Die Gartenlaube (1882)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 33.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Als der Vetter „Schalksnarr“ das nächste Mal von Leipzig, dessen Hochschule viele fränkische Schüler zählte, gen Nürnberg kam, schmückte er sich mit den Gaben der launischen Göttin und hielt dann Einzug im Patricierhause. Ursula war nicht daheim. Sie wohnte der Einweihung des Grabdenkmals bei, das die Schreyer’sche Familie an der Sebalduskirche von dem berühmten Steinmetzen Adam Krafft hatte errichten lassen. Die würdige Feier hatte Alle in gehobne Stimmung versetzt und dem Standesgefühle Ursula’s volle Befriedigung gewährt.

Mit stolzen Schritten trat sie in das Gemach, wo der Vetter, ihrer harrend, auf und ab gewandelt war. Sie meinte, das Aufleuchten der blauen Augen, den lachenden Mund mit den elfenbeinweißen Zahnreihen noch vor sich zu sehen. Was hatte sie damals nur so herbe gestimmt? War es das dreiste Wesen des gelahrten Schülers, das den Hochmuth der herangewachsnen Patriciertochter kränkte? oder waren es die verhaßten Schellen oder sein Scherzwort über den Sturz:

„Warum setzt Ihr ein solches Eulennest auf, holdselige Muhme? Warum tragt Ihr einen Maulkorb?“

Es war ihm nicht so schwer zu verargen; denn er hatte wohl auf den Willkommenkuß gerechnet und erschaute nun nichts als ihre Augen.

Aber Ursula verstand den Spaß falsch. Sie richtete sich auf und erwiderte herbe:

„Weil ich aus reinem Patricierblut stamme, trage ich den Sturz, wie der Narr die Schellen trägt. Jedem das Seine!“

Als sie die dunkle Röthe sah, die bis unter seine schwarzen Locken stieg, wurde sie blaß. Aber er vermochte ihre Bewegung nicht zu erschauen. Der Sturz ließ nur die großen Augen frei, denen der Schreck über das eigne Wort und dessen Wirkung ein starres Ansehen gab.

Er that einen Schritt nach der Thür. Noch einmal blickte er sie fragend an. Noch war’s Zeit. Aber die Brust war ihr wie zugeschnürt. Nur ihre Lippen öffneten sich; der Sturz verhüllte den schwachen Versuch.

Er ging.

Nach einer Stunde verließ er das Gemach ihres Vaters; die Hausglocke schallte; von diesem Fenster aus hatte sie ihm nachgesehen, wie er von dannen schritt, um nie wiederzukehren.

Er hatte erklärt, daß er nach Bologna gehe, um weiter zu studiren, und erst zurückkommen werde, wenn Ursula sich vor ihm beugen müsse. Es war dem stolzen Patricier nicht schwer geworden, ihn ziehen zu lassen. Ursula kam nun in die Jahre, wo sie heirathen sollte, und der vertraute Verkehr mit dem unebenbürtigen Vetter konnte dem nur im Wege sein. Um ihn einigermaßen zu entschädigen für die Hülfe, die er ihm früher für seine Niederlassung als Rechtsverständiger in Nürnberg verheißen hatte, schickte ihm der alte Herr Briefe mit Empfehlungen, Geld und ein Pferd nach der Herberge, in welche er trotzig übergesiedelt war. Die Diener kamen mit allen Wohlthaten und der Nachricht zurück, der junge Mann sei in’s Elend gegangen.

Ursula harrte damals täglich auf eine Botschaft von ihm; er hatte ja bei jedem Zwist zwischen ihnen den ersten Schritt zur Versöhnung gethan. Aber die Zeit verging – er ließ nichts von sich hören. Als ihr Vater starb, meinte sie, er müsse ein theilnehmendes Zeichen an sie gelangen lassen – es blieb aus.

Nun waren schon zwanzig Jahre seitdem hingeschlichen, die fremden Blumen im Treibhaus eingegangen, die leuchtenden Schmetterlinge in den Glaskästen, über die sie sich so oft mit ihm bewundernd gebeugt hatte, verblichen; Ursula war die herbe Jungfrau geworden. Sie trug auf dem Haupte den Sturz, im Kniestück ihres schwarzen Sammetrockes das eingestickte Wappen und konnte mit gutem Fug und Recht dereinst unter der schweren Steinplatte der Familiengruft ihre Ruhestatt suchen.

Wenn es nur keine Zeit gegeben hätte, wo die Knospen an der Blumenesche sich wie braune Perlenschnüre reihten, wo Veilchenduft die Luft erfüllte und der Schlag des Finken aus den Zweigen tönte! Heut hatte er wieder geschmettert: Bin ich nicht ein schöner Bräutigam?

„Friedel!“ flüsterte sie schmerzlich.

Die kunstvoll mit Eisen beschlagne Thür öffnete sich; die Dienerschaft trat ein. Es war die Stunde, wo die herbe Hausherrin Abrechnung hielt und Befehle für den kommenden Tag gab. Die Hausmagd stellte zwei silberne Leuchter mit gelben Wachskerzen auf den Tisch. Der alte Knecht brachte einen Gruß vom Stadtschultheißen; dieser thäte der gestrengen Jungfrau kund, daß der Erzherzog Ferdinand binnen Kurzem gen Nürnberg auf Besuch kommen werde mit vielen Fürsten, Bischöfen und Dienern, und ließe fragen, ob sie sich mit Kleidern und Stürzen dazu schicken wolle.

Die runde Köchin lachte und sagte:

„In den Fleischbänken ging vorhin die Red, es sollten die Stürze abgeschafft werden.“

Und die Leibmagd erzählte:

[538] „Die Welt geht halt aus dem Leim. Der fremde Fürst bringt einen Hofnarren mit; der wird gar Rath genannt.“

Da richtete sich die Gestrenge auf, daß das mit Juwelen besetzte Kreuz an der güldnen Halskette klirrte.

„Der Narr ist zum lustigen Rath geworden, und die Stürze sollen den Weg alles Fleisches gehen? Wie lautete doch das Wort, das mein Vater, Gott tröst’ ihn! sprach, so er einen Urteilsspruch fällte? ‚Dessen genössen sie billig!‘ So war’s.“

Die Mägde und der Knecht sahen sich verblüfft an. Hatte die Gestrenge in der Dunkelheit vielleicht geschlafen und sprach noch im Traume?




Die ganze Stadt summte wie ein Bienenvolk, das sich zum Schwärmen rüstet. Der Besuch des Erzherzogs hielt Alle in Athem: Die Plattner schmiedeten Krebse; die Panzermacher machten Panzer; die Schneider saßen auf ihren Tischen und schwitzten über geschäubten Röcklein; die Fahnenschmiede schlugen lange roth und weiß getheilte Tücher an die vergoldeten Stangen, und im Bauhof hielt Herr Paumgartner Musterung über die Pferde der Stadt. Die Rathsherren aber wußten nicht, wo sie anfangen und wo sie aufhören sollten.

Am übelsten erging es dem Imhof; denn bei aller Arbeit hatte er noch seinen schweren häuslichen Kummer. Was war der Zwist, der wegen der Haube in den andern Geschlechterhäusern tobte, gegen die Noth, die hinter dem gothischen Thürmchen brütete?

Denn eine Noth durfte er es wohl nennen, daß sein Kind, nachdem es tapfer den Verspruch mit dem Gecken, dem Haller, gelöst hatte, so ganz verändert sich zeigte. Die Elsbeth war sonst so sicher, gemächlich und mit sich zufrieden gewesen, wie es der Tochter aus einem der reichen Nürnberger Geschlechter zukam. Und nun? Es schnürte ihm das Herz zu, wenn er früh aus seinem Geheimstüblein heraus trat und sie stumm und starr durch das Haus schreiten sah, mit dem Schlüsselbund läutend, wie zu einer stillen Messe. Sie schaffte und hantirte den ganzen Tag; sie klagte nie, aber sie hing den Kopf, als sinne sie über etwas Unbegreifliches nach, und wenn er sie anredete, fuhr sie auf, wie aus schwerem Traum.

Kam er, müde gehetzt, vom Rathhaus und allen Vorbereitungen zum Einzug des Erzherzogs nach Haus und begehrte sein Haupt auf den Pfühl zu legen, dann klagte ihm sein Ehegemahl in die Ohren:

„Wenn i nur wüßt’, was wir anfangen sollen! Die ganze Stadt kennt die verabredete Heirath, und in den Häusern der Geschlechter denkt deshalb kein Junggeselle an unsre Elsbeth, erst recht nit, da der Haller sie sitzen gelassen. Und Töchter sind kein Lagerobst. Wenn i nur wüßt’!“

Unter so bewandten Umständen war es dem Imhof nicht zu verargen, daß er ein Wirrsal in den ihm übertragnen Geschäften stiftete. Er vergaß das Gewerk der Fingerhüter zum Festzuge aufzufordern. Die nahmen es übel, machten einen Aufruhr und stürmten aus das Rathhaus, begehrend, auch vor seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit unter den langen Spieß zu treten. Der Imhof half sich, wie uralter Brauch ist, indem er die Schuld des Versehens auf seine Diener, die Stadtknechte, schob. Dann aber stürmte er nach Hause, und als sein Weib ihm thränenden Auges entgegenkam und wieder seufzte:

„Wenn i nur halt wüßt, wo wir einen andern Eidam herschaffen thäten,“ schrie er sie an:

„Mag die Elsbeth den Kriegsschreiber heirathen, damit dem Geklag nur ein End gemacht wird! Der nimmt sie gleich.“

Da erlosch die blühende Farbe der Elsbeth. Sie wurde bleich. Den Wocken legte sie aus der Hand und ließ die Spindel nicht mehr tanzen, sondern schlich still in ihr Gemach. Dort saß sie im Winkel, und die fleißigen Hände ruhten müßig im Schooß. Sie dachte nach.

Ach, das Sinnen ist auch eine Arbeit wie das Spinnen, und sie war nicht geübt darin. Bisher hatte sie alle ihre Gedanken zu den häuslichen Verrichtungen gesammelt. Gesponnen, gewebt, genäht, gekocht und gebacken mußte den lieben langen Tag werden, als sei das die Hauptsache im Leben. Und wozu hatte sie nun die Hände gerührt und Alles erlernt, was eine Hausfrau wissen mußte? Um dem Kriegsschreiber damit seine alten Tage zu versüßen, dem alten Kröpel, der so knickebeinig in seinen Schnabelschuhen stand, die sich bis an die Kniee emporbogen?

Sie stutzte. War sie auch prängisch wie die Rotmundin?

Nein, die Schnabelschuhe störten sie nicht. Einen Andern konnte sie sich darin denken, und er wurde ihr nicht widerwärtig dadurch, aber der war stattlich gewachsen, trug einen braunen Schnauzbart über den vollen Lippen und schaute sie aus braunen, zornigen Augen an.

Da war es ihr, als ob ein Schleier zerrisse, der bis dahin ihre Seele umhüllte, wie der Sturz ihr Angesicht. Jetzt wußte sie es: es war ihr doch nicht das Wichtigste gewesen, die Hühnerpastete gut zu backen. Wenn sie auch ihre zwo Aeuglein fest auf Salbei und Peterla gerichtet und eifrig daran gedacht hatte, Ingwer, Pfeffer und Zimmetrinde abzuwiegen, den Wein zuzumessen und mit Saffran dem Gemengsel eine gäle Farbe zu geben – das Bild des schönen Junkers, für den sie dereinst eine solche Pastete backen sollte, hatte doch über allen Gewürzen geschwebt, süßer und lieblicher als Zimmetrinde und Näglein.

Und war es wirklich nur der Eltern Wille gewesen, dem sie hatte gehorsamen wollen? Warum konnte sie nicht daran denken, dem alten Kriegsschreiber den Leckerbissen zu bereiten als sein trautes Ehegespons?

Und urplötzlich ging ihr ein Verständniß auf für Haller’s Wort über das neue Recht des Herzens. Sie hielt das zwar für eine schwere Anfechtung, aber das Herz pochte dennoch für und für in seiner dunklen Kammer auf sein Recht.

In ihre Noth hinein klang das Geläut der Messe. Hülflos, trostbedürftig griff sie nach ihrem Gebetbüchlein und ging nach der Frauenkirche.

Sie lag in ihrem Betstuhl, das Gesicht in die Hände vergraben, und betete mit Inbrunst, bis die Messe vorüber war. Da hörte sie plötzlich ein Trippeln und Rauschen um sich, und als sie aufschaute, sah sie, wie der alte Pater Christophorus, der sonst nur berufen war, die im Fasching wüst gewordenen Köpfe zu waschen und zu salben, die Kanzel bestieg und gar grimmig auf die Gänge zwischen den Kirchenstühlen herabschaute, durch welche eben die Geschlechterinnen, van der Rotmundin geführt, sich entfernten. Nur Elsbeth und einige andächtige Mütterlein blieben zurück und hörten es mit an, wie er zornig auf den Predigtstuhl paukte und donnerte:

„Die Zeichen mehren sich, daß der jüngste Tag vor der Thür ist,“ sagte er. „Der Versucher geht um mit einer neuen Falle, die er klüglich unter dem Namen der Augsburger Haube versteckt. Ganz eine Schand ist’s, daß die Frauen dieses Nest, das aller Hoffart, Tücke und Eitelkeit voll ist, sich auf das Haupt setzen wollen. Denn es steigt nur deshalb hoch empor wie der St. Lorenzothurm, daß das kleinste Weib dem größten Mann gleich erscheine, was doch gegen alle göttliche Ordnung ist. Mit Perlen und Gold ist es umstarrt gleich einem Heiligenschein, und wissen wir doch, wie selten die Heiligen unter den gedankenlosen Evastöchtern sind. Auch einen Schleier hat’s, aber nicht um züchtig damit das Antlitz zu verhüllen, sondern um prängisch damit zu wedeln wie der Teufel mit seinem verfluchten Schweif. Hütet Euch! Satanas ist von Anbeginn nie so grimmig und zornig gewesen als itzo, wo das Ende der Welt bevorsteht.“

Nun ging es freilich dem guten Pater wie den meisten Bußpredigern: Die, für welche die Rüge bestimmt war, hatten sich heim begeben. Aber Einer that seine Predigt doch gut – der Elsbeth Imhofin. Sie richtete sich auf an dem Bewußtsein ihrer größren Tugendhaftigkeit. Sie hatte Recht gehabt – der Pater sagte es ja auch.

