrreich für die Geschichte des zweiten französischen Kaiserhofs. Die beiden Hauptpersonen zeichnet er mit wenigen Strichen. Die Kaiserin, damals erst ein Jahr vermählt, gefiel ihm besonders, weil sie, ungezwungenen Wesens und doch aristokratisch fein, gern lachte und ungenirte Antworten liebte. Der Kaiser suchte die deutschen Cavaliere durch Eingehen in ihre Ideenkreise zu gewinnen. So versicherte er einmal Meyern im besten Deutsch: „Wenn ich ein Deutscher wäre, würde ich wie Sie für die Reichseinheit schwärmen.“ Mit besonders scharfem Auge musterte Meyern die Umgebung Beider, die bekanntlich viel zu wünschen übrig ließ. Es war dem Kaiser noch lange nicht gelungen, all den Ballast aus seiner eigenen politischen Schwindelperiode von sich zu stoßen. Das ging auf die Haltung der Hofkreise über. Es fehlte mit der inneren auch die äußere Würde. Das schien man den Deutschen gegenüber zu fühlen, „denn,“ sagt Meyern, „wir waren ja die ersten anständigen Leute, mit denen sie es hier zu thun gehabt.“ Gegen den Herzog sprach er seine Ansicht darüber mit gewohnter Offenheit aus, denn als derselbe ihn schon am Abend des ersten Tages in den Tuilerien fragte, was er von dem kaiserlichen Hofe halte, war Meyern’s unumwundene Antwort: „Hoheit, ich glaube, ich bin noch nie in schlechterer Gesellschaft gewesen.“

Auch im Palais Royal vom alten Onkel Jérôme wurden sie empfangen. „Ich bekam eine unheimliche patriotische Anwandlung, als ich ihn sah,“ schreibt Meyern, dessen Eltern unter dem Westfalenkönig schwer gelitten hatten; „ich habe ihm auch einen Streich gespielt, den ich leider nicht dem Papier anvertrauen darf.“ Wirklich haben die drei betheiligten Cavaliere ein Meisterstück im Schweigen ausgeführt, denn erst fünfzehn Jahre später erhielt der Herzog selbst die erste Kunde davon durch die „Gartenlaube“, Jahrgang 1869, S. 79 und zwar in poetischer Form. Und weil Meyern in jener „modernen Ballade“ den kecken Streich so gar anmuthig und ausführlich geschildert hat, so wollen wir ihn nicht noch einmal erzählen, sondern ihn in jener humoristischen Gestalt der Nachwelt überliefert sein lassen. Das Ende der Festlichkeit bildete eine Ordensvertheilung. „Wir,“ schrieb Meyern an seine Mutter, „haben natürlich die Ehrenlegion bekommen, die uns der Kaiser in Person brachte. Die meinige liegt als Curiosum bei meinen Nippsachen, da man mir doch nicht zumuthen kann, das Bild Napoleon’s des Ersten auf der Brust zu tragen.“

[195] Von Paris begleitete Meyern den Herzog direct nach Wien. Noch voll von den Tuilerien-Bildern, wurde er von selbst zu Vergleichungen geführt, von denen die interessantesten die beiden Kaiserinnen betreffen. Wir dürfen uns aber von dem verlockenden Material nicht zu weiteren Ausführungen verleiten lassen, damit wir den Mann, den wir im Dienst des Hofs und der Diplomatie nun wohl genügend kennen gelernt, endlich auch als Dichter betrachten können.

Zum Theil eine Frucht der Frankfurter Erlebnisse ist seine erste Gedichtsammlung: „Monatsmärchen, Bilder und politische Gedichte“ (Leipzig, 1850), letztere besonders frischen, kernigen Inhalts. Noch vor der Pariser Reise war „Das Welfenlied“ (Berlin, 1854) vollendet, eine an poetischen Schönheiten reiche epische Verherrlichung der Helden des Welfenstammes von Welf Eticho bis zu dem Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig, der bei Quatrebras auf dem Felde der Ehre fiel.

Meyern’s Poesie ist, so lange man in Deutschland nach einem Vaterlande rang, nicht von der Politik des Tages zu trennen; hat er doch oft versichert, daß er das Lesen der Zeitungen jeder andern Lectüre vorziehe. Unsere schlimmste Zeit begann, nachdem Oesterreich wieder im alten Bundespalast „seine Kukukseier in’s deutsche Nest legen konnte“, wie Meyern zürnte. Damals baute Jeder sich sein Zukunftsbild „des Reichs“, und Meyern that dies in einem politisch-dramatischen Stücke in vier Aufzügen: „Ein Kaiser“ (Gotha, 1857). – Blieb dieses Drama auf den Bücherbrettern liegen, so eroberte er mit seinem nächsten Stücke in einem wahren Siegessturm alle deutschen Bühnen. Schleswig-Holstein, von den Bundesgroßmächten schutzlos und gefesselt der Rache der Dänen preisgegeben, war das Schmerzenskind aller Patrioten, das Klagelied „Schleswig-Holstein stammverwandt“ war Nationallied geworden. Da brachte Meyern sein fünfactiges Schauspiel aus dänisch-deutscher Geschichte: „Heinrich von Schwerin“ auf die Bretter und erzielte einen unvergleichlichen Erfolg. In Hamburg neunzig Male bei immer vollem Hause aufgeführt, machte es die Runde in ganz Deutschland und hielt sich, bis das Land von der Dänenherrschaft befreit war. Die Kritik hob besonders hervor, daß nicht blos die Tendenz, sondern auch der dramatische Werth den großen Erfolg des Stückes rechtfertige. Dieser Vorzug verschaffte auch Meyern’s nächsten Stücken, dem Trauerspiel „Die Braut Conradin’s“ und dem historischen Schauspiel „Prinz Eugen“ Eingang auf den ersten deutschen Bühnen.

Offenbar waren es diese Erfolge, welche den Herzog veranlaßten, Meyern, der 1855 zum Cabinetsrath und vier Jahre später zum Geheimen Cabinetsrath ernannt worden war, am vierten April 1860 die Intendantur des Hoftheaters (von Coburg und Gotha) zu übergeben. Hier war er endlich in seinem Element und leistete mit verhältnißmäßig bescheidenen Mitteln das Beste, was je an dieser Bühne geleistet worden ist. Es ist dort noch unvergessen, wie er den vielen Schwierigkeiten, die ihm nach der Sachlage im Wege standen, mit Klugheit, aber auch mit großer Festigkeit zu begegnen wußte und sich die Verehrung und Anhänglichkeit seiner nicht immer leicht zu behandelnden Untergebenen durch Unparteilichkeit und, wenn nöthig, eifriges Vertheidigen ihrer Rechte in hohem Maße gewann. Besonders kam ihm für sein neues Amt eine geheime Errungenschaft zu statten: die Beherrschung seines alten Gebrechens, die ihn befähigt hatte, sein Talent im lesenden Vortrag zu wahrer Meisterschaft auszubilden. Ich finde unter meinem Material aus jener Zeit nur zwei Notizen, die auf Curen gegen das Stottern hinweisen: einmal ist von einer gut anschlagenden homöopathischen Behandlung die Rede, ein andermal wird ein Landgeistlicher bei Harzgerode genannt, der Meyern durch „Uebung im richtigen Athemholen und bestimmte Regeln beim Sprechen“ so weit von seinem Uebel erlöste, daß es seiner Selbstbeherrschung leicht war, den Rest zu bewältigen.

Meyern’s dramatische Schaffenslust wurde in dieser Zeit von der heiteren Muse geleitet. Es entstanden, rasch nach einander, die dreiactigen Lustspiele „Hol’s der Kukuk!“ und „Einer nach dem Andern“, die einactigen Scherze und Schwänke: „Wie man zu einem Lustspiel kommt“, „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“, „Die erste Schnepfe“, ferner: „Des Sängers Fluch“, Oper in drei Acten (Musik von A. Langert) und „Die Fabier“, dramatische Oper in vier Acten, nach Gustav Freytag.

Das Jahr 1866 riß ihn aus seinem Musentempel noch einmal auf die diplomatische Bahn. Kurz vor dem Ausbruch des deutschen Kriegs übernahm er einen Auftrag des Herzogs, eine Mission, über deren Verhandlungen, wenn sie auch mit zwei seitdem verstorbenen Staatsmännern stattfanden, wir leider schweigen müssen – leider: denn gerade sie sind ein sprechendes Zeugniß für seinen politischen Scharfblick, wie für seine immer schlagfertige Dialektik, namentlich dem unpraktischen Doctrinarismus gegenüber. War das ihm aufgetragene Bestreben, den Krieg vermeidlich zu machen, auch vergeblich, dennoch konnte er behaupten: „Eindruck hat es doch gemacht.“

In demselben Jahre wurde er zum Generalintendanten des Hoftheaters erhoben. Meyern’s dramatische Fruchtbarkeit wuchs. Sein fünfactiges Schauspiel „Die Cavaliere“, eine Episode aus Cromwell’s englischer Herrschaft, kam zuerst aus dem königlichen Hoftheater in Berlin, dann in Köln (Friedrich Haase als Cromwell), Königsberg etc. zur Aufführung. Denselben Erfolg hatte sein dreiactiges Lustspiel „Die gute alte Zeit“, in welchem der feine Kenner fürstlicher Höfe die Widerhaarigkeit eines kleinstaatlichen Hofs gegen den Eintritt in den Norddeutschen Bund schildert, ein Zeitgemälde, das seinen Werth behält, weil in ihm ein edler patriotischer Ernst den Faden des Stückes nicht aus der Hand läßt. Ihnen folgte das dreiactige Lustspiel „ Moderne Rivalen“, welches das Münchener Hoftheater zuerst aufführte, und diesem das fünfactige Schauspiel „Das Ehrenwort“. – Meyern hatte indeß (am ersten October 1868), aus Gesundheitsrücksichten, sich in den Ruhestand zurückgezogen, fortan vollkommen frei dem dichterischen Schaffen und seiner Häuslichkeit lebend, die ein prächtiger Kranz von Kindern schmückte. Und aus diesem Kranze fiel in jener Zeit Meyern’s liebste Blume. Sein jüngstes Kind, Gretchen, hatte sich seinem Herzen so tief eingeschmeichelt, daß der Tod des sechsjährigen Lieblings seinem Gemüthsleben eine tiefe Wunde schlug. Ein rührendes Zeugniß seiner Seelenstimmung ist ein mit dem Bildniß des todten Kindes geschmücktes Album, das die einfache Widmung an seine Gattin trägt: „Zu ihrem Gedächtniß meiner Clara. Februar 1869. Gustav.“ In ergreifenden Liedern weint er darin seinen und der Mutter Schmerz aus, nicht für die Welt – das Album ist ein stilles Familienheiligthum. Eine Reise nach Holland sollte ihn zerstreuen; aber erst, als ihm wieder ein Töchterchen geboren war, gewann er die alte Lebensfreudigkeit zurück; er übertrug nun alle Liebe zum verlorenen auf dieses jüngste. Das war Clärchen.

Die großen Tage der Jahre und 1870 und 1871 packten und erhoben ihn, wie jeden Patrioten. Oeffentliche Zeugnisse dafür sind seine Gedichte in der „Gartenlaube“ (1870, Nr. 33 und 35) und sein Bändchen „Zeitgedichte“ in Franz Lipperheide’s Sammlung: „Für Straßburgs Kinder! Eine Weihnachtsbescheerung von Deutschlands Dichtern“ (Berlin, 1870). Eine Auswahl seiner lyrischen Dichtungen erschien (Leipzig, Günther, 1872) unter dem Titel „Altes und Neues“. Aus diesem Buche tritt uns der ganze Gustav von Meyern, der gute Mensch und wahre Mann mit seinem innersten geistigen und gemüthlichen Leben entgegen, die fünf Abteilungen der Sammlung: „Philosophisches“, „Episches“, „Politisches“, „Satirisches“ und „Vermischtes“, bieten einen Gedankenreichthum, eine Fülle warmen Empfindens und zeugen von einer Tüchtigkeit des inneren Menschen, daß man Buch und Dichter zugleich lieb gewinnen muß.

Wiederum der Gegenwart, den Nachwehen des großen Krieges im neuen „Reichslande“, entnommen ist sein dreiactiges Drama: „Ein Kind des Elsaß“, das zum ersten Male, im Verein mit meinem Festspiel: „Drei Kämpfer“, zur Feier des 2. September 1874 im Stadttheater zu Leipzig mit großem Erfolge über die Bühne ging. Eine bedeutende Arbeit ist: „Das Haus der Posa. Historisches Schauspiel in fünf Aufzügen“ (Leipzig, J. J. Weber, 1874). Meyern stellte sich die Frage: Ist der Marquis von Posa Schiller’s eine historische Person? Geschichtsforschung und historische Wahrscheinlichkeitsrechnung leiteten ihn auf eine Spur, die er als poetische Wahrheit dramatisch ausbeutete. Die Familie Roxas hatte das Marquisat von Posa erhalten und war unter Ferdinand dem Zweiten der Inquisition zum Opfer gefallen, theils vernichtet, theils verbannt worden. Rodrigo ist der gerettete Erbe des Namens. Daher einer der Verbannten das Schauspiel mit den Versen schließt: [196]

„Der Roxas stolzes Haus, es sank dahin;
Nichts blieb von ihm als eine letzte Hoffnung:
Rodrigo, Gott mit Dir! Sei Du bestimmt,
Den Namen Posa durch die Welt zu tragen!“

Wir haben hier also eine Art Vorspiel zu Schiller’s „Don Carlos“, aber doch ein vollkommen selbstständiges Stück, das auf der Bühne großartige Wirkung erzielte. In Prag hatte die Polizeidirection die Aufführung des Schauspiels 1873 verboten, weil in demselben zum Oefteren betont sei: „Man könne ein ganz guter Katholik sein, ohne die göttliche Mission der Inquisition anzuerkennen.“ (!!) Ein Jahr später wurde das Verbot zurückgenommen, doch mußten mehrere Stellen, in denen das Crucifix vorkam, wegbleiben.

