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Die Gartenlaube (1879)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[209]

No. 13. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.




Der Hiob von Unterach.
Eine Skizze von Karl Emil Franzos.


Ich habe den verwichenen Sommer zu Unterach verlebt, einem lieben, stillen Berg- und Seedörfchen im Hausruckviertel, welches – allen Göttern sei es gedankt! – bisher noch keine moderne und berühmte Sommerfrische geworden ist. Eben darum läßt sich dort gut und schön hausen, und wer auf dem Lande nichts sucht, als einen erhebenden Ausblick für’s Auge, ein erquickliches Seebad und eine tiefe, tiefe Stille, in welcher sich die Qual überreizter Nerven langsam lindert und löst, der mag für künftige Zeiten den Namen im Gedächtniß behalten und wird mir dankbar sein. Und wenn er auch, gleich mir, zuweilen den Kopf wird schütteln müssen über die ortsübliche Auffassung eines Wiener Schnitzels und eines englischen Beefsteaks, und wenn er, des Rumohr’schen Wortes, daß jede gute Speise ein Gedicht ist, eingedenk, allmählich zur Ueberzeugung kommt, daß des Postwirths Nettl eine prosaische Natur ist, welche nie Gedichte macht, so wird er doch besänftigt und versöhnt sein, sobald er wieder vom Teller aufblickt. Denn der hungrige Magen wird schließlich doch satt, gleichviel wie, das durstige Auge aber kann nie satt werden, die ernste und doch liebliche Schönheit dieses Landschaftsbildes einzusaugen, welche jeder Tag für ihn ausbreitet, immer dieselbe und doch täglich von entzückender Neuheit. Da schimmert, breit und mächtig ausgegossen, die azurne Fluth des „österreichischen Meeres“, des Attersees; da heben sich die grauen, ernsten Felsen des Höllengebirges; da rauscht der tiefgrüne Bergwald des Attergaus, und wer eine halbe Wegmeile nicht scheut, kann von diesem begnadeten Dörfchen aus die drei schönsten Seen des Kammerguts zu seinen Füßen blinken sehen und rauschen hören. Freilich ist nichts auf dieser armen Erde so licht und schön, daß es nicht auch seine schauerliche und grauenhafte Seite hätte, und so ereignen sich allsommerlich im Fremdenbuch von Unterach um dieser Schönheit willen viele und lange Gedichte. Aber diese werden doch gewöhnlich nur von Jenen gelesen, welche selbst neue hinzuschreiben, und so erweist es sich zugleich auch hier tröstlich, daß jede böse That meist schon ihre Strafe in sich trägt.

Fast nur die Natur wird von diesen Dichtern gefeiert; der Menschen hat nur Einer gedacht, ein Wiener Börsianer, und der hat mit jenem feinen Tacte, welcher diese Menschenclasse auszeichnet, sich über das viele Beten im Attergau lustig gemacht. Nun will mich freilich bedünken, als ob es gut wäre, wenn in jedem dieser Bergdörfer neben der stattlichen Kirche auch ein stattlich Schulhaus stünde, aber nur ein frivoler Thor wird darüber spötteln können, daß ein Volk, welches in diesen Bergen den Kampf um’s Dasein führen muß, täglich von Neuem in langen, durstigen Zügen aus dem Quell seines Glaubens trinkt. Denn dieselbe Natur, welche uns Städtern den kurzen Sommer hindurch so lieblich lächelt, weist den Eingebornen durch acht Monate des Jahres ein düsteres, erbarmungsloses Antlitz, und ihr Walten ist ein grausam strenges, und grenzenlos sind die Schrecken, wenn sie wüthet. Ich bin vielleicht kein genügend moderner Mensch, – das ist ja möglich – aber ich habe nie über diese unzähligen Kreuze und Capellen lächeln können, mit denen alle Wege übersäet sind, und nie über jenes monotone halbstündige Chorgebet, welches viermal am Tage aus diesen niedrigen Hütten dringt. Ich muß dabei immer denken: über diese Hütten braust ja vom November bis zum April der Schneesturm, und die Menschen, die darin wohnen, müssen sich als Holzknechte und Flößer ihr Brod verdienen! Denn der Ackerbau giebt in diesem rauhen Strich geringen Ertrag, und die Hausindustrie ist leider noch wenig verbreitet und kann auch, verschiedener trauriger Verhältnisse wegen auf Jahrzehnte hinaus nicht zur rechten Blüthe gelangen. So geben nur der Wald und der See diesen Menschen das dürftige Brod, aber beide sind auch hart und tückisch, und statt des ersehnten Lohnes findet da Mancher den Tod – täglich auf das Schlimmste gefaßt zu sein, gebietet leider nicht etwa die übertriebene Furcht, sondern die tägliche Erfahrung. Ach! was würde aus diesen beladenen Menschen werden, wenn sie nicht auch immer wieder aus dem Quell des Uebersinnlichen trinken könnten, welcher sie stählt und tröstet? Und was wäre dann aus dem Ebenhiesel zu Unterach geworden?

Der Ebenhiesel ist nur ein armer alter Holzknecht in einem entlegenen Winkel der Erde und wahrlich kein Mensch auffälligen Geistes. Und doch will ich die Antwort auf eine ewige Frage suchen, indem ich seine Geschichte erzähle. Ist es denn aber der Ebenhiesel auch werth? Vor Gott, steht geschrieben, sind alle Menschen gleich viel werth – auch vor jenem Gott, dem ich mich beuge und dessen Satzungen nirgendwo aufgezeichnet sind in bündigen Geboten, aber vielleicht um so deutlicher in dem Walten der Natur und den Empfindungen des Menschenherzens. Und auch bezüglich der weiteren Frage, ob dieser arme, beschränkte Greis interessant genug ist, will es mir scheinen, als ob sie grundlos wäre: alle Menschen sind, im Tiefsten besehen, gleich interessant, wenn man sie recht verstehen lernt – über Leben und Entwickelung des Unbedeutendsten ließe sich ein stattliches Buch schreiben. Und dieses Buch wäre sogar, sofern man Alles darlegen könnte, wie es sich wirklich gefügt, das merkwürdigste und spannendste, welches je erschienen. Der Thautropfen gleicht [210] nicht dem Meere – die Erscheinungen der seelischen Welt sind nicht alle gleich bedeutend, gleich eindrucksvoll und anziehend. Aber über allen walten die nämlichen Gesetze, wie man ja auch die Brechung des Lichtes im Wasser ebenso an dem Weltmeer studiren kann, wie an dem winzigen Tröpfchen, welches an der zarten Blattfeder des Farrenkrautes im Morgenwinde schwankt. Wie viele Erzähler führen euch im stolzem starken Schiff auf den weiten Ocean hinaus – so horchet denn gütig auch Einem, dem sein eigen Herz und Schicksal es nahe gelegt, sich lieber zu den versprengten Tropfen im Grase zu bücken! –

Ich bin zu dem Ebenhiesel und seiner Geschichte auf die denkbar einfachste Weise gekommen und glaube, es ist das Beste, wenn ich bezüglich beider keinen Versuch romantischer Aufputzung mache. So gestehe ich denn, daß ich den alten Mann nicht etwa unter Blitz und Donner in einer Felshöhle kennen gelernt, sondern an einem klaren Augustmorgen in der Krämerei des Caspar Deubler zu Unterach. Das Haus steht auf demselben Hügel, wo die Dörfler ihre Kirche erbaut und ihren Friedhof angelegt, und über den halben Attersee hin sieht man es im Schmuck seines gelben Anstrichs neben der weißen Kirche schimmern. Aber schier noch weiter reicht der Ruf dieses Hauses als der Stätte, wo man die besten Cigarren bekommt, und dieser Vorzug, sagt man, rührt daher, weil der gegenwärtige Besitzer der Krämerei, des alten Deubler’s Schwiegersohn – er heißt Gottlieb Mittendorfer und hat einen langen rothen Bart, auf welchen er mit Recht stolz ist – dem Tabakverleger im Markte Mondsee bereits drei Knaben aus der Taufe gehoben hat. Dies mag auch seine Richtigkeit haben, aber – sei es nun, daß die Familie in Mondsee keinen weiteren Zuwachs erfährt und die alte Freundschaft so wegen Mangels an neuerlicher Bethätigung allmählich einrostet, oder daß die Regie in letzter Zeit nur durchweg Cigarren ausgiebt, welche man bezüglich der Schlechtigkeit unmöglich mehr in Kategorien eintheilen kann – im August ist das kaiserlich königliche Rauchzeug auch im Deublerhause zu Unterach schlecht gewesen, sehr schlecht. Es war eine Qual, es zu rauchen, und keine angenehme Aufgabe, jeden Morgen die nassen, blassen, schiefgewickelten Dinger auszuwählen. Wer solches Leid mitfühlend würdigen kann und ferner erwägt, wie laute Klage das Herz denn doch ein wenig erleichtert, der wird begreiflich finden, daß ich jeden Morgen, im dargereichten Kästchen wühlend, jammerte wie ein Türke und fluchte wie ein Papst.

Also that ich auch an jenem Augustmorgen. Der schönbärtige Gottlieb lächelte halb mitleidig, halb spöttisch, sagte jedoch keine Silbe. Aber ein Kunde, der nach mir eingetreten und dessen ich bisher nicht geachtet, schien an meinen Klagen Anstoß zu nehmen. Denn der sagte plötzlich laut und langsam in meinen leiser werdenden Monolog hinein:

„Der Herre muß wohl noch jung sein – sehr jung muß der Herre sein.“

Ich schaute ihn an; er war ein alter, sehr alter Mann in der Bauerntracht jener Gegend, aber sie war geflickt und dürftig, und die braunen, runzligen Kniee guckten unterhalb einer kurzen Lederhose hervor, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge längst ihre irdische Wallfahrt hätte beenden sollen. Gleichwohl machte die Erscheinung nicht den Eindruck des Verkommenen, wenn auch vielleicht nur um des prächtigen Greisenkopfes willen. Ein Ausdruck unendlicher Milde lag auf dem blassen, durchfurchten, scharfgeprägten Antlitz, und dichtes, silberweißes Haar floß ehrwürdig an Stirn und Wangen herab. Nur die Augen waren halb geschlossen, und als sie der Greis öffnete und auf mich richtete, erkannte ich, daß sie lichtlos waren.

„Warum muß ich denn jung sein?“ fragte ich den Blinden.

„Ei ja wohl!“ erwiderte er lächelnd. „Jung müsset Ihr sein. Denn zum Ersten ist das Rauchzeug immer schlecht, und nur die Jungen schimpfen darüber, weil sie noch eine Aenderung erhoffen. Und zum Zweiten will wohl nur ein Junger über so geringe Sach’ klagen, weil er noch kein wirklich Leid kennt; im Weiteren kommt dann schon die Geduld und das Schweigen, selbst über ein größer Weh.“

Ich philosophire sehr ungern mit schöngeistigen Damen und Herren, aber mit so einem Stück ursprünglicher Menschheit thu’ ich’s gern.

„Das scheint mir nicht so,“ erwiderte ich also. „Denn zum Ersten ist es der Menschen Art, auch über das zu klagen, was sich nicht ändern läßt, wobei auch zu bemerken ist, daß die Cigarren zwar gewöhnlich, aber doch nicht immer schlecht sind – “

„Cigarren,“ fiel mir der Greis in’s Wort, „rauche ich nicht, aber der Pfeifentobak ist immer schlecht, und es ist nur der Thoren Art, über das Unabänderliche groß’ Geklage zu machen. Aber redet nur weiter!“

„Und zum Zweiten,“ fuhr ich fort, „erträgt Mancher ein großes Leid schweigend, aber bei kleinem Verdruß macht Jeder gern Lärm.“

„Sehet,“ erwiderte der Blinde, „solches verstehe ich nicht. Möglich, weil Ihr ein Städtischer seid und ich ein Holzknecht. Glaub’s aber nicht, daß dort die Menschen anders sind. Fleisch und Blut sind sie dort und gleich so im Dorf. Und wen man in’s Fleisch ritzet, der schreit nur ein wenig, wer aber tief geschnitten wird, schreit stark. Versteh’ also nicht, was Ihr meint mit dem kleinen Verdruß und großen Lärm.“

Ich suchte es ihm klar zu machen, so gut ich vermochte, und ließ mich auch durch das spöttische Lächeln des Schönbärtigen nicht stören. Denn er, der gebildetste Mann von Unterach, welcher täglich im Wiener „Neuigkeits-Weltblatt“ las, hätte allerdings nicht mit einem alten Holzknecht philosophirt, höchstens mit dem Wundarzt Angelis oder dem Kaufmann Solterer. Nicht an diesem Lächeln also lag es, wenn mir meine Absicht nicht glückte, sondern weil wir da wirklich an die Kluft gerathen waren, welche den gezähmten Culturmenschen von dem Naturmenschen scheidet, der sein Herz nicht hehlen kann und ohne viel Gegenkampf seinen Instincten folgt.

„Versteh’ Euch nicht, Herre,“ erwiderte also der Blinde bedächtig, aber entschieden auf meine Rede. „Kein Mensch ist Holz, und er schreit um so stärker, je tiefer er geschnitten wird. Nun kommt aber das Weitere, dessen ich gedacht: beim ersten Schnitt schreit man fürchterlich, aber beim zweiten und dritten schon gelinder, und endlich seufzt man nur leise. Sehet – als sie mir meinen Hans auf der Bahre entgegenbrachten, hab’ ich noch laut geschrieen, aber als ich vor drei Jahren blind geworden, hab’ ich kaum mehr geklagt.“

„Ueber Euch ist Vieles gekommen?“ fragte ich mitleidig.

„Sehr Vieles, Herre. Aber,“ fügte er dann hinzu und nicht etwa feierlich, sondern unter mildem, fast fröhlichem Lächeln. „was Gott tut, das ist wohlgetan, und wer klagt, klagt ihn an und ist ein sündiger Thor.“

Darauf fand ich kein Wort der Gegenrede, wohl aber der stolze Rothbart.

„Erwäget wohl, Ebenhiesel,“ sagte er mit überlegenem Wohlwollen, „daß nicht jeder Mensch ein so frommes Gemüt hat, wie Ihr! Ihr heißet nicht umsonst unser Hiob.“

Aber das Lob schien den Greis zu verstimmen. Er streckte wie abwehrend seine Hand vor, und aus dem bleichen Antlitz glomm eine sanfte Röthe auf.

„Hiob!“ rief er. „Wer mir diesen Uebernamen aufgebracht, hat es schlimm mit mir gemeint.“

„Aber wie denn?“ fragte der Krämer erstaunt. „Hiob hat ja der fromme Dulder geheißen in dem heiligen Buch.“

„War aber nicht fromm,“ sagte der alte Mann fast heftig. „Sehet, ich bin katholisch, und bei uns lesen Wenige die heiligen Bücher, und gar nur Einige trauen sich an die jüdische Schrift. Ich aber hab’s getan und mich oft daran erbauet, obwohl der Pfarrer mir einmal gesagt hat: ‚Ebenhiesel, lasset ab vom Alten Testament, denn dieses ist nur den verdammten Juden geoffenbaret, und einen Christen fliegen dabei oft böse Gedanken an – er weiß kaum wie.’ Ich aber hab’ doch oft meine rechte Andacht und Erhebung dabei gehabt, bis ich auf zwei Bücher gerathen bin, Herre, auf zwei, die mir gar nicht gefallen haben. Zum Ersten das Hohelied. Sehet, ich weiß gar wohl, daß unter dem Bräutigam unser Herr und Erlöser zu verstehen ist, und unter der Braut die heilige christkatholische Kirche, aber dieses sollte sich doch auch in ehrbaren Reden offenbaren. Solches jedoch, wie dort geschrieben steht, habe ich nicht einmal zu meiner Katrein gesagt, als ich zu ihr fensterln gegangen bin. Sehet, jungen Leuten muß ja gar heiß dabei werden, wenn sie solches lesen, und dann vergessen sie wohl am End’ dabei auch die Kirche und den Herrn.“

„Eben darum,“ meinte der Krämer, „sollten es nur die Juden lesen, und von Christen nur die hochwürdigen Herren.“

[211] Aber der Greis schüttelte den Kopf.