Hochgehobnen Hauptes verließ sie die Kirche. „Wenn nur der Wilhalm die Predigt gehört hätte!“ dachte sie und wagte einen Blick zu seinem Haus hinüber. Aber was sich ihr zeigte, ließ sie erstarrt still stehen mitten aus dem Herrenmarkt.

Dort auf der dicken Mauer der aufgerissnen Wand seines Hauses stand Wilhalm und schaute ganz erpicht hinüber nach dem Rotmundischen Haus, wo die Frau aus ihrem Chörlein sich bog. Elsbeth’s Herz zog sich schier zusammen. Wie war er doch so ganz anders denn der Kriegsschreiber! Wie war er schön anzuschauen! Das leicht gebräunte Antlitz vom dunklen Haar umrahmt, die kräftige Gestalt anmuthig der holden Nachbarin zugeneigt, die nach Augsburgischer Manier im Haus nur ein feines Schleiertuch um das Haupt geschlungen trug und leichtfertig vor Aller Augen im langen seidnen Schlafrock sich zeigte! O, die gottlose Spinne, die nur darauf sann, wie man die Männer berückte und vom Tugendpfad ablenkte! [539] Und – heilige Jungfrau! – was hielten Beide in den Händen? Eine fein geflochtne Schnur hatten sie über die Straße gezogen, und sie ließen dieselbe bald im Bogen herabsinken, bald zogen sie sie an und plauderten und lachten dann zusammen. War das auch eine der schönen neuen Sitten, daß sich Eheweiber mit ledigen Gesellen Brieflein über die Straße zogen? Zu was sonst konnte die Vorrichtung dienen?

Elsbeth schrak zusammen; ein Blick Wilhalm’s war zu ihr hingestreift. Aber er sah sogleich wieder weg, preßte die Lippen zusammen und machte so recht ihr zum Aerger, in der Lücke wie in einer Nische stehend, seine neue spanische Reverenz vor der Rotmundin, und diese neigte sich gegen ihn, indem sie die Hände über der Brust kreuzte. Elsbeth hatte nicht geglaubt, als sie neulich so kalt seinen Gruß aufnahm, daß man sich also über eine spanische Reverenz erbittern könne.

Und nun mußte sie zwischen Beiden durchschreiten, unter dem lachenden Antlitz der Rotmundin hinweg, die ihr so traut zunickte wie je. „Wenn mich doch die Erde verschlänge!“ wünschte sie und krampfte die Finger um den Rosenkranz. Aber wie männiglich bekannt, verfährt die Erde also nur mit denen, welchen es eine schwere Trübsal ist, verschlungen zu werden. Elsbeth mußte den Schmerzensweg gehen, und als sie das leise silberne Lachen der Rotmundin sich nachklingen hörte, flüsterte sie:

„Mein’ Sach’ ist verloren.“

Mit brechenden Knieen wandelte sie fürbaß. Was half es ihr nun, daß der grimmige Pater Christophorus ihrer Meinung war? – Da stand sie am gothischen Thürmchen. Die Heiligen seien gepriesen! Die Mutter war nicht beihanden. Elsbeth gelangte unangesprochen in ihr Gemach.

Sie legte das Gebetbuch auf den Betstuhl in der Ecke, schnappte das mächtige Thürschloß ab und sank auf die Polsterbank, die rings um das Stüblein lief. Das Haupt an die Tapezerei, mit der die Wände behangen waren, gelehnt, blieb sie lange bewegungslos. Im Vergleich mit ihren starren Zügen schaute die Maria Magdalena, die in den Wandbehang gewebt war, ganz getröstet aus, trotz ihres thränenüberströmten, in den Staub gebeugten Antlitzes.

Endlich erhob sie sich, entnahm dem mit Metallbeschlägen verzierten Schrein, in welchem sie ihre Bücher verwahrte, ihr Stammbuch und ließ sich unter dem Fenster nieder, das, hoch oben angebracht, nur ein gedämpftes Licht in das Gemach fallen ließ. Rasch wandte sie die Blätter um, die mit bunt gemalten Wappen, Namen und Wahlsprüchen bedeckt waren, bis sie an das eine kam, das sie suchte.

„Mein Herz in mir theil ich mit dir;
Brech ich’s an dir, räch’s Gott an mir!
Vergeß ich dein, so vergess’ Gott mein –
Das soll unser beider Verbindniß sein.“

So stand zu lesen. Zwar fehlte die Namensunterschrift, aber wer anders, als der bestimmte Bräutigam hätte sich so in das Stammbuch der Geschlechterin einschreiben dürfen? Die Elsbeth starrte darauf hin. Das sollte nun nicht mehr gelten? Wie war das möglich? Weil sie nichts von „zärtlicher Leidenschaft“ wußte?

Schier verzagt fragte sie sich, ob ihr Abscheu gegen den alten Kriegsschreiber nicht vielleicht auch ein Verlangen nach „zärtlicher Leidenschaft“ statt nach christlichem Ehebund sei. Da seien die Heiligen für!

Nein! die Elsbeth trug kein Verlangen nach Zärtlichkeit. Sie haßte nur noch: den Rotmund, der so blind war gegen sein treuloses Weib, die Rotmundin, diese Wurzel alles Uebels, und den Haller! Wie sie den haßte, verabscheute und verachtete! Wenn ja noch ein Gefühl in ihr für ihn sprach, so wollte sie es ersticken und erdrücken, mit glühender Zange es ausreißen und im feurigen Ofen verbrennen.

Und mit dem Stammbuchblatt wollte sie den Anfang machen. Aber da schaute die Geschrift mit den steilen Buchstaben sie so trotzig an, daß sie an Wilhalm’s Augen denken mußte, und statt des Wortes war ein rosenrothes Herz gemalt, wie junge Leute thaten. Sie vollbrachte ihr Fürhaben nicht. Sie stellte das Stammbuch wieder an seinen Platz neben den Folioband des Teuerdank und sann weiter.

Stunden vergingen. Der Abend dämmerte. Von Zeit zu Zeit klopfte die Mutter an, aber es ward nicht aufgethan. Die bewegten Zeitläufte störten die regelmäßige Hausordnung, sodaß Herr Imhof nichts gewahrte von dem Verschwinden des Töchterleins.

Es war schon dunkel, als Elsbeth vor ihrer Thür stöhnen hörte: „Heiliger Lorenzo, bitt für mich! Du hast es auf dem Rost nicht heißer gehabt denn eine Mutter, deren Tochter an einem Gebreste des Herzens leidet.“

Da öffnete sie endlich die Thür und ging mit der Mutter nach dem Wohngemach hinüber. Eine feine Röthe lag unter ihren Augen; sonst war sie blaß.

Aber sie sprach mit fester Stimme:

„Meine lieben Eltern, wollet Euch nicht fürder um mich sorgen! Zwar vermag ich nicht, wie Ihr es heischet, den alten Kriegsschreiber zum Manne zu nehmen, noch trag’ ich Verlangen nach einem andern Ehegesponsen. Auch will ich nicht dereinst, wenn Euch der allmächtige Gott abberufen hat, in ein Hinterstüblein ziehen, wie es mein Loos sein würde. Denn wenn mein Bruder mich auch lieb hat und fleißig grüßen läßt, so oft er aus Ulm schreibt, so wird er doch ein jung Weib heimbringen, und eine alternde Schwäherin ist solchem nie willkommen. Darum habe ich beschlossen und will es mir von Niemand wehren lassen, eine Klosterjungfrau zu werden.“

„Heiliges Kreuz! Donnerwetter!“ schrie Herr Imhof, „laßt mich aus mit Eurem vermaledeiten Gered! Könnt Ihr Weibsvolk je und je etwas Anderes schaffen als Euch uns quer in den Weg stellen, wenn’s gerade um Gottes willen fürbaß gehen soll? Freit! Geht in ein Kloster! Schert Euch zum Gutzgauch! Meinethalb! Aber das sag ich Euch: Vorher führt Ihr Euch beim Einzug Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit auf, wie es Patricierinnen von Nürnberg zukommt! Wenn wir vorüber ziehen, weht Ihr dem Erzherzog mit Euren Facinetlein zu! Auf dem Geschlechtertanz zieht Ihr die goldstucknen Röcke an und springt mit, jede nach Alter und Leibesbeschaffenheit – oder Ihr sollt den Imhof kennen lernen!“

Er ging zu Bett, und diesmal hatte er Ruhe vor seinem flüsternden Ehegemahl. Das weinte still in das dick aufgebauschte Kissen.

Die Elsbeth lag schlaflos in ihrer mächtigen Bettstatt. Sie schaute zu, wie der blasse Mond langsam über den Himmelsbogen hinzog, und zählte die Stunden, die von den Thürmen schallten, weithin vernehmbar in der schlafenden Stadt. Das Himmelslicht sank hinab; grauer Dämmerschein drang durch die runden Scheibchen, und ein leises Zwitschern wurde vor dem Fenster vernehmbar. Elsbeth erhob sich und schob es auf. Die frische Morgenluft wehte sie an und kühlte ihre heißen Schläfen.

Und siehe! Da war das Schwalbenpärchen wieder angelangt von seiner weiten Reise und in das alte vertraute Nest eingezogen. Die hatten doch auch fremde Länder gesehen und kehrten gern wieder bei ihr ein. Wo sie sich ansiedeln, soll es eine Braut geben, sagt das Volk.

„Ach, ihr wißt die neuste Mär von Nürnberg nit: der Wilhalm ist der Elsbeth untreu geworden,“ flüsterte sie. „Und ich habe ihn mir doch so sehr gewunschen.“

Sie schlug die Hände vor die Augen und weinte, als ob es ihr das Herz abstoßen wollte. – – –

Herr Rotmund war indessen nicht so blind gewesen, wie Elsbeth vermuthete. Er hatte das Seil gar wohl gesehen, das vom Chörlein nach Haller’s Haus lief, und er erbebte. Hatte sein reizendes Weib mit dem Nachbar ein Liebesspiel angesponnen? Als er näher trat, ließ seine Ehehälfte die Schnur hinabfallen, und drunten stand die Gürtelmagd und wickelte sie auf. Frau Rotmundin aber würdigte ihn keiner Erklärung.

Er bezwang sich, trat an’s Fenster und fragte Herrn Haller nach dem Zweck der hänfenen Verbindungsbrücke. Der aber sagte leichthin, es solle ein Schmuck auf neue Manier werden. Herr Rotmund griff unwillkürlich nach seinem Haupt, auf dem er schon den neuen Schmuck zu verspüren glaubte.

„Wollt Ihr die zerschundne Wand, die klaffende Lücke damit verbergen?“ fragte er grinsend vor Wuth.

„Ich schmücke mein Haus mit Teppichen, wie es im Lande Italia Brauch ist,“ erwiderte Haller, „und die Lücke soll ein Gemälde füllen.“

Er zog sich zurück.

Herr Rotmund eilte in sein Haus. Er lockte wie ein zärtlicher Tauber, aber sein Weib war verschwunden.

Jeder hilft sich in seinem Liebesleid, so gut er kann. Die altfränkische Elsbeth hatte das Kloster zu ihrer Trösteinsamkeit [540] erkiest und barg derweilen hinter Schloß und Riegel ihren Schmerz. Herr Rotmund hinwieder gedachte seine Zuflucht zu Schuster und Schneider zu nehmen. Er sah an seiner stattlichen Gestalt herab; sie vermochte sich gar wohl mit Wilhalm’s Länge zu messen, und wenn nur erst der scharlachne Rock mit den weißen Atlaspuffen ihn zierte, mußten seinem Weibe die Augen aufgehen. Stracks schritt er zur Ausführung seines Fürhabens und begab sich zuerst in die Werkstatt von Hans Sachs.

„Macht mir die Stiefel so hoch es angeht!“ sagte er zu dem sangeskundigen Meister, „das giebt ein mannhaftes Ansehen. Und daß mir die Quästlein lustig fliegen beim Reiten und beim Schreiten die Rädlein kräftig schnurren!“

Er richtete sich stolz auf.

Aber Hans Sachs lächelte unmerklich in seinen lockigen Bart hinein. Mit dem Seherblick des Dichters errieth er, was hinter der glatten Stirn des Rathsherrn für Gedanken sich bewegten: daß der hübsche Mann dräuend ausschauen wollte, damit sich sein aufstutziges Weiblein vor ihm fürchtete.

„Reich mir einmal den Schuh der Frau Rotmundin her!“ rief er einem Lehrling zu. „Nein, nicht den mit dem Röslein darauf. Der ist für die Elsbeth Imhofin bestimmt. Frau Rotmundin wählte nit ein solch alltägliches Symbolum. Auch nicht den großen mit dem gestickten Namenszug; er gehört der Stadtschultheißin. – Das ist er. Was meint Ihr, Herr Rotmund, wird er Eurer Eheliebsten gefallen?“

Er hielt ihm den Schuh hin. Er war der schmalste von allen und hatte die höchsten Hacken. Oben darauf war eine güldne Flamme gestickt; die sah so spitz und zierlich aus, daß sie Herrn Rotmund an das Zünglein seiner schönen Frau gemahnte.

Er wurde kleinmüthig und meinte:

„Wollet selbst mit meinem Ehegemahl Rücksprache nehmen! Ich wage kein Wort in einer so heiklen Sache zu sprechen. Ihr wißt, Meister, die Stürze! O! das ist ein Kreuz!“

Er drückte sich zur Thür hinaus, und hinter ihm erhob sich ein Gelächter, in das selbst der kleinste Schusterjunge einstimmte, der die Pechpfannen hin- und herschleppte.

Dann nahm der Meister den Pfriemen wieder zur Hand und sang dazu:

„Wenn um die Haub’ ein Krieg entbrennt,
Das Weibsvolk auf das Rathhaus rennt,
Schultheiß und Rath den Kopf sich hält,
Dann unter der Haub’ das Beste fehlt.
Nehmt’s schwankweis auf! Kein Schad’ erwachs
Der Stadt daraus! Dies wünscht Hans Sachs.“

Die Gesellen sangen’s nach, und die Leute blieben draußen stehen und suchten die neuen Reime aufzufangen und sangen sie weiter.

Auch die Rotmundin hörte das Liedlein, als sie mit ihrer vertrauten Magd vorüberschritt, und sie murmelte:

„Spottet nur! Wir wollen Euch schon zeigen, daß unter der Haub’ das Beste nicht fehlt: ein Sinn klug wie die Schlange und ein Gesichtlein sanft wie die Taube.“

Sie schritt nach der Gasse, in der Veit Stoß wohnte. Der künstliche Bildschnitzer saß in seiner Werkstatt und genoß bei Meth und Nüssen die Feierstunde. Als er das Rauschen eines schweren seidenen Gewandes über die Steinfliesen vernahm, sprang er auf und knöpfte den mit Pelz und Quasten verbrämten Hausrock zu. Seine schwarzen Augen hafteten fragend an dem verhüllenden Sturz.