Im August 1874 verlebte ich in Coburg zum letzten Male mit Meyern frohe Stunden im Kreise seiner reizenden Familie; im Herbste siedelte er nach Constanz über, wo er sich in herrlicher Lage am See eine Villa baute, die, wie er mir schrieb, General Werder einweihete. Hier gewann auch sein poetisches Schaffen neuen Schwung. Zunächst erschien von ihm „Ein Märchen aus unseren Tagen“ (Constanz, 1875), eine allegorische Verherrlichung der „Königin Zeit“. Diesem folgten, abermals ein Werk ernster Studien, „Die Malteser. Geschichtliches Schauspiel in fünf Aufzügen“, wieder zuerst und diesmal ohne polizeiliche Bedenken auf dem deutschen Landestheater in Prag mit großem Erfolge aufgeführt. – Die Nähe des Elsaß erzeugte seine „ Ballade vom Elsaß“ (Stuttgart, Cotta, 1876). Seine patriotische Absicht dabei hat am besten der Herzog von Coburg erkannt, der „seinem alten Freund“ schrieb: „Ich habe Ihr Buch mit aufrichtigem Interesse gelesen, mich namentlich darüber gefreut, wie Sie den anziehenden Stoff in so einfacher und volksthümlicher Form zum praktischen Ausdrucke gebracht haben – und wünsche von Herzen, daß es durch die Macht treuherziger Dichtung im neuen Reichsland Propaganda für das Reich mache.“

Ein kleines Lustspiel „Die Gänseleber-Pastete“ entsprang derselben Quelle. Eines der gelungensten dramatischen Feste, bei dessen Aufführung Kaiser Wilhelm und Großherzog Friedrich von Baden selbst unbewußt mitspielte, war das „Kaiserfestspiel auf Mainau“ am Abend des 14. Juli 1876, über welches die „Gartenlaube“ (Nr. 33) ausführlich berichtet hat. Neben einem vieractigen romantischen Schauspiel „Teuerdank“ entstand dann das romantische Zeitbild „Teuerdank’s Brautfahrt“, mit dessen Schicksal wir dieses Lebensbild begonnen haben.

Wenn Gustav von Meyern im Volke und in der Literatur weniger genannt und bekannt war, als viele Andere, die weder an Bedeutung ihrer Person noch ihrer Leistungen ihm gleich standen, so trägt die Schuld zum Theil er selbst oder vielmehr seine Selbstlosigkeit und Anspruchslosigkeit, die als eine seiner hervorragendsten Charaktereigenthümlichkeiten wir halb preisen, halb aber beklagen müssen. Wie viele, besonders von unseren jüngeren Autoren, hätten es über sich vermocht, die ihm so vielfach gebotene Gelegenheit des Einblicks in die höchsten Fürstenhöfe Europas, des näheren Umgangs mit den einflußreichsten Männer und Frauen nicht in Zeitungsberichten, Erinnerungen, Essays und dergleichen zu ihrer persönlichen Glorification auszubeuten? Meyern war nie zu dergleichen Mittheilungen zu bewegen, wie oft ich auch selbst ihn darum bat. Ebenso wenig benutzte er seine Stellung als Hoftheater-Intendant zur Beeinflussung seiner Collegen zu Gunsten seiner eigenen dramatischen Arbeiten. „Meine Anspruchslosigkeit,“ schrieb er mir einmal, „ist zu einer Art Lebensweisheit ausgebildet, und ihr unterwerfe ich auch das, was ich schreibe. Ist es vom Stapel gelaufen, betrachte ich es, wie ein Vogel sein flügges Junge. Das Nest zu bauen und das Ausbrüten und Nähren hat mir Vergnügen gemacht, war eine Befriedigung des Naturbedürfnisses. Ist das Junge aus dem Nest, so füttere ich es noch eine Zeitlang, indem ich ihm einen Verleger suche, bei dem es sich künftig selbst sein Futter verschafft, und dann – sage ich mich los. Alles Uebrige würde auf Eitelkeit, Ehrgeiz oder Gelderwerb hinauslaufen, drei Dinge, denen, wo nicht etwa das dritte ein zwingendes ist, Lebenserfahrung und etwas Stoicismus entsagen lehrt.“ Solche Grundsätze vertragen sich mit keinerlei Cliquen- und Reclamenwesen. Aber um so höher achten wir den Mann und waren dem Dichter es schuldig, ein möglichst vollständiges Bild wenigstens seines geistigen Schaffens zu geben.

Wir schließen mit einem tragischen Nachspiel. Meyern war, wie wir wissen, kein Gesellschaftsmensch, sondern suchte seine Erholung und seine schönsten Freuden im Kreise der Seinen. „Er war ein Hohepriester seiner Familie und pflegte den Altar des Hauses mit wahrhaft geweihter, reiner Hand“. Das sind Worte seiner Gattin. Das reizendste Verhältniß hatte sich mit Gretchen’s Nachfolgerin in seinem Herzen, mit Clärchen, angesponnen. Das achtjährige Töchterchen war „der Sonnenstrahl des Vaters“. Kind und Vater waren unzertrennlich und verstanden sich mit den Augen. Clärchen besaß ausgezeichnete Begabung für Musik und machte unter der Mutter Leitung, noch mehr aber durch eigenen Eifer große Fortschritte; wie andere Mädchen zur Puppe eilen, so eilte sie zum Flügel. In Meyern’s letzter Krankheit war sie die unversiechliche Quelle seiner Heiterkeit. Denn diese hielt er fest mit aller Kraft. Noch seinen letzten Brief an mich, vom 24. Februar, in welchem er seine gezwungene Unthätigkeit beklagt, die Arbeiten aufzählt, die nunmehr fertig sein könnten und auf deren Vollendung er sich freut, und eben deshalb auf die Genesung und den Frühling „wie das Kind auf Weihnachten“ – selbst da schließt er: „Seien Sie mit den Ihrigen gegrüßt vom Lazarus, sonst aber, wenn er auch keinerlei Emotion vertragen kann, immer noch gutgelaunten Freund G. v. M.“ – In dieser Zeit spielte einmal Clärchen dem Papa Mendelssohn’s Melodie zu „Wer hat dich, du schöner Wald“ vor. Tief bewegt äußerte Meyern: „Dieses Lied müßte ein Abschiedslied, ein Lied am Grabe werden.“ Einen Tag nach seinem Tode fand man den Entwurf des Liedes, noch im Brouillon, in seinem Schreibtisch – „es war der Schwanengesang für Vater und Kind geworden“ (vergl. „Gartenlaube“ 1878, Seite 289). Vier Wochen nach des Vaters Tode lag auch Clärchen auf der Bahre. In der Familie ging das Wort. „Papa hat sie gerufen; da mußte sie ja folgen.“




Die Weltpost.


   „Dringt ihre Sprache
Doch wunderbar zu allen Menschen – –
Von Land zu Land und durch der Wogen Grollen
Selbst der Entfernteste vernimmt sie noch;
Er hört sie nicht – und er versteht sie doch.“

Mit diesen Worten feiert die griechische Dichterin Sappho das Himmelsgeschenk der Schrift und die Boten unseres Geistes, die Briefe, nach Stephan’s poesievollem Vergleiche „jene Schiffe auf dem Ocean der Entfernungen“, welche den neidischen Raum überbrücken und den Gedanken bis zu den letzten Ausläufern des Erdballs tragen. Was wären wir ohne diese Möglichkeit, mit weit entfernten Menschen uns unterhalten zu können! Was wäre die Menschheit ohne jene Einrichtung der Post, welche, einem unendlich verzweigten Netze von Nervensträngen gleich, die Lebenswärme, den Blutumlauf des geistigen und seelischen Fluidums über den ganzen Weltkörper verbreitet! Sie fürchtet nicht den dörrenden Hauch der Wüste, nicht die eisigen Gletscher der Cordilleren; sie überbrückt die grollenden Wogen; sie schlingt ein unzerreißbares Band um die Welttheile, das selbst der völkervernichtende Krieg nicht zu zerstören vermag. Eine so wunderbare und gewaltige Kraft sehen wir täglich vor unseren Augen wirken, in der Fülle der Erscheinungen, die den modernen Menschen umgiebt, achten wir aber nur wenig ihrer; und erst dann, wenn ihr Einfluß einmal durch zufällige Störungen beeinträchtigt oder außer Wirksamkeit gesetzt ist, erinnern wir uns der Vorzüge einer Einrichtung, die uns täglich geistige und materielle Wohlthaten in Hülle und Fülle zuführt.

Die mächtige Vervollkommnung unserer heutigen Verkehrsmittel, unter denen die Post wegen ihrer Ausbreitung in die weitesten Kreise wie in die engsten Canäle des menschlichen Culturlebens die wichtigste ist, bildet ein anziehendes Capitel der Geschichte; ihre Entwickelung ist zum Theil so neuen Datums, daß [197] wir uns nicht wundern dürfen, wenn sie noch nicht überall bekannt genug ist, um immer die gebührende Würdigung zu finden.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war das Postwesen in seiner engherzigen, meist nur auf finanziellen Ertrag gerichteten Verfassung mehr eine Schranke, als ein Bindemittel zwischen den Völkern. Wo eine neue Landesgrenze, ein neuer Schlagbaum auftauchte, begann die Herrschaft eines neuen Tarifs, der mit den Taxen des Nachbarlandes an Höhe wetteiferte. Die Finanzweisheit der Postverwaltungen hatte eine wahre Mosaik von Brieftaxen ausgeklügelt. Es gab Tarife für gute und für schlechte Wege, Tarife zu Lande und zu Wasser, für Posten, die am Morgen, und für Posten, welche am Abend gingen, nicht minder für die ehemaligen Schnellposten; ja Tarife für die gute Jahreszeit und für den Winter: ein Wirrwarr, der – wie Stephan treffend sagt – selbst zur Macht geworden war. Dabei suchte man auf jede mögliche Art vom Briefschreiben abzuschrecken und bediente sich dazu des Mittels, für jedes Transitgebiet besondere Durchgangsbriefzölle zu erheben; häufig führte man die Briefe deshalb auf zahlreichen Umwegen spazieren, wie es heutzutage die löblichen Eisenbahnen Deutschlands mit den Frachtstücken machen. Für kleinere Orte gab es zudem noch ein besonderes Binnenporto, weil nur die großen Postanstalten im Besitze directer Tarife sich befanden und der Bezug des Portos vom nächsten größeren Orte bis zu dem kleineren sich als eine neue ergiebige Einnahmequelle erwies.

Ob man durch solche Maßregeln den Handel und Wandel unterband, sowie den Austausch der Gedanken und Empfindungen erschwerte – war den Postverwaltungen gleichgültig. So erklärt es sich denn, daß ein einfacher Brief von Memel nach Aachen noch im Jahre 1825 nicht weniger als achtzehn Groschen kostete, und wehe ihm, wenn er schwerer war, als gewöhnlich! Noch viel abschreckender sind die Beispiele von der Höhe des Portos für Briefe zwischen entfernteren Ländern. Als während des griechischen Befreiungskrieges ein kleines Paket mit Zeitungen aus Missolunghi in Griechenland nach London kam, mußte der Empfänger, dessen Söhne dort auf Seiten der Civilisation und Freiheit gegen die Barbarei kämpften, siebenundsiebenzig Pfund Sterling Seeporto für jene Zeitungsblätter zahlen. Selbst auf die gute Stimmung, welche die Annehmlichkeit, einen Brief zu empfangen, bei den Menschen gewöhnlich hervorruft, hatten die Postverwaltungen früher Taxsysteme gebaut; denn wenn zwischen verschiedenen Staaten ein Postvertrag zur Regelung der Postbeziehungen und Portotaxen nicht abgeschlossen war, erhob das Postamt am Bestimmungsorte einfach noch einmal Porto für den bereits theilweise frankirten Brief, wohl in der Annahme, der Empfänger werde dasselbe sehr gern zahlen, da er doch „einen Brief erhielt“. Goethe hat in den „Geschwistern“ einen solchen Fall, wie er gewiß damals ganz gang und gäbe war, als Zeichen des einstigen Taxwirrwarrs verewigt, indem er Wilhelm beim Empfange eines beschwerten Briefes „franco halb“ zum Briefträger, der Porto forderte, sagen läßt. „Gut, sehr gut! Notir’ Er mir’s zum Uebrigen!“

Allerdings war diese Art der Portoerhebung die einfachste und auch für die Postbeamten die angenehmste; denn sie brauchten in solchem Falle ihr Gedächtniß mit dem trostlosen Inhalte jenes Wustes von Postverträgen nicht zu beschweren, die zu Hunderten abgeschlossen wurden, um die gegenseitigen Beziehungen und den Portoantheil der einzelnen Postverwaltungen zu ordnen und festzusetzen. In allen diese Postverträgen herrschte der Geist der Fiscalität, der Uebervortheilung, des Kampfes Aller gegen Alle vor. Es war noch ärger als im Alterthum; denn in Hellas und Rom, wo es allerdings an Posteinrichtungen für das Publicum gänzlich fehlte, bezahlte man doch nur die wirkliche Leistung der Boten (gewöhnlich Sclaven), die den Briefverkehr besorgten, und hatte alsdann jedenfalls den Vortheil einer größeren Sicherheit der Uebermittelung. Im Mittelalter und bis in die jüngsten Jahrzehnte hinein aber war die Post überall eine melkende Kuh, welche dem Staate Erkleckliches einbringen sollte.

Der gewaltige Aufschwung, welche die Eisenbahnen und Dampfschiffe im Verkehrswesen der Neuzeit hervorzauberten, blieb naturgemäß auch auf die postalischen Beziehungen der Völker nicht ohne Einfluß. Die Portotaxen im Innern wurden nach dem Vorgange Englands allmählich mehr und mehr ermäßigt; die bloße finanzielle Ausbeutung der Post hörte auf als ein unumstößlicher Grundsatz der Staatswirthschaft zu gelten; das Wehen der neuen Zeit fegte mit frischem kräftigem Hauche auch die alten verrotteten und pedantischen Tarife hinweg; man erkannte endlich, daß die Post als ein wichtiges Culturelement, als ein Hebel der Volkswohlfahrt betrachtet und in freisinnigem Geiste eingerichtet und verwaltet werden müsse. Namentlich die preußische Postverwaltung ging für ihr Gebiet auf dieser Bahn der Entwickelung voran; letzteres galt schon in den vierziger und fünfziger Jahren als das relativ bestverwaltete Postwesen Deutschlands, welches namentlich hinsichtlich der Fahrpost, die z. B. auch jetzt noch in England, Frankreich und Italien nicht als Staatsverwaltungszweig betrachtet wird, die Leistungen anderer Postverwaltungen überragte. Allein auch die preußische Post ließ für den internationalen Verkehr die alten Posttarife im Wesentlichen bestehen; es bedurfte noch langer Zeit und zahlloser Anstrengungen erleuchteter Geister, um eine gesunde Entwickelung auf dem Gebiete der internationalen Postbeziehungen anzubahnen.