„Nun wohl,“ rief er, „um die Juden will ich mich nicht kümmern, ob ihnen heiß wird oder nicht, aber auch für einen jungen hochwürdigen Herrn wär’ es manchmal eine Gefährlichkeit. Das zweite Buch aber,“ fuhr er fort, „ist gerade jenes selbige Buch Hiob, nach dem Ihr mich nun benennet in meinen alten Tagen. Ich will es nicht hören – dieses Buch ist nicht gut. Denn zum Ersten will es mir gar nicht gefallen, daß Gott Vater eine Wette darin abschließt mit dem Teufel über den Mann im Lande Uz. Eine Wette mag der Kraushans’l abschließen mit dem Weberton’l, wer von ihnen schneller seine Plätte nach Weißenbach rudern kann, oder Ihr, Krämer, mit dem Solterer, wer im Monat mehr Waar’ verkauft, aber dem Herrn geziemt es nicht, mit dem Teufel zu wetten. Ganz und gar nicht geziemt ihm das. Wohl sage ich mir, daß Solches sich noch in der jüdischen Zeit begeben hat, und daß er es heute nicht mehr thäte, weil ihm unser Herr Jesus Christus und die heilige Gottesmutter davon abrathen würden, aber auch damals schon hätte er es nicht thun sollen, und wenn er es gethan hat, so hätte er es verschweigen sollen und nicht offenbaren in einem heiligen Buch.“

„Ebenhiesel!“ verwies der Krämer, „was Ihr für Reden führet – wenn das der Herr Pfarrer hörte!“

„Hab’s ihm selbst erzählt,“ erwiderte der Blinde, „und darauf hat er mir jenes Wort gesagt vom Alten Testament, aber dieses war seine ganze Widerlegung, auch bezüglich des Zweiten und Dritten, wo mir dieses Buch nicht gefällt. Denn zum Zweiten ist es nicht schön vom Hiob, daß er endlich doch an Gott verzweifelt und gegen ihn murrt – solches steht keinem Menschen zu, am wenigsten jenem, welcher fromm ist. Was Gott thut, ist wohlgethan – allimmer und allüberall. Und wenn schon beim ersten schweren Leid eine Klage verzeihlich ist, so doch gewißlich nicht beim letzten, weil da schon Gottes Hand und Wille deutlich sind. Aber dieser Hiob ist ja zudem ein Mensch, der sich am liebsten hat – er klaget erst, als die Hand Gottes seinen eigenen Körper trifft – und doch thut es dem Herzen des Frommen größer wehe, wenn seine Kinder dahinwelken oder zur Grube fahren, wie vom Blitz getroffen, als wenn ihn selbsten ein Unglück trifft an Augen oder Gliedern. Ja, viel mehr, Herre – dieses weiß ich, denn ich habe Beides erfahren!“

Das Letztere sagte er mit zitternder Stimme und in so eigentümlichem Ton, daß es mir an’s Herz griff. Erst nach einer Weile fragte ich:

„Und warum gefällt Euch das Buch Hiob zum Dritten nicht?“

„Zum Dritten,“ war die Antwort, „weil Hiob auf dieser Erde noch Alles wieder bekommt, was er verloren hat. Haus und Hof und Heerden, Gesundheit des Leibes und sogar blühende Kinder. Sehet – vielleicht war es wirklich so, aber dann hätte man es doch nicht schreiben sollen. Denn gewöhnlich sieht der Mensch auf Erden nimmer wieder, was er verloren, und todt bleibt Alles, was ihn einst erfreuet. So wird durch das Geschick des Hiob nur der Neid geweckt oder die thörichte Hoffnung. Denn auf Erden hat der Mensch nichts zu erwarten, als Kummer und Herzeleid, und erst drüben kommen die Freuden, und man weiß, warum man gelebt hat und gelitten.“

„Und wenn sie auch drüben nicht kommen?“ fragte der Krämer und lächelte selbstgefällig über seine große Aufgeklärtheit. „Habt Ihr’s denn schriftlich, Ebenhiesel?“

„Schweiget!“ rief dieser heftig und auf dem sonst so milden Antlitz lag ein Zug düsterer Strenge. „Schweiget, Krämer! Wer an der künftigen Ausgleichung zweifelt, zweifelt an Gott und ist ein Sünder. Aber,“ fuhr er ruhiger fort, und allmählich milderte sich seine Stimme zu sanfter Weichheit, „wenn Euch jene Frage wirklich vom Herzen gegangen ist, so will ich Euch nicht zürnen, denn dann seid Ihr gestraft genug. Wie könnet Ihr dieses Leben nur eine Stunde ertragen, so es Euch nicht ein Vorhof ist für den ewigen, gerechten Zustand? Dann seid Ihr ja arm und gar viel ärmer als ich, den Ihr den Hiob nennet.“

„Bin ja gläubig!“ erwiderte der Krämer etwas kleinlaut. „Müsset nicht gleich predigen wie der Pfarrer.“

„Der predigt anders,“ sagte der Greis lächelnd, „ganz anders!“

„Ist er Euch nicht fromm genug?“ fragte ich.

„Zu fromm!“ erwiderte er kurz. „Predigt, als ob der Mensch ein Engel sein sollt’, und ’s ist doch schwer genug ein Mensch zu sein.“ Dann aber zog er sein Lederbeutelchen und reichte es dem Krämer , daß dieser sich den schuldigen Betrag selbst daraus entnehme.

„Man sieht, daß Ihr erst seit Kurzem das Augenlicht verloren,“ bemerkte ich. „Sonst kann ein Blinder die Münzen nach dem Gefühl unterscheiden.“

„Freilich wohl,“ bestätigte der Greis. „Aber meine Hand ist rauh vom schweren Schaffen und kann das Kleinzeug nimmer unterscheiden.“

„Wie seid Ihr erblindet?“ fragte ich, nicht blos um ihn zu weiterer Rede zu bewegen, sondern weil mir seine Augen völlig ungetrübt, ja, in so schöner Klarheit entgegenblickten, wie sie in hohem Greisenalter sehr selten zu finden.

„Sehet,“ war die Antwort, „es war keine Leichtsinnigkeit dabei und kein Verschulden und keine Krankheit – nur Gottes Hand war’s. Vor drei Jahren hat sich’s begeben in der Lenzzeit und am Kirchhof. Dort ist ein Plätzchen, wo ich am liebsten bin, mitten unter den Meinen; sie hören mich nicht, wenn ich zu ihnen rede, aber mir wird das Herz doch leicht und getröstet. Da sitze ich also an jenem wunderschönen Tag und sehe zu, wie die kleinen Sommervöglein (Schmetterlinge) dahinflattern über das junge Gras, und mir wird das Herz gar bang und schmerzlich. Alles Gethier wird wach, denke ich, und nur die Todten modern in den Grüften. Ja, geklagt hat mein Herz, aber nicht gemurrt, und Ihr dürfet also nicht glauben, daß es Gottes Strafe war. Schmerzlich habe ich geklagt, und da sind mir wieder die Thränen gekommen, die lieben, tröstlichen Thränen – ach, Herr, es ist eine milde Wohlthat, wenn man recht weinen kann, und ich hatt’ es vordem durch lange Zeit nicht gekonnt und mich darum recht ausgeweint an jenem Tag. Und wie mir also die Thränen strömen und das Herz bebet, da zuckt es plötzlich durch mein morsch Gebein, nur einmal, aber übermächtig, vom Wirbel bis zur Zehe, als hätte mich ein Blitz durchfahren. Die Glieder werden mir starr, und es wird Nacht vor meinen Augen. Die Lähmung hat sich verloren, aber die Nacht ist geblieben bis auf diesen Tag. Was liegt daran? Das innere Licht leuchtet mir tröstlich und helle.“

Er schwieg.

„Wohl ein partieller Nervenschlag,“ sagte ich sinnend nach einer Pause.

Der Greis schüttelte das Haupt.

„So Aehnliches hat auch der Arzt gesagt, aber es war Gottes Hand. Seid wohl auch ein Arzt?“

„Nein,“ erwiderte ich. „Aber so viel weiß ich: es ist nicht unmöglich, daß Euch das Augenlicht allmählich wieder komme.“

„Glaub’s nicht!“ sagte der Blinde und lächelte traurig vor sich hin. „Und hoffe es nicht und wünsche es nicht. Was hätte ich davon? Habe nichts mehr anzuschauen auf Erden, und käme es wieder, ich müßte wieder dafür zittern. Denn auf Erden hat man nur für Solches nichts zu befahren und zu befürchten, was man bereits verloren hat. Behüt’ Euch Gott mit einander!“ Und er nickte uns zu und tastete dann langsam mit seinem Stecken zur Stube hinaus.

Ich brachte mein Geschäft mit dem Krämer zu Ende, aber diesmal ohne Murren und schweigend. Und selbst auf seine Frage, wie mir der alte Holzknecht gefallen, hatte ich nur eine sehr kurze Antwort. Gleichwohl sagte der gebildete Mann herablassend. „Es ist sonderbar, weil ja der Ebenhiesel ein ganz ungebildeter Mensch ist – aber die Herren Sommergäste discutiren alle gern mit ihm. Da war im vorigen Jahre ein junger blasser Priester aus Wien hier, ein Professor vom Schottengymnasium, der hat oft stundenlang mit dem Alten gesprochen, aber sonst mit keinem Menschen. Und zu Weihnachten hat er ihm eine ganze Kiste mit Geschenken geschickt und dazu geschrieben: ‚Danket mir nicht, denn ich bleibe doch ewig in Eurer Schuld – in schweren Kämpfen bin ich in Euer Dorf gekommen, Ihr aber habt mich wieder still und gut gemacht.’ Ja, diesen Brief habe ich selbst gelesen, auch der Herr Pfarrer. Der hochwürdige Herr war aber sehr ungehalten darüber und hat gemeint. ‚Wenn mein Bruder in Christo, der Herr Professor, in innern Kämpfen war, so hätte er sich an mich halten sollen, und nicht an den Ebenhiesel. Und,’ hat unser Herr Pfarrer noch gesagt, ‚wenn dieser alte Mann nicht so fromm wäre, so könnte [212] man oft meinen, daß er gottlos sei.’ Wie dieses aber auch sein mag, gewiß ist, daß der Ebenhiesel so vieles Unglück erfahren, wie sonst kein Mensch am ganzen Attersee. Sie hätten ihn auch um seine Geschichte fragen sollen, denn sie ist recht interessant. Wenn ich an sie denke, so sage ich immer: ‚Gott, ich danke Dir, daß Du mich liebst.’ Denn Gott hat mich wirklich –“

Aber es interessirte mich wenig, warum der Krämer Mittendorfer zu Unterach überzeugt war, daß Gott ihn liebe. Und noch weniger muthete es mich an, von diesem aufgeklärten Manne die Geschichte des unglücklichen Greises zu erfahren. Ich wandte mich mit kurzem Gruße zur Thür und trat vor’s Haus. Da sah ich noch einmal die gebückte Gestalt des Ebenhiesel, er lenkte gerade langsam in jenen Thorweg ein, der zur Rechten von dem Platze vor der Krämerei zum Friedhof führt. Ich gestehe, ich blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und kämpfte mit meiner Neugier, ob ich ihm folgen solle. Dann aber siegte doch eine bessere Empfindung in meinem Herzen, und ich ging still meiner Wege.

Jene Geschichte habe ich gleichwohl erfahren, einige Tage später und ohne darum zu fragen. Ich glaube nicht, daß sie, wie Herr Mittendorfer meinte, „recht interessant“ ist. Wie jene Gewalt, die über uns Allen ist, Schlag auf Schlag führt gegen ein armes, verblutendes Menschenherz, das vermag nur Grauen und Mitleid zu wecken. Was über diesen armen Mann gekommen, mag sich vielleicht auf Erden, wenn nicht oft, so doch zuweilen schon zugetragen haben; wie er es getragen und überdauert, nur dieses schien mir werth, daß du es vernehmest, Leser, ob du nun glücklich bist oder unglücklich, gläubig oder ungläubig. Aber das Seelenleben des Greises, wie es sich mir in jener seltsamen Kritik des Buches Hiob offenbart, rückt ja erst dann in das Licht des Merkwürdigen, wenn man erfährt, was er erlebt. Nur darum erzähle ich seine Geschichte. Ich will es, so weit mir dies möglich, mit seinen eigenen Worten thun.

Es war wenige Tage nach jener ersten Begegnung, an einem trüben, düsteren Morgen. Als ich da wieder zur Krämerei ging, gewahrte ich, wie eben ein tiefer Abzuggraben von diesem Hause gegen die Straße gezogen wurde, welcher den Weg zur Kirche mitten durchschnitt. Und als ich hinaustrat, sah ich, wie der Blinde ahnungslos am Hause vorbei gegen jenen Graben zuschritt. Ich rief ihn an und warnte ihn. Er blieb stehen, und mich rührte der hülflose Ausdruck seiner Züge und der traurige Blick dieser klaren und doch lichtlosen Augen. Ob ich ihm helfen könne, fragte ich und trat auf ihn zu.

„Ach, Herre! Ihr seid es.“ Er erkannte mich sofort an der Stimme. „Ja, sehet – nun weiß ich nicht, was beginnen. Wollt’ auch heut’ meinen einzigen Weg gehen, zu den Meinen. Jetzt ist hier der Graben, und den andern Weg, die Straße hinab und dann durch des Fleischerwirths Garten, trau’ ich mich nicht. Bin ihn nie mehr gegangen, seit die Nacht über mich gekommen.“

Es war völlig gleichgültig, wo ich den Qualm meiner nassen Cigarre in die Luft blies, und nicht das geringste Opfer meinerseits, als ich mich erbot, ihn jenen Weg zu führen. Während wir nun so neben einander herschritten, erzählte er mir, daß er Matthias Pölzleithner heiße und sich mit seinem dreizehnten Jahre, nachdem Eltern und Geschwister früh weggestorben, das Brod in den kaiserlichen Wäldern des Kammerguts verdient, zuerst als Helfer und Botenbub’ der Holzknechte, bis er es endlich selbst zum Holzknechte gebracht. „Und die letzte Zeit,“ sagte er stolz, „bin ich sogar Aufseher gewesen und hab’ darum eine Pension vom Kaiser, drei Gulden monatlich.“ Auf meine Frage, ob dies genüge, versicherte er lächelnd, er lebe „gar bequemlich“, wenn auch leider bei fremden Leuten zu Kost und Miethe; nur auf die Todtenmessen reiche es nicht immer. „Aber um dessentwillen“ fügte er hinzu, „grollet mir nicht einmal der Herr Pfarrer, und Gott wird noch viel milder sein.“

Damit waren wir an der Pforte des Friedhofs angelangt, und ich wollte mich verabschieden. Er aber hielt meine Hand fest und bat. „Nun kommet noch ein Stücklein – will Euch die Meinen zeigen.“

Er ging voran, hier kannte er jeden Fleck und brauchte seinen Stock wenig. Dabei erklärte er mir, wer in den Gräbern ruhe, und fügte immer einen kurzen Gruß an den Todten hinzu. So, als wir an dem Grabe eines Gastwirths vorübergingen: „Hier liegt der Loydl. War ein guter, mitleidiger Mensch. Gelt, Loydl, jetzt freuet Dich jeder Bissen, den Du den Armen gegeben.“ Dann aber deutete er auf einige eingesunkene Gräber an der Mauer und sagte. „Da sind die Meinen.“

Ich trat näher heran und beugte mich zu den morschen Kreuzen nieder. Aber die Blechtäfelchen, auf welchen einmal die Namen der Schläfer geschrieben gewesen und wohl ein frommer Spruch dazu, waren arg verrostet, und kaum hier und da ein Buchstabe noch kenntlich. Der Blinde errieth mein Thun.

„Zu lesen ist es nicht mehr, aber ich kann Euch sagen, wer da ruht, und Jener, der einst an dieses Grab treten und den Namen hinab rufen wird, wird ihn nicht erst vom Täfelchen lesen müssen.“

Er setzte sich auf einen Stein zwischen den Gräbern.

„Sehet!“ sagte er und deutete zu. Rechten, „hier liegt meine Kathrein. Sie war ein brav und getreues Weib und hat Alles mit mir getragen, bis zum Ende. Um ihrer Schönheit willen hab’ ich sie einstens, vor fünfzig Jahren zum Weibe begehrt, aber diese Schönheit ist rasch gewelkt, noch ehe sie mir angetraut worden. Denn sie war ein armes Mensch, wie ich, und hat hart schaffen müssen, und erst wie ich fünfunddreißig war und sie nicht viel jünger, haben wir an den eigenen Hausstand denken dürfen. Es war aber der Segen Gottes darauf, und wir haben uns endlich sogar ein eigen Häuslein erwirthschaftet – drüben am Ufer, nahe dem Kaltenbrunn ist es gestanden – und vier gute blühende Kinder sind uns herangewachsen. Sehet, hier sind sie: der Hans, die Afra, der Paul, der Franzl.“

Und bei jedem dieser Namen deutete er mit dem Stecken auf eines der Gräber um ihn, und während sich mir das Herz mitleidig rührte, lächelte er so mild, so fröhlich vor sich hin, als stünden seine Kinder in blühender Lebenskraft um ihn her.