Frau Rotmundin lüftete den dichten Schleier und lächelte, als es in den dunklen Augensternen des Bildschnitzers bei ihrem Anblick feurig aufleuchtete.

„Was habt Ihr zu gebieten, hohe Frau?“ fragte er in gebrochnem Deutsch, das den Polen verrieth.

„Nur zu bitten hat die Frau Rotmundin den berühmten Meister,“ sagte sie süß und machte ein hübsches Neigerl. „Aber es muß Geheimniß bleiben zwischen Euch und mir.“

Meister Veit drückte seine Finger betheuernd auf die schwarzbärtigen Lippen.

„Ich will mit meinem Nachbar, Herrn Haller, ein Feston in welscher Manier über die Straße machen, wenn der Ferdinandus einzieht. In der Mitte soll der kaiserliche Adler schweben und einen Kranz halten. Aber wo soll ich den Vogel finden? Der Schreiner schnitzt höchstens einen Storch, aber nicht den Herrn der gefiederten Heerschaaren. Das kann nur der Meister Stoß. Thätet Ihr wohl einer unberühmten kleinen Frau die Liebe?“

„Alles, was Ihr wollt, schönste Frau!“ sagte der Meister und klappte ritterlich mit den rothen Absätzen zusammen.

„Aber Herr Rotmund darf es nicht wissen, beileibe nit,“ sagte sie furchtsam. „Der will nichts Neues.“

„Ah!“ machte lächelnd Veit. „Strebt Ihr auch nach der neuen Haube? Wozu begehrt Ihr andern Schmuck als den natürlichen, den Euch Gott so herrlich verliehen hat?“ Er warf einen glühenden Blick auf die weiße Stirn, über die eine volle lichtbraune Locke sich schob.

Sie hielt seinen Augen lächelnd still. „Haare hat selbst die Bettelmagd,“ schmollte sie lieblich, „aber eine Haube kann nicht Jede haben.“

„Einen Bettlerschmuck nennt Ihr dieses herrliche Gelock!“ brauste Veit Stoß auf. „Schaut meine Jungfrau Maria an im Rosenkranz von St. Lorenzo! Nur die eignen langen Haarwellen umfließen sie.“

„Fern sei es von mir, mein schwaches Fleisch neben die erhabne Himmelskönigin zu stellen!“ wehrte die Rotmundin ab. „Aber die allerseligste Jungfrau verschmäht doch auch nicht, zum Oeftern den strahlenden Heiligenschein zu tragen. Und wie reich ist der mit Perlen und Edelgestein besetzt!“ stellte sie ihm, zutraulich in seine Augen blickend, vor. „Seid gut, Meister Veit, und laßt uns armen Frauen die kleine Freud’! Und ich bekomme meinen Adler – nit wahr? Und Ihr sagt’s nimmer dem Rotmund, daß ich da gewesen bin – nit wahr? Das ist Geheimniß zwischen uns – gelt?“

Sie blinkte ihm so bedeutungsvoll zu, daß Meister Stoß einwilligend sich geneigt und sie wieder zur Thür geleitet hatte, ohne recht zu wissen, was er that. Und seine Blicke folgten ihr, wie sie zierlich über die Schrittsteine wandelte, ihren Schanz sorgfältig vor dem Staub und Schmutz der Straße hütend, bis sie hinter den hölzernen Laubengängen verschwunden war.

(Fortsetzung folgt.)




Zum Verständniß der Ereignisse in Aegypten.

Von Adolf Ebeling.
III.

Die augenblickliche Volksbewegung im Pharaonenlande ist keineswegs ein Ergebniß der neuesten Zeit, sondern ihr Entstehen ist auf wenigstens vier, fünf Jahre früher zurückzuführen. Der Funke hat nur lange unter der Decke geglommen und im Stillen immer neue Nahrung gefunden, bis endlich aus dem angehäuften Brennstoff die helle Flamme hervorschlug; man kann mithin die bedrohlichen Anzeichen früherer Jahre mit dem unterirdischen Donner vergleichen, der dem Ausbruch des Vulcans vorhergeht.

Diese ersten directen Anzeichen traten bereits im Frühjahr 1877 hervor, wo auf einmal in Kairo das Gerücht ging, man habe unter den Studenten der Aszhar-Moschee eine Verschwörung gegen die christliche Bevölkerung Aegyptens entdeckt. Die Aszhar-Moschee ist die eigentliche Universität von Aegypten und zugleich die bedeutendste der ganzen islamitischen Welt. Nicht allein aus allen Gegenden Afrikas, sondern auch aus der Türkei, aus Syrien und Arabien, ja sogar aus dem fernen Indien und Mittelasien strömen dort die Studenten zu vielen Tausenden zusammen, um den Koran zu studiren und seine Auslegungen zu hören; denn darauf beschränkt sich das ganze Wissen der mohammedanischen Gelehrten. Durchschnittlich zählt die Universität zwischen 8000 bis 10,000 Studenten, die meist von den damit verbundenen Stipendien der Stiftungen leben und auch dort wohnen, natürlich nach orientalischer [541] Weise äußerst einfach, wo nicht ärmlich. Mit einer europäischen Universität ist deshalb die Aszhar-Moschee nach keiner Richtung hin auch nur im Entferntesten zu vergleichen.

In jenen Jahren nun waren dort zwei neue Ulemas aufgetreten, die sich durch ihre fanatischen antichristlichen Vorträge besonders hervorthaten und alsbald einen außerordentlich großen Zuhörerkreis um sich versammelten. Beide Lehrer verweilten vorzugsweise gern bei der Erklärung derjenigen „Suren“ (Capitel) des Korans, die, wie z. B. die siebenundvierzigste, vom Kriege gegen die Ungläubigen, speciell gegen die Christen handeln und wo es unter Anderem heißt: „Wenn ihr mit den Ungläubigen zusammentrefft, so schlagt ihnen die Köpfe ab, bis ihr eine große Niederlage unter ihnen angerichtet habt! Die so für die Religion Allahs kämpfen, wird Er in das Paradies leiten, das Er ihnen versprochen hat.“[1] Als man in den Regierungskreisen mehr zufällig von diesen Vorträgen hörte, bekümmerte man sich nicht sonderlich darum; die Aszhar-Moschee steht ohnehin nicht unter der Jurisdiction irgend eines Ministers, sondern erkennt nur den Groß-Scherif von Mekka und in untergeordneten Fragen dessen Vertreter, den Mufti von Kairo, als ihr Oberhaupt an. Einer von den beiden Ulemas wurde aber doch als Kadi nach Tantah versetzt, wo er sich möglicher Weise jetzt an den dortigen Metzeleien betheiligt hat. Es wurde auch, auf Befehl des Khedive, eine Untersuchung eingeleitet, die aber nichts Erhebliches an den Tag brachte, nur daß man bei vielen Studenten Waffen fand, meist Dolche und Revolver, die einfach confiscirt wurden, und man glaubte damit die Sache abgethan. Dem war aber nicht so; denn es kam ein anderes Element hinzu, das schon eine ernstere Beachtung verdiente. Es wurden nämlich bald darauf in Kairo von Zeit zu Zeit kleine in arabischer Sprache verfaßte aufhetzende Flugblätter verbreitet, deren Inhalt augenscheinlich auf die unteren Classen berechnet war.

Fütterung des Giraffenkälbchens im Zoologischen Garten zu Dresden.
Originalzeichnung von Paul Heydel.

Woher sie kamen und wo sie gedruckt wurden, wußte Niemand; man fand sie überall, in den Läden und Bazars, auf den steinernen Bänken am Eingang der Häuser, auf den Geländern der öffentlichen Brunnen und in den Vorhöfen der Moscheen, wohin eine unsichtbare Hand sie über Nacht gelegt haben mußte, und immer vorzugsweise in den arabischen Stadttheilen. In diesen Blättern wurde eine sehr derbe und deutliche Sprache geredet; die unsinnige Verschwendung des Khedives wurde geradezu als die Ursache des nahe bevorstehenden gänzlichen Ruins Aegyptens dargestellt; der Muffetisch, der damals noch am Ruder war, wurde der Volksjustiz überwiesen, die Unfähigkeit der übrigen Minister und die Bestechlichkeit und Raubsucht der höheren Beamten, namentlich auch der Mudirs in den Provinzen stark gegeißelt, aber vor Allem das Institut der Generalcontroleure an den Pranger gestellt und die einzelnen Personen desselben rücksichtslos verspottet.

[542] Das ganze Unglück des Landes und die trostlose elende Lage des Volkes wurde dabei stets den Fremden, den Europäern, oder noch richtiger den Christen zur Last gelegt, und die Engländer und Franzosen erhielten in der bilderreichen arabischen Sprache Namen und Titel, die alle europäischen Kraftausdrücke weit hinter sich ließen. Die Polizei fahndete wohl auf die bösen Zettel, die dann plötzlich verschwanden, um nach einigen Wochen wieder aufzutauchen; ja man behauptete, daß manche Polizisten selbst solche Flugblätter in der Tasche trügen, um sie im Geheimen zu lesen, oder sich vorlesen zu lassen, wenn sie, wie es meistens der Fall war, nicht lesen konnten; denn Lesen und Schreiben ist in Aegypten schon der Probirstein höherer Bildung. Auch in die kleineren Städte des Deltas und sogar in die Dörfer bis hinauf nach Oberägypten drangen diese Flugblätter, und selbst in den letzteren fand sich immer ein „Gelehrter“, der den Fellachen über die augenblickliche Lage und Stimmung die nöthige Aufklärung verschaffte. Also ein Stückchen vom russischen Nihilismus im Pyramidenlande!

Wie weit Arabi bei Abfassung und Verbreitung jener Flugblätter thätig war, ist nicht näher zu erweisen; natürlich nehmen jetzt seine Anhänger Alles für ihn in Anspruch, oder bringen doch Alles mit seiner Person in Verbindung, was geeignet sein kann, ihn als den Hauptführer der Volkspartei zu feiern. Gewiß ist nur, daß er eines der thätigsten und einflußreichsten Mitglieder einer geheimen Verbindung von Officieren war, als deren Gründer Ali Pascha el Rubi, der jetzige Minister Arabi’s, anzusehen ist und deren Entstehen wohl schon in das Jahr 1875 fält, wo bei Gelegenheit des bereits erwähnten tollen abessinischen Feldzuges sich verschiedene Regimenter widersetzlich zeigten.

Trotzdem legte damals die Regierung jener Verbindung keine große Bedeutung bei, ja sie soll sogar von ihr geduldet worden sein und bei dem Staatsstreich des Ex-Khedives die Hand mit im Spiele gehabt haben. Auch Riaz Pascha, der Ministerpräsident Tewfik’s, soll heimlich zu ihr gehalten haben, um dadurch den Intriguen Ismaïl’s von Neapel und Halim’s von Constantinopel aus auf die Spur zu kommen. Das Intriguiren ist einmal das Grundelement des orientalischen Staatslebens, und es kommt nur darauf an, wer es am besten versteht, die Gegenpartei zu überlisten und zu stürzen. Arabi war nun feiner und listiger, und der kluge Riaz, der mit dem Feuer gespielt hatte, anstatt es energisch zu bekämpfen und zu ersticken, zog den Kürzeren und fiel.

Nun war die Partei mächtig genug, dem schwankenden und schlecht berathenen Khedive ihren Führer aufzudrängen, der als Arabi Pascha Kriegsminister und zugleich die Seele des Cabinets wurde. Doch dies ist dem Leser bereits bekannt, und ebenso die Biographie Arabi’s, die fast in allen größeren deutschen Zeitungen gestanden hat, obwohl sehr gleichlautend als ein Artikel der „Politischen Correspondenz“. Nur zwei Punkte dieses Artikels bedürfen durchaus zum richtigen Verständniß der Lage einer Widerlegung. Zunächst heißt es darin, daß von einer sogenannten ägyptischen Nationalpartei so gut wie gar nicht die Rede sein kann. Eine solche existirt aber allerdings und darf unmöglich jetzt mehr weggeleugnet werden. Der Keim dazu ist sogar schon von Mohammed Ali, dem Begründer von Aegyptens neuer Zeit, gelegt worden, insofern wenigstens, als sich schon unter ihm ein instinctives Volksbewußtsein geltend machte, mit dem Wunsch und Drange, sich von der türkischen Botmäßigkeit zu befreien und selbstständig dazustehen. Freilich war er selbst der Hauptträger und -vertreter dieses Bewußtseins, das die Westmächte nur allzu deutlich begriffen – sonst würden sie seine weitgehenden Pläne nicht so energisch und zugleich so selbstsüchtig bekämpft haben.

Wer sich dafür interessirt, lese nur die Geschichte jener Tage nach: als Mohammed Ali durch seinen tapferen Sohn Ibrahim (den Vater des Ex-Khedives) die große Entscheidungsschlacht bei Nisibi in Syrien am 24. Juni 1839 so glänzend gewonnen hatte, hätte ihm der Weg nach Stambul und zum großherrlichen Thron offen gestanden, zumal wenige Tage darauf der Sultan Mahmud der Zweite starb – wenn sich, wie gesagt, die Politik der Westmächte nicht in’s Mittel gelegt hätte, und von da an datirt in der europäischen Diplomatie die „Orientalische Frage“. Das hat man noch heute am Nil nicht vergessen, und alle Bestrebungen Ismaïl’s gingen darauf hinaus, die Pläne seines Großvaters, wenigstens soweit dieselben die Unabhängigkeit Aegyptens von der Pforte betrafen, zu verwirklichen.

Daß er dabei die denkbar verkehrtesten Wege einschlug und, statt seine Regentenpflichten mit Ernst aufzufassen und würdig zu erfüllen, gerade zu den schlechtesten und unsinnigsten Mitteln griff, daß er als gewissenloser Verschwender sein schönes Land ruinirte und zuletzt unter dem schimpflichen Titel „halb Narr, halb Despot“, den ihm die Verständigen im Lande längst gegeben, abgesetzt wurde – das ändert wohl für seine Person die große Bedeutung der nationalen Idee, aber die Idee selbst jedenfalls nicht, und wenn Arabi Pascha, der sich jetzt zu ihrem Träger und Vertreter aufwirft, etwas Aehnliches proclamirt, so steht jedenfalls eine große Partei hinter ihm. Sollte auch er fallen, sei es durch eigene Schuld, durch die Westmächte oder durch Intriguen von Constantinopel aus, so beweist dies weiter nichts, als daß auch er nicht der geeignete Mann zur Durchführung der Idee war, und das arme, unglückliche und so tief beklagenswerthe ägyptische Volk muß sich von Neuem mit der Hoffnung trösten, daß endlich doch einmal die erlösende Stunde schlagen wird.