In Deutschland war die erste wichtige Etappe auf dem Wege freisinniger Postpolitik die Gründung des deutsch-österreichischen Postvereins (1850), welcher wenigstens für die Briefpost ein einheitliches Postgebiet aus der Mosaik der damals bestehenden siebenzehn deutsche Postverwaltungen herstellte, die postalische Grenzen für Briefsendungen aufhob und dem deutsch-österreichischen Verkehre in ähnlicher Weise unschätzbare Dienste leistete, wie der deutsche Zollverein auf dem Handelsgebiete. Leider ließen die Ohnmacht Deutschlands und die Vielköpfigkeit seiner Territorialpostverwaltungen es nicht zu, daß ein gleicher Erfolg auch auf internationalem Gebiete erreicht wurde.

Als auf Nordamerikas Anregung im Jahre 1863 zu Paris eine internationale Postconferenz zur Regelung der postalischen Beziehungen größerer Völkergruppen zusammengetreten war, schien die Morgenröthe einer neuen Entwickelung auf diesem für die Cultur so wichtigen Gebiete zu winken. Der geographische Begriff „Deutschland“ – ein Gespött der übrigen Nationen – vermochte indessen keinen Krystallisationspunkt für freisinnige Regelung des Verkehrs zu bilden, weil ihm die politische Macht fehlte; so kam es, daß die Conferenz nur einen theoretischen Meinungsaustausch, aber keine praktische Ergebnisse lieferte.

Offenbar war Deutschland bei seiner Lage im Herzen Europas am meisten geeignet, zur Lösung der Weltpostfrage beizutragen. Hierzu aber bedurfte es zuvor seiner politischen Wiedergeburt; es mußte im Rathe der Völker erst wieder eine Stimme erlangt haben, welche seiner geistige Höhe, wie seiner Geschichte und seiner Machtverhältnisse würdig war. Die denkwürdigen Ereignisse von 1866 bahnten den Weg dazu; die glorreiche Zeit von 1870 bis 1871 ließ endlich den Traum so vieler Edlen in Erfüllung gehen, und noch Begründung des neuen Deutschen Reiches erstand auch die neue Reichspost, nicht als ein Epigone der einstigen Feudalreichspost des Fürsten von Thurn und Taxis, sondern als eine Reichseinrichtung, deren Ziele einzig auf die Hebung und Erleichterung des Verkehrs, die Wohlfahrt des deutschen Volkes gerichtet waren. Erst in dieser achtunggebietenden politische Stellung vermochte Deutschland die Lösung der Postfrage in die Hand zu nehmen. Zum Glück besaß es den rechten Mann dazu, den Generalpostmeister Heinrich Stephan, der schon in früheren Jahren als Geheimer Rath unablässig für die Reform der internationalen Postverkehrsbeziehungen gewirkt hatte und gleich nach dem Antritt seiner Stellung als Chef der Reichspost (Mai 1870) mit einem durchgreifenden, die ganze Erde umfassenden Plane zur Umgestaltung der internationalen Posteinrichtungen hervortrat.

Der weitblickende Geist dieses genialen Mannes hatte erkannt, daß die verschiedenartigen Formen, unter denen das Postwesen in den einzelnen Staaten verwaltet wurde, bei ihrer Ungleichmäßigkeit nicht geeignet waren, die großen Culturaufgaben der Post, die in der Freiheit des Gedankenaustausches und in der Annäherung der Völker gipfeln, wirksam zu fördern. Diese Mission kann nur dann erfüllt werden, wenn alle Kräfte, die das Verkehrsleben der Völker zu vermitteln und zu unterhalten bestimmt sind, gleichförmig dem einen großen Ziele, der uneingeschränkten Förderung der Cultur, sich dienstbar machen.

„Volle Freiheit der Verkehrsbewegung in dem ganzen von civilisirten Nationen bewohnten Raume der Erde, Beseitigung der postalischen Grenzen und der Transitportogebühren, schnellste Beförderung [198] der Postsendungen auf directem Wege mit Benutzung der angemessensten Routen, endlich Festsetzung eines einheitlichen Weltportosatzes,“ das waren Stephan’s denkwürdige Forderungen an die nach Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten am 15. September 1874 zu Bern, in dem ehrwürdigen, durch so viele geschichtliche Erinnerungen geweihten Ständehause der Eidgenossenschaft zusammengetretene Versammlung der Vertreter von zweiundzwanzig europäischen und amerikanischen Postverwaltungen. Welch ein großes Ziel, in der idealen Auffassung des Berufs der Post wurzelnd, und dabei doch so klar und auf den Boden der Wirklichkeit gestellt! Ein Streben nach dem Gleichmaß der wirkenden Kräfte, nach Befreiung eines wichtigen Culturelements von verrottetem Urväterhausrath!

Die magnetische Kraft dieses Gedankens war eine so unwiderstehliche, daß nicht minder die zahlreichen Eifersüchteleien politischer Natur unter den verschiedenen Verwaltungen, wie die fiscalischen Wünsche einiger Staaten zum Schweigen gebracht wurden, und daß, mit einziger Ausnahme Frankreichs, das aus finanziellen Gründen mit dem Beitritt vorerst zögerte, alle Staaten Europas, ferner in Asien Rußland und die Türkei, in Afrika Aegypten mit Nubien und dem Sudân, sowie Tunis und Marokko, endlich in Amerika die Vereinigten Staaten dem deutschen Plane der Begründung eines „Allgemeinen Postreviers“ zustimmten. Am 9. October 1874 wurde der Vertrag, welcher für den Postverkehr eines Gebiets von 716,000 Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 350 Millionen gleiche Brieftaxe und gleiche Formen des Briefpostverkehrs festsetzte, zu Bern unterzeichnet; am 1. Juli 1875 trat er in volle Wirksamkeit. Damit war eine dauernde Einrichtung von höchster Bedeutung für den Weltverkehr geschaffen, wie sie bisher die Culturgeschichte der Menschheit nicht kannte. Die Landesgrenzen waren für den Postverkehr beseitigt, die verschiedenartigen Tarife und Taxen aufgehoben; die volle Freiheit des Postaustausches war gewährleistet: ein Postgesetz, ein Tarif regelten den vielverzweigte Verkehr der wichtigste Staaten des Erdballs, sowie die zahlreichen materiellen und geistigen Beziehungen, welche die Post vermittelt. Und was das Herrlichste an diesem Siege war: es hatte keines Schlachtenlärms bedurft; er war auf friedlichem Wege erreicht, er verband die Nationen enger, als alle Friedensbündnisse es vermochten, durch die Gemeinsamkeit der Interessen wenigstens auf diesem Cultur-Gebiete.

Neben diesen großen Erfolgen waren für die Verwaltungen selbst zahlreiche Erleichterungen erzielt; es fielen die umständlichen Abrechnungen fort, welche früher erforderlich waren, um jedem Staate den Porto-Antheil zu sichern. Bei einem Briefe z. B. von Hamburg nach Lissabon war früher das Porto unter fünf Postverwaltungen zu vertheilen; es entwickelte sich daraus eine Masse öden Schreibwerks, dessen Erledigung von der Erfüllung größerer Aufgaben abhielt. Nach dem neuen Vertrage behält einfach jeder Staat denjenigen Portobetrag, den er selbst vom Publicum erhält, dadurch wird jede Abrechnung entbehrlich. Von hohem Werthe erwies sich auch die Rückwirkung der Vereinsbestimmungen auf die innere Postgesetzgebung der einzelnen Länder dadurch, daß diese sich mehr und mehr den in dem Vereinsgebiete herrschenden Grundsätzen anpaßte.

Frankreich hatte sehr bald seine Vereinzelung in Bern bereut und schloß sich nachträglich dem Vereine an; sodann traten innerhalb der nächsten drei Jahre Britisch-Indien, die französischen, britischen, niederländischen, portugiesischen und spanischen Colonien, das aufstrebende Japan , ferner Brasilien, Grönland und die dänischen Colonien, sowie Persien und einige Hafenstädte in China (Hongkong, Shanghai), endlich Canada hinzu. Diese Ausbreitung des Vereins machte im Jahre 1878 den Zusammentritt des zweiten Weltpost-Congresses nothwendig, der sich am 2. Mai 1878 in Paris versammelte und, im Sinne des Berner Grundgedankens, den Allgemeinen Postverein zu einem Weltpostvereine erweiterte, welcher jetzt fast die Gesammtheit der civilisirten Länder des Erdkreises umfaßt. Der Vertrag wurde am 1. Juni 1878 im Palais Bourbon unterzeichnet und wird am 1. April 1879 in’s Leben treten. Seine Wirksamkeit erstreckt sich auf ein Gebiet von 1,300,000 Quadratmeilen mit mehr als 750 Millionen Menschen. Außerhalb des Vereins bleiben nur einige Republiken Mittel- und Südamerikas, deren Beitritt übrigens nur eine Frage der Zeit ist, ferner Australien und China, in dessen Gebiet indessen bereits ein dem Weltpostvereine angehöriger Postcurs von Kiächta nach Peking Bresche legt. Neben der vollen Freiheit des Postaustausches verwirklicht der Pariser Vertrag insbesondere den idealen Gedanken des Weltportos: der einheitliche Satz von fünfundzwanzig Centimes, gleich zwanzig Pfennig, bildet in der ganzen Welt jetzt das Normalporto für den einfachen Brief; er ist an die Stelle der 1200 Portosätze getreten, die vor Begründung des Vereins für den internationalen Postverkehr in Geltung waren.

Für Postkarten ist der einheitliche Satz von zehn Pfennig eingeführt. Auch die Einschreibegebühr, welche sonst in vielen Abstufungen erhoben wurde, hat man allgemein auf den Satz von fünfundzwanzig Centimes, gleich zwanzig Pfennig, festgesetzt. Für Waarenproben und Drucksachen endlich sind erhebliche Erleichterungen eingeführt. Der Ausbau des großen Werkes ist damit in der Hauptsache vollendet.

Nach vielen Millionen zählen diejenigen, welche die Vortheile des Weltpostvereins täglich genießen; er schlingt ein festes Band der Einheit um die große Culturarbeit auf vielen Gebieten menschlicher Thätigkeit; er befreit von lästigen Fesseln und eint die Menschen zu einer großen Familie. Auch wird er darauf hinwirken, daß zum Segen der Menschheit ähnliche umfassende Gemeinschaften aus anderen Gebieten der Cultur entstehen. Dem Begründer der Weltpost, Generalpostmeister Heinrich Stephan, aber gebührt mit vollem Rechte in der Culturgeschichte ein Platz unter denjenigen Männern, welche zu den Wohlthätern der Menschheit gerechnet werden.

G. T.




Das Jachenthal im baierischen Hochgebirge.


Seitdem die sommerliche Reise in’s Gebirge Modesache geworden ist, gehen die echten Natur- und Alpenfreunde auf Forschungen aus, um Plätze zu finden, die von dem allgemeinen Wanderzuge noch nicht überfluthet sind. So ein unberührtes Fleckchen Natur ist das Jachenauer Thalgebiet, das in Bezug auf Anmuth und landschaftlichen Reiz mit vielen übervoll besetzten Hochgebirgsthälern wetteifern kann.

Vom nördlichen Ende des Walchensees, vom sogenannten Jäger am See in Urfelden weg, zweigt sich ein schattiger Pfad von der Hauptstraße nach Osten ab, der lange Zeit am Gestade des Bergsees fortläuft. Nachdem man das Seeufer verlassen hat, geht man etwa anderthalb Stunden im Gehölze dahin und gelangt hernach plötzlich auf einen freien Platz, der den Ueberblick über ein herrliches Thal gestattet, das links und rechts von dicht bewaldeten Hügeln umrahmt ist, während im Halbkreise mächtige Bergriesen trotzigen Blickes hereinschauen. Dicht unterhalb dieses Standpunktes liegt das Dorf Jachenau mit einer Anzahl großer, stattlicher Häuser, die auf eine besondere Wohlhabenheit der Bewohner schließen lassen. Wie bei allen Gemeinden der Gebirgsländer, liegen auch hier die anderen zur Ortschaft gehörigen Anwesen in weiter Entfernung von einander, theilweise sogar in beträchtlicher Höhe auf den angrenzenden Hügelreihen vertheilt, wie dies beispielsweise bei den Bergbauerngütern der Fall ist.

Die Bevölkerung erfreut sich eines Wohlstandes , wie er in keinem anderen Theile des Alpengebietes existirt, und doch bemerkt man weder wogende Felder, noch jene üppigen, weit ausgedehnten Bergwiesen, wie sie das gleichfalls wohlhabende Allgäu aufzuweisen hat; ringsum sieht man nur die düsteren Contouren ungeheurer Wälder, und in ihnen haben wir die Quelle des Reichthums der Jachenauer Bauern vor uns.

Der riesenhafte Complex des Jachenauer Waldgebietes, ungefähr 28,000 Tagwerk umfassend, ist Eigenthum des Staates, aber die angesessenen Jachenauer haben die Berechtigung zum Holzbezug aus diesen Waldungen. Diese Berechtigung erstreckt sich jedoch nicht allein auf die vollkommen unentgeltliche Deckung des Holzbedarfes für den Hausgebrauch, also auf die Versorgung des Anwesens mit Brenn- und Bauholz, sondern schließt auch das weitere Recht in sich, das aus einem gewissen Gebiete auffallende [199] Nutz- und Brennholz um den fünften Theil der Staatsforsttaxe für sich zu beziehen. Ein Ster Brennholz wird dem Berechtigten beispielsweise zur Zeit um den Preis von einer Mark überlassen; im gleichen Verhältnisse erwirbt derselbe auch das Bauholz. Die Aufarbeitung und Abfuhr liegt natürlich dem Käufer ob, und es kostet immer noch ein hartes Stück Arbeit, bis das Holz auf den Verkaufsplatz geliefert ist.