„Lange hat das Glück gewährt,“ fuhr er fort, „zwanzig Jahre. Und darauf ist das Unglück gekommen. Als ich einstmalen am Samstag Abend aus dem Forst bei Schärfling heimgehe, den Sonntag daheim zu verbringen, da begegnen mir an der Brücke über die Ache, zwischen See und Unterach, im Dunkel einige Männer, welche eine Bahre tragen. Ich acht’ nicht darauf und will rasch vorbei, da rufen sie mich an: ‚Ebenhiesel! wir bringen Dir Deinen Hans.’ Und da haben sie ihn vor mich hingestellt, todt, mit zerschmetterter Brust – er war auch ein Holzknechte und die Andern hatten kein Warnzeichen ausgestellt beim Fällen einer Tanne, und so ist mein armer Bub zugetreten und die Tanne hat ihn erschlagen. Das war ein Blitz aus blauem Himmel, und der erste Schnitt in mein Fleisch, und darum habe ich damals an jener Brücke laut geschrieen und gegen Gott gerufen: ‚Wodurch habe ich Solches verdient?!’ Und auch beim Zweiten habe ich es gefragt, aber schon leiser und demüthiger. Das Zweite war, daß mein Paul hinab ist in’s Welschland und hat bei Magenta eine Kugel bekommen in die Brust, und ist siech heimgekommen, um zu sterben. Aber wie ich ihm die Augen zugedrückt, da habe ich doch auch gesagt: ‚Herr Gott, Dein Wille ist unerforschlich, aber ich danke Dir, daß er hier gestorben und daß wir ihn zur Seite haben, wenn wir selbst schlafen gehen.’ Und beim Dritten habe ich nicht einmal mehr gefragt, sondern nur noch stumm mein Haupt gebeugt. Sehet, das war die Afra, eine schöne, starke Dirn’ und stolz und brav. Als sie siebenzehnjährig gewesen, hatte sie der Hofwirth zum Weibe begehrt, ein reicher, achtbarer Mann, aber von dem wollte sie nichts hören, weil er ein Wittiber war, und auch Jüngeren, so viele sich fanden, hat sie nicht einmal ein freundlich Gesicht gemacht zum Dank für die Werbung. ‚Afra!’ hab ich oft gesagt, ‚bist arm; ’s ist ein öd’ Leben als arme, einschichtige, alte Dienstmagd.’ Sie aber hat nur immer gelacht: ‚Vater, der Rechte kommt schon.’ Ist auch Einer gekommen, war aber nicht der Rechte – ein Jäger von Mondsee drüben, ein schöner Mensch, aber wüst und schlecht. Hat die arme Dirn’ bethört und hat sich dann versetzen lassen, in’s Salzburgische, der Heirath zu entgehen. Wir haben nichts davon gewußt, die Kathrein und ich, bis sie einmal vor uns hintritt, blaß wie der Todt: ‚Höret – ich bin in Schimpf gerathen mit dem Jäger, und er will nicht seine Schuldigkeit an mir thun, und in vier Monaten ist meine schwere Stunde – aber Ihr sollt nicht in Schande kommen!’ – ‚Was willst Du thun?’ jammert mein Weib, und die Afra antwortet ganz ruhig: ‚In den See geh’ ich.’ Da haben wir sie angefleht, die furchtbare Sünde nicht auf ihre arme Seel’ zu laden, die Sünde an sich und am jungen Leben dazu, und sie hat’s uns versprochen. Ob sie Wort

[213]

Gemsen nach einem Lawinensturz.
Originalzeichnung von J. Bungartz in Hamburg.

[214] gehalten hat, weiß nur der da droben! Denn eine Woche später sagt sie: ‚Vater – hier kann ich nicht bleiben, ich würde sterben vor Scham. Im Burggraben hauset auf der Lasseralm meine beste Freundin, die Sternbauervroni; zu der will ich geh’n und meine Stunde erwarten.'

Und ist fort gegangen, aber bis zur Lasseralm ist sie nicht gekommen. Wir haben sie drei Tage später zerschmettert gefunden, tief unten im Burggraben. Ob sie sich selbst hinabgestürzt hat, ob sie am schmalen, steilen Steg durch einen falschen Tritt ausgeglitten – wer weiß es? Sie ward begraben mit den Ehren einer Jungfrau, und nur drei sind bei ihrer Gruft gestanden, welche gewußt, daß ihr diese Ehre nimmer gebührt. Das war ich und mein Weib und unser Franzl. Der war zum Begräbniß der Afra herüber gekommen aus Vöcklabruck, wo er Lehrling gewesen bei einem Büchsenmacher, und war eben zum Gesellen gesprochen worden. Ich hatte ihn dorthin gegeben, weil er so klug und anstellig war, und zudem ein so feines, schwaches Bürschlein, daß er zum Holzknecht oder Flößer nimmer getaugt hätte. Er und die Afra haben sich aber mehr lieb gehabt, als ich könnte sagen, und sind immer so treu und gut zu einander gewesen, wie selbst unter Geschwistern selten zu finden. Darum hat es mich nicht gewundert, als der Franzl so furchtbar verstört war bei dem Begräbnisse – todtblaß war er und ist dagestanden wie versteint in Schmerz; dann hat er von uns Abschied genommen, noch am selbigen Tage: er müsse zurück zum Meister nach Vöcklabruck; es wär’ große Arbeit da. Ich hab’ ihn darin bestärkt und gesagt: ‚Arbeite und bete für die arme Seele; ich will es auch so halten, denn nur so läßt sich solcher Schmerz ertragen.’ Eine Woche, nachdem er fort ist, begegnet mir der Postmeister:

‚Bin gestern ist Vöcklabruck gewesen,’ sagt er, ‚und der Meister Büchsenmacher läßt Euch fragen, wo denn der Franzl bleibt?’

Ich bin zu Tod erschrocken bei dieser Post, und mein erster Gedanke war: ‚Er ist dem Jäger nachgegangen, Rache zu nehmen.’ Und also war es. Der Franzl hat den Jäger erlauert und niedergeschossen und sich dann selbst zu Zell dem Gericht gestellt, und einen Monat später haben sie ihn zu Salzburg zum Tode verurtheilt. Der Kaiser aber hat ihn begnadigt – zu zwölf Jahren Zuchthaus, weit er seiner Schwester Verderben an dem Verderber gerächt. Sehet – das war das Vierte.“

„Und das Letzte!“ rief ich erleichtert.

Mir hatte sich, während er sprach, eine schwere Last auf die Brust gewälzt. Selbst die leidenschaftlichste Klage, selbst Jammer und Thränen hätten mich unmöglich so tief erschüttern können, wie seine sanfte, ruhige Art. Er erzählte, als ob er Fremdes, Fernes berichtete und nicht das furchtbare Unglück seines eigenen Lebens. Und gerade dieses machte mir die Erzählung doppelt entsetzlich.

„Das Letzte?“ wiederholte der Greis. „Nein, das war’s noch nicht. Nach zwölf Jahren ist der Franzl wieder gekommen, aber wie im Antlitz kein Zug mehr war von meinem liebsten Buben, so auch nimmer im Herzen. Das Zuchthaus hat ihn verderbt bis in die Knochen; er war faul an der Seele und morsch am Körper. Hat aber noch zwei Jahre gelebt, lang’ genug, seine Mutter unter die Erde zu bringen und mein Häuslein so mit Schulden zu belasten, daß ich es verkaufen mußt’. Und so ist mir auch das Schlimmste nicht erspart geblieben, ja das Schlimmste, was ein Herz auf Erden tragen kann, der Gedanke: ‚Es wäre besser, wenn Dein Kind todt wär’, statt die Erde zu verunreinigen.’ Dieses war das Letzte. Mein Erblinden rechne ich nicht – es war mir kaum noch ein Wehe. Und jetzt ist mir wohl, denn ich habe nur mehr mein eigen Leben zu verlieren, und wenn mir dieses genommen wird, gewinne ich die ewige Seligkeit. Und Gott ist barmherzig; er hat es immer gut mit mir gemeint und wird darum einsehen, daß ich jetzt bald abberufen werden muß.“

Das ist, was ich von den Ansichten und Geschicken des Hiob von Unterach zu berichten hatte. Aber es liegt mir auf der Seele, noch Eines zu sagen, ehe ich schließe. Ich habe dies erzählt, um die Antwort zu suchen auf eine ewige Frage. Daß die Antwort, welche der arme Ebenhiesel giebt, eine uralte ist, bekümmert mich wenig; er hat sie auf’s Neue gefunden und unter schwererem Druck als die meisten Menschen, und darum schien es mir der Mühe nicht unwerth, daß man es höre. Aber man könnte glauben, daß ich seine Antwort für die einzig mögliche, einzig richtige halte. Und dem ist nicht so. Es ist eine Antwort für Millionen, aber nicht für Alle. Eine solche ist nicht gefunden, wird nie gefunden werden können. Uralt ist die Frage, uralt die Mühe nach Antwort, und Beides wird währen, so lange Menschen leben. Und so wollen auch wir fortfahren, zu suchen, ernst und duldsam. Vielleicht ist jener der Glücklichste, der die Antwort, welche jener alte, beklagenswerte Mann gefunden, als die seine anerkennen kann. Wer es nicht kann, der sänftige sein Herz und stimme mit mir ein in das edel-schöne Wort des Dichters:

„– – Er diente dem Gott, der ihm der wahre geschienen –
Sag’, was kann ein Sterblicher mehr? Draus mag es auch mir nun,
Da zu anderem Glauben das Herz mich drängte, vergönnt sein,
Meinen Göttern getreu hinfort mein Wesen zu treiben,
Wie ich muß und vermag!“




Die Pest.
III. Anschauungen über die Beschaffenheit des Krankheitskeims – Seine Lebensbedingungen und seine Vernichtung.


Keiner anderen Krankheit gegenüber hat sich im Geiste der Ungebildeten wie der Gelehrten so früh die Vorstellung eines Krankheitsstoffes befestigt, wie angesichts der Pest. In den ersten Epidemien schon richtete sich der Blick zunächst auf den Boden selbst als auf die Quelle eines Miasma. Wir erwähnten im vorigen Artikel der besonders betonten Berichte der Schriftsteller des vierzehnten Jahrhunderts über Erdbeben, Bergstürze etc.; – aber man wollte auch beobachtet haben, wie z. B. in Istrien die Erde sich spaltete und Blut und Wasser entströmen ließ, wie weiße giftige Dünste dem Boden entstiegen, die Athmungsorgane beklemmten und in bestimmten Richtungen als dicke Wolken weiter zogen. Später – aber noch während der Herrschaft des „schwarzen Todes“ – ging die Idee einer giftigen, todbringenden Bodenausdünstung in die der Brunnenvergiftung über. Nicht aber wurde daran gedacht, daß die Menschen selbst es sind, welche absichtslos durch ihre Auswurfstoffe sowohl den Boden, wie mittelbar die Brunnen und Wasserläufe verunreinigen; man dachte nur an ein wohlpräparirtes Gift, welches fremde Bosheit in die Brunnen geschüttet habe.

In ganz Europa ging die Sage, daß die Juden, von Toledo her, durch Sendlinge und Briefe von geheimen Oberen zu jener verbrecherischen Unthat aufgestachelt wären. Man wollte Briefe gefunden haben, verfaßt zur Zeit der Kreuzigung Christi und von den Juden zu Jerusalem an ihre Glaubensbrüder, z. B. in Ulm, gerichtet, deren Inhalt den Rachedurst des Pöbels wohl zu entflammen vermochte. Die gräuelhaften Folgen dieses Wahnes sind zu bekannt, als daß wir sie hier ausmalen möchten; zu Straßburg wurden 900 Juden verbrannt (von 1884, die überhaupt dort lebten); in Mainz gaben sich die zahlreichen Juden der Stadt in ihren Häusern freiwillig den Feuertod. Ebenso fanden in Augsburg, Ulm, Constanz, Hall, München, Salzburg, Erfurt, Eisenach massenhafte Judenverbrennungen wegen der angeblichen Brunnenvergiftungen statt.

Einige Jahrhunderte später wurde dem „Pestgift“ mit anderen Voraussetzungen nachgespürt. Man hatte beobachtet, daß es an gewisse Einzelherde, an menschliche Wohnplätze und die Orte größerer Versammlungen gebunden schien; es entwickelte sich die Idee eines Wohnungs- und Hausmiasma und zwar in der unklaren Form, daß die Mauern und Geräthe absichtlich verunreinigt, mit Peststoffen bestrichen seien. Sehr lehrreiche Beispiele liefern in dieser Richtung die Epidemien der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts in Italien. Man glaubte fest daran, daß überall teuflische Künste, Verschwörungen, organisirte Giftmischerbanden thätig wären, die Seuche zu verbreiten. Ein ausgesuchtes Gift von plötzlicher, höchst durchdringender Wirkung anzunehmen, lag ganz in der Denkweise [215] des Volkes und der damaligen Zeit; auch fand die Gewaltsamkeit der Krankheit, es fanden ihre dunklen und auffallenden Erscheinungen auf diese Weise eine Erklärung. Man sagte, jenes Gift sei aus Kröten und Schlangen bereitet worden, aus dem Eiter und Speichel der Pestkranken, aus Allem, was eine wilde, verkehrte Einbildungskraft nur Abscheuliches ersinnen konnte. Doch stand man nur mit einem Fuße in den Kinderschuhen der Chemie – zur guten Hälfte stützten sich alle jene Vergiftungsfabeln noch auf Hexereien; diese erst machten jede Wirkung möglich, entkräfteten alle Widersprüche und lösten alle Schwierigkeiten. Bei der Ueberzeugung, daß Giftsalber vorhanden seien, mußte man sie natürlich auch unfehlbar entdecken.

Aller Augen blickten aufmerksam umher, jeder Schritt konnte den Argwohn aufstören. Der Reisende, der von den Bauern außerhalb der Hauptstraße angetroffen wurde, der Unbekannte, welcher in Miene oder Kleidung etwas Unheimliches oder nur Auffälliges zeigte – Beide waren Giftsalber; bei dem Geschrei eines Kindes läutete man Sturm und lief herbei. Die Unglücklichen wurden gesteinigt oder im besten Falle in die Gefängnisse befördert. – In der Kirche des „Heiligen Antonius“ zu Mailand hatte ein mehr als achtzigjähriger Greis auf den Knieen sein Gebet verrichtet und stäubte, ehe er sich setzte, mit dem Mantel die Bank ab. „Der Alte salbt die Bänke!“ schrieen im Chor einige Weiber, die ihm zugesehen. Das Volk in der Kirche stürzt auf den Greis los – man zaust ihn an den weißen Haaren, schlägt ihn mit Fäusten, stößt ihn mit den Füßen und zerrt ihn halb todt hinaus, um ihn zum Richter, in den Kerker, zur Untersuchung zu schaffen. „So sah ich ihn schleppen,“ sagt der Chronist Ripamonti; „wie es geendet, weiß ich nicht; ich glaube kaum, daß er es lange hat überleben können.“

Wieder schwanden Jahrzehnte dahin; der Wahn der Pestsalberei schwand mit der Heftigkeit und der Ausbreitung der Epidemien, – und andere Hypothesen waren bereit, sich an die Stelle der alten zu setzen. In dem niederländischen Städtchen Delft arbeitete Tag und Nacht ein auf sich und sein großes mechanisches Talent angewiesener ungelehrter Mann, um seine von ihm selbst angefertigten Mikroskope auf eine noch unerreichte Stufe der Vollkommenheit zu bringen und damit „verborgene Naturgeheimnisse“ zu entdecken. Im April 1675 kam Anton Leeuwenhoek auf den Einfall, ein Glasröhrchen voll stehenden Regenwassers unter eines seiner Mikroskope zu legen; mit Staunen und Verwunderung erblickte er im Wasser wunderliche Gestalten, Glöckchen, die sich aufblähten und zusammenzogen, Kügelchen, die lebhaft hin und her schossen; er glaubte im ersten Augenblick die lebendigen Atome selbst zu schauen, aus denen schon der alte Demokrit alle Körper bestehen ließ und aus denen auch Philosophen seiner Zeit die Welt erbauten. Bald aber überzeugte er sich, daß er es mit kleinsten Thierformen zu thun habe, die, dem bloßen Auge unsichtbar, in zahlreichen Formen den Wassertropfen beleben. Kaum hatte er seine so überraschenden Beobachtungen bekannt gemacht, als die phantasiereicheren unter den Aerzten seiner Zeit auch schon das furchtbare Räthsel der Pestepidemien durch „mikroskopische Pestfliegen“ erklärt sahen. Aber vergeblich blieb ihr Versuch, in den vermuthlichen Ansteckungsstoffen mit Hülfe der damaligen Mikroskope lebende Wesen wirklich aufzufinden; es wäre ebenso leicht gewesen, die unsichtbaren Pfeile des ferntreffenden Apoll zu erschauen, mit denen ihn die Dichter in seinem Zorn Menschen und Heerden hinstrecken ließen.

Weite Fortschritte hat die Entwickelung des Mikroskops durchmachen müssen, ehe die fast zweihundert Jahre alt gewordene Entdeckung Leeuwenhoek’s eine unmittelbare Verwerthung in der Krankheitslehre fand. Die Pest war inzwischen fast vergessen und unter die todten Krankheiten gerechnet worden. – Wir würden Gefahr laufen zu wiederholen, was unsere Leser in anregender Darstellung vor einigen Wochen gelesen haben,[1] wollten wir hier ausführlicher darüber sprechen, was von Pollender und Davaine zuerst über den Milzbrand, von Chauveau und Klebs über die sogenannten Eitervergiftungen, von Waldeger, von Recklinghausen und vielen anderen, besonders deutschen und französischen Forschern über die Wochenbettfieber, die Diphtherie, die Rose etc. hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit kleinen lebenden Organismen, die in den Säften des lebenden Körpers sich vorfinden, ermittelt worden ist. Keinem Gebildeten sind diese Entdeckungen, die Zweifel, von denen sie noch beeinträchtigt werden, und die Hoffnungen ganz fremd geblieben, daß es nach Auffindung noch verbesserter Methoden, nach klarerer Erkenntniß jener unsichtbaren, aber um so furchtbareren Feinde auch gelingen werde, sie immer erfolgreicher zu bekämpfen.