Der zweite irrige Punkt in jenem biographischen Artikel – auch die englischen und französischen Zeitungen legen so großen Nachdruck darauf – ist die Behauptung, daß die ungeheuren Anleihen, welche die ganze augenblickliche Verwickelung hervorgerufen haben, im Grunde doch dem Lande zu Gute gekommen seien, mit andern Worten: daß das Capital, für das die fast unerschwinglichen Zinsen aufgebracht werden müssen, doch von Aegypten verzehrt sei.

Diese Behauptung beruht auf einer vollständigen Unkenntniß der Verhältnisse im Nillande; daß man freilich in London und Paris dergleichen verbreitet, darf nicht Wunder nehmen; denn die Intervention der beiden Mächte erhält dadurch gewissermaßen einen größeren moralischen Halt. Aber im Uebrigen und an sich ist jene Behauptung durchaus unwahr. Dem Lande ist nur ein äußerst geringer Bruchtheil jener unermeßlichen Summen zugute gekommen, und der großen Masse der Bevölkerung, den Fellachen, die mehr als drei Viertel der gesammten Einwohnerzahl Aegyptens ausmachen und die doch gerade die Zinsen aufbringen müssen, gar nichts. Woher die sonst mit jedem Jahre erhöhten Steuern und Abgaben, die zuletzt nur noch auf dem Executionswege, das heißt durch die Bastonnade, aufgebracht werden konnten und in Folge welcher das eigentliche Volk jetzt gänzlich verarmt ist? Das verträgt sich doch wahrlich schlecht mit dem vermeintlichen Segen, der dem Lande durch die Anleihen zu Theil geworden sein soll. Allerdings hat der Ex-Khedive im Laufe seiner sechszehnjährigen Regierung manches Nützliche und Ersprießliche geschaffen, so namentlich in den größeren Städten und speciell in Kairo, wo er einen ganzen Stadttheil nach europäischem Muster hat anlegen lassen, mit langen, gaserleuchteten Boulevards à la Haußmann, mit prächtigen Anlagen und Lustgärten, um, wie er sagte, aus Kairo ein orientalisches Paris zu machen. Dieser Ausdruck ist sehr bezeichnend und zwar als Beweis dafür, daß auch bei diesen Unternehmungen immer seine persönliche Eitelkeit obenan stand.

In weit höherem Maße war dies aber der Fall bei Oper, Schauspiel, Ballet und Circus und bei so vielen ähnlichen Schöpfungen und Anstalten, von denen das Volk wahrlich keinen Nutzen gezogen hat. Und das ist noch Alles geringfügig im Vergleich zu Ismaïl’s sinnlos verschwenderischem Hofhalt, zu seinen riesenhaften Palastbauten, für welche tausend und aber tausend Arme unausgesetzt um wenige Piaster Tagelohn gepreßt und dadurch dem Feldbau entzogen wurden.

Was hatte ferner das ägyptische Volk davon, daß sein Herrscher den Titel eines Khedives und für sein Haus die directe Erbfolge mit einer Million Pfund Sterling vom Sultan erkaufte, oder von ähnlichen „Gnadenbezeigungen“ der Pforte, die stets mit Tonnen Goldes aufgewogen werden mußten, was ferner von den durch ihre Märchenpracht sprüchwörtlich gewordenen alljährlichen Ballfesten, was von dem aller Beschreibung spottenden Möbelprunk der zehn, zwanzig Paläste, oder von den vergoldeten Galawagen, den englischen Rassepferden und von so vielen anderen Dingen, für die das in Europa geliehene Geld in ungezählten Millionen wieder nach Europa zurückging? Was hatte das ägyptische Volk vollends von der Haremswirthschaft des „Landesvaters“ und seiner Familie, zu der vielleicht gar mancher Fellah aus Oberägypten seinen Sohn als Eunuchen oder seine Tochter als Sclavin geliefert hatte? Und so könnten wir mit ähnlichen Fragen noch eine Seite füllen und würden doch immer und ewig nur eine und dieselbe Antwort darauf zu hören bekommen: Nichts, gar nichts! Arabi Pascha hat mithin von seinem Standpunkte aus so unrecht nicht, [543] wenn er sagt: „Die Gläubiger Aegyptens sind bei Licht besehen nur die Gläubiger des Ex-Khedives; sie mögen sich also an ihn halten und sich von ihm bezahlen lassen.“

Ist es nach dem Obigen also zu verwundern, wenn die Aegypter in den fremden Gläubigern und überhaupt in den Europäern die Quälgeister ihres Landes sehen, die von allen Einkünften und Erträgen für sich zuerst den Rahm abschöpfen und ihnen den saueren Bodensatz zurücklassen? Und welche Rolle haben dabei von jeher diese „Frengis“ in Aegypten gespielt, und ganz besonders die Franzosen und Engländer? Sie kamen nur, um Geld zu machen, und je mehr Geld, desto besser, wobei sie in der Wahl ihrer Mittel niemals ängstlich waren. „Wer nach Aegypten kommt, um dort sein Glück zu machen, muß ein weites Gewissen haben,“ sagt ein geflügeltes Wort, das nur zu wahr ist. Jeder brachte deshalb solches Gewissen oder gar keines mit.

In den ersten Regierungsjahren Ismaïl’s war der Zuzug der Franzosen, der schon unter Saïd Pascha bedeutend gewesen, enorm; denn Tausende wollten in einem Lande ihr Glück machen, dessen neuer Herrscher, noch mehr als sein Vorgänger, dem französischen Wesen so zugethan war und sich für seinen Hof die Tuilerien als Muster nahm. Bald wimmelte es in Alexandria und Kairo von französischen Abenteurern und Glücksrittern, von Schwindlern und Projectenmachern, und die Jagd nach dem Mammon begann.

Außer Frankreich waren es hauptsächlich Italien und Griechenland, die ihre Söhne, und nicht eben die besten und edelsten, über das Mittelmeer in das Goldland der Pyramiden sandten, Alle, Alle nur von dem einen Gedanken beseelt, reich zu werden und so sehr und so schnell wie möglich. Man könnte Bände füllen mit all den Geschichten, die sämmtlich keinen anderen Zweck hatten, als den Khedive und sein Land auszubeuten, Geschichten, die in Europa vielfach die betreffenden Personen mit der Polizei und den Gerichten in argen Conflict gebracht haben würden, aber an den Ufern des Nils nahm man es nicht so genau, und überdies hatten die Europäer dort eine besondere Gerichtsbarkeit, die sehr illusorisch war. Daß es unter der Menge der Fremden manche lobenswerthe und ehrenhafte Ausnahmen gab, ist selbstverständlich, aber es waren doch immer nur Ausnahmen, und die weitaus größere Mehrzahl bestand aus zweideutigen und oft sogar aus sehr anrüchigen Elementen. Die praktischen Engländer gingen von Anfang an umsichtiger und ernster zu Werke; sie gründeten Banken und Agenturen und hatten bald einen bedeutenden Theil des Export- und Importhandels in Händen, auch entwickelten sie ihre eigentliche Thätigkeit erst nach der Eröffnung des Suezcanals, der von da an ihr Hauptaugenmerk blieb und heute der eigentliche und wahre Grund ihres Einschreitens ist, ob sie auch noch so viel anderweitige philanthropische Motive vorschützen. Die Welt kennt die englische Philanthropie in fremden Ländern zur Genüge. Von der deutschen Colonie ist am wenigsten zu sagen; sie war von jeher die kleinste, kam aber nach 1870 zu großem Ansehen; denn der Name Bismarck hat auch am Nil einen gewaltigen Klang. In der europäischen Skandalchronik Aegyptens sind die Deutschen so gut wie gar nicht vertreten – das müssen wir durchaus, weil es die Wahrheit ist, hinzufügen.

Aber die Aegypter werfen jetzt, wo ihnen von Europa so hart mitgespielt wird, Alles ohne weiteren Unterschied in einen Topf und nennen heute jeden Europäer einen Ungläubigen, einen Christenhund (kelb nusrani), dessen Vertilgung eine Allah wohlgefällige Sache ist. Viel Böses, Arges und Ungerechtes muß geschehen sein, bevor das sanftmüthige, schüchterne Volk, dem es indeß keineswegs an Intelligenz fehlt, wie man so oft von Unkundigen versichern hört, so gereizt und von Haß und Rache erfüllt werden konnte.

Der tyrannische Steuerdruck, der ihnen das Letzte nahm und sie an den Bettelstab brachte, ist die Hauptursache ihrer Gereiztheit; dieser hat wieder seinen Grund in den Anleihen, und die Europäer sind die Gläubiger dieser Anleihen: das ist die heutige Logik des ägyptischen Volkes, die von den Verständigeren und Besonneneren allerdings nicht in ihrem vollen Umfange getheilt wird, die aber die wilden, entfesselten Massen zu Plünderung, Brandstiftungen und grauenhaften Mordthaten treibt. Ein furchtbares Element kommt hinzu, das stets in den Kriegen des Orients eine Schreckensrolle gespielt hat: der Fanatismns, die eigentliche Seele des Islams, der, was man auch sagen mag, noch immer seine Bekenner in den Tagen großer Bedrängniß zusammengehalten hat. Ueberdies war das Christenthum, wie es in Aegypten auftrat, wahrlich nicht geeignet, die Mohammedaner mit großer Achtung vor demselben zu erfüllen, und doch war es die abendländische, also die christliche Civilisation, mit welcher der Khedive sein Land beglücken wollte. Die Aegypter, und speciell die Bewohner der großen Städte, mußten einen ganz eigenthümlichen Begriff von jener Civilisation bekommen, wenn sie dem Treiben der Christen zuschauten.

Hier war es ein schwerer Diebstahl mit Einbruch oder gar eine Mordthat, dort eine Messeraffaire von Trunkenbolden oder auch ein skandalöser Bankerott und ähnliche Vorkommnisse in Menge, welche das Tagesgespräch der Alexandriner und Kairiner bildeten, und immer kamen von zehn Fällen neun auf Rechnung der Europäer, also der Christen, und unter ihnen standen die Griechen, Malteser, Kandioten in erster Reihe.

Es waren allerdings Ereignisse, die sich aus dem Zusammenströmen aller unreinen Elemente des südlichen Europas im Nillande erklärten und mit denen das Christenthum nichts gemein hatte, aber so weit dachte natürlich das Volk nicht. Und wenn die strenggläubigen Ulemas und Softis, denen alles christliche Wesen von jeher ein Gegenstand des Abscheus und der Verwünschung gewesen, jetzt den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen predigen, so ist es kein Wunder, daß ihre fanatischen Reden einen günstigen Boden finden und sofort praktisch verwirklicht werden. Die neuen Massenermordungen der Christen in Tantah und Benha nach den Gräuelscenen von Alexandrien beweisen dies nur allzu deutlich, und es mehren sich bereits die Anzeichen, daß sich die furchtbare Bewegung auch über die Grenzen Aegyptens hinaus und zwar nach Osten hin verbreiten wird; wenigstens lauten die neuesten Berichte aus Mekka, dem Centrum des mohammedanischen Fanatismus, und aus Damaskus, wo im Jahre 1860 die Drusen das entsetzliche Christengemetzel verübten, im höchsten Grade beunruhigend. Vielleicht ist gar die große Feuersbrunst in Smyrna, vom 16. bis 18. Juli, die über 1000 Häuser, darunter fast das ganze Judenviertel, in Asche legte, damit in Verbindung zu bringen.

Wir brechen hier ab; denn unsere Mittheilungen über Aegypten bezweckten nur, die Gegenwart aus der Vergangenheit, so weit dies in allgemeinen Umrissen und unter Hinweis auf einige der hervorragendsten Ursachen möglich war, zu erklären. Ueber die Zukunft des Nillandes, wenn auch nur über die nächste, sich schon jetzt ein Urtheil zu bilden, hieße den Ereignissen vorgreifen, die gerade dort so verwickelter und zugleich so eigenartiger Natur sind, daß man sie wohl unberechenbar nennen darf.




Aus der fränkischen Schweiz.

Von B. Florschütz. Mit Abbildungen von R. Püttner.
(Schluß.)

Das Schotterthal, in welchem wir zuletzt die Riesenburg ausgesucht haben, führt bis zur Einmündung des Aufsees in die Wiesent bei dem lauschig liegenden Wirthshause Doos, mit schönem Wasserfall; von da ab nimmt das Wiesentthal einen immer düstereren und wilderen Charakter an. Auf seinen linken Abhängen meist schroff-felsig und kahl, auf den rechten theils mit Laub-, theils mit Nadelholz bewachsen, wird es immer enger und geschlossener; ja zeitweilig scheinen gewaltige Felsvorsprünge das Thal ganz zu verschließen. Es wird von hier ab das Rabenecker Thal genannt und leitet uns in einer kleinen Stunde zwischen wüsten, dunklen Trümmermassen hindurch zu der auf hochromantischen, vielfach zerspaltenen Felszinnen liegenden Burg Rabeneck, welche wie kaum eine andere dem Berge selbst entsprossen und mit seinem Gesteine verwachsen erscheint. Der Blick auf die ebenfalls aus den [544] grauesten Zeiten stammende Burg ist am schönsten von der Brücke, welche bei Dorf Rabeneck über die Wiesent hinüberführt; sie wurde im Bauernkrieg zerstört und ist nur theilweise wieder wohnlich hergestellt worden.

RABENECK. WAISCHENFELD. DOOS.
Bilder aus der fränkischen Schweiz: Im Rabenecker Thal.

Bilder aus der fränkischen Schweiz: Pottenstein.

Von Rabeneck aufwärts gelangen wir zu dem mit Thürmen und Mauerresten umgebenen Städtchen Waischenfeld; es liegt bereits hoch und in rauher Gegend. Lange noch haben uns die ragenden Firsten und Trümmer von Rabeneck begleitet, und viele Touristen sagen ihnen hier mitsammt der fränkischen Schweiz Lebewohl, um nach Bayreuth zu fahren, obgleich die Umgegend dort noch manchen interessanten Punkt bietet. Viele Grabhügel mit höchst bemerkenswerthen Funden sind in den letzten Jahren dort aufgedeckt worden. Wir kehren daher nach Gößweinstein zurück; denn wir haben noch mehr und noch manches Schöne in Augenschein zu nehmen.