Eine Menge von Leuten finden hierbei Beschäftigung; der ganze Sommer vergeht mit Zurichten der im Vorjahre gefällten Bäume, die, abgeästet und geschält, an geeignete Stellen geschleift werden, von wo man sie dann im Winter auf die Lagerplätze am Walchensee schafft. Von hier aus schwimmen die Stämme einzeln und partienweise in stolzer Selbstständigkeit auf dem Rücken der Jachen bis in die Isar und werden erst bei Lenggries wieder aufgefangen und in Banden geschlagen, und von dort als Flöße weiter befördert zu werden.

Die Rente, welche in Folge des Holzbezugsrechtes einzelnen Hofbesitzern erwächst, ist eine sehr bedeutende und erreicht in manchen Fällen die Höhe eines Ministergehaltes. Baares Geld ist daher in Hülle und Fülle vorhanden, und es kann als eine einzig dastehende Eigentümlichkeit erwähnt werden, daß fast jeder bedeutendere Bauer seinen diebes- und feuersicheren Geldschrank im Hause hat. Welche verhältnißmäßig große Summen oft ein solcher Arnheim birgt, geht daraus hervor, daß die Holzarbeiter der Staatsverwaltung ihre Anweisungen auf das königliche Rentamt, die sich meist in Summa auf viele Tausende belaufen, bei dem Meßnerbauer einwechseln, der dies aus purer Gefälligkeit spesenfrei besorgt und dadurch den Leuten einen weiten Marsch erspart.

Daß der Bauer sich selbst nebenbei nicht vergißt und seine Thaler springen läßt, wo es immer angeht, ist natürlich; er hält viel auf einen guten Viehstand, insbesondere auch auf stattliche Pferde, der eigenen und seiner Familie Toilette nicht zu vergessen. Die Kleidung des Männervolkes ist sehr einfach; Joppe, Hose und Weste von grauem Tuch und ein haariger grober Filzhut, der höchstens mit einer Feder oder dem Adlerflaum geziert ist, bilden den ganzen Staat desselben; als Schmuckgegenstände werden meistens nur silberne Uhrketten und Gehänge, sowie die silbernen Beschläge und Kettchen der Tabakspfeifen getragen. Das schönere Geschlecht verfährt dagegen etwas sorgfältiger und, wie allenthalben auf der ganzen Erdenrunde, auch luxuriöser. Obschon sich die Jachenauerin am Werktage mit einem kurzen groben Rocke, einer weißen Schürze, einem einfachen schwarzen Mieder und einem leichten Busentuche begnügt, erachtet sie doch an Sonn- und Feiertagen eine umfassendere Schmückung ihrer Person für absolut notwendig. Eine große seidene Schürze bedeckt alsdann fast den ganzen Unterkörper; das Mieder ist mit dem reichen silbernen „G’schnür“ verziert, welches aus einer Kette von vielen Ellen Länge besteht; die Büste wird mit einem schönen Seidentuche bedeckt, das durch eine und oft durch mehrere goldene Broschen zusammengehalten wird. Den Kopfputz bildet das spitze Filzhütchen, das je nach dem Wohlstande der Trägerin mit einer goldenen Hutschnur, welche in zwei goldene Quasten endet, mehrfach umwunden ist. Das Jachenthal darf sich im Allgemeinen eines schönen kräftigen Menschenschlages rühmen, und gehören demgemäß die Jachenauer „Deandle“ gewiß nicht zu den letzten ihres Geschlechtes in den Bergen. Der wohltuende Zug der Leutseligkeit und Zuthulichkeit, der unser ganzes Gebirgsvolk charakterisirt, ist auch den Bewohnern des Jachenthales eigen, das herzliche „Grüaß God“ schallt dem Wanderer auf allen Wegen entgegen, und meistens herrscht das vertrauliche „Du“ in der Umgangssprache vor.

In dem stattlichen Wirthshause, das sich am östlichen Ende des Dorfes präsentirt, lebt sich’s recht gut, der Wirt weiß den Bedürfnissen seiner Gäste gerecht zu werden und hat für seine besonderen Besucher ein hübsches Sommerhäuschen seinem Hause gegenüber errichtet, wo man bei heiterem Wetter Angesichts der prächtigen Scenerie gern einige Stunden verweilt. Der Bauer natürlich geht in die Stube, ob nun auch das Thermometer dortselbst dreißig Grad zeigt und die Rauchwolken sich, Nebelballen gleich, über den Anwesenden lagern; dort wird gezecht, disputirt und manchmal ernstlich gestritten; das Hausrecht wird jedoch streng gewahrt, und das entscheidende Wort des Wirthes hat noch sein Gewicht, der Gast fühlt sich aber trotzdem unbeengt und kann die paar Stunden getreu seinen Anschauungen und nach altem Herkommen verjubeln. Die freundlichen Kellnerinnen sind sich ihrer Stellung bewußt und vermögen jedem Gaste etwas Verbindliches, wenn auch in landesüblicher, derber Form zu sagen, sodaß auch sie hervorragende Stützen des Geschäfts bilden. Wenn die Abendglocke läutet, so beginnt die „Stasl“ ohne jegliche Einleitung vorzubeten, und im Nu ist Alles mäuschenstill geworden, die ganze Gesellschaft betet vor den Krügen andächtig nach, und man sieht es dem Mädchen an, daß sie auf diese ihre Seelsorgerrolle ordentlich stolz ist. Sie weiß auch mit Stadtleuten umzugehen und bedient so flink und zierlich, wie der Kellner eines Hotels. Nur darf man nicht über die liebe Muttersprache weg gehen und – wie dies jüngst der Führer einer sehr fashionablen Gesellschaft that – von dem Mädchen z. B. sechs Tassen „Bouillon“ verlangen; es war kein Wunder, daß ein Anderer seine „Suppe“ um ein Erkleckliches früher bekam, als die Herrschaften ihre „Bouillons“.

Als einer der hervorragendsten Vorzüge des Thales müssen die außerordentlich günstigen klimatischen Verhältnisse desselben bezeichnet werden, da es von allen Seiten vor rauhen Winden geschützt und von kolossalen Nadelwaldungen umgeben ist. Ein unternehmender Arzt hat sich auch schon mit Vorbereitungen beschäftigt, in Jachenau eine klimatische Curanstalt zu errichten, welches Project aber an verschiedenen Umständen gescheitert ist. Hauptsächlich steht jedem derartigen Unternehmen der Uebelstand entgegen, daß Jachenau gar keine andere Postverbindung mit der übrigen civilisirten Welt hat, als einen Postboten, der jeden zweiten Tag die Briefschaften und Poststücke hin- und herbefördert; nicht einmal eine Carriolpost hat man den Jachenauern, die denn doch in Folge ihrer Vermögensverhältnisse ziemlich hohe Steuern bezahlen, bewilligt.

Der Wanderer, der sich hierher verirrt, wird darob keine Reue empfinden, denn was man in den Bergen sucht, findet man hier im reichsten Maße. Die Nähe von zwei Seen, dann von ganz respectabeln Bergen mit der lohnendsten Fernsicht – das ist Gelegenheit genug zu erfreulichen Ausflügen. Die Aussicht auf dem Fahrenberg wird von Vielen derjenigen auf dem berühmteren Herzogstand noch vorgezogen; der König von Baiern hat in jüngster Zeit deshalb ein Belvedere auf jenem Berge errichten lassen; außerdem bieten der Pfeng, die Jocheralpe, das Bärenhaupt und andere Abwechselung genug. Das Leben auf den Alpen selbst, die von Sennerinnen bewirthschaftet werden, zeigt sich noch in seiner Ursprünglichkeit und Urwüchsigkeit, und keinerlei Comfort der von Fremden viel besuchten Alpenhütten verkümmert die Originalität der Jachenauer „Kaser“. Die Sennerin schaltet und waltet dort oben unbekümmert um die Neuerungen auf dem Gebiete der Milcherei nach altem Herkommen, und jede derselben bereitet ihren eigenen Käse, der für unseren Gaumen allerdings nicht geschaffen ist und eigentlich nach gar nichts schmeckt, trotzdem aber starken Absatz erzielt; bei der prächtigen Milch und der süßen Butter läßt sich übrigens auch leben, insbesondere, wenn man das Glück hat, ein sauberes Deandl zu treffen, das im Stande ist, einem etwas vorzusingen und zu „juchaz’n“, daß sich die Wolken am Himmel theilen. Kommt dann noch Gesellschaft, vielleicht ein „Jaga“ dazu, dann wird’s kreuzfidel, und die enge Sennhütte gewinnt mehr Anziehungskraft, als die glänzend beleuchteten Hallen eines residenzlerischen Vergnügungslocales.

Die ausgedehnten Waldungen um Jachenau bergen natürlich eine außerordentliche Masse von Haar- und Federwild aller Art. Prächtige Hirsche durchstreifen die Wälder; auf den grasreichen Hängen weilt die Gemse, und das flüchtige Reh durchstreift Wies’ und Busch. Das ist eine harte Versuchung für alle Diejenigen, welche das edle Waidwerk lieben, aber nicht lieben sollen. Das Forstpersonal hat deshalb einen sehr beschwerlichen Dienst, und ein Sonntagsjäger, der mit dem Gemsbart und der Spielhahnfeder am Hut einherstolzirt, würde curiose Augen machen, wenn er einmal eine Streif- und Arbeitswoche mit einem der verwetterten, vertrockneten und verknorrten Waidgesellen theilen müßte. Montag früh fort, Sonntag Nachts heim; im Rucksack für die ganze Woche nur Mehl, Salz, Speck, Brod und Schnaps; gekocht wird ein paarmal ein Holz-„Retzel“ – ein schreckliches Gemengsel von Mehl, Wasser und Schmalz – sonst begnügt man sich mit Brod oder Speck. Mit dem Nachtquartier sieht’s auch schlimm aus; die Witterung ist reine Nebensache; manchmal ist eine Heuhütte in der Nähe, meistens aber heißt’s unterm freien Himmel campiren. Das sind

[200]

Das Jachenthal im bayerischen Hochgebirge.
Nach der Natur aufgenommen von Gustav Sundblad.

[201] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [202] besondere Naturen, und unter diesen Jagdaufsehern befinden sich, nebenbei bemerkt, durchaus nicht lauter junge Männer, sondern sogar sehr gereifte Bursche, die aber womöglich noch zäher sind, als die jungen, die nach ihrem Ausspruche „nichts mehr vertragen können“. Wenn sich solch ein Mohikaner aber an einem freien Tage im Wirthshause ansiedelt, dann sitzt er so fest wie ein Dachs, und wollte man ihn vor der Zeit heraus bringen, so müßte man ihn, wie diesen, wahrhaftig ausräuchern.

Die Jachenau wird von Touristen häufig, von eigentlichen Sommerfrischlern aber wenig besucht, weil, wie schon erwähnt, die directe Verbindung mangelt. Von Lenggries führt aber nach Jachenau ein sehr hübscher Weg, zugleich bequeme Fahrstraße, und lediglich die beinahe vierstündige Dauer desselben schreckt viele Ausflügler ab, bis in das reizende Thal ihre Wanderungen auszudehnen. Lenggries selbst ist mit dem Markte Tölz durch einen regelmäßigen Postverkehr verbunden, und Tölz ist die Endstation einer Zweigbahn von Holzkirchen und daher auch ein sehr beliebter Ausflugspunkt für die Münchener und Diejenigen, welche München zum Hauptquartiere erkoren haben. So ist es selbst für nicht geübte Fußgänger ein Leichtes, die Jachenau ohne besondere Beschwerde zu erreichen, und wer in der kommenden Reisesaison einige Tage so recht unberührt von den Wogen des alltäglichen Getriebes, die sich heutzutage sogar bis auf Bergeshöhen und in die wildesten Schluchten hinwälzen, verbringen will, stoße dort getrost seinen Wanderstab in die Erde und beginne frohen Muthes und nach Herzenslust „Natur zu kneipen“!

B. Rauchenegger.




Irrende Sterne.
Novelle von Georg Horn.
(Schluß.)
Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Der alte Warbusch ging. Erich war wieder allein.

Von Regina’s Privatverhältnissen hatte weder er noch seine Frau etwas Sicheres erfahren. Die Freundin hatte sich nie darüber geäußert. Sie wußten nur, daß sie von den Erträgnissen des Unterrichts lebte, den sie in verschiedenen Lehranstalten gab; daß sie bedürfnißlos wie ein Einsiedler in der Wüste war und niemals etwas von ihnen angenommen hatte – das war Alles. Erich war nicht so sehr über ihr Handeln erstaunt, als über die Summe, welche Regina zu ihren Disposition gehabt. Ihm wäre es schwer geworden, dieselbe in dem gegebenen Momente zu beschaffen, und der Augenblick war hier das Entscheidende gewesen. Da er Regina’s Freundschaft immer wie eine Art Kameradschaft des Lebens mit gegenseitiger Verpflichtung zur That empfunden, war er durch ihr rettendes Eingreifen selbst innerlich nicht bedrückt; er empfing nur das, was er in gleichem Falle auch gegeben haben würde. Und doch war bei der großmüthigen Handlung etwas, was ihm peinlich war. Regina hatte einen Einblick in Beziehungen seiner Frau zu Lideman gewonnen, die ihm keine Scrupel mehr machten, weil er an Doris glaubte, die aber in Regina die Achtung mindern konnten, welche sie seiner Frau schuldete. Der arglose Mann ahnte nicht, daß Regina seit lange schon mit dem Auge der Leidenschaft Doris und Lideman schärfer beobachtet hatte, als er.

Ueber all dieses half ihm das Verlangen hinweg, das er nach seiner Frau empfand. So wie sich ein Geräusch vom Vorgärtchen her vernehmen ließ, trat er an’s Fenster, um zu sehen, ob sie es wäre. Endlich kam Doris. Er eilte ihr bis an die Treppe entgegen. Seine Freude, sie zu sehen, zog sich indeß in sein Inneres zurück, als er bemerkte, daß sie auf ihren Mienen den Ausdruck gedrückter Stimmung ihm entgegenbrachte.