Wir dürfen uns hier zunächst auf den kurzen Nachweis beschränken, daß die Pest alle Hauptcharaktere mit den anderen Ansteckungskrankheiten theilt. So verschieden auch die einzelnen Krankheitsbilder sein mögen, so haben doch alle Epidemien, Cholera, Pest, Typhus, Diphtherie, Pocken, Scharlach, Hospitalbrand, Eitervergiftung und wie sie sonst heißen, gewisse gemeinschaftliche Züge: die Krankheit wird von einem Orte eingeschleppt, wo sie bereits früher herrschte, durch einen Kranken oder durch Gegenstände, die mit einem Kranken in Berührung gekommen. Hat die Ansteckung stattgefunden, so vergeht einige Zeit (bei der Pest nur Stunden, bei manchen anderen Infectionskrankheiten Tage, selbst Wochen), ehe die ausgeprägten Zeichen der Krankheit hervortreten; nach dieser Zeit bricht die Krankheit aus durch gewaltsame Störungen in der gesetzmäßigen Lebenstätigkeit aller Organe, des Gehirns, der übrigen Nervenapparate, der Lungenthätigkeit, des Verdauungssystems etc.; der Kranke leidet eben, als stehe er unter dem Einfluß eines Giftes, welches in seine Säfte eingedrungen. Und wie er selbst durch einen belebten Giftstoff angesteckt wurde, so verbreitet er das Gift weiter; in manchen Krankheiten sammelt sich der Ansteckungsstoff in höchst concentrirter Form in besonderen Pusteln an – wie bei den Blattern –, deren klarer Saft schon in den geringsten Mengen das Blut eines vorher Gesunden wieder vergiften und denselben unter den nämlichen Krankheitserscheinungen zum Erzeuger neuen Giftes machen kann. Beim Hospitalbrande, bei der sogenannten septischen Blutvergiftung genügt, wie beim Leichengift, schon der Hauch, der am Messer des Chirurgen oder des Anatomen haftet, um jede Wunde zu vergiften; für den Milzbrand steht es fest, daß eine Fliege das Gift von einem kranken auf ein gesundes Thier übertragen kann.

Es ist nach Allem, was wir von Merkmalen der Pest kennen lernten, durchaus gerechtfertigt, auch in den Organen und Säften der Pestkranken nach einem mikroskopischen Organismus zu suchen, welcher die Störungen erzeugt und die Krankheit weiter verbreitet. Die große Aehnlichkeit ihrer Erscheinungen mit dem Milzbrande, dessen Bakterien am besten gekannt und ihren Lebensbedingungen nach am sichersten erforscht sind, läßt die Hoffnung nicht zu kühn erscheinen, daß die ersten Blicke, die ein kundiger Forscher durch ein modern vervollkommnetes und mit den neuerdings erfundenen Beleuchtungsvorrichtungen versehenes Mikroskop thut, ihm die Pestkeime in ihrer wirklichen Gestalt enthüllen. „Ist es denkbar,“ fragen wir mit dem Leser, „daß diese ersten Blicke bei der überreichen Gelegenheit in Wetljanka und den anderen Orten bis jetzt nicht getan wurden?“ Leider ja! Durch die Taktik, welche die russische Regierung der Epidemie gegenüber zu beobachten für gut fand, ist diese Gelegenheit, die wichtigsten Beobachtungen zu machen, für’s Erste versäumt worden. Die medicinischen Professoren der Universität Kasan sind fast alle in deutscher Schule gebildet; auch in Charkow sind tüchtige Gelehrte, welche mit Freude ihre Kenntnisse verwertet hätten, um das düstere Geheimniß zu ergründen. Man hat sie nicht an die von ihnen so leicht erreichbaren Orte entsendet – und wir stehen mit Voraussetzungen und Vermuthungen da, wo wir ohne jenen verhängnißvollen Fehler mit voller Erkenntniß stehen könnten.

Allerdings wird auch dann die Arbeit der medicinischen Forschung erst halb gethan sein, wenn, wie es vielleicht demnächst geschieht, Abbildungen des vermuthlichen Pestkeimes durch alle illustrirten Blätter gegangen und Jedermann so bekannt geworden sind, wie die Stäbchenbakterien des Milzbrandes oder die Spirillen beim Rückfalltyphus. Jede Art dieser verhängnißvollen Pilze hat ihre besonderen Lebensbedingungen, eine abweichende Art sich zu verbreiten und ihren Weg in den menschlichen Körper zu finden; jede widersteht mit der ihr eigenen Zähigkeit den Einflüssen, welche die Wissenschaft als bakterientödtende Mittel ausfindig gemacht und erprobt hat. Selbst die Rolle, welche den mikroskopischen Organismen in der Krankheit zufällt, kann noch verschieden gedeutet werden. Es ist denkbar, daß diese Wesen direct durch ihre Thätigkeit die lebenden Theile des Körpers angreifen und zerstören, aber auch, daß sie einen schädlichen Stoff, ein Gift hervorbringen, welches das Leben bedroht. Die erstere mehr mechanische [216] Thätigkeit schrieben schon ältere Beobachter den „Vibrionen“ in der Cholera zu; neuere Forscher erklären auf diese Weise die zerstörenden Wirkungen der Wundkrankheiten. Die zweite Erklärungsart, welche die Pilze als Gifterzeuger ansieht, faßt sie entweder als mikroskopische Giftpilze auf oder mißt ihnen diejenigen zersetzenden Eigenschaften bei, welche die Gährungspilze in den gährenden Stoffen entfalten.

Hinsichtlich der Wege, auf denen die Krankheitskeime sich in den menschlichen Körper schleichen sind einzelne uns wohlbekannt, so die absichtlich gemachte kleine Hautwunde für die Schutzblattern, die größeren Wunden für das Eiterfieber, die Schleimhäute des Mundes und der Athemorgane wie die Bindehaut des Auges für die Diphtherie, die zarteren Stellen der anscheinend unverletzten Oberhaut für den Milzbrand. Vieles spricht dafür, daß auch der Pestkeim diesen letzteren Weg zu wählen im Stande ist; so die Erfahrungen über die Carbunkel der verschiedenen Hautstellen, so die Thatsache, daß bei Erwachsenen, welche ohne Fußbekleidung gehen, die Drüsen der Leistengegend – bei kleinen Kindern, welche Alles in den Mund stecken die Drüsen am Halse zuerst durch ihre Verhärtung und Anschwellung als sichtbare Bezeuger der Erkrankung auftreten. Die ältere Erfahrung maß der Einathmung der Luft im Dunstkreise des Kranken die größte Bedeutung bei und ersann hauptsächlich Schutzmaßregeln gegen diese. Einen schauerlich-grotesken Eindruck machen die dieser Vorstellung angepaßten Costüme der Pestärzte früherer Zeit: die Abbildung eines Marseiller Quarantänearztes aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigt ihn in einem bis auf den Boden reichenden faltenlosen rothen Rock, über den am Halse ein Lederkoller mit daran sitzender gelblederner Gesichtsmaske geknöpft ist. In dem schnabelartigen Fortsatz dieser letzteren befinden sich desinficirende Stoffe, welche die Athemluft reinigen sollen. In gleicher Absicht hält der Insasse der Maske eine glimmende Lunte in der Höhe des Mundes und der Nase vor sich hin. Dieser Räucherapparat fehlt auch dem Arzte aus dem Jahre 1819 nicht, welcher aber in einem langen schwarzen Talar mit daran sitzender Kapuze, die nur zwei runde Ausschnitte für die Augen aufweist, uns entgegentritt. – Alle diese Schutzkleider wurden auch reichlich eingefettet, da man, in der Türkei sowohl wie in Aegypten, die Erfahrung gemacht hatte, daß die Oelverkäufer, deren Kleidung von Fettstoffen starrte, fast nie von der Pest ergriffen wurden.

Die Annahme, daß die Luft die Pestkeime in besonders reichlicher Menge enthalte, sie uns entgegenwehe, ist einigermaßen dadurch erschüttert worden, daß ein besonders schädlicher Einfluß der Winde sich niemals mit Sicherheit hat beweisen lassen, vielmehr von Alters her die Thatsachen nicht sowohl aus eine Verwehung, als auf Verschleppung hinweisen. Auch die diesjährige Epidemie führte sich mit einer Anekdote ein, nach welcher ein junger Kosak, am 9. November, vom Regiment nach seiner Heimath Wetljanka entlassen, seiner Braut einen mitgebrachten türkischen Shawl schenkte, der die erste Erkrankung in jenem Orte veranlaßte. Vor allen anderen Transportmitteln schien stets der Mensch am geeignetsten, die Krankheit zu verschleppen, sei es daß sie an ihm selbst zum Ausbruch kam, sei es daß er gesund blieb und nur Anderen den entwickelungsfähigen Keim mittheilte. Hören wir die rührende Klage des Italieners de Mussis, welcher mit einem aus der Levante kommenden Schiff im Jahre 1346 in Genua landete: „Nun war es aber wunderbar, daß, wo auch die Schiffer landeten, überall Alle, die mit ihnen in Berührung traten, rasch dahin starben, gleich als ob Jene von einem verderblichen Hauche begleitet gewesen wären. Weh des Jammers! Wir betraten, nachdem wir gelandet, unsere Häuser. Da schwere Krankheit uns befallen, und von Tausend, die mit uns gereist, kaum noch Zehn übrig waren, so eilten Verwandte, Freunde und Nachbarn herbei, uns zu begrüßen. Wehe uns, die wir die Todesgeschosse mit uns brachten, daß wir durch den Hauch unseres Wortes das tödtliche Gift ausstreuten!“

Gegen die durch ähnliche sich stets wiederholende Berichte wohl zur Genüge constatirte Verschleppbarkeit durch den Verkehr richten sich nun alle diejenigen Vorsichtsmaßregeln welche man richtiger unter dem Namen der Verkehrssperre, als dem viel gemißbrauchten der „Quarantäne“ zusammenfaßt, wenigstens thut man wohl, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden.

Es liegt nun allerdings eine Reihe von Gründen vor, nach welchen über den Nutzen wirklicher Absperrungen kaum ein Zweifel übrig bleiben kann. Das Erlöschen der Pest in Europa war, wie bereits gezeigt, ein allmähliches und hielt mit der Entwickelung und Vervollkommnung der Sperrvorrichtungen gleichen Schritt. Doch handelte es sich in den meisten Fällen um Maßregeln gegen verdächtigen Seeverkehr, um die durchführbare Ausschließung verpesteter Schiffe von der Berührung mit dem Lande. Eine Sperre aber, welche nicht blos die ganze Küste, sondern auch die ganze Landgrenze von der Ostsee bis an das schwarze Meer schließen soll, ist einfach undurchführbar. Selbst die Absperrung einzelner Ortschaften ist ohne die strengsten Maßregeln – wie Virchow neulich schlagend ausführte, ohne Erschießen – eine Illusion. So faßt man denn Paßwesen und Quarantänen in’s Auge als halbe Maßregeln, welche sich der Theorie anpassen und zugleich innerhalb der praktischen Ausführbarkeit liege sollen. Nur werden leider die Pässe und Gesundheitsatteste in Rußland häufig nach anderen Rücksichten, als denen des wahren Sachverhaltes ausgestellt, und Landquarantänen – wenn sie auch bei der Pest nicht auf vierzig, sondern höchstens auf zehn bis fünfzehn Tage anzuordnen wären – sind ein zweifelhaftes Schutzmittel. Vor allem hat ja eine mehrtägige Beobachtung, welche die Quarantäne leisten soll, nur den Menschen gegenüber einen Sinn; die Frage, ob an einem leblosen Gegenstande, an Waaren etc. lebensfähige Pestkeime haften, läßt sie gänzlich ungelöst, da keine andere Probe auf dieselbe existirt, als die Ansteckung eines Menschen. So gipfelt denn unser Bestreben und unsere Hoffnung auf Abwehr der Gefahr in der Tödtung der Keime, in den Versuchen einer absoluten Desinfection.

Sicher besitzen wir Mittel, welche die gefährlichsten Bacterienkeime tödten und zur weiteren Fortpflanzung ungeeignet machen. Die Wirkungen der Carbolsäure, der Benzoesäure, des Thymols, des Chlors sind allgemein bekannt. Doch beginnt immermehr die Auffassung sich Geltung zu verschaffen, daß die Lebensbedingungen der verschiedenen Bakterienarten sehr abweichende sind, daß manche z. B. unter Hitzegraden noch weiterleben, welche für andere tödtlich sind, daß einige ihre Fortpflanzungsfähigkeit wieder erlangten nach Behandlungsmethoden, welche für viele die sichere Abtödtung zur Folge hatten. Hiernach tritt die Aufgabe in ihr volles Recht, für jede Gattung dieser Organismen eine Vernichtungsmethode experimentell zu suchen. Von diesem Gesichtspunkt versteht sich auch das Urtheil Pettenkofer’s: „Es sei erst dann auf eine sichere Wirksamkeit der Desinfection zu rechnen, wenn man den Infectionsstoff und die Mittel, ihn unschädlich zu machen, näher kenne.“

Einstweilen hat man sich auf den Rath des eben genannten berühmten Epidemiologen mit einem Mittel zu helfen gewußt, welches vielleicht der älteste Desinfectionsstoff ist, den wir besitzen. Wenigstens benutzt Odysseus die schweflige Säure bereits (nach dem 22. Buche der „Odyssee“) und Ovid lehrt sie zur Desinfection der Schafe benutzen. Ihr neuerdings sehr gehobenes Ansehen besteht auf ihrer ebenfalls durch Versuche festgestellten Macht über die Bakterien des Milzbrandes. Auch soll nach Berichten schwedischer Aerzte die Cholera stets die in der Nähe von Schwefelbergwerken gelegenen Districte auffallend verschont haben. Die Entwickelung der schwefligen Säure aus verbrennendem Schwefel ist nicht bis zu dem Maße erforderlich, daß dadurch eine bleichende Wirkung (bei gefärbten Kleiderstoffen etc.) zu Stande kommt. Von anderer Seite ist eine trockene Hitze von über 120 Grad, wie sie in besonders dazu construirten eisernen Behältern hervorgebracht werden kann, als das beste Mittel, um Krankheitsstoffe in Betten, Decken, Kleidungsstücken zu zerstören, empfohlen worden. Trotz ihrer größeren Sicherheit wird im gewöhnlichen Grenzverkehr die trockne Hitze, zu deren Erzeugung stets besondere Apparate nothwendig sind, der schwefligen Säure ihrer leichteren Anwendbarkeit wegen nachstehen. Jeder etwas dicht gebaute Schuppen kann durch Abbrennen einer genügenden Schwefelmenge in eine Desinfectionsanstalt verwandelt werden, welche Tausende todbringender Pestkeime zerstört. Eine ältere französische Angabe behauptet, daß dieses Ergebniß auch durch das mehrstündige Eintauchen verdächtiger Gegenstände in Wasser erzielt werden könne; so erwünscht die Wirksamkeit eines so einfachen Verfahrens auch wäre, zweifelhaft erscheint sie der Thatsache gegenüber, daß auf die meisten Bakterienkeime das Wasser eher eine belebende als eine tödtende Wirkung ausübt. Wo es sich um dringende Maßregeln handelt, wird wohl stets das alte Radicalmittel des Hippokrates, das Feuer, seinen souverainen Rang behaupten. – –

[217] Das bisher Entwickelte bezeichnet den Standpunkt des Wissens und Könnens, auf welchem wir gegenwärtig der Pestfrage gegenüber stehen. Man sieht, daß wir in der Hauptsache vor einer Reihe offener Fragen angelangt sind, von deren ausreichender Beantwortung es abhängt, ob die Bewältigung des furchtbarsten Feindes, den das Menschenleben hat, endlich gelingen wird. So ist es wohlberechtigt, wenn wir mit ängstlicher Spannung der Berichte unserer abgesandten Commission harren. Erfahrene Mitglieder derselben berechneten die Zeit ihrer Abwesenheit auf fünfundzwanzig Tage. Die letztere sind (seit dem 8. Februar) abgelaufen in einem Moment, in welchem factisch erst die ersten Materialien für jenen Bericht gesammelt werden. Hält man die Abgesandten auf, führt man sie irre? – so wird in der Presse bereits gefragt. Mit Sicherheit läßt sich nur antworten, daß die Abwesenheit der Commission nach Berechnung der ihr zudictirten Quarantänefristen reichlich noch einmal so lange dauern wird, wie ursprünglich vorgesehen war. Mag indeß immerhin die Gelassenheit der Mitglieder durch die Verzögerungen, ihre Widerstandsfähigkeit durch Wetter und Wege hart geprüft werden – was sie uns bringen, wird Wahrheit sein und unbeeinflußt von russischen „höheren Gewalten“. Wir Alle aber begegnen uns in dem Wunsche, die Besprechung des erhofften Berichtes möge die letzte Veranlassung sein, unseren traurigen Gegenstand aus der Liste der „allgemein interessanten Themata“ erscheinen zu lassen.

Dr. A. W.