Unser nächster Besuch gilt dem Städtchen Pottenstein, einem freundlichen Orte von 1000 Einwohnern in so eigenthümlich romantischer Anlage, wie eine solche eben nur durch den absonderlichen Gebirgscharakter der fränkischen Schweiz geschaffen werden konnte. Von der Höhe einer Capelle herab erblicken wir, nachdem auf der vielleicht anderthalbstündigen Wanderung uns lange noch herrliche Rückblicke auf Gößweinstein und seine Felsen entzückt haben, plötzlich zu unseren Füßen einen herrlichen Thalkessel, umschlossen von den tausendfachzerklüfteten Steinwänden unbewachsener Berghöhen. Steil und ganz isolirt ragt zwischen diesen eine schroffe, vielgestaltige Klippe in die Höhe mit den Resten der Burg Pottenstein auf dem stolzen Scheitel, die, in neuester Zeit restaurirt, trutzig niederblickt auf das Städtchen mit seinen alten, aber reinlichen Gebäuden, welche in dichtgedrängten Reihen das Thal füllen, durchströmt von der forellenreichen, der Wiesent zurauschenden Püttlach und vom saftigen Grün der Bäume und Gärtchen umgeben. Es ist ein in seiner Weise wohl unvergleichliches Bild, in welchem Romantik und Idylle sich zu einem zwar engumrahmten, aber höchst wohlthuenden Ganzen vereinigen. 367 Stufen führen von der Stadt hinauf zu dem alten Schlosse, das einst im Besitze der Babenburger gewesen und ursprünglich Albuinstein hieß, bis es um’s Jahr 1100 nach einem Pfalzgrafen Botho Bottenstein, jetzt Pottenstein, genannt wurde. Die grauen Mauern haben mehr erfahren, als manche Burg in der Nähe; sie sind in den verschiedenen Kriegsläuften, die das Land über sich ergehen lassen mußte, wohl vier- bis fünfmal „ausgeflammt“ worden. Unter den mannigfachen Höhlen der Umgebung dürften die Teufelslöcher im Schotterthale, einem Seitentheile des Püttlacherthales, am bekanntesten sein, von welchen das große Teufelsloch bei einer Höhe von 18 Metern eine Länge von 105 Metern erreicht und durch den prächtigen grünen Widerschein berühmt ist, den sein hohes, unter einem Felsvorsprunge geöffnetes Portal hervorruft, wenn die Nachmittagsonne auf den Matten und Wiesengründen liegt. Ebenso in größerer Nähe des Städtchens das Haselloch, welches sich als Wohnstätte von Höhlenmenschen erwiesen hat. Ein großes Renommée in letzterer Hinsicht hat für den Alterthumsforscher der Fockenstein, ein nordwestlich von Pottenstein auf einem Bergrücken gelegener und bei einer Länge von zwanzig Meter theilweise über fünf Meter vorspringender Fels, welcher den inzwischen an verschiedenen anderen Stellen wiederholten Beweis liefert, daß in der Urzeit nicht blos ausgebildete Höhlen, sondern auch schon einfache schutzdachartig vorragende [545] Felsbänke Veranlassung zu menschlichen Niederlassungen gegeben haben. Die unter dem Fockenstein durch Herrn Rösch vorgenommenen Ausgrabungen haben durch die große Reichhaltigkeit ihrer Funde dem Platze ein dauerndes Andenken erworben.

KLAUSTEIN.0 EINGANG z. Sophien-Höhle.

Bilder aus der fränkischen Schweiz: Rabenstein.

Bilder aus der fränkischen Schweiz: Wolfsberg, Egloffstein und Hipoltstein.

Die Fundgegenstände bestehen aus Scherben zerbrochener Thongeschirre, Steinhämmern, Splittern und Bruchstücken von Feuerstein oder ähnlichem Materiale sowie aus knöchernen Werkzeugen und Waffen oder Geweihstücken, abgesehen von den großen Massen von Asche, Kohle und zerschlagenen Thierknochen, als Ueberbleibsel von Mahlzeiten. Alle diese einfachen Werke der menschlichen Hand tragen den Typus der ältesten Zeit zur Schau, besonders die Gefäße, welche aus Thon mit Quarzsand oder Dolomitbröckchen vermengt aus freier Hand geformt und im offenen Feuer äußerst ungenügend gebrannt sind. Doch sind auch Scherben aus feinem Thon mit Glättung und mit Graphitüberzug nicht selten. Sehr häufig weisen sie Verzierungen auf, die in der Mehrzahl der Fälle mittelst der Fingerspitzen und der Nägel hervorgebracht sind. Die Steinbeile und -keile sind vorwiegend roh zugeschlagen, seltener geschliffen, Messer, Pfeilspitzen etc. aus Feuerstein oft mit großer Kunst zurecht geklopft. Am meisten imponiren die Werkzeuge aus Hirschhorn oder Knochen, welche in solcher Menge und Mannigfaltigkeit selbst nicht in den ergiebigsten, ihnen nahe verwandten Pfahlbaufunden erreicht werden, diese vielmehr oft noch durch ihre fast künstlerische Ausführung übertreffen. Pfeilspitzen, Harpunen und Angelhaken der verschiedensten Form deuten auf Jagd und Fischerei als Hauptnahrungsquelle unserer Höhlenbewohner; Messer zum Zerschneiden des Leders, spitze Knochenpfriemen, grobe Nadeln aus Hirschhorn mit Oehr oder Einschnitt zum Umbinden des Fadens, sowie zahlreiche Schabinstrumente aus Stein oder Knochen lassen erkennen, daß eine künstliche Bearbeitung der Felle zu Bekleidungszwecken stattgefunden; die überall vorkommenden Spinnwirtel aus gebranntem Thon, oft mit recht gefälligen Verzierungen, häkelnadelartige Instrumente, Webegewichte und andere Gegenstände lehren uns, daß Spinnen und Weben fleißig geübt wurde, während Schmuck-Gegenstände, als Knochen- und Thonperlen und durchbohrte Thierzähne, schon auf das Bedürfniß eines gewissen leiblichen Schmuckes hinweisen.

Oft genug freilich finden sich in den tiefsten Schichten der Feuerplätze oder in entlegenen Höhlen neben rohesten Steinwaffen nur die zerschlagenen Knochen des Auerochsen als primitivste, aber stahlharte Werkzeuge. Im Allgemeinen müssen wir annehmen, daß das Völkchen, welches hier sein Wesen getrieben, sich auf einer Culturstufe befunden oder richtiger eine solche sich errungen hat, wie sie heute noch von hochnordischen, uncivilisirten Völkern, z. B. den Tschuktschen nach den classischen Schilderungen Nordenskiöld’s, eingenommen wird, und es muß gewiß auf jeden Denkenden einen eigenthümlichen und höchst anregenden Eindruck hervorrufen, an einer Stätte zu weilen, an welcher diese ersten ansässigen Menschen mit den ersten Anfängen einer Cultur ihr rauhes, kampfreiches Leben abgesponnen haben, während in kaum fünfzehn Minuten Entfernung sich das freundliche Städtchen vor seinen Augen ausbreitet mit allem Ringen und Streben des neunzehnten Jahrhunderts, und ihm selbst ein kurzer Gang nach dem Telegraphenbureau genügt, um mit der Geschwindigkeit des Blitzes seine Grüße in die vielleicht ferne Heimath zu senden. [546] Nachdem wir uns in Pottenstein an einem schmackhaften Gericht Forellen und ebensolchem Biere gelabt, wandern wir durch das hochromantische Püttlachthal nach dem Orte Tüchersfeld. Dieses Thal leistet an bizarrem Aufbau seiner Felsenmassen das Denkbarste und bietet dem Maler und dem Naturfreunde die reichsten, stets wechselnden Motive, die man von verschiedenen Ruhebänken aus mit aller Muße und nach verschiedensten Richtungen bewundern kann. Am merkwürdigsten gruppiren sich die Felsen in Tüchersfeld selbst. Zumal zwei hohe Kegel sind bemerkenswerth, welche einst mit Burgen bestanden waren, und zwischen welche hinein die Leute ihre Häuser gesetzt haben, während andere gleichsam den Felsen hinankriechen und sich mit Bäumen und Strauchwerk auf den Vorsprüngen des Gesteins höchst seltsam ausnehmen. Wer jemals das Dorf besucht hat, wird in dem einen unserer Bilder (vergl. S. 552) diese Tüchersfelder Partie sofort erkannt haben. Einen hübschen Hintergrund erhält der durch diese Gruppirung höchst eigenartige Ort durch das ein Stündchen entfernte, felsenumgebene Dorf Kohlstein mit Schloß und Kirche.

Bei dem oben erwähnten Dorfe Behringersmühle, zu welchem wir inzwischen zurückgekehrt sind, mündet der Ailsbach in die Püttlach, kurz ehe sich letztere mit der Wiesent vereinigt. Folgen wir diesem Bache thalaufwärts, so gelangen wir nach einer für unser durch Tüchersfeld verwöhntes Auge etwas monoton erscheinenden Wanderung in das wildromantische Rabensteiner Thal, so genannt nach dem uralten, theils in Trümmern liegenden, theils restaurirten Schlosse Rabenstein (nicht mit Rabeneck bei Waischenfels zu verwechseln), das auf 150 Fuß hohem, vielfach geborstenem und in chaotischer Trümmermasse abstürzendem Felsriffe gelegen ist. Am bekanntesten ist Rabenstein, welches eine reiche Sammlung von Petrefacten der Juraformation sowie fossilen Thierknochen besitzt, durch die in nächster Nähe befindliche und mit dem Schlosse durch gefällige Anlagen verbundene Sophienhöhle, die zweite bedeutendste Zoolithenhöhle der fränkischen Schweiz.

Dieselbe hat eine Länge von nicht weniger als 440 Metern, prachtvolle Stalaktiten, welche Decken und Wände in den verschiedensten Formen bekleiden und am günstigsten sich bei Beleuchtung mit Magnesiumdraht präsentiren, sowie einen außerordentlichen Reichthum an Knochenüberresten der ausgestorbenen Thiere. Ein großer Theil derselben ist bereits entfernt; der Rest wird sorgsam gehütet, und besondere Werthstücke werden unter Drahtverschluß gehalten. Die Höhle, eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, um welche sich der Besitzer im Interesse des besuchenden Publicums bedeutende Verdienste erworben hat, wurde im Jahre 1833 entdeckt, nachdem eine vor ihr befindliche kleine, die Klaussteinhöhle, welche früher mit ihr durch einen schmalen Felsspalt verbunden war und jetzt ihren Eingang bildet, bereits im vorigen Jahrhundert aufgefunden worden ist.

Seitwärts von Gößweinstein befinden sich ebenfalls verschiedene interessante Punkte, welche freilich, weil etwas weiter entlegen, von der Mehrzahl der Touristen außer Acht gelassen werden, obgleich sie an pittoresker Schönheit sich vielen der bisher erwähnten Burgen und Felspartien würdig an die Seite stellen können. Es sind dies unter Anderem Schloß Egloffstein und Burg Wolfsberg, beide im Thale der Trubach gelegen, welche unsern von Ebermannstadt bei Pretzfeld ihre Wasser mit denen der Wiesent vereinigt. Schloß Egloffstein, Stammsitz der noch heute blühenden Grafen und Freiherren von Egloffstein, ist ein stattlicher und wohlerhaltener Bau in imponirender Lage; Wolfsberg hingegen, ein Stündchen weiter thalaufwärts, blickt mit öden Fensterhöhlen und längst gebrochenen, gras- und strauchbewachsenen Mauern in düsterem Ernste auf das gleichnamige Dörfchen zu seinen Füßen.

Auf dem Plateau aber, das sich zwischen dem Thale der Trubach und dem Muggendorfer Wiesentthale ausdehnt, in annähernd gleicher Entfernung von Gößweinstein wie von Wolfsberg, erhebt sich der höchste und umfassendste Aussichtspunkt der fränkischen Schweiz, der Wichsenstein, den jeder Reisende aufsuchen sollte und mit welchem wir unsere Wanderung beschließen wollen. Er ist ein steiler und schroffer Felskegel, der mitten aus dem Dorfe Wichsenstein aufsteigt und auf seinen kühn emporstrebenden Zinnen in früheren Jahren ebenfalls ein Schloß getragen haben soll, weshalb ihn die Ortsbewohner nach heute den Schloßberg nennen. Er ist durch Treppenanlagen ohne große Schwierigkeit zu besteigen und giebt uns einen Ueberblick über die weite Gegend, welche wir bisher durchstreift haben, mit all ihren Eigenthümlichkeiten und ihrer Romantik. Ragende, seltsame Felsen mit gähnenden Schluchten daneben, ist denen unter dunklen Föhren die Wasser rauschen, leuchtende Schlösser auf hoher Warte, graue Ruinen, in den grünen Thälern aber und auf den sonnigen Matten der Bergabhänge Dorf an Dorf und Ort an Ort im Kranze ihrer Obstgärten, überall frisches junges Leben und überall Reste der dunkelsten Vergangenheit – so liegt die ganze fränkische Schweiz vor unseren Augen, ein liebes unvergeßliches Bild, zu dem die fernen Berge des Steiger- und Thüringerwaldes, das Fichtelgebirge und die oberpfälzer Bergzüge den abschließenden, duftigblauen Rahmen bildend.[2]

Sinnig hat unser Künstler einen Strauß von Wald- und Wiesenblumen vor seinem Bilde vom Wichsenstein niedergelegt – auch wir nehmen einen Strauß mit von hinnen, indem wir jetzt unsere Schritte der Heimath zuwenden, einen Strauß der schönsten Eindrücke und tiefsten Anregungen, wie ihn wohl kaum ein anderes Fleckchen deutscher Erde ist gleicher Herrlichkeit und Fülle auf so engem Raume uns binden kann.





Schule und Werkbank.

Von Th. Gampe.