„Du warst lange weg, liebe Doris.“

„Ja; ich komme von Wandelt’s, und die Geheimräthin hat mich länger zurückgehalten, als es mir lieb war. Ich möchte etwas mit Dir sprechen – es betrifft Else.“

„Bei Wandelt’s – fuhr sie im Zimmer fort, während sie Hut und Handschuhe ablegte, – „herrscht eine gedrückte Stimmung; heute wurde dem Geheimrath angedeutet, daß er sein Entlassungsgesuch einreichen möge. Seine Nerven wären der Arbeitslast nicht mehr gewachsen. Das noch zu dem Scheitern aller ihrer Hoffnungen in Bezug auf den Präsidenten! Else ist allein guter Dinge. Sie hatte, wie sie mir gestand, schon länger im Sinn, Dich zum Vertrauten zu machen. Eines Abends – Du weißt es ja – als Du sie nach Hause geleitetest vor Deiner Abreise, und dann bei dem Gartenfeste, wo sie nahe daran war, Dir Alles zu enthüllen und Dich um Vermittelung bei ihren Eltern zu bitten, um Deine Fürsprache – auch da kam es nicht dazu. Nun zog sie mich in das Geheimniß. Sie liebt den jungen Lichtner – Du kennst ihn, glaube ich –“

„O ja – den jungen Lichtner – ich kenne ihn – sehr – den netten Violinspieler –“

„Von Stunde zu Stunde machte Else bei der Mutter Anläufe, um ihr Herz von einer Last zu entladen, aber niemals wollte es gelingen – da solltest Du der Beistand sein. Ja, Erich, sei es! Wenn man zwei Menschen durch ein Wort glücklich machen kann, so hat man doch noch den Widerschein dessen, was man so voll nicht besessen – und nicht gewährt hat.“

„Doris!“

„Geh’! Thue es mir zu Liebe!“ rief sie ihm im Gehen noch von der Thürschwelle zu.

Erich ging um sich anzukleiden – wie hätte er der Bitte seiner Frau widerstehen können! Nichts wäre ihm jetzt für sie zu thun unmöglich gewesen. Bevor er ging, wollte er ihr noch Adieu sagen. Er horchte an ihrer Thür. Er hörte Doris gehen und öffnete das Zimmer – alles Blut wich ihm aus dem Gesichte. An ihrer Brust leuchtete eine jener weißen Blumen, die Lideman mit dem Schmucke abgeschickt hatte; in einem Glase auf dem Tische standen im Wasser noch mehrere. Sein Blick war immer nur auf die Blumen gerichtet; es war ihm, als ob giftige Düfte ihnen entströmten.

„Siehe da, die herrliche Magnolien!“

„Nicht wahr, seltene Exemplare, und sie machen auch Dir Freude?“

„Freude! Jawohl! Natürlich – Freude!“

Er stieß diese Worte mit einem gellenden Lachlaute heraus. Doris sah ihn befremdet an.

„Und wer hat sie Dir denn geschenkt?“ fragte Erich.

„Else hat sie mir mitgegeben.“

„Ich dachte – der Präsident habe sie Dir geschickt.“

Scharf, wie ein Stoßvogel sein Wild, behielt er bei dieser scheinbar unbefangenen Rede seine Frau im Auge. Diese senkte die Augen, und ihr Blick schien mit ihren Gedanken nach innen zu gehen. Das war das Zeichen der Schuld –! Seine Selbstbeherrschung hatte ihre Grenze gefunden.

„Jawohl – ein solcher Ehrenmann wie er giebt nichts umsonst. Doris – ich hätte Deine Ehre mit meinem Leben bezahlt, und Du – Du bist damit so billig.“

„O, vergieb, Erich, daß ich Dir nicht schon früher ein Geständniß machte, eine Beichte, die mir schon längst das Herz bedrückte! Keine Empfindung meines Herzens soll Dir verborgen bleiben. Es giebt für ein Weib eine Schuld des Gefühls; sie braucht einem fremden Manne nicht eine Fingerspitze gereicht zu haben, und doch kann sie ihr Herz dem eigenen abgewandt haben. Ich bin jung; ich bin lebensfroh. Du warst in dem Abwenden meines Sinnes von der Welt oft herb – streng. In dem Präsidenten nahte sich mir ein Mund, der mir schmeichelte, von Mitleid sprach. Hier im Herzen regte sich Groll, erwachten Wünsche. Ich wollte sie unterdrücken. Alles, was ich bisher empfunden und geglaubt, für recht und wahr gehalten, gebilligt und bestritten, gehört und gesehen – das bestimmte und drängte mich, sie abzuweisen, zu ersticken. Aber dann war mein Auge nicht mehr das meinige. Ein neues brach in mir auf – ich sah neue Verhältnisse, neue Gestalten, neue Farben. Alles Vergangene löste sich. Ein Fremdes, Niegekanntes drang auf mich ein – mein Herz, bisher so widerstandskräftig, schlug in schwächeren Pulsen; ein Gefühl der Ohnmacht kam über mich. Ja, ja – nun sollst Du es wissen – mein Herz schwankte – es kam ein Augenblick [203] über mich, wo ich den Mann, den ich meine, schön, liebenswerth fand. Es war an jenem Abendfeste. Da kamst Du, und Deine Erscheinung war meine Rettung, Erich! Ich weiß nicht, ob ich Dich vorher wahrhaftig geliebt hatte, aber von jenem Abende an wußte ich, daß ich Dich lieben mußte, wie nichts mehr auf der Welt – wie selbst mein Kind nicht, und treuer und fester hänge ich an Deinem Herzen. Wenn ich Deine Stimme nicht höre, Deinen Puls, Deinen Hauch nicht fühle, verliere ich mich selbst. Erich, Erich, laß mich nicht von Dir! Sei wieder mein einzig geliebter Mann!“

Rechting sah ein ganz neues Wesen vor sich, ein Wesen mit einem Herzen, das ursprünglich empfand. Es berührte ihn der Athem eines Lebens, dessen geheimnißvolles Dasein und dessen tiefe Strömung ihm unter der stillen Oberfläche bisher entgangen war. Ihr Antlitz glühte; in dem bebenden Tone ihrer Stimme, in der ganzen Spannung ihres Wesens lag jene Verklärung der Leidenschaft, der so leicht keines Mannes Herz widerstehen kann. Voll überwallenden Gefühls riß Erich seine Frau an sein Herz und verdeckte ihren kleinen Kopf mit seinen bebenden Händen.

Würde jetzt Lideman mit der schwärzesten Anklage gegen Doris hervorgetreten sein – Erich würde ihm mit einem: Lüge und tausendmal Lüge! geantwortet haben. Hier aus den thränenfeuchten Blicken seines Weibes, aus dem rührenden Herzenston ihrer Stimme traf ihn der Lichtstrahl der Wahrheit und überzeugte ihn mächtiger und unmittelbarer, als alle materiellen Beweise es hätten thun können. Im Glauben an sein Weib fühlte er sich stärker und seliger denn je.




12.

Mit der Geheimräthin war eine merkwürdige Veränderung vorgegangen. Das jüngste Ereigniß hatte sie förmlich gebrochen. Sie plapperte nicht mehr; sie war still geworden und sprach davon, daß sie von nun an fleißiger zur Kirche gehen würde. Etwas Besonderes schien ihr auf dem Herzen zu lasten, was ihr den Sinn erweichte, in Momenten sogar verwirrte. Vom Präsidenten durfte ihr Niemand sprechen. Eines Morgens brachte der Geheimrath den bekannten, blauen, rothgesiegelten Brief nach Hause, der ihm in kurzen Worten anzeigte, wie sehr man seine langjährigen Dienste anerkenne, in Rücksicht deren man ihm den wohlverdienten Ruhestand gewähre.

Der Verabschiedete war still, und das blaue Papier in seinen Händen mit einer wehmütigen Verlegenheit bewegend, richtete er die Blicke angstvoll auf seine Ehehälfte. Aber es kam kein Sturm von dieser Seite, wie er gefürchtet hatte. Constanze wurde sogar wieder einmal zärtlich, streichelte ihm die eingefallenen Wangen und mahnte ihn, daß er sich die Sache nicht allzu sehr zu Herzen nehmen möge. Die Leute von der neuen diplomatischen Aera wüßten die Traditionen der alten guten Schule, in welcher sie Beide aufgewachsen seien, nicht mehr zu schätzen. Undank sei stets der Lohn der Welt gewesen, und daher sei es am gerathensten, sich aus dem modernen Blocksbergtreiben in sein besseres Bewußtsein zurückzuziehen. Die königliche Bibliothek sei jeden Tag von neun bis drei Uhr geöffnet, mit Ausnahme der Sonnabende, wo um zwölf Uhr geschlossen würde; im Winter sei da gut geheizt, im Sommer sei es kühl; und für den Club habe er bisher die Jahresbeiträge fast umsonst bezahlt, nun könne er davon profitiren, um am Abend seine Partie Whist zu machen; es seien lauter ausgediente Excellenzen und der Point würde um einen Viertelpfennig gespielt.

Der Geheimrat starrte seine Frau an, als verstände er sie nicht mehr. Eine Weile ging diese unruhig und gedankenverloren auf und ab. Endlich faßte sie einen Entschluß. Sie machte Toilette.

„Herr von Rechting kann hier allein rathen,“ sagte sie. „Wenn ich bei der Verhandlung als Zeugin aufgerufen würde, drei Finger in die Höhe heben müßte – Gebühren liquidiren – mein Name in der Zeitung – entsetzlich! Zu Rechting’s!“ rief sie Else zu, als diese sie fragte, wohin sie gehen wollte. Vorerst gab es aber noch eine Abhaltung: Herr Warbusch ließ sich melden.

Die Geheimräthin hatte von seiner Existenz kaum eine Ahnung. Früher würde sie ihn haben abweisen lassen, nun aber betrachtete sie andere Menschen fast wie ihresgleichen.

„Ich bin Buchhalter der Bank, deren Präsident zu sein Herr Lideman die Ehre hatte,“ begann Warbusch.

„Ich bitte, mein Herr, keine Injurien! Dieser Name ist für uns todt.“

„Die gnädige Frau,“ fuhr Warbusch fort, „werden von einem Korbe mit Blumen und Früchten wissen, auf dessen Grunde ein kleines blausammetenes Portefeuille mit Schmuckgegenständen sich befand.“

„Ja, ja,“ stimmte die Geheimräthin bei, nicht ohne daß eine gewisse Verlegenheit durch fliegende Röte auf ihrem Gesicht bemerkbar wurde. „Es war ein Angebinde des Präsidenten.“

„Doch nicht, gnädigste Frau –“

„Wie sagen Sie?“ rief Frau Constanze. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam sie, so daß sie nach einem Sessel sich umsehen mußte. „Aber der Bediente brachte mir doch den Korb in’s Haus,“ stotterte sie, „am Abend, kurz bevor wir zum Feste fahren wollten?“

„Ja wohl, es war der Diener des Präsidenten. Er sollte Ihnen eine Bestellung vom Herrn Präsidenten machen. Als er bei Ihnen klingelte, öffneten Sie ihm und schnitten ihm jedes Wort mit dem freudigen Ausrufe ab: ‚Ach, ein Geschenk vom Herrn Präsidenten! Das ist zu lieb und freundlich von ihm!’ – Der arme Mensch war, wie er aussagte, so perplex darüber, daß er zuließ, wie Sie ihm den Korb abnahmen und ihm die Thür vor der Nase zumachten.“

Das Schweigen der Geheimräthin bekräftigte die Thatsache.

„Aber für wen war denn der Korb?“ stöhnte sie.

„Für wen? Das weiß ich nicht, geht auch mich nichts an. Ich komme, um das Angebinde wieder zu holen; der Werth gehört zur Masse. Die Magnolien können Sie behalten.“

Im Nu war Else’s Mutter verschwunden; im Nu erschien sie wieder – mit dem Etui in der Hand.

„Hier, hier, haben Sie es. Sie nehmen mir eine große Last vom Herzen. Ich hatte die Nachtruhe nicht mehr, und eben wollte ich zu Herrn von Rechting.“

Derselbe erschien eine Stunde darauf selbst.

Es begegnete der Geheimräthin, wie so vielen Menschen, die lange geheimnißvolle Pläne stricken und bei dem ersten Riß, den dieselben erleiden, das schadhaft gewordene Netz vor dem Ersten Besten, der ihnen vor’s Auge tritt, ausbreiten. Frau Constanze kam Rechting gleich mit der Erzählung ihres ganzen Jammers entgegen; die ganze Familie sei durch den Präsidenten compromittirt. Wer hätte so etwas von dem Manne gedacht! So recht getraut habe sie ihm eigentlich nie. Sie berichtete ihm die Intrigue mit dem Blumenkorb, mit dem Diener; sie beschrieb ihm auch die Schlange, die in Gestalt eines blausammetenen Schmucketuis auf dem Boden gelauert habe.

Erich hütete sich wohl den rauschenden Redestrom zu unterbrechen. Er hatte nicht wieder an das verhängnißvolle Geschenk gedacht, und was er hier aus dem Munde der Geheimräthin vernahm, war nur eine Bekräftigung dessen, was er in seinem Herzen schon wußte.

Wie die Dinge jetzt lagen, wurde es Rechting nicht schwer, sich seines Auftrages zu entledigen und einen Erfolg zu erzielen. Die Geheimräthin sah wohl selbst ein, daß unter diesen Umständen die Verlobung Else’s eine Notwendigkeit sei.

„Kennen Sie die Familie?“ fragte sie Rechting.

„Gold – gnädige Frau!“

„Also viel Vermögen?“

„Das meinte ich weniger als ihren Ruf, Moralität, obwohl auch das Vermögen des Färbereibesitzers Lichtner ein immenses ist –“

„Färber? Der Mann hat doch keine blauen Hände? Der junge Lichtner hat ganz tadellose Hände, mit denen er die Violine spielt, aber die Großväter wiederholen sich in den Enkeln Gott, wenn man an diesen etwas von den blauen Nägeln des Metiers bemerkte – –!“

Die Geheimräthin wurde sentimental. Sie hob das thränenschwere Auge zu dem Bilde auf, welches über ihr hing. Es stellte ihren Vater, den Gesandten der siebenundzwanzigsten Großmacht dar, in Uniform, mit dem großen Bande über dem vollen Embonpoint.

„Was wird der dort oben dazu sagen?“ seufzte sie.