Die Juister.
Von Heinrich Kruse.[2]


Norderney ist bewohnt von ehrlichen Fischern, die redlich
sich vom Fischen ernähren; drum liebt sie der heilige Petrus.
Gnädig gesinnt auch ist er den Leuten von Borkum, die fleißig
Ackern ihr fruchtbares Feld und mähen das Gras auf den Wiesen,
Salzig vom Hauche der See, ein leckeres Futter den Rindern.
Aber von sämmtlichen Inseln des friesischen Ufers ist Petrus
Eine verhaßt: das ist Juist! Juist ist nur Dünen und Flugsand,
Rings von gefährlichen Bänken umringt, ein Schrecken der Schiffer.
Und die Bewohner von Juist sind räuberisch, lauernd auf Beute:
Wehe dem strandenden Schiff! Drum läßt sie der heilige Petrus
Nicht in den Himmel hinein; sie klopfen umsonst an die Pforte.
Einmal war es geschehen, daß Petrus schläfrig geworden
Oder wohl gar einnickte. Da sind zwei Juister gekommen
Und in den Himmel geschlüpft. Sie hielten zuerst sich bescheiden
Unter den Andern versteckt im hintersten Grunde und staunten
Alle den Glanz und die Herrlichkeit an. Doch wurden die Beiden
Bald schon dreister; es sind von Natur nun einmal die Juister
Grob und unverschämt. So begannen sie unter einander
Laut zu schwatzen und keck zu tadeln, was ihnen nicht anstand,
Meinten, es flögen die Engel im Himmel doch lange so leicht nicht
Wie am Strande von Juist die Regenpfeifer und Schwalben;
Denn sie hätten nur Flügel an beiden Schultern, es fehlte
Ihnen der Schwanz und der Schwung, und was sie noch schwätzten in Einfalt.
Nun, es verdroß nicht wenig den heiligen Paulus, Geschöpfe
Also meistern zu hören den Schöpfer. Er ging nach der Thüre,
Und dort frug er den Hüter: „Was sind das, Petrus, für Leute,
Die sich so unnütz machen? Was sind das für grobe Gesellen?“
„Das sind Leute von Juist. Ich weiß nicht, wie sie es machten,
Um in den Himmel zu kommen, wohin sie so wenig gehören,
Wie ein Schwein in ein jüdisches Haus,“ antwortete Petrus.
„Nun, so wirf sie doch wieder hinaus!“ „Nein, Lieber, das geht nicht.
Unser himmlischer Vater ist so grundgütig; wenn einmal
Wer in den Himmel gelangt, hat Gott mir geboten, ich soll ihn
Nicht mit Gewalt austreiben, und, siehst Du, sie gehen von selbst nicht
Wieder zur Pforte hinaus.“ „Ei nun, das will ich doch sehen!
Für ein Völkchen wie dies, ist der wahre Himmel der Strandraub.“
Also versetzte darauf der heilige Paulus und legte
Sich zum Fenster hinaus, als ob da draußen was los sei.
„Schiff am Strande!“ so rief er mit dröhnender Stimme. Die Juister
Hörten sobald nicht den Ruf, so liefen sie rasch aus der Thüre,
Wie auf Juist sie gewohnt, wenn „Schiff am Strande!“ geschrie’n wird.
Rasch schloß Petrus die Thür und rief: „Ihr kömmt mir nicht wieder.“




Deutsches Frauenleben im Mittelalter.
Eine culturhistorische Studie von Fr. Helbig.

9. Im Dienst des Himmels. – Gottesminne, Kreuzfahrt und Wunderglauben.


Pater Berthold von Regensburg rühmt den Frauen, denen er sonst nicht eben gewogen ist, nach, daß sie eher in’s Himmelreich kämen als die Männer, denn sie wären barmherzig und gingen lieber zur Kirche, zu Gebet und Ablaß und sprächen eher Gebete als die Männer. In der That entrichtete die Frau des deutschen Mittelalters täglich zweimal ihren Zoll der Kirche. Am Morgen um die neunte Stunde schritt sie an der Seite des Mannes zur Messe; am Abend folgte sie wiederum fromm dem Läuten der Vesperglocke. Die Mette war Frauenkirche; Mannesschritte führten nur selten zu ihr. Aber auch zu jener Zeit wurde für die Frau dieses Kirchengehen zuletzt so sehr Sache der Gewohnheit und Mode, daß alle Innerlichkeit dabei verloren ging. So deckte der genannte geistliche Eiferer auch wieder die Kehrseite seines eben gehörten Lobes schonungslos auf: „Sie sprechen in den Kirchen wie auf einem Jahrmarkte hin und her, was Jeglicher gesehen in fremden Landen, auf dem Meere oder der Romfahrt oder zu Sanct Jacob, und die Frauen lassen ihren Mund nie still stehen vor unnützem Gespräche.“

Gleichwohl wußte die Kirche, welch ein Schatz ihr im Frauenherzen ruhte. Sie verlieh nicht umsonst dem schöne Geschlechte die höchste Weihe in dem Cultus der Jungfrau Maria, der Mutter Gottes, der Königin des Himmels. Diese wurde der Frau, der Jungfrau zugleich zum leuchtenden Muster und Vorbild, und kirchliche und weltliche Dichter werden nicht müde, den Preis ihres Ruhmes in hohen Tönen zu verkünden. „Du lichte Rose ohne Dorn, wie Sonnenglanz so klar, hochschwellend Meer der Gnade, ganzer Tugend durchlauchtiger Sonnenschein, ewig unerschöpfter Hort der Gnade“ – also singt und klingt es von ihr.

Auch für die Entbehrung irdischer Liebe bot die Kirche der Jungfrau im Kloster Ersatz. Dort wartete ihrer das „himmlische Rosenlager ihres Bräutigams Christus“, um in der Sprache der Kirche zu reden, welche die Formeln der Verehrung hier vom weltliche Minnedienste entlehnte. Der Gedanke der Bräutigamschaft Christi war ein so geläufiger, daß er sich auch plastisch kund gab. So stellt ein im Germanischen Museum aufbewahrter Altarschrein die Verlobung der heiligen Katharina von Siena mit dem Christuskinde dar. Konnte somit das erregte jungfräuliche Gemüth für das ihm in der Wirklichkeit Versagte im freien zwanglosen Reiche der Phantasie, wo sich Himmel und Erde bunt vermengten, idealen Ersatz finden, so füllte andererseits auch die der Kirche verlobte Frau die Muße ihres klösterlichen Stilllebens vielfach in realer und nützlicher Weise aus. Wir trafen sie im Laufe unserer Darstellung schon als Lehrerin der Mädchen, denen sie Unterricht in Lesen und Latein gab. So finden wir sie aber selbst auch emsig am Schreibtisch sitzen und mit geschwärzten Fingern das in Rauch getrocknete Schreibrohr, das sie vorher mit einem Messer fein zugespitzt und mit Bimsstein geglättet hat, über die pergamentene Fläche führen, um eine alte Heiligenlegende aus einem Buche zu copiren, das, um nicht gestohlen zu werden, an einer Kette verschlossen liegt. Von Zeit zu Zeit taucht sie den Rohrgriffel in ein Näpfchen mit rothem Mennig, um die schwarzen mit rothen Buchstaben abwechseln zu lassen. Entlang der große Initialbuchstaben legt sie durch Anwendung eines heißen Eisens glatte Goldblättchen, wenn sie nicht blos Goldtinctur mit dem Pinsel aufstreichen mag. Auch fügt sie in die Innenräume der großen Buchstaben die zierlichsten Miniaturgemälde, oder schneidet in die Lederfläche des Bucheinbands [218] die Figuren des heiligen Augustin und der heiligen Monica. Aber auch rein fraulicher Thätigkeit blieb sie nicht fern. Von der Anfertigung der schlichten Gewänder für sich und die Mönche des Nachbarklosters erhob sie sich bis zur Gestaltung jener kunstvollen Gewebe und Stickereien, deren wir bereits früher gedachten. Nur bewegten sich ihre Vorlagen dabei fast lediglich auf dem kirchlichen Gebiete. Sie webte und stickte Meßgewänder, Altardecken, Rücklaken für die Kirchenstühle, Kelchdecken und Processionsfahnen. Die Weberei wurde mit der Zeit in den Klöstern sogar fabrikmäßig und auf Bestellung der Laienwelt betrieben, sodaß sich nach Einführung der Zunftverfassung die Zunft der Bild- und Wappensticker in Köln gegen die Concurrenz der Nonnenklöster beschwerte.

Uebrigens warb auch die profane Frau des Mittelalters durch solche Arbeiten um die Gunst der Kirche. Das Größte in dieser Richtung leistete die Gemahlin Wilhelm’s des Eroberers, Mathilde. Sie beschenkte die Kathedrale von Bayeux mit einer Leinwandstickerei in der Länge von 211 Schuh, welche in 72 verschiedenen Scenen und mit 350 Figuren den ganzen Verlauf der Eroberung Englands durch die Normannen im Jahre 1066 zur Erscheinung brachte. Der Teppich ist noch vorhanden. Der Regel nach bewegten sich die bildlichen Vorlagen der Gewebe auf kirchlichem Gebiete. So bewahrt der Domschatz zu Bamberg eine mit Gold auf Purpur gestickte Geschichte des Erlösers, während unser deutsches Nationalmuseum einen großen 1,47 Meter langen und 2,42 Meter hohen Teppich mit der Darstellung des jüngsten Gerichts besitzt. Wir sehen da Christus auf dem Regenbogen sitzend, Schwert und Lilie im Munde, darunter Maria und Johannes den Täufer; zur Seite vier Engel mit den Werkzeugen der Passion. Zwei Engel unter seinen Füßen verkünden mit Posaunen den sich aus ihren Gräbern erhebende Seelen die Auferstehung.

Die uns erhaltene Abbildung einer Nonnenzelle – im Germanischen Museum – zeigt dieselbe als ziemlich wohnlich. Die Nonne liegt bekleidet auf dem Bette. Vor demselben befindet sich ein Schemel und eine Bank; darauf ein Krug mit Glas, ein Teller mit Brod. An der Wand hängt eine Uhr. Auf einer durchbrochenen Wandconsole steht ein kleiner Altarschrein, zu beiden Seiten zwei Heiligenfiguren. Das Gewand der Nonne bestand aus Wollenstoff, der für geringer galt als Leinwand. Da sie gleichsam ihre Jungfräulichkeit der Kirche geopfert hatte, hüllte sie, wie die verheirathete Frau, das Gesicht in das Gebände (weiße Kinn- und Kopfbinden) und barg das kurzgeschnittene Haar unter der Nonnenhaube. Statt des Gürtels trug sie einen Strick, von dem statt Scheere und Schlüsselbund der Rosenkranz herniederhing.

Im Gegensatze zu der weltlichen Minne nannte man die Werbung um die Gnade des Himmels Gottesminne, indem man auch hier wieder das Sinnliche zu dem Geistigen in Parallele setzte. Zu ihr wandte sich aber nicht blos die Frau, sondern auch der Mann, der um Frauenliebe vergebens warb oder ihrer satt und überdrüssig geworden war, vornehmlich der Sänger, der für seine Minnelieder kein gläubig Ohr mehr fand. Wie einst eine minnigliche Maid, so feierte er jetzt in überschwänglicher Wonne „siebenstündig des Tages“ den süßen Herzgesellen, den „makellosen Minnekaiser“, und die Frau aller Frauen. Von ihr, der Gottesminne, singt Walter von der Vogelweide, der in späten Tagen ganz sich ihr zugewandt:

Wer Gottes Minne will erjagen,
Der muß ein jagendes Herze tragen;
Er muß auch Heldenkräfte han
Und veste stahn.
Ringen, Streiten – die beiden,
Die muß er haben Nacht und Tag,
Nach der geweihten Minne.
Schlafend sie keiner fangen mag;
Man muß sie zwingen in den Hag,
Kräftig strack,
Mit reinem, starkem Sinne.

Am gewaltigsten trat die durch die Kirche beeinflußte Macht über die Frau hervor in den Kreuzzügen. Die Ritter zogen zumeist nicht gern und freien Antriebs in’s gelobte Land, und die Kirche suchte vielfach vergebens sie dafür zu begeistern. Da wandte sie sich an die Frau, und mit der siegenden Macht des Herzens trieb diese den zögernden Gatten oder Geliebten unter das Banner des Kreuzes. In schwacher unbewehrter Stunde hatte er ihr das Gelübde geleistet, und nun mußte er nach Hartmann von Aue’s eigenem Geständnisse „in die ungewisse Ferne ziehn, den Schwur und Gelübde mochte er nicht brechen“. Andere trieb wohl auch die Wehmuth des Herzens über versagte Gunst dahin, wie den Minnesänger Friedrich von Hausen. Er meinte, durch seine That die Sprödigkeit der Geliebten zu brechen, „der Treue damit zu ihrem Lohne zu verhelfen – und sah sich bitter getäuscht.“ Niemand durfte es ihm da wohl verdenken, wenn er nun haßte, die er eh’ geminnt. Mancher meinte wohl auch, er werde auf dem fremden fernen Boden die Liebe, die ihm mit so viel Leid gelohnt, vergessen. In anderer Weise empfand es aber auch die daheimbleibende Frau schmerzlich, wenn der Mann dem Drange der Zeit und des Gewissens nachgab und dem Zuge der Kreuzfahrer sich anschloß. „Wie willst Du,“ läßt ihre Seelenangst sie fragen, „zweierlei vereinen, über das Meer fahren und auch hier sein? Du lösest Dich von meinem Herzen, wie willst Du Dir das Deine bewahren?“ Und diese fragende Angst war in vielen Fällen keine blos geträumte. Es war nicht blos die Nebenbuhlerschaft gluthsinnlicher Orientalinnen, welche die Bleibende zu fürchten hatte, auch in dem eigenen des Herrenschutzes ledigen Hause drohten ihr oft schwere Anfechtungen, und wenn ihre Treue sich auch standhaft erwies, umgarnte sie neidzüngige Verleumdung. Falsche Zungen standen gedungen wider sie auf und fanden Gehör bei dem heimkehrenden Gatten, der ihre Treue nun mit Verstoßung lohnte, bis Jahre herben schuldlosen Leides der Wahrheit zum letzten Siege verhalfen. Wenn sie aber auch nicht in solche Fahrniß gerieth, dann kamen doch immer über die einsam in der Heimath Gebliebene Stunde bitteren Wehs, „wenn sie stille denkt an seine Noth, und stumm sich fragt: Lebt mein Herzlieb oder ist er todt?“ „O, möge der um ihn sorgen,“ tröstet sie dann wohl ihr gläubig Gemüth, „für den sein süßes Leben dieser Welt entsagt hat.“ Alle heimkehrenden Pilger und Mannen forscht sie ängstlich aus nach dem Entfernten. Sie erzählen ihr, wie der Armselige in heidnischer Gefangenschaft schmachte und vergebens auf Lösegeld warte. Da nimmt sie den bewahrten Schatz aus der Truhe, borgt sich das Kleid eines fahrenden Spielmanns, und mit beklommenem Herzen an den Thoren der Burgen heitere Weisen zur Laute singend, zieht sie den weiten Weg gen Osten. Sehnsucht und Liebe machen sie muthig und stark und geben ihr das Geleite, bis sie den Geliebten findet und dem Herzen neu erwirbt. Oft auch kommt zu ihr die Märe von des Gatten Tode, und da Jahre schon dahin gegangen, ohne daß sie Kunde und Wissenschaft von dem Geschiedenen erhielt, leiht sie zuletzt willig das Ohr erneuter Werbung. Da mischt sich am Hochzeitstage der Todtgeglaubte unerkannt unter die Hochzeitsgäste; sie erkennt ihn beim Willkommtrunk an dem Trauring, den er heimlich in den Pokal fallen ließ, und in letzter Stunde noch wehrt er von ihrem Haupte die schon beschlossene Sünde.

War die Frau die Hauptträgerin des kirchlichen Lebens, so war sie nicht minder auch die Wahrerin der Legende und des Aberglaubens und seiner oft von Gemüth und Poesie geadelten Gebräuche. Schweigend schöpft sie in der heiligen Osternacht das fließende Wasser in den Krug, um ihre Schönheit vor Vergänglichkeit zu wahren, läßt in geheimnißvoller Johannisnacht, in welcher alle Geister in’s Wachen kommen, die zwischen Erde und Himmel schlafen, die sehnsuchtgetragene Frage nach der Person ihres künftigen Gatten und der Zeit laut werden, wo er ihr den Brautkranz in’s blonde Haar flicht, sieht im Dunkel des Winterabends die wirthliche Frau Holle an’s Fenster klopfen und drohend den Finger heben wider die lässige Spinnerin, deren Rocken nah vor Weihnacht noch nicht abgesponnen ist, und ihre Augen schauen allein vor allen anderen, wie in der heiligen Weihnacht die Bäume um eine Stunde lang Blüthen tragen. Allen Heiligen des Kalenders läßt sie ihr Feiertagsrecht widerfahren und vertieft sich theilnehmend in ihr Leben und ihr Schicksal. In das gläubige Herz des Kindes aber versenkt sie die holde Wunderwelt des Märchens und der Sage.

Freilich die Kraft der Weissagung, die ihrer Seele einst in den Zeiten Odin’s und der Freya innewohnte, ist ihr jetzt verloren gegangen, aber einen Schatz hat sie aus jener alten düstern Zeit noch gerettet: das ist die Kenntniß heilbringender Kräuter und wundenschließender Salben. Sie weiß das Blut zu stillen, das Fieber zu kühlen und den vom Frost Erkälteten durch heißen Theriak gesund zu machen.

[219]

10. In Schmerz und Trauer. – Letzte Rast.

„Mit dem Tode des Mannes erlischt die Sonne der Frau. Wer durch die Liebe gelebt, soll freudig durch die Liebe sterben.“ Also gebot eine alte düstere Satzung der Frau, dem Gatten in den Tod zu folgen, und die Sage weiß von Frauen zu erzählen, die diesen Brauch ehrten. Ebenso wehrten sich auch Gesetz und Sitte lange Zeit gegen die Aufgabe des Wittwenthums der Frau, gegen die Erneuerung der Liebe in zweiter Ehe, denn tief eingewurzelt in der Brust des Germanen war das Gefühl der Treue. Nur um den Gewinn der Rache wider die Mörder ihres ersten Gemahls folgte Chriemhild dem neuen Werber. Die Anschauungen der Zeit wurden indeß milder; das weltliche Verbot schwieg; nur die Kirche wollte lange solcher Nachsicht sich nicht beugen; dreißig Tage – so gebot die Sitte – sollte die Wittwe allein im Hause trauern und in dieser Zeit kein fremdes Gesicht schauen. Dann durfte sie ihre Gespielinnen und Nachbarinnen empfangen und nach zwölfmaligem Wechsel des Mondes dem Freier wieder die Thür öffnen.