Eine tief eingreifende Reform in der Erziehung, besonders der männlichen Jugend, also eine Culturbewegung ersten Ranges, sendet seit einigen Jahren ihre erfrischenden Fluthwellen auch über unser deutsches Vaterland: man will die Schule mit dem Leben, die Theorie mit der Praxis, das Wissen mit dem Können inniger verschmelzen als bisher, oder mit anderen Worten: man will die Werkbank neben die Schulbank setzen; der Knabe soll die erworbene geistige Intelligenz unmittelbar praktisch bethätigen lernen, man will ihm nicht nur Güter des Wissens, man will ihm auch schwer wiegende materielle Güter mit auf den Lebensweg geben – die Intelligenz der Hand – er soll das Eine durch das Andere stützen, befestigen und erweitern lernen.

Diese Reform, so jung sie auch ist, hat ihre Geschichte, an die ich schon des Raumes wegen hier nicht herantreten kann; wer sie nachlesen will, findet in Nr. 4, Jahrgang 1880 der „Gartenlaube“ einen gedrängten Abriß aus der berufenen Feder Karl Biedermann’s. Hier sei nur wiederholt, daß der kräftigste Anstoß von Dänemark aus erfolgte, daß der gesammte skandinavische Norden mit Einschluß Finnlands unaufhaltsam von der praktischen Idee ergriffen worden ist und daß dort schon zahlreiche Handfertigkeitsschulen gegenwärtig in erfreulicher Blüthe stehen. Die Seele der Bewegung in Dänemark, der rührigste Apostel, wird den Lesern kaum mehr ein Fremdling sein – es ist der dänische Rittmeister Clauson von Kaas.

In Deutschland hat die Reform in den meistbetheiligten, in den Lehrerkreisen, vielfach Opposition wachgerufen, und auch viele Handwerker sehen scheelen Blickes auf die vermeintlichen Rivalen in den Schulwerkstätten; nichtsdestoweniger greift sie doch um sich. In Berlin, in Görlitz, in Emden beschäftigen sich Vereine damit, und in letzterer Stadt konnte bereits vor zwei Jahren ein Cursus mit sechszig Theilnehmern in’s Leben treten, der den Zweck hatte, Lehrkräfte für den Handfertigkeitsunterricht heranzubilden.[3] Den gleichen Zweck, wie in Emden, verfolgt der gegenwärtige Cursus im alten Cadettenhause zu Dresden. Die Initiative hierzu ergriffen fast gleichzeitig die beiden gemeinnützigen Vereine zu Dresden und Leipzig unter Leitung der Herren Stadtrath Bönisch, [547] Dr. Birch-Hirschfeld, Schuldirector Kunath, Werkzeugfabrikant Wermann, Dr. Götze, Geh. Schulrath Kockel, Geh. Reg.-Rath Böttcher und Professor zur Strassen.

Beide Vereine übernahmen Garantien und hatten die Genugthuung, bei dem Ministerium des Innern auf Sympathien zu treffen, sodaß auch die sächsische Regierung ansehnliche Mittel bewilligte. Das Finanzministerium gab passende Räumlichkeiten dazu her; das Cultusministerium ertheilte den theilnehmenden Lehrern den nöthigen Urlaub; man berief den Meister von Emden, Herrn Clauson von Kaas, auch als Führer und Meister nach Dresden, und die ausgesandten Circulare erregten lebhaftes Interesse. Das fesselnde Bild des Malers Limmer zeigt uns dreiundsechszig Theilnehmer in der flottesten Thätigkeit, und ich würde den Leser sofort ohne alle weiteren Umstände in die sang- und klangfröhliche Werkstätte einführen, wenn nicht gerade in letzter Zeit harte Verurtheilungen des Handfertigkeitsunterrichts, und zwar von gewichtigen Seiten, laut geworden wären. Diesen muß ich zunächst entgegentreten.

Man fürchte jedoch keine pädagogischen Disputationen! Ich werde mich überhaupt hüten mit dem gelehrten Deutschland zu hadern; auch ist die reinpädagogische Seite durch die neueste Broschüre des Herrn Clauson von Kaas[4] erschöpfend behandelt worden; nur als praktischer Mann, als ein Mann, der selbst den Handwerkerschurz getragen, der seine Hand in mannigfachen Dingen üben mußte, bevor er die Feder ergriff, möchte ich einige Worte reden.

Zuerst möchte ich mich gegen die Opposition der Handwerker wenden, die sich besonders in Emden fühlbar gemacht hat. Die Handwerker haben meiner Ueberzeugung nach von diesen Bestrebungen nur Gutes zu hoffen und nichts zu fürchten. Was hat denn die Handwerke am meisten niedergebracht? Die unselige Waarenunkenntniß der Käuferwelt. Wie wenige Menschen wissen ein gutes Stück Arbeit von einem schlechten zu unterscheiden! Und in neunzig unter hundert Fällen giebt der Preis den alleinigen Ausschlag. So ist es gekommen, daß die Handwerker ihr Heil nur zu oft im Unterbieten finden und sich am geringeren Material und an der geringeren Arbeit schadlos zu halten suchen. Die Schulwerkstätten werden keine Concurrenten der sonst schon nicht auf Rosen gebetteten Handwerker schaffen; dazu sind die Ziele zu eng gesteckt; der Hausfleiß wird Niemandem auch nur ein Butterbrod wegnehmen, er wird aber das Verständniß für ein gutes Stück Arbeit im Volke vermehren, und das wird beitragen, die Schundpreise und die Schundwaare in den Kehrichtwinkel des Arbeitsmarktes hineinzufegen, wohin sie gehören.

Ich gebe nicht sehr viel darauf, daß der neue Lehrling aus der Handfertigkeitsschule schon manche Kenntniß des betreffenden Handwerks mit zum Lehrmeister bringt, ich kann es aber nicht hoch genug anschlagen, daß er verschiedene Verrichtungen aus verschiedenen Handwerken erlernte und so seinen praktischen Gesichtskreis erweiterte, und daß er sie nach einem bestimmten System erlernte. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Die Systemlosigkeit in der Anweisung der Lehrlinge in den Werkstätten ist ein Unglück der Handwerkerjugend, und wenn hier ein Stück Pädagogik eingeimpft werden könnte, so würde es ein Segen für die Menschheit sein. Oft besteht die ganze Anweisungskunst des Meisters in der abgeleierten Phrase: „Der Lehrling muß mit den Augen stehlen.“ Wollte er das Kind beim rechten Namen nennen, so müßte er sagen: „Du mußt Dir selber helfen; ich verstehe es nicht, Jemandem etwas beizubringen.“ Zweifellos wird auch mit der Schuldisciplin an der Werkbank der Sinn für Ordnung wachsen, und man wird vielleicht später nicht so viele Werkstätten finden, in denen vor Abfällen, Geräthen und Gerümpel ohne Gefahr gar nicht vorwärts zu dringen ist.

Im Uebrigen richtet der Dilettantismus nirgends großen Schaden an, und erfahrungsgemäß nimmt Niemand mehr den Tischler und den Drechsler in Anspruch, als wer zu Hause selbst an der Hobelbank baut und leimt. In Skandinavien freilich hat sich der Unterricht viel mehr als bei uns auf die Selbsthülfe zuzuspitzen, weil in den nordischen Einöden die Handwerker meilenweit entfernt wohnen. Bei unseren hochentwickelten Industrien, unserer Arbeitstheilung, aus der ja einst auch die Handwerke entstanden sind, wird der Dilettantismus an der Werkbank niemals concurrenzfähig werden, und zudem ist das auch gar nicht die Absicht der obersten Leiter. Dagegen wird der Schüler aus der Schulwertstätte Achtung vor dem Arbeiter und seiner Arbeit mit in’s Leben hineintragen; denn er wird erfahren, daß die Arbeit einen ganzen Mann fordert, und noch durch die dickste gelehrte Brille wird er allezeit hindurch erkennen, daß eben die Arbeit einzig und allein die Grundsäule der Cultur bildet.

Mit den pädagogischen Einwänden will ich, wie ich Eingangs versprach, mindestens nicht in gelehrtem Stile rechten, nur das Eine wird man mir zugeben müssen: daß heute eine Menge producirtes Wissen in den Sand verrinnt oder unverwerthet verborgen bleibt, weil der Träger desselben in seiner einseitigen, rein geistigen Erziehung in der praktischen Welt draußen nichts damit anzufangen weiß. Der Handfertigkeitsunterricht soll die bisherigen Schuldisciplinen nicht einschränken, nein, er soll das Erstrebte nur besser verwerthen lernen. Man glaube ja nicht, daß es sich beim Hobeln und Feilen nur um einen guten Hobelstoß und einen guten Feilenstrich handelt! Nein, der Blick in das praktische Leben wird bei solcher Arbeit geschärft; wer sich im Kleinen behelfen lernt, wird sich auch im Großen leichter behelfen können; die Welt wird ihm praktisch verständlicher; die mannigfachen Arbeiten, die er geübt, werden ihm zum Schlüssel einer ganzen Kette der bedeutsamsten Culturfactoren werden.

Als nächstliegende Folgen dürfen wir die Bildung des Formensinns bezeichnen; sodann wird sich das Auge leichter in allen Größenverhältnissen zurecht finden, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn Derjenige, der einen Winkel mit dem Auge richtig einstellen lernt, nicht auch ein Geschütz gut einstellen und ein guter Artillerist werden sollte.

Die ermöglichte Selbsthülfe in kleinen häuslichen Dingen ist natürlich auch nicht zu verachten, wenngleich ich ihr keinen so hohen Werth beilege, wie Meister Clauson von Kaas. Wichtiger scheint mir der gesundheitliche Werth der Arbeit. Mir ist kaum eine turnerische Uebung bekannt, die alle Muskeln so wohlthätig anstrengte, wie die Trennsäge, mit der man nicht vor sich, sondern unter sich schneidet.

Die Gegner führen an, der Handfertigkeitsunterricht absorbire die Aufmerksamkeit zu sehr, und die anderen Disciplinen müßten darunter leiden; der Schüler brauche seine freie Zeit zur Erholung nöthiger; die Schule sei ferner berufen, des Lebens Ideale hochzuhalten, und der Schüler sei vor dem zu frühzeitigen Gedanken an Arbeit und Erwerb zu schützen, damit der Ernst des Lebens nicht die Blüthe der Jugend knicke etc.

Das sind gewiß Gründe, die uns Sympathien abzwingen, aber ich sehe nicht ein, warum die Ideale durch eine vierstündige Handarbeit, wie sie Clauson von Kaas per Woche verlangt, in der Schule sinken sollten; sie erhalten eher Zuwachs; denn es kommt ganz auf den Lehrer an, die Arbeit selber, das Lebenselement der Gesellschaft, unter die Ideale zu rücken.

Im Sommer will Clauson von Kaas den Handfertigkeitsunterricht ganz einstellen, weil hier die Gartenarbeit seine pädagogischen Absichten völlig erfüllt, und die vier Stunden per Woche werden wohl in der übrigen Zeit mit einigem guten Willen unterzubringen sein. Die geistige und die körperliche Thätigkeit concurriren ja nur wenig mit einander. Warum laufen wir denn meilenweit spazieren, wenn wir den Kopf überangestrengt haben? Es ist das ein Beweis, daß der Körper selbst nach einem Ausgleiche verlangt. An den allzufrühen Ernst, der schädlich auf das Gemüth des Knaben wirken soll, kann ich auch nicht recht glauben; das Kind faßt Alles kindlich auf, selbst schweres Unglück der Eltern, und dann müßte auch der äußerst wohlthätige Unterricht der weiblichen Handarbeiten wieder aus der Schule verbannt werden; er steuert ja gleichfalls dem späteren Erwerbe zu, wenigstens bei den unteren Volksschichten. Wir finden nichts Besonderes darin, daß auch die junge Dame, die späterhin nur noch selten eine Nadel zur Hand nimmt, sich in weiblichen Handarbeiten unterrichten läßt, und wir wollten etwas Verwerfliches darin erblicken, daß der Knabe die populärsten Werkzeuge gebrauchen lernt? Gewiß, wie Jene, wenn sie nähen lernt, eine umsichtigere Gebieterin im Hause werden wird, so wird der an der Werkbank unterrichtete Knabe einmal ein umsichtigerer Hausherr werden, wenn er auch nicht mehr Säge und Hammer selbst führt.

Auf eine Gefahr, die meines Wissens von den Gegnern bisher unberührt geblieben, will ich selbst aufmerksam machen; sie liegt darin, daß der Hausfleiß leider nicht selten zu einer [548] Leidenschaft ausartet. Es liegt eben eine unbeschreibliche Selbstbefriedigung in diesen selbstgefertigten Dingen, und zuweilen wird die Eitelkeit noch genährt durch übermäßige Anerkennung und Bewunderung seitens der Umgebung.

Auch die Handwerker werden zuweilen von dieser verhängnißvollen Leidenschaft ergriffen; sie vergessen über ihre Lieblingsarbeiten den Erwerb und die Brodarbeiten, und mir selbst sind Tischlermeister bekannt geworden, die an eingelegten Tischplatten zu Grunde gingen. Weit öfter verbeißt sich natürlich der Laie in seine Liebhabereien, und bei ihm ist das doppelt gefährlich, weil diese in der Regel gar nichts mit seinem sonstigen Beruf zu thun haben. Doch auch diese Gefahr kann mich nicht irre machen; wer wollte eine gute Sache verdammen, weil damit Mißbrauch getrieben werden kann? Auch giebt es Viele, denen das Schicksal in ihrem Beruf wenig Geld und reichlich freie Zeit zumaß; bei ihnen wird diese Leidenschaft zum Segen werden; sie schmücken sich ihr Heim mit selbstgefertigten Arbeiten aus, machen sich’s dadurch lieber und werther und pflegen so unbewußt die Tugend der Häuslichkeit.

Und nun den längst versprochenen Gang nach der neueingerichteten Dresdener Lehrwerkstätte!

Gleich beim Eintritt begegnen wir Meister Clauson von Kaas, dem Ausbauer des Fröbel’schen Erziehungssystems. Der Leser wird den liebenswürdigen und charaktervollen Kopf auf dem beigegebenen Bilde ebenso leicht herausfinden, wie man ihn sofort an Ort und Stelle als das Haupt der großen Werkstätte erkennt. Mit Unverdrossenheit beantwortet er die tausend technischen Fragen seiner dreiundsechszig Scholaren und mit freundlicher Ruhe waltet er seines Amtes bald als Lehrer, bald als Rathgeber, bald als Vermittler oder Schiedsrichter, um darauf sofort wieder an seinen Schreibtisch zurückzukehren; denn er führt genau Buch und Rechnung über Alles, was in der Werkstätte geschieht. Nebenher verfaßt er Repliken und Vertheidigungsschriften für seine Reform – nicht stark und streitbar, aber tief durchdacht und immer getragen von einer wahren und anheimelnden Humanität.