„Daß Sie ein Verbrechen an zwei Herzen begehen würden, wenn Sie ,Nein’ sagten.“

[204] Sie nickte. Das bedeutete, der junge Lichtner möge kommen. Aber so recht freudig war sie noch nicht bei der Sache. Sie dachte immer noch an die Schimmel des Präsidenten. –

Die Schimmel des Präsidenten! Wie verschieden geartet die Menschen sind! Die Einen stehen vor den Trümmern ihrer Wünsche und Hoffnungen klein und erbärmlich, wie sie zuvor waren. Die Andern reifen erst im Unglück und im Entsagen; auf gescheiterten Planken segeln sie in den Hafen ihrer wahren Größe. Und im Unglück stark und groß war heute auch Eine, die tief nieder gebückt in ihrem Stübchen stand, vor sich den offenen Reisekoffer, eifrig packend und schaffend. Regina war nicht dieselbe mehr, die am Hochzeitstage den Brief an den Mann geschrieben hatte, zu dem die Flammen ihrer heimlichen, aber um so mächtigeren Leidenschaft emporloderten, noch weniger dieselbe, welche Doris den leisen Stoß gab, von dem diese in den Abgrund hinabstürzen sollte – sie war ebenso, wie die glücklichere Doris, ein neues Wesen geworden.

Wie sie so still ihre einfachen Sachen, Eines zum Andern, in den Koffer legte, da zog noch einmal vor ihrer geretteten Seele das schreckliche Bild des entscheidende Abends vorüber, an dem sie zweifelnd hinaus gestürmt war an den See, dahin, wo ihre Sünde begonnen hatte.

Der Wind trieb seinen wilden Unmuth mit den alten Bäumen und rüttelte und schüttelte an den Laubkronen, daß sie ächzend sich bogen und daß es wie eine Schmerzensklage über dem Haupte der Eilenden dahinzog. Ueberall ein Seufzen der Creatur, in Regina, über ihr, um sie – das war die Harmonie der Zerstörung, das war ein Bekräftigen ihres Entschlusses in ihr – ein Beschleunigen der Ausführung. Wie dunkel die Wasserfläche sich vor ihr ausbreitete! Das Wetter bereitete sich zum Sturme vor. Wie ein rufender Unhold fuhr es über den weiten schwarzen Spiegel, und der Wind warf Wellen auf, wie auf hoher See. Vor Reginas irren Augen nahmen sie die Gestalt lebender Wesen an – Dämonen, die sie in ihren Kreis riefen, lockten, als wäre in ihrer Mitte Ruhe – Vergessen. O, vergessen – eingewiegt sein in jenen letzten, ewigen Schlummer, der hinüberleitet in ein Nichts! Sie blickte nach oben; wie im Fieber arbeitete ihre wirre Phantasie. Der blitzende Stern – war es nicht derjenige, zu dem sie einst in vollster Liebeslust emporgejauchzt hatte? Jupiter, Jupiter! Zwischen schwarzen, zerrissenen Wolken leuchtete er hindurch – auf eine Stelle des Wassers – dort schwamm eine Gestalt, ein Weib, vom schwarzen Mantel verhüllt wie von ihrem dunklen Schicksal: sie trieb dem Ufer zu, von diesem aus setzte sich ein Kahn in Bewegung mit rohen Gesellen, die lange Haken bei sich führten. An diesen zerrten sie den Leichnam an’s Ufer, und rohe, frevelnde Reden waren das Todtengebet über dem Leichnam. Sie rissen ihm die Kleider ab, sie verletzten das jungfräuliche Geheimniß dieses Körpers, dessen Reinheit seine entflohene Seele sühnte – – Sie hörte das Gerücht ihres gewaltsamen Todes von Mund zu Mund gehen, die Muthmaßungen, die sich daran knüpften. Wenn man das Motiv ihres Todes ahnte, ihre Liebe zu Erich, wenn dieser ihr den Vorwurf in das Grab nachrufen würde: Warum mußte mir auch Regina das noch thun, nachdem ich so vieles erduldet hatte? Nein, keine lebende Seele sollte davon wissen, und ihm – ihm am wenigsten wollte sie eine Empfindung des Schmerzes bereiten. Sie wollte das Letzte, Höchste für ihn thun – sich selbst überwinden. Ja! Entschlossen, mit Aufbietung aller Kraft! Sie schüttelte den Kopf und stampfte hart mit dem Fuße auf. Dann verließ sie den Ort – nicht mehr die Regina von einst. Wie ausgegossen zur Sühne war das Blut aus der alten Heimath am Tajo; die da heimkehrte und sich langsam in Gedanken ihren Weg durch die Straßen suchte, als wären diese neu vor ihr erstanden und sie heute ein neuer Ankömmling – sie war in ihrem Innern ganz das Geschöpf der nordischen, friesischen Heimath, ein Wesen lichten Gedankens geworden. –

Das war vor einer Woche gewesen. Und nun? –

„Was thun Sie hier?“ fragte der Nachbar von oben, im Hereintreten. „Ich hatte angeklopft, verehrte Freundin, aber da ich keine Antwort bekam und die Thür meinem Drucke nachgab, so trat ich ein und sehe nun, wie Sie hier beschäftigt sind. Wollen Sie verreisen?“

„Ja, ich packe meine sieben Sachen – morgen geht’s fort, vielleicht heute noch – wie mir’s um’s Herz ist. Ich habe einen großen Schmerz gehabt, theurer Freund, und viel in mir erfahren: Nichts mehr davon, und dies im Vertrauen nur zu Ihnen! Früher wäre man in ein Kloster gegangen, wir in unserer auf Angriff und Abwehr zugeschnittenen Zeit, wir brauchen im Leben die Muskeln des Gedankens, statt der weichen, nachgebenden Empfindung. Sie haben, sagten Sie, zum zweiten Male achtundvierzig Stunden lang viele Sorge um mich ausgestanden und gefürchtet, als wäre mir etwas zugestoßen. Ich will Ihnen Aufklärung geben: ich war verreist. Vor Erschöpfung war ich eines Abends in ein Café eingetreten, um etwas zu mir zu nehmen, da las ich die Stelle einer Turnlehrerin in einem Mädcheninstitute ausgeschrieben. Dorthin reiste ich, um mich zu melden. Ich bekam die Stelle und werde nun meine geistige Turnkraft für mein weiteres Leben in Anwendung bringen. ,Thue auf Erden’, rief es in mir, ‚und erkenne dort oben!’ Ich danke Ihnen viel, mein Freund. Sie haben Blicke und Gedanken dort hinauf gerichtet, wo die Gesetze des Lebens in den Sternen geschrieben sind. Auch das Gesetz: daß alles scheinbar Verirrte, Unregelmäßige, Irrende nur der Harmonie des Ewigen zustrebt und daß alle Schuld nur eine Bestätigung des ewigen Gesetzes.“

Warbusch wußte nicht, was er zu der in Aussicht stehenden plötzlichen Trennung sagen sollte. Er machte eine Grimasse, als käme ihm das Weinen.

„Und nun werde ich wieder allein sein. Wer wird mich verstehen? Was wird Herr von Rechting dazu sagen?“

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte Regina erschrocken.

„Ich habe ihm Alles gesagt – damit Sie es nur wissen – mit den fünfzehntausend Mark.“

„Sie haben mir Ihr Wort gegeben, Herr Warbusch.“

„Aber ich konnte es nicht halten. Herr von Rechting läßt Ihnen durch mich Vorwürfe machen, daß Sie nicht kommen, daß er Sie nicht zu Hause getroffen, um Ihnen den Dank seines vollen Herzens auszuschütten, und sich mit Ihnen zu besprechen, wie die Sache zwischen Ihnen weiter beglichen werden solle. Er wird Sie heute Abend abholen.“

Regina reiste noch vor Einbruch des Abends. Vor der Abreise schrieb sie ein kurzes Abschiedsbillet an Erich – gemessen, förmlich, fast kalt. In diesem bat sie ihn, nicht nach der Ursache ihrer Abreise zu forschen, ihr nicht gram zu sein, wenn sie ohne Abschied ginge. Was die andere ledige Sache betreffe, so sei das ein Pathengeschenk für Liddy. „Sie wußten“ schrieb sie, „wie ich das Kind liebte, aber nicht, daß ich reich genug bin, um meinem Liebling ein Andenken an seine Pathin zu hinterlassen.“

Das Billet kam in dem Augenblicke an, als das Dienstmädchen mit Liddy von der Promenade heimkehrte und erzählte, daß sie auf ihrem Spaziergange aus einer Droschke plötzlich angerufen wurden. Fräulein Regina habe darin gesessen und habe sie, das Mädchen, ersucht, ihr Liddy in den Wagen zu reichen. Das sei auch geschehen – Fräulein Regina habe das Kind an das Herz gedrückt und immer wieder angesehen, „so recht tief“. Als sie davon gefahren sei, habe Liddy die Aermchen nach ihr ausgestreckt und gerufen „Ina – Ina!“ Das Fräulein habe bitterlich geweint. – –

„Du leidest, Erich,“ sagte etwa acht Tage später Doris, „in Deiner Seele ist etwas, was Dich beunruhigt, Dich quält. Ich weiß es – und ich leide mit Dir.“

„Doris, ich kämpfe mit mir einen Entschluß durch. Ich kann den Proceß gegen Lideman nicht führen. Es geht über meine Kraft, es ist gegen mein Gefühl; ich muß um meine Entlassung beim Minister einkommen.“

„Man wird Dir eine andere Stelle geben, Erich, und am liebste wäre es mir, wenn wir nach einem kleinen Ort versetzt würden, wo wir uns selbst leben können, auch wenn ich mir Entbehrungen auferlegen müßte.“

„Das nicht – nicht mehr, Doris. Es ist heute zwischen mir und Herrn Warbusch ein Handel perfect geworden. Ich habe unser Grundstück um eine hohe Summe an den Fabrikbesitzer Lichtner verkauft, der sich häuslich niederlassen will. Das wäre es nicht; aber aus einem Berufe zu scheiden, der mir lieb geworden ist, in dem ich noch Gutes wirken kann – das hält mich ab.“

Auch diese Dissonanz sollte für Erich gelöst werden.

Am Abend kam Rüchel in’s Haus. Diesmal kam der zu so vielem verwendbare Mann als Leichenbitter mit langem Flor. Er meldete den Tod des Präsidenten. Dieser hatte sich im Gefängniß [205] den Tod durch Pfeilgift gegeben, welches er immer bei sich trug. Mit Bleistift hatte er eine Reihe von Personen notirt, denen man seinen Tod melden sollte, was pflichtschuldigst hiermit geschah.

„Der Herr Präsident waren immer höflich,“ sagte Rüchel zu Rechting. „Aber den Flor hier, den trage ich eigentlich für meinen Zimmerherrn. Eine wahre Seuche! Nun wird mir schon wieder Einer weggeheirathet. Herr Lichtner ist vor Glück rein toll. Morgen muß ich nun wieder eine Tafel aushängen, daß bei mir ein Zimmer zu vermiethen ist. Zur Notiz und Empfehlung werde ich hinzufügen, daß Alle, die bei mir wohnen, glückliche Bräutigame und Ehemänner werden.“ – –

Da, wo früher das bescheidene Landhaus stand, erhob sich nach einiger Zeit ein imposanter Prachtbau, den der Fabrikbesitzer Lichtner aufführen ließ und in welchem er seinem Sohne und dessen junger Frau die zweite Etage einräumte; auch das Benutzungsrecht an der Equipage und zwar mit Schimmeln, wie sie das Ideal der Geheimräthin von jeher waren, ertheilte er dem jungen Ehepaare. Die Geheimräthin war vollständig mit dem Gang der Dinge ausgesöhnt. Auch der Schicksalsstern des Geheimraths hatte seit dem Momente, wo der Stern auf seine Brust sich niedergelassen, einen freundlichen Schimmer angenommen; es gab nun ruhigere Zeiten und unter Umständen eine zärtliche Gattin.

Warbusch hat Ersatz für Regina in der Familie eines alten Freundes gefunden, und auf seine Veranlassung wurde das Planetensystem wieder an dem Hause befestigt. „Irrende Sterne!“ sagte Doris bedeutungsvoll, auf die Stellung der Planeten zeigend, als sie das erste Mal das neue Haus in seiner vollen Pracht sah. „Halten wir uns von nun an in den rechten Bahnen! Wir haben Alle erfahren, daß es auf diesem Planeten und in unserem Herzen kein dauerndes Glück giebt, das man sich nicht erkämpft hat.“




Die Zulus und der drohende Racenkrieg in Südafrika.
Von Ernst von Weber.


Fern im sonnigen Süden von Afrika, eingebettet zwischen der majestätisch gen Himmel ansteigenden Gebirgskette der Drachenberge und dem blauen Spiegel des Indischen Oceans, liegt die etwa 840 deutsche Quadratmeilen umfassende englische Colonie Natal, so benannt, weil sie von dem portugiesischen Seehelden


Typen aus der Armee des Zulukönigs Ketschwayo.
2. Verheiratheter Krieger. 1. Leibgarde. 3. Unverheiratheter Krieger.


Vasco de Gama gerade am Weihnachtsmorgen des Jahres 1497 entdeckt worden war. Es ist ein Land von paradiesischer Schönheit. Der Umstand, daß sich der Boden in drei Stufenterrassen vom Meere nach dem Gebirge hin allmählich erhebt, hat zur Folge, daß das Land drei ganz verschiedene Klimate- besitzt, und daß innerhalb seiner Grenzen sowohl die werthvollen Producte der heißen Zone, wie diejenigen der gemäßigte Himmelsstriche in glücklichster Vereinigung sich zusammenfinden. In dem tiefliegenden, vier bis sieben Stunden breiten Küstengürtel prangen lichtgrüne Zuckerrohrfelder und dunkelschattige Kaffeeplantagen; lange Reihen von Baumwollenstauden, gleichzeitig mit goldenen Blüthenkelchen und halbaufgeplatzten weißen Wollkapseln überdeckt, erfreuen das Auge, und es dürfte kaum eine Art von tropischem Gewürz geben, deren Anbau hier dem fleißigen Pflanzer nicht den reichsten Lohn bieten würde. Auf der 2000 bis 3000 Fuß über dem Meere gelegenen [206] Hochfläche dagegen, die den bei weitem größten Theil des Landes einnimmt, gedeihen alle Produkte kühlerer Zonen: Eichen und Nadelhölzer, Gummibäume und Akazien, europäische Obstbäume und Gemüse, süd- und mitteleuropäische Getreide-Arten. Und die noch höher liegenden Gebirgsländereien bieten dem Wanderer die malerischsten Alpenlandschaften und eine erfrischende gesunde Bergluft.