Tief erschütternd sind die Ausbrüche des Schmerzes der verwaisten Frau beim Tode des Mannes wiedergegeben in den Gesängen der Dichter. Als der im Kampfe schwer verwundete Erec einem Todten gleich vom Rosse fällt, wirft sich Frau Enite über ihn, küßt ihn, schlägt heftig die Brust, küßt ihn wieder und schreit laut auf vor Weh. „Auf riß sie manche schöne Flechte; an ihrem Leibe sie sich rächte nach aller Frauen Art.“ Dann fleht sie in heißem inbrünstigem Gebete zum Himmel, daß er den Gemahl rette:

„Trenne, Herr, uns nicht
Weil über mich sonst bricht
Von dir rechtwidrige Gewalt!
Ist dein Erbarmen mannigfalt,
So hilf auch mir zum Tode hier,
Damit sich also scheide
Nicht unser Körper auf zwei Wegen.“

Vom Herzeleiden der Gemahlin Gemuret’s wird im „Parcival“ erzählt, daß, als sie den jähen Tod des jungen Gatten, von dem sie ein Kind unter dem Herzen trug, erfuhr, sie ganzer achtzehn Wochen lang in Ohnmacht mit dem Tode rang. Dann durch Hülfe eines weisen Mannes zum Leben zurückgebracht, erhebt sie laute Wehklage: „Wo ist,“ ruft sie, „wohin kam mein Trauter? Soll ich nun alle Freude missen? Ich bin ihm Mutter jetzt und Weib, und leide so zwiefachen Kummer.“ Sie betet innigst zu Gott, daß er die Frucht ihrer Liebe rette, und läßt sich des Gatten blutgetränktes, im Kampfe ganz zerschlissenes Hemd bringen; nur mühsam kann man ihrem Beginnen wehren, es selbst anzulegen, um es beständig vor Augen zu haben.

Auch Chriemhilde sank, als sie den Gatten erschlagen vor ihrer Kammerthür liegen sah, lautlos und ohnmächtig zu Boden, dann schrie sie laut auf, daß rings das Gemach erscholl und ihr das Blut vor Herzensjammer aus dem Munde brach. Und als der Todte auf der Bahre im Münster liegt, will sie nicht zugeben, daß man ihn begrabe. Drei Tage und drei Nächte, heischt sie, soll er noch über der Gruft stehen. So lange will sie bei ihm bleiben und seinen Anblick genießen.

War die Ehe kinderlos, so mußte altdeutschem Rechte zufolge die Frau nach dem Tode des Mannes aus dessen Geschlechte und dem Gute scheiden. Sie kehrte wieder in das eigene Geschlecht zurück. Um sich von der Verpflichtung zur Uebernahme der in und vor der Ehe gewirkten Schulden des Mannes zu lösen, sollte sie nach Vorschrift der alten Weisthümer Schlüssel, Gürtel oder Mantel auf das Grab legen, um damit symbolisch anzudeuten, daß sie von des Mannes Gemeinschaft und Verantwortung scheide. War ihre Ehe eine gesegnete gewesen, so blieb sie in des Mannes Geschlechte, genoß dessen Schutz und stand unter dessen Herrschaft.

Und wenn die Frau selbst nun den Weg antrat zur letzten Rast, so war es in alten Zeiten nur ein roh aus einem Baumstamm gezimmerter Sarg, in den ihre irdischen Gebeine sich senkten. Mit der Zeit wurde auch diese letzte Wohnung kostbarer und kunstvoller. Wer nur irgend durch Wohlhabenheit und Geburt hervorragte, hatte für sich und sein Geschlecht ein umschlossenes Plätzchen in der Krypte eines Klosters oder unter den Steinfließen einer Kirche erworben. Rührend schön war der Brauch, daß die, so im Leben Freud und Leid mit einander getragen, nun auch im Tode an gemeinsamer Stätte ruhten. Zahlreiche Inschriften, geschmückt mit den Bildnissen beider Gatten, geben uns Zeugniß von dieser im Steine noch lange fortlebenden Liebe.


So stehen wir denn am Schluß unserer Schilderungen. Wir bekennen, daß wir darin vielfach nur die Lichtseiten des mittelalterlichen Lebens hervorgehoben haben und an den Schatten, deren keine Periode der geschichtlichen Entwickelung entbehrt, hie und da schweigend vorüber gegangen sind. Aber das möge uns nicht als eine kritiklose Parteinahme für eine längst überwundene Geschichtsperiode gedeutet werden! Nichts liegt uns ferner als eine unfruchtbare Propaganda für das Mittelalter und seine Zustände. Schon unser Glaube an den stetigen Fortschritt der Menschheit zum Guten und Besseren beschützt uns vor dem Wunsche, der Gegenwart das ganze Gepräge des Mittelalters wieder aufgedrückt zu sehen. Und doch möchten wir an der Frau der Gegenwart gern wieder das preisen können, was ihre Ahnin so besonders auszeichnete – Schlichtheit und Natürlichkeit, treue Hingabe an das Haus und seine Pflichten, strenge Grenzeinhaltung des Weiblichen!



Deutschlands große Industrie-Werkstätten.
Die Uhrenfabrikation von Glashütte.


In den südwestlichen Theilen der Schweiz heben sich bekanntlich die Cantone Genf und Neuenburg durch die hohe Blüthe ihrer großartig betriebenen Uhrenfabrikation hervor. Eine unbestreitbare Thatsache ist es, daß die Bevölkerungen hier wohlhabend geworden sind durch die regsame Thätigkeit, welche sie auf diesem Gebiete entfalten, und durch den rüstigen Geschäftseifer, mit dem sie ihre Fabrikate auf der ganzen Erde zu verbreiten wissen. Solche glänzende Erfolge mußten natürlich auch auswärts die Aufmerksamkeit der Regierungen erregen, und auch in Deutschland hat es an sehr kostspieligen Bemühungen nicht gefehlt, den betreffenden Industriezweig hier und dort anzusiedeln. Den Opfern entsprach jedoch der Erfolg nur wenig, da es dazu meist an unternehmenden und geschickten Männern, namentlich aber an der zu solchen Zwecken durchaus erforderlichen Zähigkeit der Ausdauer fehlte. Um so mehr ist es an der Zeit, von einem deutschen Unternehmen dieser Art zu sprechen, das seit längerer Zeit als ein wirklich gelungenes bezeichnet werden muß, gelungen durch die außerordentlichen, unermüdlich rastlosen Anstrengungen eines ebenso bedeutenden wie menschenfreundlichen Mannes, der denn auch am Ende seiner Tage die hohe Freude erlebte, seinem Fabrikate den Weltruf gesichert zu sehen. Einiges Nähere von ihm, seinem Lebenswege und Unternehmen zu hören wird sicher dem Leser nicht unwillkommen sein.

Ferdinand Adolf Lange – so hieß der nach Person und Firma in weiten Kreisen bekannt gewordene Mann – ist am 18. Februar 1815 als Sohn eines armen Büchsenmachers in Dresden geboren worden. Der Vater hielt ihn früh schon zu mechanischer Thätigkeit an, verbitterte aber seine Kindheit durch die unmäßige Strenge eines eisenharten Charakters, unter dem auch die sanft geartete Mutter so schwer zu leiden hatte, daß sie endlich von dem rauhen Gatten sich trennen mußte. Mit ihr verließ der unglückliche Knabe das väterliche Haus. Sein Unterricht blieb unter diesen Verhältnissen ein sehr lückenhafter. Fremde Leute, die sich liebreich seiner annahmen, brachten ihn nach seinem Abgange von der Schule zu dem Hofuhrmacher Gutkäs in die Lehre, der damals nicht blos in Dresden, sondern über die Grenzen Sachsens hinaus sich einen guten Ruf in seiner Kunst erworben hatte. Zugleich besuchte der strebsame Lehrling zur Ergänzung seiner mangelhaften Kenntnisse die damals noch in ihren Anfängen stehende polytechnische Schule in Dresden und erwarb sich durch außerordentlichen Fleiß und energische Beharrlichkeit eine für seinen Stand sehr tüchtige und vielseitige Bildung.

Auch außerhalb der hier in Betracht kommenden Fachkreise ist es wohl bekannt, daß die englische Regierung und die französische Akademie auf die Verfertigung guter, richtig gehender

[220] Uhren, besonders Schiffsuhren (Chronometer), mehrfach sehr hohe Preise ausgesetzt haben, und daß dadurch eine Anzahl geschickter Chronometermacher in London und Paris veranlaßt wurden, sich mit der Vervollkommnung dieser Uhren zu beschäftigen. Wir nennen nur Harrison, Kendal, Mudge, Emery, Dent und Frodsham in London neben Le Roi, Berthoud, Breguet und Winnerl in Paris. Wer sich daher in diesem Industriezweige gründlich ausbilden wollte, mußte nach den Werkstätten der bezeichneten Künstler eilen, und so suchte und fand denn auch Lange ein Engagement bei Winnerl in Paris, wo er sich durch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und sein Talent im Construiren sehr bald den Platz eines Werkführers errang. Trotz der verlockenden Anerbietungen von Seiten seines Chefs blieb der junge Deutsche nur vier Jahre[WS 1] in Paris; dann kehrte er nach Dresden zurück, verheiratete sich mit der Tochter seines früheren Lehrherrn und trat als Theilhaber in das Geschäft desselben. Zur Aufgabe stellte er sich von jetzt ab die Anfertigung von astronomischen Pendeluhren nach eigener Construction, von Chronometern und verschiedenen complicirten Uhren. Und die Producte seiner Arbeit in diesem Zweige waren so vorzüglich, daß sie auf verschiedenen Ausstellungen stets die ersten Preise erhielten und noch heute in so manchen Sternwarten zu den wertvollsten Instrumenten gerechnet werden.

Ferdinand Adolf Lange.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Unter den Regierungen, welche damals von dem Wunsche beseelt waren, die Uhrenindustrie in ihre Länder zu verpflanzen, zeichnete sich namentlich die preußische durch die in Schlesien nach dieser Richtung hin gemachten Versuche aus. Zu einer nennenswerten Concurrenz mit den Schweizern kam es allerdings dabei nicht, bemerkt aber muß doch werden, daß von diesen schlesischen Werkstätten Anstöße zu der Fabrikation größerer Uhren gegeben wurden, der jetzt so sehr beliebten Regulatoren. Auch unser Lange, der ein guter deutscher Patriot war, beschäftigte sich jetzt im Geiste viel mit der ihm so naheliegenden vaterländischen Industriefrage. Ein trübes Verhängniß in seiner engeren sächsischen Heimath brachte endlich seine Pläne zur Reife. In den übervölkerten Bezirken des sächsischen Erzgebirges, namentlich in dem Müglitzthale, war am Anfang der Vierziger Jahre ein bitterer Nothstand ausgebrochen, und die Schilderungen des dort herrschenden Elends erschütterten das theilnehmende Herz des Dresdener Uhrmachers, der sich wohl erinnern mochte, wie er selber einst so arm gewesen und nur durch Lehre und Anleitung auf einen glücklicheren Weg geführt worden war. Sollte die Kunst, welche ihm selber geholfen, nicht auch einen Theil seiner herkömmlich bei der uneinträglichen Weberei und Strohflechterei verharrenden Gebirgsbewohner retten können? Und je mehr er darüber nachdachte, um so klarer wurde es ihm, daß es der nachdrücklichen und ausdauernden Willenskraft eines Fachmannes möglich werden müsse, die Fabrikation von Taschenuhren im Erzgebirge heimisch zu machen und dadurch zugleich dem deutschen Gewerbfleiße ein neues und großes Thätigkeitsfeld zu eröffnen.

Zunächst legte er seine Pläne der Landesregierung dar, und diese ging sofort auf seinen Vorschlag ein, daß mit ihrer Unterstützung eine Lehranstalt für Uhrmacher errichtet werden solle. In Glashütte, bis dahin einem der ärmsten Städtchen des Gebirges, trat gegen Ende des Jahres 1845 diese Anstalt in’s Leben, und es wurden in ihr nach und nach dreißig Schüler und zwei Schülerinnen herangebildet. Die Anlernung war eine der schwierigsten Aufgaben, und rings umher schüttelten Viele spöttisch den Kopf über das vermeintliche Wahngebilde, mit diesen unwissenden, schlaffen und mannigfach verwahrlosten jungen Leuten ein so schwieriges Werk beginnen zu wollen. Der thatkräftige Lange aber ließ sich dadurch nicht irre machen, und er hat Recht behalten. Gerade mit diesen jungen Leuten hat er seine besten Erfolge erzielt. Was sind aus ihnen für tüchtige strebsame Meister geworden! Sämmtlich Familienväter und Bürger, bilden sie den Stamm der Fabrik, die jetzt aus vielen in der Stadt zerstreuten kleinen Werkstätten und aus 160 Köpfen besteht.

Lange, immer ausgehend von dem Princip, Neues, Originelles, in jeder Weise Gediegenes zu schaffen und dabei alle Fortschritte der Kunst und Wissenschaft zu nützen, begann auch in seiner Schule gleich mit neuen Methoden, indem er zahlreiche Maschinen und Hülfsmaschinen zur Herstellung der einzelnen Bestandteile der Uhren bauen ließ, wobei die Schüler also mit den Maschinen sehr vertraut wurden und sie nach der Vollendung gleich anzuwenden wußten. Wir führen hier die einzelnen neuen Maschinen, zum Theil seine Erfindungen, nicht auf, weil dies nur für Fachleute Interesse haben würde, aber erwähnt muß doch werden, daß Lange schon vor dreißig Jahren den unvollkommen arbeitenden Drehbogen ganz beseitigte und selbst die feinsten Theile der Uhr, wie die Zapfen der Triebe und der sogenannten Unruhe, mit einem durch die Hand bewegbaren Schwungrädchen drehte und vollendete.

Um die einzelnen Theile der Uhren sofort so herzustellen, daß sie genau in einander passen, war vor Allem die Zurückführung auf ein und dasselbe Maß nöthig, und Lange’s Aufenthalt in Frankreich hat sicher dazu beigetragen, daß dieser in der Uhrenindustrie als Maßeinheit für die Größe der einzelnen Theile das Millimeter wählte und durch von ihm neu erfundene Fühlhebel-Apparate Zehntel- und Hundertstel-Millimeter genau abmaß. An der damals bestehenden Zusammenarbeitung der Uhren selbst nahm er wesentliche Veränderungen vor, so z. B. richtete er sein Hauptaugenmerk darauf, daß die Eingriffe der Räder in einander theoretisch richtig, sicher und solid und dabei einfach und ohne alle unnöthige Künstelei waren.

Die Vortheile der Arbeitstheilung erkannte er bereits, und wenn auch die ersten Schüler die Herstellung aller einzelnen Theile der Uhr kennen lernten, so wurden sie doch später mehr für die Anfertigung einzelner Theile ausgebildet. Solche Schüler veranlaßte er dann zur Gründung eigener kleiner Werkstätten, in welchen dieselben wiederum neue Kräfte anlernten; es wurde so für weitere Ausdehnung der Fabrikation gesorgt. Diese in der ganzen Stadt Glashütte zerstreuten Werkstätten bilden, wie wir bereits oben bemerken, noch heute den eigentliche Stamm der Fabrik. Ja, Lange ging sogar so weit, einige seiner Schüler von sich ganz unabhängig zu machen, und veranlaßte die besten, selbstständig Werkstätten für die ganze Uhrenfabrikation anzulegen, sodaß gegenwärtig außer der Hauptfabrik von Lange und Söhne noch Fabriken von Großmann, Schneider und Aßmann in Glashütte existiren. In neuerer Zeit hat sich auch daselbst, gestützt auf die dort vorgefundenen Einrichtungen und

[221]

Glashütte im sächsischen Erzgebirge.
Nach der Natur aufgenommen von Franz Schreyer.

[222] Arbeitskräfte, eine Firma Straßer und Rhode etablirt, die sich vorzugsweise mit Herstellung von Rechenmaschinen eigener Construction, Meßinstrumenten aller Art etc. beschäftigt.

Durch den Eintritt der Söhne in das Lange’sche Geschäft konnte dasselbe eine größere Ausdehnung gewinnen, und es ist so der Neubau eines geeigneten Geschäftshauses nöthig geworden, dessen stattliche Außenseite wir unseren Lesern in einer Abbildung vorführen. In den Parterrelocalitäten dieses Hauses befindet sich außer einer kleinen mechanischen Werkstätte, in welcher Maschinentheile angefertigt werden, eine zum Etablissement gehörige Gehäusewerkstatt, welche den größten Theil der in verschiedensten Formen und Decorationen ausgeführte goldenen und silbernen Gehäuse zu den Uhrenwerken liefert und als die einzige Gehäusefabrik im Orte auch teilweise für die anderen Firmen arbeitet. In den oberen Räumen wird ausschließlich die Zusammensetzung der Uhren hergestellt, ihre Vollendung und die genaue Regulirung bewirkt. Denn jede fertige Uhr wird in Glashütte der allersorgfältigsten Durchsicht und Prüfung unterworfen, und keine einzige geht aus dem Hause, ohne daß sie vorher längere Zeit in verschiedenen Lagen und Temperaturen untersucht wurde. Ganz oben in dem Fabrikgebäude befindet sich auch eine Thurmuhr, welche noch von unserm Lange selbst construirt worden ist und deren 10 Meter langes Pendel mit einem Gewichte von über 125 Kilogramm in einem Schornstein sich befindet, der, im Innern des Hauses eingeschlossen, möglichst gleiche Temperatur hält und so den normalen Gang der Uhr herbeiführt.