Wir wissen, wir haben keine Meister, sondern Anfänger vor uns, und darum können auch die Einzelarbeiten keinen Anspruch auf eingehende Beschreibung erheben; um so voller genießt das Auge den Gesammteindruck. Vor Allem ist es die großartige Betriebsamkeit, von welcher die ganze Schaar erfaßt worden ist, und dann sind es die eigenartigen Arbeitergruppen. Hier setzt ein Schuldirector seinen Hobel an und hobelt Alles gleich; dort flicht ein würdiger Cantor in derselben feierlichen Haltung, mit der er des Sonntags die Orgel spielt, einen Kartoffelkorb, und daneben setzt ein Candidat der Theologie die Drehbank mit einer so überlegenen Sicherheit in Bewegung, als hätte er im Leben nichts gethan, als Feilenhefte gedreht, und von dem „Schlossersgesellen“, der nach dem Volkslied „gar langsam gefeilt hat“ und der gar nicht so selten sein soll, ist hier keine Spur zu entdecken. Die frohmüthige Rührigkeit hat den Brüsseler Professor van Kalken, den die belgische Regierung nur zur Berichterstattung hierher sandte, so unwiderstehlich ergriffen, daß er selbst den Schurz vorband und die Hemdsärmel aufstreifte, um den ganzen Cursus mitzumachen, und ich habe ihn mit Hobel und Säge hantiren sehen, daß es eine Lust war.

Am Schleifstein. Bildschnitzer. Laubsägearbeiter. Cantor Mohr a. d. Drechselbank.
Papparbeiter. Arbeitssaal. H.N. van Kalken Prof. a. Brüssel. Buchbinder.
Tischler. Rittmeister Clauson v. Kaas. E. Limmer gez. Metallarbeiter. Korbmacher.
An der Drechselbank • Wird die Zeit nicht lang.
Eine Schnitzebank • Schützt vor Müßiggang.
Originalsprüche d. Dresdner Schülerwerkst.

Der Handfertigkeits-Cursus für Lehrer in dem großen Saale des alten Cadettenhauses zu Dresden.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von E. Limmer.

Die Theilnehmer zahlen für den sechswöchentlichen Cursus insgesammt 40, beziehentlich 60 Mark für Wohnung, für Materialverbrauch und als Lehrgeld; natürlich deckt das die Kosten bei [549] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


weitem nicht, und wir deuteten schon früher an, wer für den Ausfall einsteht. Im Cadettenhause selbst sind große Schlafsäle eingerichtet worden mit je sechszehn bis achtzehn Betten, und die Frau Hausmeisterin sorgt für einfache, aber kräftige und dabei billige Mittagskost.

Die „dreiundsechszig Herren Lehrjungen“, wie sie sich scherzweise selber nannten, sind sechs Werkmeistern (Abtheilungslehrern) unterstellt, und der Stundenplan ist so eingerichtet, daß Jeder einen vollen Arbeitstag zu acht Stunden auf jede der eingeführten Branchen verwenden kann. Somit ist der Theilnehmer während des Cursus sechs Tage lang Tischler, sechs Tage lang Bildschnitzer; gleich lange wird gebuchbindert; die Metallarbeiten und die Laubsäge nehmen dieselbe Zeit in Anspruch, während die Korbmacherei sich mit drei Lehrtagen begnügen muß. Die gefertigten Arbeiten werden Eigenthum ihrer Urheber, doch müssen dieselben dem Comité zu einer Ausstellung am Schlusse des Cursus überlassen werden.

Jede Woche hält Clauson von Kaas vor den theilnehmenden Herren Vorträge über Handfertigkeit und Hausfleiß, um den Lehrern auch theoretisches Material für ihre Schulen mit zu übergeben; eine Conferenz der Lehrer unter sich findet auch statt, um gegenseitige Anschauungen und Erfahrungen auszutauschen, und die Sonntage sind gemeinsamen Ausflügen in die herrliche Dresdener Umgebung vorbehalten. In einem Nebensaale findet sich eine Fachbibliothek für Handfertigkeitsunterricht aufgestellt, über deren Umfang man erstaunen muß, wenn man an die Jugend der ganzen Bestrebung denkt. Ein warmer Freund des Unternehmens sandte ein gutes Pianino zur musikalischen Erquickung nach gethaner Arbeit.

Mir will die Kürze des Cursus ein wenig bedenklich erscheinen. Die Herren sollen ja das Erlernte weiter lehren, müssen also bis zu einem gewissen Grade der Sache Meister sein. Doch ist die Umsicht anzuerkennen, mit der man die elementaren Verrichtungen der betriebenen Handwerke auswählte. Es wird dadurch jedem Theilnehmer möglich werden, sich selbst weiter fortzuhelfen, und das geschieht ja auch bekanntlich in anderen Lehrfächern, indem man Andere belehrt; auch hofft Clauson von Kaas, daß die Herren bei den Handwerkern weitere Lehre suchen. Indessen, längere Curse bleiben auf jeden Fall wünschenswerth, und sie werden auch vom Meister selbst angestrebt.

Die Tischlerei beginnt mit der Trennsäge. Nachdem eine Latte abgetrennt, wird sie quadratisch gehobelt (auch auf dem Hirnholz). Dem „Schenkel“ folgt die Herstellung eines runden Stabes, und dann beginnt man mit der schwereren, mit der Flächenhobelei. Ist das Hobeln geübt, dann werden Gebrauchsgegenstände gebaut, zuerst gewöhnlich ein Messerkästchen. Im Anfang nagelt man die Ecken; beim nächsten Kästchen werden sie schon verzinkt. Hierauf erweitert der Lernende seine Kenntniß der Holzverbindungen durch eine Fenster- und zum Schluß durch eine Stuhlbeinverzapfung, und damit hat man allerdings das ABC der Tischlerei hinter sich.

In der Buchbinderei wird mit einer einfachen Mappe begonnen, und das Endziel findet man in dem Einband eines Buches mit Lederrücken. Mannigfaltiger sind die Papparbeiten, die sich dem Buchbinden anschließen, und sind hier besonders die geometrischen Pappfiguren zu erwähnen, die als doppeltes Lehrmittel für die Jugend gelten können.

Eine allerliebste Technik, höchst unterhaltend und dankbar für den Hausfleiß, ist die Bildschnitzerei. Sie fordert verhältnißmäßig wenig Werkzeug, und die Handfertigkeit kann sich hier am weitesten [550] ausbilden. Die Arbeiten haben Dauer, repräsentiren eine gewisse Solidität, verlangen Exactheit und Sorgfalt, und man kann bei ihrer Herstellung gleichzeitig den Sinn für Formenschönheit üben. Auch unter den Theilnehmern zeigt sich eine besondere Lust für diese Branche; ich sah Anfängerarbeiten, bei denen man mir auf Ehrenwort versichern mußte, daß sie von Anfängern herrührten.

Für die Laubsäge-Abtheilung habe ich mit dem besten Willen keine Sympathien in mir erwecken können. Das ewige Fitscheln mit der Laubsäge ist kaum eine Technik zu nennen; die Ornamente bleiben immer flach, schablonenhaft und nichtssagend; zudem nimmt man den Holzflächen durch das gebräuchliche übermäßige Ausschneiden den Halt und die Erzeugnisse gleichen allzu sehr Conditoreiwaaren, während man berechtigt ist, bei dem sonst so soliden Rohmaterial auch stabile Arbeiten zu verlangen. In Verbindung mit der Bildschnitzerei und bei Einlege-Arbeiten kann die Laubsäge allerdings in ihrer Mission bedeutend gehoben werden, doch dazu werden sechs Wochen sich zu kurz erweisen.

Die Metallarbeiten sind noch nicht obligatorisch eingeführt. Jetzt beginnt man mit Drahtgegenständen, und das ist nur anzuerkennen. Der Draht im Haus ist das für den Hausvater, was der Flickzwirn für die Hausfrau darstellt. Später will man physikalische Schulapparate fertigen.

Clauson von Kaas möchte gern noch weitere Branchen einführen, wenn nicht die leidige Kürze des Cursus zwingend dagegen spräche. Er hat mancherlei Musterarbeiten aus dem Norden mitgebracht, die vielleicht Anstoß zu weiteren Hausindustrien geben könnten; so sah ich Koffer und Hutschachteln aus Stroh und Haselnußrinde geflochten, mit denen ein englischer Fothballclub glaube ich jahrelang seinen Sport treiben könnte – so dauerhaft sind sie gearbeitet.

Vielleicht giebt man bei künftigen Handfertigungscursen das Eine auf und setzt das Andere dafür ein. Als Sohn eines Landwirths könnte ich für Landschulen die Riemerei empfehlen. Wie oft reißt und platzt etwas an Schiff und Geschirr, und wie oft steht ein armer Tropf von Fuhrmann hülflos an der Landstraße! Ein Pfriemen und ein Riemen in der Schoßkelle und die nöthige Fertigkeit in der Hand kann mancher Verlegenheit vorbeugen. In die Metallbranche sollte man unbedingt das Härten von Messerklingen etc. aufnehmen. Eine Schneide, die nicht stehen will, ist beinah schlechter als gar keine Schneide, und mit wie wenig Handgriffen kann dem oft abgeholfen werden!

Nun, die Entwickelung des Handfertigkeitsunterrichts hat ja eben erst begonnen; als Freund der Sache berührte ich die Mängel absichtlich, um nicht in den Verdacht der Voreingenommenheit zu gerathen und um auch bei dem Gegner Vertrauen zu gewinnen. Nur die Discussion kann weitere Klarheit schaffen, und möchte ich daher wünschen, daß mit der negirenden Resolution der Kasseler Lehrerversammlung wenigstens das Discutiren der Frage nicht in’s Stocken gerathe und sich die Kluft zwischen Schulbank und Werkbank nicht noch mehr erweitere.

Die heutige Zeit fordert alle Intelligenz heraus, auch die Intelligenz der Hand, und wenn die Lehrerwelt auch dieser nachstrebt und sie auf die Jugend überträgt, so wird nach meiner innersten Ueberzeugung die Schule das erst im vollsten Sinne werden, was sie sein muß: eine Vorbereitung für’s Leben.




Aus Bayreuth, der Stadt der Parsifal-Aufführungen.

Wenn man augenblicklich von Bayreuth erzählen will, kann man sich und dem Leser eine längere Einleitung ersparen. Es ist zur Zeit fast ein Kunststück Nichts über Bayreuth zu wissen. In der Telegrammrubrik unserer politischen Zeitungen steht der Titel Bayreuth in gleichem Course mit den Namen der Weltstädte, mit London und Paris, mit Constantinopel und Alexandrien. Ein Fremder, der nur oberflächlich die Tagesblätter überfliegt, kann auf die Idee kommen, daß dieses Bayreuth in einem besonderen Zusammenhang mit der orientalischen Frage steht, namentlich da auch im Jahre 1876, während der serbisch-türkische Krieg im Gange war, mit den Berichten von der unteren Donau unausgesetzt Depeschen aus Bayreuth durch die Blätter liefen.

Mit dem orientalischen Kriegsschauplatz hat nun allerdings Bayreuth Nichts zu thun – aber einen halb kriegerischen Charakter kann man dem Platze immerhin beilegen. Bayreuth ist das Generalstabs- und Hauptquartier einer sehr kampfeslustigen Kunstpartei. Es wird dort Viel gestritten, wenn auch nur mit Worten und blos über ästhetische und musikalische Dinge – und der Aufenthalt in dieser Stadt hat Manches von der Natur des militärischen Lagerlebens, des Bivouakirens mit seinen Reizen und seinen kleinen Uebelständen.

Einer unsrer besten Culturhistoriker, der Münchener F. W. Niehl, spricht einmal von einer „Kriegsgeschichte der Oper“. Die Geschichte der Oper aber hat mit dem Auftreten Richard Wagner’s eine ihrer kriegerischsten Epochen begonnen. Seine Hauptschlachten nennt Wagner „Festspiele“, und der Schauplatz dieser Festspiele ist eben unser Bayreuth.

Wie gerade Bayreuth zu dieser Bestimmung gekommen ist – das umständlich und diplomatisch genau aus einander zu setzen, würde uns zu weit führen. Daß der Ort sich zu dem Zwecke gut eignet, giebt die Mehrzahl Derjenigen zu, welche daselbst im Jahre 1876 der Aufführung des ersten Festspiels „Ring der Nibelungen“ beigewohnt haben. Und man darf sagen: er hat sich jetzt, wo der „Parsifal“, den Wagner ein „Bühnenweihfestspiel“ genannt hat, abermals der Einwohnerschaft Woche um Woche einen Zuwachs von mehreren Tausenden zum Theil anspruchsvoller Gäste bringt, noch besser bewährt.

Wir Deutschen sind von Haus aus gar nicht gewöhnt, die Kunst blos in den großen Städten, wo Hunderttausende von Menschen zusammenwohnen, aufzusuchen. Die Geschichte unsrer Kunst, unsres geistigen Lebens ist in mancher ihrer wichtigsten Partien eine halbe Dorfgeschichte, und einzelne unsrer größeren Geister lebten und wirkten an kleinen Orten. Bayreuth selbst war der Wohnsitz eines Dichters, den Deutschland unter seine eigenthümlichsten und höchst angelegten Poeten zählt: Jean Paul verbrachte hier einen schönen Theil seines Lebens. Er zog sein Bayreuth dem Glanz der großen Städte vor; hier fand er Stoff für seinen Humor und sein Gemüth. Niemand und Nichts störte ihn hier in seiner Eigenart. Er blieb in Bayreuth und starb daselbst.

Im Gegensatze zu einem andern berühmten Musiker, Robert Schumann, welcher leidenschaftlich für den Dichter von Bayreuth schwärmte, sind Wagner’s Beziehungen zu Jean Paul etwas dunkel. Eins aber theilt er mit dem großen, phantasiekühnen Humoristen: das ist die Liebe der Bayreuther. Ja, ich glaube nicht, daß Jean Paul die Gunst seiner Mitbürger in dem gleichen, allgemeinen Maße besessen hat, wie Richard Wagner; denn diesem fühlt sich Jedermann in Bayreuth zu Dank verpflichtet.