Die westliche Seite der Colonie wird von den Drachenbergen wie von einem unübersteiglichen Grenzwalle eingefaßt. Dieselben erheben sich an einzelnen Stellen bis zu 9000 und 10,000 Fuß Meereshöhe und sind nur an vier Plätzen mittelst schmaler Engpässe passirbar. Die allmählich und stufenweise sich senkenden Abhänge dieses gewaltigen, alljährlich auf seinen höheren Gipfeln drei bis vier Monate lang mit Schnee bedeckten Gebirges sind gesegnet mit den vorzüglichsten Weidegräsern, welche den australischen an Gesundheit und Nahrhaftigkeit nicht nachstehen. Ueber dem ganzen mittleren Plateau des Landes wogen die grünen Wellen eines endlosen Grasoceans, der zu gewissen Jahreszeiten sich in einen unabsehbaren bunten Blumenteppich verwandet.

Der südafrikanische Charakter der Landschaft zeigt sich neben anderen Eigenthümlichkeiten hauptsächlich auch in der absoluten Menschenleere und in dem Mangel an menschlichen Wohnungen. Und doch könnte das Land Natal eine zahlreiche Bevölkerung ernähren! Der Generalfeldmesser der Colonie hat berechnet, daß die wilden Gräser, die hier jedes Jahr dem Boden entsprießen und immer von Februar bis April abgebrannt werden, einen Nahrungswerth repräsentiren, welcher, verwertet durch Viehzucht, hinreichen würde, um eine Anzahl von 12 Millionen Menschen zu ernähren. Zur Zeit leben in der Colonie Natal freilich nicht mehr als 20,000 Weiße und 350,000 Schwarze. Jedoch trotz der relativ so großen Zahl der letzteren, die zu 70 Procent der urkräftigen und kerngesunden Race der Zulus angehören, ist die allgemeine bittere Klage der weißen Ansiedler der alle Thätigkeit und allen Unternehmungsgeist lähmende Arbeitermangel in der Colonie. Derselbe ist so groß, daß der fruchtbare tropische Küstengürtel nur mit Hülfe importirter indischer Kulis bebaut wird, und daß auch die jetzt in Bau befindlichen Eisenbahnen ohne aus Indien und China eingeführte Arbeitskräfte niemals vollendet werden könnten. Der Zulukaffer hat zwar principiell nichts dagegen, auf einige Zeit seinen heimatlichen Kraal zu verlassen und mit einem Pflanzer oder Farmer, oder auch mit einer Eisenbahngesellschaft einen Dienstcontract abzuschließen. Aber es ist gegen seine Neigungen, stetig und ununterbrochen ein reguläres Arbeitsquantum zu liefern, das ihm der Colonist oder die Eisenbahngesellschaft natürlich zumuthen muß. Bei der kleinsten Caprice, wegen des leisesten Vorwandes, überhaupt jederzeit wenn ihn die Lust dazu anwandelt, läuft der Zulu weg und nach Hause, und dies am liebsten gerade dann, wenn Saat, Ernte, Schafschur seine Dienste am notwendigsten erheischen. Und an Wiedereinfangen des entlaufenen Schwarzen ist nie zu denken, eine Bestrafung überdies in seinem entfernten Kraale fast unmöglich, denn beides würde mit solchen Umständlichkeiten, Zeit- und Geldverlust verknüpft sein, daß kein Farmer je daran denken wird, den Flüchtling verfolgen zu wollen. Im günstigsten Falle bleibt der Zulu so lange bei seinem Dienstherrn, bis er sich genug Geld erworben hat, um eine Frau zu kaufen. Dann aber rennt er sicher weg und lebt von nun an als Grand Seigneur, oder man möchte lieber sagen: als Frauen-Rentier. Denn nunmehr ist es seine arme Frau, die alle Arbeiten für ihn verrichten muß. Sie hat alle Feldarbeit, acht Monate hindurch, und ohne Sonntagsunterbrechung, mit Hacke und Picke zu machen, desgleichen Gras (zum Eindecken der Hütten), die Kornernte, Feuerholz und Wasser in den Kraal einzutragen und nebenbei noch die Küche und die Kinder zu versorgen.

Es ist sehr natürlich, wenn bei solcher ungebührlichen Arbeitsüberladung jede erste Frau den sehnlichsten Wunsch hat, daß ihr Eheherr ihr baldmöglichst eine zweite und dritte beigesellen möge, damit ihre Arbeitslast getheilt und erleichtert werde. Der Mann besorgt nur einige wenige bestimmte Arbeiten; er stellt das Zweiggerippe für den Hüttenbau her; fällt Holz, errichtet aus Distelbüschen und dichtem Strauchwerk die Feld- und Gartenfenzen und beaufsichtigt das Vieh auf der Weide und im Kraal. Den Rest seiner vielen Zeit bringt er in süßem Nichtsthun und in der Sonne liegend, in Besuchen und Schwatzen, Rauchen und Jagen und in der klatschsüchtigen Gesellschaft von seines Gleichen zu.

Ein sehr merkwürdiges Bild bietet eine Kaffernfamilie, die auf einer Reise begriffen ist. Voraus marschiren in langer Kettenlinie die Frauen und Mädchen, die auf ihren Köpfen Matten, Kessel und Kochtöpfe, in den Händen Hacken und Pickäxte, und oft dazu noch, auf den Rücken gebunden, kleine Kinder tragen, während der Mann hinter der langen Reihe seiner Lastträgerinnen stolz ohne jede niederdrückende Bürde einherschreitet und nur seinen Schild und seine Lanzen, eventuell seine Flinte, Pulver- und Kugelbeutel trägt. Ja, ich habe es öfter gesehen, daß der Faullenzer hoch zu Roß sitzt und zum Schutze seines unbedeckten kohlschwarzen Hauptes gegen die sengenden Sonnenstrahlen einen alten verblichenen und zerbogenen europäischen Regenschirm über sich ausgespannt hält, während die schwerbeladenen Frauen und Mädchen eilig seiner galoppirenden Mähre nachkeuchen müssen.

Dieses althergebrachte System der Frauensclaverei und Frauenarbeit ist die Hauptursache der Arbeitsunlust, welche die männliche Hälfte des Zuluvolkes auszeichnet. Der aus solchen Verhältnissen sich ergebende Mangel an Arbeitern ist der Fluch, welcher seither immer aus dem ganzen Oberlande der Colonie Natal gelastet hat und der daran schuld ist, daß mit großen Kosten condensirte Milch in Zinnbüchsen aus der Schweiz, Butter aus Dänemark und Australien, Kartoffeln aus Irland, condensirte Gemüse und gesalzene Fische aus England und Schottland, Weizen aus Nordamerika, präservirtes Fleisch aus Australien und Bauholz aus Norwegen eingeführt werden in einem Lande, das, wenn es nur hinreichend Arbeitskräfte hätte, fernwohnende Völker mit den überflüssigen Producten seiner Viehzucht und Milchwirthschaft, seines Getreidebaues, seiner Fischerei und seiner Holzcultur versorgen könnte. Uebrigens ist der Zulu, solange er arbeiten will, sehr brauchbar. Auf den Diamantenfeldern von Westgriqualand, wo ich drei Jahre lang dem aufregenden Sport des Diamantengrabens oblag, waren die Zulus ihrer sprüchwörtlichen Ehrlichkeit wegen die gesuchtesten aller schwarzen Arbeiter. Sie repräsentirten unter der Masse des verlotterten schwarzen und gelben Gesindels der Colonialfarbigen (das heißt der durch den langen Umgang mit den Weißen niederer Classen vollständig verdorbenen Hottentotten, Mischlinge und Kaffern von den südlichen und nordwestlichen Stämmen) den reinen und unverfälschten Typus des natürlichen, von der Cultur noch unbeleckten und noch nicht durch die Versuchungen des Schnapsdusels heimgesuchten Eingeborenen.

Schon die gesammte äußere Erscheinung des Zulus ist eine höchst imponirende. Dieses Volk verdient in der That die ihm von englischen Schriftstellern gegebene Bezeichnung einer „königlichen Race von Wilden“. Die rothäutigen Kriegshelden des Sioux-Stammes, welche ich in Nordamerika zu sehen das Glück hatte, erschienen mir bedeutend weniger vornehm und respectgebietend, als diese meist sechs Fuß hohen, herculisch-breitschultrigen, stolzen Zulus; sie besitzen womöglich noch mehr Stammesstolz, als die das südöstliche Küstenland zwischen Natal und der Capcolonie bewohnende, ebenfalls sehr schöne und energische Race der Amakosa-Kaffern, welche letztere in ihrer souverainen Verachtung alle den anderen Stämmen angehörigen Kaffern kurzweg „Hunde“ benennen. Während in der Capcolonie sämmtliche Farbige zum Verkehr mit den Weißen die holländische und englische Sprache adoptirt haben, verschmäht es der Zulu, sich durch Erlernung der Sprache der Umlungu (Weißen) zu erniedrigen, und hat dadurch diese gezwungen, die seine zu erlernen, welche übrigens eine der schönsten und wohlklingendsten Sprachen der Welt ist. In der Colonie ist es eine bekannte Sache, daß man einen Hottentotten so viel schlagen kann, wie man will – er wird sich höchstens hinterm Rücken durch Gift rächen; ebenso wird im Allgemeinen der größte Theil der Betschuanen-Kaffern dem Schlage eines Europäers nicht antworten. Man wage es aber, einen Zulu zu schlagen! Er schlägt sofort wieder und rächt die Beleidigung leicht mit dem Tode des Weißen. Schon in seinem Gruße liegt ein entschieden stolzer, majestätischer Charakter. Der Zulu grüßt nämlich mit den Worten: „Saku bona!“, das heißt: „Wir sahen Dich!“ während der weicher organisirte und höflichere Betschuane beim Begegnen ausruft: „Tumella!“ („Seien wir Freunde!“) Daß der Zulu sich dem Europäer vollkommen gleich dünkt, sieht man aus seinem ganzen freien Benehmen gegen seine Dienstherrschaft. Namentlich zollt er dem weiblichen Theile derselben einerseits wenig Gehorsam und Respect, andererseits oft stürmische Neigungen, die für viele Familien in Natal geradezu eine Calamität [207] geworden sind. Die Frauen und Mädchen der Zulus sind während der Kindheit und Jugendblüthe oft wahre Bildhauermodelle in Anmuth und Eleganz des Körperbaues und leichter, fester Haltung, welche letztere durch die Gewohnheit, die schwersten Lasten auf dem Kopfe zu tragen, sehr gewinnt. Aber die ihnen aufgelegte harte Sclavenarbeit läßt sie schnell altern, und dann ist ihr ganzes Dasein nichts als Mühe und Arbeit bis zum Tode. Sie sind außerordentlich geschickt im sauberen Zusammennähen von Fellen und im Anfertigen von bunten Perlenstickereien womit sie die unbehaarte Seite ihrer Fellmäntel und Felldecken in den geschmackvollsten Mustern verzieren. Auch die Zulumänner sind in manchen Künsten der Civilisation wohl erfahren. So giebt es unter ihnen geschickte Töpfer, Korbflechter, Holzschneider, Eisenschmelzer und Nähter, und sie haben schöne Kochkessel und Brautöpfe, Pickäxte, Feldhacken und Nähnadeln ihrer eigenen Fabrikation. Auch brauen sie aus Kafferkorn ein vorzügliches Bier (Leting), welches einige Aehnlichkeit mit dem russischen Kwaß hat.

Die Zulus sind nicht die ursprünglichen Bewohner von Natal. Sie haben das Land erst in den Jahren 1816 bis 1828 unter ihrem Könige Chaka, einem südafrikanischen Attila, erobert und die ehemalige zahlreiche und glückliche, sehr civilisirte schwarze Bevölkerung zum größten Theile getödtet und vertrieben. Später (1838) nahmen die holländischen Boers ihnen das Territorium wieder ab; die Herrschaft derselben dauerte jedoch nicht lange, da die Engländer 1842 das Land in Beschlag nahmen. Zu dieser Zeit war das letztere in Folge der langen verheerenden Kriege so entvölkert, daß eine englische Zählung im Jahre 1843 nur zehntausend Schwarze ergab. Sobald aber die englische Regierung Ordnung und Sicherheit in’s Land gebracht hatte, äußerte dieser neue Culturzustand eine solche Anziehungskraft auf alle umwohnenden Schwarzen, daß die Zahl der schwarzen Bevölkerung der Colonie fortwährend lawinenartig zunahm, im Jahre 1848 schon 50,000, 1865: 200,000 betrug und heute sogar die Höhe von 350,000 Köpfen erreicht hat! Hunderttausend davon mögen auf die allmählich aus den Nachbarländern zurückgekehrten Reste der früheren Kaffernbevölkerung kommen, die vor der fürchterlichen Zuluarmee nach allen Windrichtungen hin aus einander gestoben, auch theilweise von jener in die Sclaverei nach Zululand geschleppt worden waren; die übrigen sind reine Vollblut-Zulus , die nach und nach aus dem eigentlichen Zulukönigreiche jenseits des Tugelastromes so zahlreich über die Grenze herüberströmten, weil sie dem despotischen und blutigen Regierungssysteme ihrer Heimath, namentlich aber den strengen Heirathsgesetzen oder dort verwirkten Strafen entgehen wollten, während sie unter dem Schutze der englischen Flagge die größte persönliche Sicherheit und Freiheit zu erwarten hatten.

Diese so große Masse von Schwarzen (die jetzt sämmtlich die Zulusprache adoptirt haben) würden nun kein besonderes Bedenken einflößen können, wenn sie ein friedliches und arbeitsames Volk und dabei willige und gehorsame Unterthanen der englischen Regierung wären. Es würde dann Natal zwar immerhin in der Hauptsache eine schwarze Colonie, aber die Sicherheit der kleinen Minorität von zwanzigtausend weißen Ansiedlern deshalb noch nicht gefährdet sein. Das Schlimme ist aber, daß jene schwarze Bevölkerung sich wenig aus der nominellen Oberherrschaft der englischen Regierung macht, indem sie nur ihre eingeborenen angestammten Häuptlinge als ihre unumschränkten Herren betrachtet, deren Befehlen sie unweigerlich Folge leistet.