Auf schwerem und arbeitsvollem Wege hat Lange durch seine Geschicklichkeit und sein wissenschaftliches Streben und Ringen seinen deutschen Uhren nach und nach eine solche Vollkommenheit gegeben, daß diese sich nicht blos den besten schweizer Uhren ebenbürtig an die Seite stellen können, sondern daß die Lange’schen Verbesserungen vielfach im Auslande als mustergültig anerkannt und nachgeahmt worden sind. Diese deutschen Uhren haben daher auch mit Recht auf allen Ausstellungen die ersten Preise erhalten; sie genießen einen Weltruf, sind in Amerika weit verbreitet und finden auch immer mehr Anerkennung in der Heimath und im deutschen Reiche, je mehr die Vortrefflichkeit des heimlichen Products in Bezug auf Solidität, Zuverlässigkeit und äußere Eleganz bekannt wird.

Außer den meisten feinen Remontoiruhren der verschiedensten Größe werden in Glashütte auch complicirte Stücke, Uhren mit Datumzeiger, Chronographen, Uhren mit springender Secunde, mit Repetition etc., gebaut. Der regelmäßige Gang der Uhren ist vielfach geprüft, und die vorzüglichsten werden öfter auf der Sternwarte in Leipzig verglichen und mit einem Zeugniß versehen, welches über den Gang genaue Auskunft giebt. Die Zahl der jährlich in Glashütte angefertigten Uhren beträgt etwa tausendzweihundert[WS 2], wovon ungefähr zwei Drittel die Fabrik von A. Lange und Söhne liefert. In jüngster Zeit ist ein Lieblingswunsch Lange’s in Erfüllung gegangen, indem in Glashütte mit Unterstützung der Regierung und der deutschen Uhrmachervereine eine allgemeine Uhrmacherschule gegründet worden ist, welche zur weiteren Entwickelung dieser Industrie wesentlich beizutragen verspricht. All dieses rege und schwungvoll bewegte, dieses fruchtbar und segensreich sich entwickelnde Leben aber fesselt besonders dadurch unsere Aufmerksamkeit, daß es aus dem Nichts hervorgezaubert, auf gänzlich öder und armer Stätte in’s Leben gerufen wurde durch den Gedanken, das Talent und die Willenskraft eines einzigen Mannes, dem für sein Gründen, Lehren und Wirken keine irgendwie ebenbürtige Kraft zur Seite gestanden hat.

Was den sonstigen Charakter Lange’s betrifft, so stimmen alle Urteile dahin überein, daß er nicht allein ein streng gewissenhafter Arbeiter und Geschäftsmann, sondern auch ein guter und wohlwollender Mensch und ein pflichteifriger Bürger gewesen ist. Die Bewohner der Stadt Glashütte, deren Wohltäter er geworden, hingen mit unbegrenztem Vertrauen an ihm. Achtzehn Jahre hat er das Bürgermeisteramt der Stadt verwaltet und als erwählter Abgeordneter den Kreis auch ehrenvoll im sächsischen Landtage vertreten. Leider war es ihm vom Schicksal nicht vergönnt worden, die Früchte seiner Wirksamkeit noch längere Zeit zu genießen. Kaum waren für ihn nach Jahrzehnten voll unablässiger Mühen und Sorgen einige Jahre größerer Ruhe eingetreten, als er am 5. December 1875 durch einen plötzlichen Tod hinweggenommen wurde. Sein Name aber glänzt in seiner fröhlich erblühten Schöpfung fort, und das deutsche Volk erfüllt nur eine Pflicht, wenn es den schlichten Uhrmacher von Glashütte in die Reihe der Todten stellt, denen es für erhebliche Verdienste um das gesammte Vaterland ein dankbares Andenken zu widmen hat.

Karl Bruhns.

  1. Vorlage: ein Jahr, siehe Berichtigung
  2. Vorlage: zwölftausend, Berichtigung


Blätter und Blüthen.

Das Unglück von Szegedin. Die tausendjährige Erfahrung des Menschengeschlechts, daß die Segensfülle der Natur verdient sein muß, wenn sie nicht in Fluch sich verkehren soll, ist von Millionen noch nicht verstanden oder beachtet, und so sehen wir auch jedes Jahr ganze Bevölkerungen im Kampfe gegen Naturgewalten unterliegen, weil sie versäumt haben, dieselben zur rechten Zeit in Fesseln zu legen, um sich in Tagen wilder Empörung ihrer erwehren zu können:

Denn die Elemente hassen
Das Gebild der Menschenhand.

Das schrecklichste der Elemente, wenn es seine Schranken durchbricht, ist das Wasser. War es doch eine Fluth, die Sintfluth – die deutsche Sprache verwandelte sie sehr sinnreich in eine Sündfluth – durch welche die Bibelsage die ersten Völker der Erde vertilgen läßt.

Arbeitsrüstige Völker an den Meeren und Strömen haben schon im Alterthum sich durch die Festungsmauern ihrer Dämme und Deiche gegen den Feind geschützt, der, wenn gebändigt, ihr bester Freund und Ernährer ist. Wo aber solche Vorsicht versäumt oder zu spät in Angriff genommen wurde, fällt nur allzuoft die furchtbare Strafe für die Schuld der Vorfahren auf die Häupter der Nachkommen. Ein solch erschütterndes Beispiel von Naturrache steht heute wieder in dem verheerten Szegedin vor unseren Augen.

Die Lage Szegedins, sowie die vieler anderen Städte an der Theiß und Maros, den beiden wasserreichen und gefahrdrohenden Strömen, an deren Zusammenfluß Szegedin liegt, hätte schon längst die äußerste Anstrengung zur Sicherung ihrer Existenz verdient. Die Theiß ist, wie auch die Maros (Marosch), ein Kind des Hochgebirgs, das, in den Waldkarpathen entsprungen, frisch und klar zwischen den Bergen dahinströmt, bis es die unendliche Ebene betritt; da wird die Theiß zum trägen, gefährlichen Schleicher, der den Schlamm seiner Ufer mit fortträgt und sie meilenweit in Sümpfe verwandelt. Allerdings sah man in neuester Zeit dem heimtückischen Treiben des gewaltigen Stromes nicht mehr unthätig zu; man hat nicht nur mit der Regulirung des Theißbettes begonnen, sondern es auch versucht, die Moräste der Ufer trocken zu legen und das anliegende Land gegen Ueberfluthungen zu sichern. Aber diese Arbeiten waren nicht weit genug gediehen, um Szegedin selbst zu schützen, ja, öffentliche Stimmen haben sogar dargethan, daß die oberhalb dieser Gegenden erbauten Dämme für die tiefer liegenden die Gefahr der Ueberschwemmung vergrößerten. Schon vor zehn Jahren ist der Stadt Szegedin ihr Schicksal verkündigt worden, wie es heute eingetroffen ist. Trotzalledem wollen wir uns nicht zu denen gesellen, welche jetzt, nach dem Unglück, die Häupter der Schuldigen suchen und ihnen das Urtheil sprechen. Das Unglück ist da, und Menschenpflicht ist es, mit allen Kräften zu helfen, damit die Folgen des furchtbaren Schicksals nach Möglichkeit gemildert werden.

Szegedin war eine Stadt von 10,000 „Gebäulichkeiten“, wie die Zeitungen es nennen, weil dazu auch viele kleine Häuser und Hinter- und Nebengebäude gehörten. Die Zahl der Bewohner belief sich nach der jüngsten Zählung (von 1875) auf 75,200. War auch in den fünf Vorstädten die Menge der kleinen Gebäude vorherrschend, so zeigte dagegen die innere Stadt in ihren breiten Straßen viele Neubauten von Geschmack und ansehnlicher Größe. Szegedin war nicht nur eine der berühmtesten und schicksalreichsten Städte Ungarns, sondern zeichnete sich auch durch Gewerbsthätigkeit aus, die, wie überall in Ungarn, größtentheils deutschen Ursprungs und in deutschen Händen war. Die Fabriken in Soda, Seife, Salami, Papier beschäftigten viele Familien und belebten den Handel, der allerdings hauptsächlich Getreide und Holz ausführte. Neben der Schifffahrt auf dem Strome, die eine eigene Schiffswerfte unterhielt, verbinden zwei Eisenbahnen, die Pest-Temesvarer und die Alföld-Fiumaner, die Stadt mit dem großen Weltverkehr. Den Stand der geistigen Bildung deuten zwei wohlgepflegte Anstalten, ein Obergymnasium und eine Oberrealschule, genügend an; ebenso unterhielt die Stadt ein Theater, aber auch ein großes bürgerliches Spital mit Irrenanstalt. Daß sie der Sitz hoher Behörden war, ist selbstverständlich. So blühte Szegedin selbst reich bevölkert und noch vielbesucht an seinen berühmten Jahrmärkten, bis ein Tag und eine Nacht all diesem Glück des Fleißes ein Ende machte.

Unsere Leser verzichten gewiß gern auf die Wiederholung der aus allen Zeitungen bereits bekannten Schilderungen einer Wassersnoth, wie sie zum Heil der Menschheit nur selten in solcher furchtbaren Größe und Zerstörungsgewalt vorkommt. Um die Größe des Jammers und Elends in ein Wort zu fassen, genügt die jüngste telegraphische Angabe (vom 17. März), daß von den 10,000 Baulichkeiten Szegedins 8200 eingestürzt sind und daß darunter nicht weniger als 4800 Wohnhäuser waren. An Todten und Vermißten beklagt man bis dahin etwa 1900. –

Es soll für unsere Landsleute keine besondere Mahnung zur Hülfe in der Bemerkung liegen, daß zu den vom Schicksal so schwer Betroffenen [223] auch viele Deutsche gehören. Dem Unglück gegenüber hört für das Erbarmen der nationale Unterschied auf, und je mehr für die Szegediner in den Gotteskasten der Wohlthätigkeit fließt, desto mehr wird auch den Deutschen der Stadt davon zu Gute kommen.

Wir wissen aus vieljähriger Erfahrung, daß die Leser der „Gartenlaube“ nicht erst unserer Bitte bedürfen, um zur Wohlthätigkeit angeregt zu werden; wir wissen aber auch, daß viele unserer Leser auf die Aufstellung des Opferstocks der „Gartenlaube“ warten, um in diesen ihre Gaben niederzulegen. Diese Alle bitten wir, ihre Beisteuern zur Rettung der unglücklichen Stadt den nächsten Sammelstellen zuzuwenden, welche von den vielen Hülfscomités in Deutschland errichtet sind: in solchem Falle ist die rascheste Hülfe die beste! Möge allenthalben die Opferfreudigkeit darnach trachten, an Größe der des Unglücks gleichzukommen!




Der deutsche Kaiser Karl der Fünfte als Epikuräer. Mancher schöne Mythus, der sich in die Geschichte eingeschlichen, hat der Leuchte moderner Forschung weichen müssen (wir erinnern nur an die Tellsage). Auch an die letzten Lebensjahre Kaiser Karl’s des Fünften hat sich die Poesie gewagt und schildert uns rührend, wie der lebensmüde Pilgrim von St. Just beim Dunkel der Nacht und dem Sausen der Stürme an die Thür hispanischer Mönche pocht, um eine kleine Zelle, ein Ordenskleid und einen Sarkophag für sich zu fordern, er, dem die Hälfte der Welt nicht genügte. Sehr bescheidene Forderungen in der That, nur schade, daß Niemand weniger daran dachte, sich damit zufrieden zu geben, als Karl der Fünfte. Er nahm eine Dienerschaft von sechszig Personen in seine „Klause“ mit und führte dort ein ebenso absolutes Regiment, wie vordem zu Augsburg oder Toledo. Die neueste Geschichtsforschung, der ganz andere Quellen zugänglich sind, als weiland Robertson und andern ältern Historikern hat die letzten Tage Karl’s des Fünften jeder Romantik entkleidet und ihn als echten „Flamänder“ charakterisirt, der, nachdem ihm keine andern Genüsse mehr erreichbar, nur an’s Essen und Trinken dachte. Schon früher hatte er sich die Gicht zugezogen durch zu großen Genuß der Tafelfreuden. Ein Engländer, Roger Asham, der einem Feste des Ordens vom goldenen Vließe beiwohnte, sah staunend, mit welcher Energie der Kaiser Rindfleisch, Hammel- und Hasenbraten und schließlich einen Kapaun verschwinden ließ und dazu trank, „besser als er je sah“; denn er hatte seinen Kopf fünf Mal so lange Zeit im Humpen, als ein Anderer, und trank nie weniger, als ein gutes Quart Rheinwein auf einen Zug. Der übermäßige Genuß der Tafelfreuden brachte seinen Beichtvater Cardinal Loaysa, der schon ein Vierteljahrhundert vergebens dagegen protestirt hatte, nachgerade zur Verzweiflung.

Die Lieferung für seine Küche war der Hauptgegenstand der Correspondenz zwischen seinem Mayordomo und dem Staatssecretär. Die wöchentliche Courierpost von Valladolid nach Lissabon mußte einen Umweg machen, damit sie jeden Donnerstag eine Sendung Aale und andere feine Fische als kaiserliche Fastenspeise bringen konnte. Nach Thunfisch herrschte stete Frage, auch nach Anchovis und Forellen, und letztere besonders waren dem Exkaiser nie groß genug. Dagegen wünschte er die Oliven von kleinerem Format und requirirte deshalb deren aus Perejon. Eines Tages erinnerte sich der Eremit von St. Just, daß ihm in früheren Jahren der Graf von Orsono einmal nach Flandern Feldhühner aus Gama geschickt habe, die er für die besten der Welt erkannt hatte, und dem Staatssecretär wurde befohlen, deren wieder herbeizuschaffen, was auch geschah, aber ohne daß die Hühner diesmal den gleichen Beifall des Kaisers gefunden hätten. Dessen ungeachtet ließ er die übrig gebliebenen Hühner für spätere Eventualitäten in Essig legen.

Außer mit diesem Geflügel, beschäftigte sich seine Erinnerung auch mit einer Sorte vorzüglicher Bratwürste, auf deren Herstellung nach vlämischem Recept Königin Juana selig zu Tordesillas nicht wenig stolz gewesen. „Der Staatssecretär möge sich wegen dieses kostbaren Recepts an die Marquise von Denia wenden.“ Glücklicherweise war diese noch in dem Besitz des gewünschten Documents, und die nach demselben gefertigten Würste entsprachen ganz den kaiserlichen Erwartungen.

Sobald die Leidenschaft des hohen Eremiten für eine vorzügliche Küche im Lande bekannter wurde, wetteiferten Adel und Geistlichkeit, durch übersandte Delicatessen dem Mangel am damaligen Aufenthaltsorte ihres Exkaisers abzuhelfen, wo außer Welschnüssen nur noch Schafe, Schweine und Wild (und diese zu hohen Preisen) zu erhalten waren. Da schickte eines Tages der Graf von Oropesa Wild, andern Tages der Erzbischof von Saragossa ein paar fette Kälber; besonders aber der Erzbischof von Toledo und der Herzog von Frias waren unermüdlich und äußerst splendid in ihren Geschenken von Wild, Früchten und Eingemachtem, auch kam in regelmäßigen Zwischenräumen Proviant aller Art von Sevilla und Portugal. Wenn so der Leibarzt des Kaisers, Luis Quixada, der dessen defecte Leibesconstitution nur zu gut kannte, diese Züge beladener Maulthiere kommen sah, schien es ihm, als bestände ihre Fracht in Podagra und Galle, statt in Näschereien und er weissagte Schlimmes, wenn auch der Mayordomo nach einem ungestraft verlaufenen kaiserlichen Diätfehler triumphirte. Nur die Vorliebe des Kaisers für eine Sorte Regenvögel hielt er für harmlos, auf’s Energischste widersetzte er sich aber der Liebhaberei für Aalpasteten, welcher der Kaiser oft kurz vor dem Schlafengehen noch huldigte, und mit Recht; denn diese anerkanntermaßen auch für bessere Magen schwer verdauliche Speise ward der Nagel zum kaiserlichen Sarge.




Eine allgemeine deutsche Lehrer-Wittwen- und -Waisencasse soll unter der Bezeichnung „Wilhelm-Stiftung“ das Andenken an die Feier der goldenen Hochzeit unseres kaiserlichen Paares (am 11. Juni) ehren. Der Aufruf dazu ist soeben von dem Rector Thiel in Bochum (Westfalen erlassen worden. Wendet derselbe sich auch zunächst an die sämmtlichen Lehrervereine Deutschlands, damit diese die Idee in nähere Erwägung ziehen und die Entscheidungsarbeiten für eine größere Lehrerversammlung vorbereiten, so nimmt gewiß diese so außerordentlich nothwendige Gründung auch die Theilnahme Aller in Anspruch, welche für die Schule und ihr Gedeihen ein warmes Herz haben. Mit Muth und Kraft angefaßt, wird diesem Unternehmen derselbe Glücksstern winken, welcher bereits ähnlichen, in kleinerem Maßstabe ausgeführten (wie z. B. der Privat-Lehrer-Wittwencasse des Bochumer Kreises) zum Gedeihen geleuchtet hat.




Die Schlange mit Füßen. Die Entstehungsgeschichte fabelhafter Thiere, mit welchen die Phantasie des Volkes nicht allem in der Vergangenheit, sondern sogar noch in der Gegenwart einsame oder fremde Gegenden zu bevölkern pflegt, hat man wohl hauptsächlich in der geringen Beobachtungsgabe und Beobachtungslust des Volkes zu suchen, in der Faulheit desselben, über die Erscheinungen der sichtbaren Welt gehörig nachzudenken. Hiervon ein Beispiel:

Als ich einst in Süd-Brasilien einen Bau unternahm und zu diesem Zwecke Steine zum Fundament fahren ließ, entdeckten die Arbeiter in einem hohlen Raume zwischen lose auf einander liegenden Felsblöcken eine der gefürchteten graubraunen Giftschlangen, Jararaccas genannt, welche in jener Gegend häufig vorkommen. Obgleich dieselbe träge und unbeweglich dalag und durchaus keinen Angriff zu beabsichtigen schien, schlugen die Arbeiter sie begreiflicherweise ohne Weiteres mit Knüppeln todt, wobei sie ihr den Kopf ganz zerschmetterten. Nun bemerkten sie an der auf dem Rücken liegenden Schlange vier Füße, weswegen sie mich herbeiriefen, um mir das Wunder zu zeigen. Etliche deutsche Colonisten, die gerade bei mir waren, begleiteten mich bis zum Steinbruche, und dort erklärten sie, daß ihnen eine solche Schlange mit Füßen gar nichts Neues sei, und daß sie derartige Thiere schon öfters unter Steinen gefunden hätten. Ich nahm nun die Schlange genau in Augenschein und überzeugte mich zunächst davon, daß ich eine wirkliche Jararacca von ganz außergewöhnlichem Leibesumfange vor mir hatte und zwar eine Jararacca mit vier Füßen, an deren jedem ich fünf außerordentlich harte und scharfe Zehen wahrnahm. Schnell griff ich zu meinem Gürtelmesser und trennte die Bauchhaut der Schlange von unten bis oben auf. Was kam hervor? Eine jener Hornkröten (ceratophrys), die man so häufig in den brasilianischen Urwäldern trifft. – Ich habe später noch öfters große Ratten und Kröten in den Leibern der Jararaccas gefunden, doch niemals wieder wahrgenommen, daß eine übergeschluckte Kröte mit ihren scharfen Zehen die harte Panzerhaut der Schlange durchbrochen hätte.

Die Moral von der Geschichte ist nun die, daß, wenn ich nicht die Schlange aufgeschnitten und die Kröte heraus geholt hätte, die Fabel von der Schlange mit Füßen wohl heute noch in den Köpfen jener Leute, die sie gefunden, spuken und von ihnen weiter verbreitet sein würde.

Alfred Waeldler.




Ein reisendes Haus. Wer hat nicht, als er „Aladin’s Wunderlampe“ las, das Erstaunen des Sultans, als dieser sich eines Morgens die Augen umsonst rieb, um den Palast seines Schwiegersohnes zu sehen, der nicht mehr da stand, mitgefühlt? Und wer hat sich nicht mit ihm gefreut, als wieder eines schönen Morgens der Wunderpalast am alten Flecke stand? Ein ähnliches Gefühl, wie das Erstaunen des Sultans, ergriff mich, als ich in Amerika eines Morgens den Ausgang der Straße, in der ich wohnte, nicht mehr fand – die Straße war eine Sackgasse geworden, ein großes Haus sperrte sie; à la Sultan rieb ich mir die Augen, und mein Mund öffnete sich in sprachlosem Erstaunen, als plötzlich das große, zuvor nie gesehene Haus zu zittern begann; es schien, als streifte es an den Zweigen und Aesten der hohen Ahornbäume unsrer Straßenallee.

Das Knistern und Krachen der Zweige war aber zu realistisch wahr, und jetzt brach sogar ein schöner Ast und fiel zur Erde; das Haus machte einen förmlichen Ruck, in der Art, wie die Bilder in den Panoramas wechseln und jetzt war das Räthsel gelöst. Kein Märchen aus „Tausend und Eine Nacht“ spielte sich vor meinen Blicken ab, sondern eine herrliche, eine praktische amerikanische Erfindung – das Haus wurde „ge-moved“, es wurde versetzt, an einen anderen Ort hingeschafft. Was ich mir so sehr zu sehen gewünscht und in meinem innersten Innern doch immer für einen kleinen Humbug gehalten, das fand jetzt vor meinen Augen statt.

Das Haus war einstöckig, wie sie hier alle sind, hatte zehn Zimmer, Küche, Bade- und Bodenzimmer. Es war von den Fundamenten abgehoben und auf runde Hölzer gesetzt worden; ungefähr am Mittelbalken des Hauses, der über dem Keller zu liegen kommt, waren Ketten befestigt, welche zu einer Winde liefen, die zwanzig Klafter vom Hause in der Mitte der Straße eingegraben war. Bei dieser Winde saß ein Mann, der die Ketten immer genau richtete, damit sie sich nicht verwickelten. Ein Pferd ging langsam im Kreise um die Winde herum, in dieser Weise das Haus die zwanzig Klafter heranziehend; war dasselbe dort angelangt, so wurde die Winde mit den Ketten auf ein Brett mit Rädern gestellt, und das Pferd zog nun wieder zwanzig Klafter weit vorwärts, mußte sich dabei aber furchtbar anstrengen; dann wurde die Winde neuerdings eingegraben, und die Geschichte fing von vorn an.

Bei dieser ganzen Arbeit waren nur sieben Mann beschäftigt, der eine, welcher die Winde besorgte, ein Mann, welcher auf dem Dache des Hauses stand und Acht geben mußte, daß kein Telegraphendraht hängen blieb und die Aeste der Bäume sich nicht am Schornstein oder den Giebeln verfingen, der Baumeister, welcher die Richtung ausmaß und angab und das Ganze leitete, und vier Männer, welche die Walzen rückwärts immer wegnehmen und vorn wieder einlegen mußten.

Es sah zu schön und merkwürdig aus, wie sich das Haus langsam und majestätisch vorwärts bewegte. Die Zimmer waren alle eingerichtet, Bilder und Spiegel an den Wänden. Der Blitzableiter hing sehr komisch, [224] in der Luft baumelnd, an der Seite herab; auch die Dachrinnen sahen recht lächerlich aus, da die Röcke der Männer daran hingen.

Mir war, als machte das Haus eine ganz wichtige und wieder auch neugierige Miene, und besonders der Schornstein hatte alle Augenblicke etwas zu bedenken; bald versteckte er sich in die dichtbelaubten Zweige und wollte sich um keinen Preis von dem frischen, jungen Grün trennen; dann stieß er, erbost über seine Ohnmacht, an die Telegraphendrähte, die sich hochgestellt genug geglaubt, und machte manches Telegramm unverständlich und unleserlich – kurz, das Reisen und diese Art Fortschritt hatten dem guten alten Schwarzgebrannten den rauchige Kopf verdreht.

Besser benahm sich der wilde Wein, der in armsdicken Ranken an den Holzsäulen der kleinen, das Haus umgebenden Veranda hing und dessen Wurzeln mit dem sie umgebenden Erdreich ausgegraben und in festen Säcken aufgebunden waren; ängstlich hielten die jungen Triebe sich am Holzwerk fest angeklammert, und man sah ihnen an, wie sehnlich sie für ihre nährenden Wurzeln festen Grund und Boden herbeiwünschten; sie versagten sich sogar den sonst so regen und natürlichen Wunsch, sich überall anzuranken, und umsonst hielten die schönen Ahornbäume verführerisch ihre Aeste und Zweige hin; der fortgesetzte Hader und Zank mit dem Schornstein hatte jene vorsichtig gemacht, und die Mörtel- und Ziegelbröckchen, welche er ihnen in’s Gesicht warf, sagten nur zu deutlich, daß „stille halten“ hier das Weiseste sei; so ringelten sich ihre kleinen Ausläufer in sich selbst zusammen „bis auf Weiteres“.

Das Haus war ziemlich weit hergekommen, und ehe es diese Straße erreicht hatte, war schon eine Nachtstation gehalten worden; es hatte noch eine Tagereise zu machen, bis es an Ort und Stelle war.

Natürlich wurde das Haus nicht an der Vorderseite gezogen, sondern es stand der Länge nach in der Straße, da dieselbe im anderen Falle zu schmal gewesen wäre. Es war mit Fachwänden gebaut, halb Holz halb Ziegel, man sagte mir aber, daß auch Häuser ganz aus Stein in derselben Weise transportirt werden, und nicht nur auf ebener Straße, sondern auch Berg auf, Berg ab. Ich selbst habe später auf halbem Berge, in sehr schiefer Stellung, einmal so ein „ausruhendes“ Haus getroffen, welches über Sonntag stehen zu bleiben hatte.

Eigentlich that es mir leid, dieses Phänomen mit eigenen Augen gesehen zu haben, denn der Zauberpalast Aladin’s kommt mir nicht mehr so wunderbar vor – am Ende war der böse Zauberer ganz einfach ein um einige Jahrhunderte zu früh auf die Welt gekommener amerikanischer Baumeister.

So geht es denn mit all unseren Märchen und Zaubergeschichten; das wirkliche Leben streift viel ab von dem Gold- und Blüthenstaub, der auf ihnen ruht; es braucht daher eines reichen Schatzes, um bis an’s Ende damit auszukommen.

M. Pabke.


Hut ab! In unserer Zeit, wo die Zahl der „jungen Greise“ zum Schrecken überhand nimmt, muß man mit ebenso viel Freude als Ehrfurcht einen Mann begrüßen, der sich Körper- und Geistesfrische genug bewahrt hat, um an ein vor sechszig Jahre begonnenes Werk jetzt die letzte Hand zu legen. Dieser Mann ist Dr. Heinrich Berghaus, der berühmte Kartograph und Schriftsteller auf dem Gebiete der Geographie und Ethnographie, der am 3. Mai dieses Jahres seinen zweiundachtzigsten Geburtstag feiert; jenes Werk sein „Sprachschatz der Sassen“.

Der „alte Berghaus“ – sein Neffe Hermann ist auch schon ein Fünfziger und ganz in die Fußstapfen des Oheims getreten – rühmt sich, ein niederrheinischer Westfale zu sein, der das Plattdeutsche in Cleve als seine Muttersprache gelernt hat. Er besuchte in Münster, Marburg und Berlin die Schulen, während seine Heimath königlich westfälisch wurde, und erhielt, erst fünfzehn Jahre alt, eine Stelle als Conducteur für den Brücken- und Straßenbau in dem damaligen Lippe-Departement. Als Jérôme’s Reich zu Ende war, ging Berghaus unter die Freiwilligen, kam in die Armee-Verwaltung und mit dem Tauenzien’schen Corps bis in die Bretagne; eine Frucht dieses Feldzuges für Berghaus war seine 1824 erschienene Karte von Frankreich. Nach kurzem Aufenthalte in Weimar wurde der neunzehnjährige junge Mann als Ingenieurgeograph im zweiten Departement des Kriegsministeriums nach Berlin berufen und an der großen trigonometrischen Landesvermessung des preußischen Staats betheiligt. Vier Jahre später war er Lehrer, und nur drei Jahre nachher Professor der angewandten Mathematik an der Bau-Akademie, welche Stelle er zweiunddreißig Jahre lang bekleidete.

Wir können hier keine Aufzählung aller der Kartenwerke geben, die durch ihn allein oder unter seiner Hülfe vollendet worden sind. Es genüge hier, zu sagen, daß Heinrich Berghaus ein kleiner Columbus seines Faches ist, ein Meister, der für die kartographische Kunst neue Gebiete entdeckte: nicht blos seine Darstellung der Bodenplastik, welche allerdings für die Kartographie epochemachend war, sondern auch der kühne Griff verdient hohe Anerkennung, mit welchem Berghaus seinem großen „Physikalischen Atlas“ auch noch das neue Bereich der pflanzen- und thier-geographischen und ethnographischen Karten hinzufügte. Eine derselben, die im Jahre 1847 von ihm entworfene Karte von „Deutschland, Niederlande, Belgien und Schweiz nach deren National-, Sprach- und Dialektverschiedenheit“, führt uns zu seiner schriftstellerischen Thätigkeit, die ebenfalls eine sehr fruchtbare war, sowohl in selbstständigen Werken, wie in Sammel- und periodischen Schriften. Seine meistens mehrbändigen ethnographischen und geographischen Werke sind Fundgruben des interessantesten Wissens. Von den von ihm begründeten Zeitschriften ist sein „Geographisches Jahrbuch“ durch seinen berühmten Schüler und Pflegesohn A. Petermann in dessen „Mittheilungen etc.“ fortgesetzt worden, bis dieser hochverdiente Mann – dem Greise voran – aus dem Leben ging.

An die Sprach- und Dialektkarten und ethnographischen Schriften von Berghaus schließt sich sein oben erwähntes Werk an: „Sprachschatz der Sassen. Wörterbuch der plattdeutschen Sprache in den hauptsächlichsten ihrer Mundarten“ (Brandenburg, Adolf Müller).

Wissenschaftliche Arbeiten über die „Deutschen Mundarten“ fanden noch bis in neuere Zeit geringe Theilnahme selbst bei unserem gelehrten Publicum. Man vermochte noch nicht zu erkennen, daß wir in den Volksmundarten eine Quelle zur Erfrischung der Schriftsprache besitzen, und ebenso wenig, welche Schätze für Sitten- und Rechtsgeschichte durch die Erforschung der Dialekte zu Tage gefördert werden. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß eine Fundgrube solchen Wissens, wie J. Andreas Schmeller’s „Bayerisches Wörterbuch“ weit über dreißig Jahre im Laden lag, ehe Karl Frommann an die Bearbeitung einer zweite Auflage des unschätzbaren Buches gehen konnte. Ja, Frommann’s, des ausgezeichneten deutschen Sprachforschers, musterhafte Monatsschrift „Die deutschen Mundarten“ mußte mit dem sechsten Jahrgange aus Mangel an Theilnahme schließen und ist erst in jüngster Zeit wieder zu neuem Lebe erstanden.

Hoffen wir, daß dem Unternehmen unseres ehrwürdigen Veteranen auf diesem Arbeitsfelde der Aufschwung zu Gute komme, welchen die plattdeutsche Literatur durch Fritz Reuter, Klaus Groth, Quitzow, Giese, Wilhelm Schröder und Andere genommen, und der auch auf die Dialektpoesie Mittel- und Oberdeutschlands belebend eingewirkt hat. Der Berghaus’sche „Sprachschatz der Sassen“ erweist sich jetzt, wo derselbe mit dem fünften Hefte von A bis Eed (Eid) vor uns liegt, als eine außerordentlich reiche Fundgrube für Sprach- und Geschichts-, namentlich Culturgeschichtsforscher. Die alte Wörter führen zur Erklärung vieler alten Bräuche und Sitten, Rechte und Herkommen etc.. Selbst des Plattdeutschen kundige Richter und Sachwalter, Geschäftsleute und Industrielle werden in diesem Buche sich nicht selten mit Nutzen Raths erholen, während für den in’s Niederland versetzten Oberdeutschen die ausgiebigste Belehrung in jedem Berufsleben, das den engeren Verkehr mit dem Volke bedingt, dargeboten ist. Da zu einer vorzügliche Eigentümlichkeit des Volkes das Kernige, Derbe und Bilderreiche der Witz- und Scheltworte, Sprüchwörter und Gewerksredensarten gehört, so ist auch davon ein belebender Vorrath den trockenen Erklärungen eingewebt, sodaß Belehrung und Unterhaltung, Ernst und Scherz dem Buche entquillt wie dem Munde eines erfahrungsreichen munteren Greises.

Fr. Hfm.


Zur Nachricht. Denjenigen unserer Landsleute, welche von ihren Verwandten in den durch das gelbe Fieber heimgesuchten amerikanischen Districten keine Kunde erhalten haben, stellt die Europäische Abtheilung der „New-Yorker Germania“-Lebensversicherungs-Gesellschaft die Listen der am gelben Fieber Gestorbenen zur Verfügung, in Berlin in ihrem Bureau, Leipzigerplatz 12.



Kleiner Briefkasten.

Abonnent H. Die bewußten Artikel finden Sie: Jahrgang 1872, Seite 374 und Jahrgang 1871, Seite 395[WS 1].

V. v. B. in Gr. Der Mann ist ein notorischer Schwindler.


Quittung. Für den darbenden Inhaber des Eisernen Kreuzes (Blätter und Blüthen Nr. 11). von J. L. H. in Zwickau 5 Mark erhalten. Dank!

D. Red.

  1. „Gartenlaube“ 1879, Nr. 4. Vergl. auch Nr. 10.
  2. Von dem Verfasser, der sich durch seine Trauerspiele „Die Gräfin“, „Wullenwever“, „König Erich“, „Moritz von Sachsen“ „Brutus“, „Marino Faliero“ und „Das Mädchen von Byzanz“ den Ruf eines geistvollen und bühnenkundigen Dramendichters erworben hat, befindet sich, wie wir bei dieser Gelegenheit mittheilen wollen, ein neues Trauerspiel „Rosamunde“ (Leipzig, S. Hirzel) unter der Presse.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 1876