Angesichts der absoluten Gewalt der eingeborenen Häuptlinge, die dem englischen Regierungsorganismus gegenüber einen festgegliederten Staat im Staate bilden, ist die Lage der weißen Colonisten von Natal eine immer bedenklichere geworden; sie ist heute, wo England sich in offenen Krieg mit Ketschwayo, dem Könige des benachbarten selbstständig-nationalen Zulureichs, gestürzt und jüngst die durch die Zeitungen gemeldete schwere Niederlage bei Roorkes-Drift erlitten hat, geradezu dem Lager auf einem Pulverfasse vergleichbar. Bei einer vorherrschenden anti-englischen Stimmung der zahlreichen die Colonie Natal bewohnenden eingeborenen Häuptlinge würde ein Aufruf des stammverwandten Zulukönigs genügen, um sofort über das ganze Land das Horn des Aufruhrs ertönen zu lassen. Da die unentschuldbare Nachlässigkeit der englischen Regierung es einer großen Anzahl von gewinnlüsternen weißen Flintenhändlern gestattet hat, die sämmtlichen Eingeborenen der Colonie allmählich mit europäischen Gewehren zu versehen, so könnten bei einem allgemeinen Aufstand der Kaffern von Natal in diesem Lande allein sehr bald eine Zahl von 50,000 Zulus und anderen schwarzen Stammesgenossen unter den Waffen stehen, die sich dann natürlich den 40,000 bis 50,000 geschulten Kriegern Ketschwayo’s anschließen würden. Nicht genug damit: der Funke des Aufruhrs könnte dann auch leicht unter die stammverwandten schwarzen Bevölkerungen von Transvaal und Kaffrarien und zu den Basutos hinüberspringen, sodaß, die Zulu-Unterthanen des Königs Ketschwayo mitgerechnet, zusammen schließlich eine schwarze Bevölkerung von mehr als anderthalb Millionen Köpfen an dem Kriege gegen die englische Regierung sich beteiligen würde. Eine solche Volkszahl könnte recht gut ein Kriegsheer von 200,000 Kaffern hergeben, wenn König Ketschwayo es verstehen würde, alle diese Elemente sich unterzuordnen und militärisch zu organisiren. Was würde unter solchen Umständen aus der Handvoll weißer Ansiedler werden, die, zusammen kaum 60,000 mit höchstens achttausend waffenfähigen Männern, über ein Landgebiet von 6240 deutschen Quadratmeilen meistens ganz einzeln verstreut sind? Die einzige Rettung, wenn der Aufstand die sämmtlichen Kaffern ergriffe, würde für die weiße Colonistenbevölkerung die eiligste Flucht aus dem Lande sein, entweder nach der Seeküste hin, wo sie sich unter den Schutz der kleinen regulären Armee begeben und sich mit dieser so lange verschanzen könnte, bis hinreichende Truppenverstärkungen aus Indien und England ankommen, oder über die Berge hinüber nach dem Oranje-Freistaat und der Capcolonie, wo von der dortigen schwarzen Bevölkerung wenig mehr zu fürchten wäre. Alle diejenigen weißen Familien, die nicht zeitig genug diese sicheren Gegenden erreichen könnten, würden von den grausamen und blutdürstigen Wilden ohne Gnade niedergemetzelt werden. Die Lage ist nach dem Siege der Zulu-Armee bei Roorkes Drift also eine äußerst ernste.

Es ist unglaublich, wie rasch in Südafrika eine Nachricht durch eingeborene Läufer von Ort zu Ort gebracht wird; sie eilt auf diese Art so schnell über die weitesten Ländergebiete, als geschähe es durch den geregeltsten Postverkehr. Die Botschaft von der Vernichtung einer englischen regulären Truppenabtheilung von 1400 Mann mußte über ganz Südafrika hin in allen Kaffern-Kraals die ungeheuerste Aufregung hervorrufen. Der Nimbus des stolzen Kriegsheeres der „Umlungu“ hat einen mächtigen Stoß erlitten; von dem Augenblicke an, wo der Weiße vom Kaffern nicht mehr gefürchtet wird, können wir das Schlimmste erwarten. Alles kommt jetzt darauf an, erstens, daß die englische Regierung nicht mit den sofort abzusendenden Truppenverstärkungen knausere (wie sie es leider so sehr liebt), und zweitens, daß es ihr gelinge, den Grundsatz: „Theile und herrsche!“ auch ferner noch zur Geltung zu bringen und die Eifersucht und die Stammes-Rancune der einzelnen Kaffernfürsten und Kaffernstämme geschickt zur Theilung des Feindes zu benutzen Nach den in den früheren Kaffernkriegen gemachten Erfahrungen dürfte ihr das Kunststück wohl auch dieses Mal glücken, denn der Gedanke einer nationalen Einheit ist noch nie in einem Kafferngehirne gereift, und von einem Kaffernpatriotismus, der die Antipathien der einzelnen Stämme gegen einander überwunden hätte, hat die bisherige Geschichte dieser Völkergruppe noch nicht zu berichten. Dazu kommt noch, daß eine der hervorragendstem Eigenschaften eines Kaffernfürsten stets die Habsucht zu sein pflegt. Durch kluge Geschenke von Geld und Geldeswerth in Vieh, Wagen und anderen Dingen, die der Kaffer liebt, dürften die englischen Regierungsbeamten vielleicht mehr erreichen als durch bloße Einführung von neuen Regimentern, da ja in dem menschenleeren und unwegsamen Südafrika die Frage der regelmäßigen Verproviantirung der letzteren eine so äußerst schwierige ist.

Mag nun die gegenwärtige weiße Colonistenbevölkerung der drohenden Katastrophe erliegen oder durch weiterhin günstigere Erfolge des kleinen Vertheidigungsheeres vor solchem Loose bewahrt bleiben – das Schicksal des Königs Ketschwayo und seines Zulureiches dürfte für die Zukunft besiegelt sein. Ein Reich wie England, das jetzt in 5 Welttheilen 290 Millionen Unterthanen zählt und außerdem einen unerschöpflichen Fonds von Capitalien zu seiner Verfügung hat, wird nicht vor einem wilden Negerkönig die Flagge streichen und ihn weitere Triumphe feiern lassen, die den Respect vor dem britischen Namen bei der gesammten eingeborenen Bevölkerung Südafrikas vollständig vernichten würden.

Wenn aber einst das kriegerische Zuluheer entwaffnet, Zululand den Ländern der englischen Krone hinzugefügt und damit [208] für die Provinz Transvaal eine schöne und fruchtbare Seeküste sowie ein werthvoller Seehafen (Santa Lucia) gewonnen sein wird, dann dürfte die Zeit gekommen sein, welcher alle weißen Colonisten von Natal mit Sehnsucht entgegen sehen: eine Zeit der absoluten Umänderung der bisherigen britischen Negerpolitik. Die unkluge Verhätschelung der schwarzen Race, worunter die weißen Colonisten bisher so schwer zu leiden hatten, wird einer strengen Zucht, einer systematischen Erziehung weichen müssen, die allein im Stande sind, aus einem wilden Naturvolke allmählich ein civilisirtes zu machen. Durchgreifende und streng durchzuführende Gesetze müssen dann die ganze sociale Gliederung der schwarzen Bevölkerung von Natal, Zululand, Transvaal und Kaffrarien von Grund aus umändern. Die sclavische Stellung der Frau und die obligatorische Frauenarbeit muß aufgehoben werden, ebenso wie die souveräne Autorität der vielen kleinen Kaffernhäuptlinge. Den wahren Interessen der Schwarzen selbst würde eine solche Aenderung der Regierungspolitik nur wohlthätig sein. Und sollte eine solche Frucht aus dem gegenwärtigen blutigen Kriege entsprießen, so wäre das viele Blut wenigstens nicht umsonst geflossen.

In meinem 1878 bei F. A. Brockhaus erschienenen Buche: „Vier Jahre in Afrika“, ist eine sehr detaillirte Schilderung dieses interessanten Volkes, sowie auch die Beschreibung der feierlichen Krönung Ketschwayo’s im Jahre 1874 zu finden, welche letztere bekanntlich im Namen der Königin Victoria durch Herrn Theophilus Shepstone vollzogen wurde.

Die hier beigegebenen Illustrationen, angefertigt nach Originalphotographien, zeigen Zulukrieger von einigen der Regimenter des Königs Ketschwayo. Nr. 1 ist das Bild eines Soldaten des königlichen Leibregiments (Tulwana). Ein Streifen von Otterfell und ein mächtiger Federbusch schmücken sein Haupt; eine Felldecke von weißen Kuhschwänzen bekleidet seinen Oberkörper. Ein mächtiges ovales Schild aus Ochsenfell und eine kurze Stoßlanze sind seine traditionelle Bewaffnung, in den letzten Jahren ist aber der größte Theil der Armee mit europäischen Gewehren bewaffnet worden. Nr. 2 ist ein Soldat von einem verheirateten Regiment, was wir aus der weißen Farbe seines Schildes ersehen. Die Feder aus dem Schweife eines Kafferfinken erhebt sich stolz aus seiner ebenfalls mit einem Otterfellstreifen umkränzten Stirn. Der Soldat Nr. 3, welcher ein dunkles Schild trägt, gehört einem der jungen, aus Unverheirateten bestehenden Regimenter zu.




Blätter und Blüthen.

Zur Völkerkunde. Die gegenwärtige Entwickelung des Weltpostverkehrs hat zu dem Versuche ermuthigt, Gebildete aller Nationen für gemeinsames Wirken an einem wissenschaftlichen Unternehmen zu gewinnen. Es gilt, unsere noch sehr lückenhafte Kenntniß von der Existenzweise, von Sitten und Gebräuchen, vom geistigen Wesen fremder Völker in umfassender und methodischer Weise zu vermehren. Angehörige der Culturvölker leben in großer Zahl in fernen Ländern und sind durch Berührung mit deren Eingeborenen in Besitz von Erfahrungen und Beobachtungen gelangt, welche von hohem Werthe für die Völkerkunde sein können, bisher jedoch der Wissenschaft meist vorenthalten blieben. Um dieses Material zu sammeln, um zu weiteren Forschungen anzuregen, versende ich Bogen mit in deutscher und englischer Sprache gedruckten knappen Fragen, neben welchen entsprechender Raum frei gelassen ist für möglichst sorgfältige Beantwortungen. Die zurückgekehrten Blätter werden in der Bibliothek des „Museums für Völkerkunde“ in Leipzig niedergelegt, wo sie jedem Fachmann zugänglich sein werden.

Der erste Fragebogen, der Vorläufer einer planmäßig geordneten Reihe, welcher in Gemeinschaft mit einem speciellen Sachkenner, Dr. H. Magnus in Breslau, verfaßt wurde, ist mit einer Farbenscala versehen und bestimmt, zur Lösung des Problems über die Entwickelung des Farbensinnes beizutragen. Seit Monaten ist derselbe nach allen Welttheilen befördert worden.

Die energische Unterstützung, welche dem Unternehmen durch das Eintreten in- und ausländischer wissenschaftlicher Gesellschaften und Zeitschriften zu Theil wurde, hat ihm bereits Hunderte von allenthalben verstreut lebenden Mitarbeitern gewonnen. Gewiß wird die Zahl derselben durch die nun auch in diesem weitverbreiteten Blatte ausgesprochene Bitte wesentlich vermehrt werden, sodaß die bereits angeknüpften Fäden sich allmählich zu einem immer engmaschiger werdenden Netze über das ganze Erdenrund verweben.

Zuschriften erbitte ich unter meiner Adresse.

Dr. Pechuel-Loesche in Leipzig.




Paradiesische Schmuggelwaare.


Ihr wißt, es war die böse Schlange,
Die sprach zum Weibe: „Nimm und iß!“
Und Eva zierte sich nicht lange,
Und Adam that den Apfelbiß.

Da zog der Cherub aus der Scheide
Sein mächtig Flammenschwert hervor
Und trieb die armen Sünder beide
Hinaus vor’s Paradiesesthor.

Und draußen auf dem kahlen Lande,
Da blickte Adam lang zurück
Und dachte reuig seiner Schande
Und weinte still um Edens Glück.

Doch Eva sprach: „Mein Freund, vergeude
nicht deine Kraft in trüber Pein!
Die höchste Paradiesesfreude
Wird auch hier draußen unser sein.

Die eine wußt’ ich festzuhalten,
Als uns der Engel überrascht:
In meines Herzens tiefsten Falten
Hab’ ich die Liebe durchgepascht.

Wir wollen treulich sie bewahren
In unsres Busens sicherm Schrein,
Sie soll den fernsten Enkelschaaren
Der Väter bestes Erbe sein.“

Und Adam murrte: „Thörin, spare
Den Jubel dir, denn himmelweit
Verschieden ist die Schmuggelwaare
Von Paradiesesseligkeit.“

Ein hartes Wort fürwahr, ein herbes,
Das da der Menschenvater sprach;
Denn alle Welt freut sich des Erbes,
Und keine Lippe spricht’s ihm nach.

Wir, Mutter Eva, deine Söhne,
Wir stimmen laut dem Jubel bei;
Wir preisen deiner Töchter Schöne
Und preisen deine Schmuggelei.
 Edwin Bormann.


Berichtigung. In den Artikel „Aus den Schreckenstagen zu Teplitz“ (Nr. 10 dieses Jahrgangs) hat sich ein Irrthum eingeschlichen, den wir hiermit berichtigen: Man lese daselbst Seite 166, erste Spalte, Zeile 25 von unten nicht: „Sprengtechniker Mahlmann“, sondern: „Sprengtechniker Julius Mahler.“


Zur Nachricht. Mit der ersten Nummer des folgenden Quartals beginnt die Erzählung von

E. Marlitt,
„Im Schillingshof“


Kleiner Briefkasten.

Frau C. E. Sch. in W. Vielleicht entspricht Ihren Wünschen der Verein „Frauenheim“ in und bei Berlin, welcher achtbaren alleinstehenden Frauen ein behagliches Leben bietet. Vorstand ist Fritz Kühnemann, Gartenstraße 21 in Berlin.

„Die Namenlose“ wird ersucht, eine Adresse anzugeben, unter welcher der ihr bekannte Autor ihre Anfrage brieflich beantworten kann.


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung. 



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Teuerdank’s Brautfahrt. Romantisches Zeitbild aus dem fünfzehnten Jahrhundert von Gustav v. Meyern. Leipzig, Ernst Keil, 1878.