„Wenn wir vor zehn Jahren“ – sagte ein einfacher Gewerbsmann – „hinaus in die Fremde kamen, da wußte Niemand etwas von Bayreuth. Sagten wir: Bayreuth liegt im Fichtelgebirge, fragten sie: Ja, wo ist denn das Fichtelgebirge? Heute aber ist Bayreuth ebenso bekannt wie Nürnberg. Ja“ – so schloß unser schlichter Freund – „der Wagner ist ein tüchtiger Mann, und wenn auch nicht Alles nach seinem Kopfe gehen kann – er versteht sein Geschäft.“

Die Beweise von dieser Popularität Wagner’s traten uns in Bayreuth handgreiflich auf Schritt und Tritt entgegen. Man benennt Kellnerinnen und Kellner mit den Namen von Wagner’s poetischen Figuren, ja, selbst die vierfüßige Creatur wird in diese unschuldige Spielerei mit hineingezogen. Wenn Wagner von den Toilettenartikeln und Gebrauchsgegenständen, denen sein eigener Name zur höheren Weihe und zur Recommandation vorgesetzt wird, wirklich ohne Ausnahme Gebrauch machen sollte, müßte sein Geschmack von einer unbegreiflich großen Vielseitigkeit sein. Und dieser sichtbare Cultus des Dichtercomponisten geht über den Bereich der Stadt noch weit hinaus. Bereits auf dem Bahnhofe zu Lichtenfels ist der Wartesaal mit einer Büste Wagner’s, geschmackvoll in frisches Grün gestellt, geschmückt worden.

Daß die Bayreuther den geistigen Bestrebungen Wagner’s mit wahrhafter Theilnahme folgen, kann man an verschiedenen Zeichen beobachten. Selbst seine Agitation gegen die Vivisection hat dort praktisch gewirkt und die Gründung eines Vegetarianervereins [551] zur Folge gehabt, welcher während der diesjährigen Festspiele den Gesinnungsgenossen einen Sammelpunkt und orthodoxen Mittagstisch bietet. Das ist eine Erscheinung, welche für eine baierische Stadt etwas Ueberraschendes hat.

Wichtiger und unbedingt ehrenvoll für Bayreuth ist die Thatsache, daß Wagner dort für seine Bühnenreformen von vornherein Verständniß fand und daß die Bürgerschaft schnell bereit war, für die Errichtung des Wagner-Theaters Opfer zu bringen, und sie auch wirklich brachte. Man schenkte einen Bauplatz, baute eine Straße, errichtete Alleen und Anlagen und zeigte sich in jeder Beziehung bereitwillig und entgegenkommend. Der Künstler traf in der kleinen Stadt auf viele große Herzen und sah sich bald von einer Reihe Männer ungeben, die seine Ideen zu den ihrigen machten und dieselben energisch durchführten.

Daß die sogenannte „Wagner-Gemeinde“ im letzten Jahrzehnte so ansehnlich gewachsen, daß ein so eigenartiges Unternehmen, wie die Bühnenfestspiele in Bayreuth, wirklich in’s Leben treten konnte, ist zu einem nicht geringen Theil auf die Begeisterung und Thatkraft der treuen Freunde zurückzuführen, welche Wagner an Ort und Stelle fand.

Eine gewisse Disposition zur Kunst liegt allerdings in Bayreuth in der Luft; denn diese Stadt ist eine ehemalige Residenz. Hier thronten Hohenzollern, die nächsten Verwandten der Kurfürsten von Brandenburg und Könige von Preußen, und hielten einen Hof, der in Pracht dem Vorbilde von Versailles nach der Mode der Zeit so gut nacheiferte, wie es eben ging. Die geliebte Schwester Friedrich’s des Großen, Wilhelmine, war bekanntlich an einen markgräflichen Vetter von Bayreuth verheirathet und hat in ihrer geistreich unzufriedenen Weise das Leben an den Fürstenhöfen von Bayreuth und Ansbach sehr lebhaft geschildert. Damals bot Bayreuth alles, was zur standesgemäßen Repräsentation eines großen Fürstenhauses für nöthig galt. Auch eine italienische Oper war darunter. Das Haus, in welchem diese Oper sich hören ließ, war eines der größten und prächtigsten in ganz Deutschland. Es ist mit seiner inneren Einrichtung noch vollständig erhalten, und eine Besichtigung desselben bietet Anlaß zu interessanten Betrachtungen und Vergleichen.

In der Stadt und ihrer Umgebung predigen noch viele andere steinerne Zeugen von der Herrlichkeit jener vergangenen Zeit. Daher stammt noch die große Anzahl imposanter Gebäude mit den schönsten Erkerbauten, daher die Schlösser und der prächtige Hofgarten. Geht man die Friedrichstraße hindurch, kann man das neunzehnte Jahrhundert vollständig vergessen. Auf beiden Seiten stehen sie, eins am andern, die alten Adelshäuser mit ihren Parkmauern und großen Einfahrtsthoren; die Simse, die Fensterläden – Alles ist noch unverfälscht geblieben, und zur Abendzeit ist’s Einem, als müßten jeden Augenblick die schweren Flügelthüren knarren und die goldstrotzenden Carossen mit den Dienern in Puder und Perrücken und mit den federschweifgeschmückten Rossen in die Straße lenken, um eine hinter der andern ihre zarten Insassen zu den hohen Herrschaften jagend zu führen. In der Bayreuther Vorstadt St. Georg, da, wo jetzt das durch den Attentäter Kullmann in den Mund der Leute gebrachte Zuchthaus steht, trifft man einen trockenen ebenen Platz, der den Namen „See“ führt. Wie in anderen Residenzen hatte man in der Markgrafenzeit in der That auch in Bayreuth an jene Stelle alle verfügbaren Wasser zusammengeleitet und veranstaltete dort nächtliche Seeschlachten bei Fackellicht und andere nautische Vergnügungen. Eines der schönsten Denkmäler jener Zeit ist das ganz nahe bei Bayreuth gelegene Lustschloß Eremitage, einer der gewinnendsten Rococobauten, die noch existiren, hinter anderen an Zierlichkeit zurücktretend, aber unübertrefflich in dem harmonischen Anschluß an die grüne Natur des großen, schönen, alten Parks, in welchem er steht.

Mit dem Beginn der Napoleonischen Kriege war die markgräfliche Zeit dahin. Es giebt nichts Traurigeres, als solche alte, abgelegte Residenzstädte. Wenn sie für den Verlust nicht in der modernen Arbeit, durch große Industrien einen Ersatz finden können, welken sie dahin wie verlassene Bräute, und ihr Leben hat nur noch wenige Reize in quälenden Erinnerungen. Für Bayreuth kam endlich ein Ersatz für den Markgrafen, und zwar in einem Kunstgrafen. Der Beherrscher der neuen Oper, Richard Wagner, zog hier ein und legte hier im Jahre 1872, gerade an seinem Geburtstage, den 22. Mai, den Grundstein seines neuen Theaters. Für sich selbst baute Wagner auf dem Wege zur Eremitage ein Wohnhaus, welches schon von außen durch den ganz eigenen Charakter einfacher Vornehmheit das Auge fesselt. Ein Sgraffitobild auf der vorderen Wand zeigt die Gestalt von Wotan, dem Helden des „Ring der Nibelungen“; links von ihm steht die Schröder-Devrient, rechts Frau Cosima Wagner mit dem Sohne des Componisten, dem kleinen Siegfried. Das Haus führt den Namen „Wahnfried“, und zur Erklärung der eigenthümlichen Wortbildung dient eine besondere Inschrift, welche lautet:

„Hier, wo mein Wähnen Frieden fand,

Wahnfried

sei dies Haus von mir genannt.“

In dem großen, ganz im dunkelsten Grün gehaltenen Vorgarten hat Wagner bereits die Stelle herrichten lassen, wo einst sein sterblicher Theil zur Ruhe bestattet werden soll.

Die Vollendung des Bühnenhauses selbst verzögerte sich bis zum Jahre 1876. Obwohl man sich auf die verhältnißmäßig sehr niedrige Bausumme von 300,000 Mark eingerichtet hatte, war diese doch nur mühsam zusammen zu bringen. In Wien waren von Freunden und Gönnern des Wagner’schen Unternehmens 100,000 Gulden gezeichnet worden. Da kam die große Finanzkrisis, und es blieben für Bayreuth nur 7000 Gulden. Diese Erscheinung wiederholte sich in allen Orten, und es bedurfte der größten Anstrengungen von Seiten Wagner’s und seiner Freunde, daß die von dem Dichtercomponisten seit Jahrzehnten gehegte Idee des eigenen Theaters nicht wieder bloß Idee blieb.

Die für das erste Festspiel ausgewählten Künstler verfügten sich schon im Sommer des Jahres 1875 nach Bayreuth und hielten dort Vorprobe. Das nächstfolgende Jahr machte dann Bayreuth zur wirklichen Feststadt und brachte seinen Namen in aller Leute Mund. Der interessanteste Abschnitt der damaligen Festspielperiode fiel in die Zeit der letzten Proben. Anders als diesmal waren bei ihnen Zuhörer zugelassen worden, fast lauter Musiker und künstlerische Leute. Da konnte man sich in Bayreuth um etliche Breitegrade weiter nach Süden versetzt glauben. Ein solches buntes, lebhaftes Treiben hatte die alte Frankenstadt lange nicht mehr gesehen; die Häuslichkeit siedelte auf die Straße über, und bis in die späte Nacht saßen in den Gassen fröhliche Menschen.

Der Ruf der einen Restauration von „Angermann“, nach der alle Welt hinstrebte und in der nur Wenige Platz hatten, drang damals bis in die amerikanischen Zeitungen. Vor dem Hause und in dem Hause entwickelte sich ein wahres Zigeunerleben. Man saß auf Tonnen und half sich, wie man konnte; als aber nach Beendigung der Proben die eigentlichen Zuhörer eintrafen, ward es für die bescheidene Stadt etwas schwierig, dieser plötzlichen Völkerwanderung Genüge zu leisten. Es gab kleine Unbequemlichkeiten in Quartier- und Verpflegungssachen, über welche manche Gäste ein großes Lamento erhoben. Bei dem diesmaligen Festspiel hat man sich die Erfahrungen des Jahres 1876 zu Nutze gemacht, und wir können Jedermann, der Lust hat einer Vorstellung des „Parsifal“ beizuwohnen, versichern, daß er bei billigen Ansprüchen auf Comfort Nichts vermissen wird. Bayreuth ist keine Großstadt wie Berlin, und Museen kann man daselbst nicht besuchen, aber es ist ein ganz anderer Ort als Oberammergau, das zur Zeit der Passionsspiele doch Zehntausende aufnimmt und versorgt. Wer nach Bayreuth reist, dem rathen wir, sich vorher durch Bestellung beim Secretär Ullrich einer Wohnung zu versichern; denn es ist, wenn auch nur als Ausnahme, vorgekommen, daß Gästen, welche jene Vorsicht unterlassen hatten, für ein einfaches Zimmer 20 Mark abverlangt worden sind. Auf dem angegebenen Wege erhält man gutes Logis zu vollständig civilen Preisen, und für Speise und Trank leisten siebenzig und etliche Bierwirthschaften die ausreichendsten Garantien. Besonders gut ist diesmal das Fuhrwesen in der Feststadt, namentlich die Schnelligkeit der Beförderung wäre für manche größere Orte als Muster zu empfehlen.

Einen wunderschönen Blick über die reichgefügte, waldreiche Landschaft, in welcher die Feststadt mitten drin liegt, hat man auf dem Hügel, der das Festspielhaus trägt. Von Bayreuth selbst ist es ungefähr fünfzehn Minuten entfernt und zu finden, ohne daß man fragt. Fortwährend wallen Pilger dort hinaus. Auch wenn nicht gespielt wird, bieten die Restaurationen am Theater einen angenehmen Aufenthalt. Steigt man einige Schritte höher, so kommt man in einen herrlichen Laubwald, aus dem man manchen schönen [552] Ausblick auf Gebirge und Aue thun kann. Zur Zeit aber, wo die Vorstellung beginnt, in der Nachmittagsstunde nach drei Uhr, bewegt sich die Straße dort hinaus ein wahrer Heereszug zu Wagen und zu Fuß. Alle Welt, Fremde und Einheimische, ergehen sich gerne auf dem Hügel vor dem Theater, wo man die interessante Gesellschaft, welche sich zu den Festspielen zusammengefunden hat, am bequemsten Revue passiren lassen kann. Extravagante Toiletten, schöne Figuren und charaktervolle Köpfe, Sehenswürdigkeiten aller Art bieten da dem Auge Stoff zu Betrachtungen. Die Festspiele von 1876 waren in dieser Hinsicht noch ergiebiger als die diesmaligen, bei denen sich die Fremdenmasse mehr zu vertheilen scheint. Damals wohnte auch Kaiser Wilhelm einem Cyclus von Vorstellungen bei. Einen außergewöhnlichen Fall bot damals auch die Fremdenliste unter dem Buchstaben P. Da stand unter Pietschen und Pauers ein Dom Pedro, Heimath: Brasilien, Stand: Kaiser. Der hohe Herr saß auch wirklich mit im Parquet, mitten in der Menge. Für gewöhnlich haben natürlich die fürstlichen Herrschaften ihre eigenen Plätze, wie im Uebrigen, so auch in der Fremdenliste. Unter den anwesenden Fremden ragt das musikalische Element, wie zu erwarten, hervor, ohne jedoch zu überwiegen. Innerhalb desselben bilden die unbedingt ergebenen Anhänger Wagner’s die Majorität. Sie nennen den Dichtercomponisten nur „Meister“. Der Antipathie gegen diese Bezeichnung hatten am Vorabend des diesmaligen Festspiels einige Berliner Schriftsteller, welche an der Bankettafel bei einander saßen, dadurch Ausdruck gegeben, daß sie unter sich eine Strafcasse errichteten, in welche Jeder eine Mark zu zahlen hatte, der einmal vom „Meister“ sprach. Sehr stark vertreten ist der Stand der Juristen.

(Schluß folgt.)     

Tüchersfeld.

Wichsenstein.


Bilder aus der fränkischen Schweiz:
Originalzeichnungen von Richard Püttner.



Blätter und Blüthen.

Die Giraffenfamilie im Dresdener Zoologischen Garten. (Mit Abbildung S. 541.) Die Geburt eines Thieres ist in einem Zoologischen Garten immer ein freudiges Ereigniß; denn da so ein Neugeborenes eine ganz besondere Anziehungskraft auf das Publicum auszuüben pflegt, so macht sich der größere Besuch des Gartens sofort bemerkbar, wenn in den betreffenden Tagesblättern zu lesen ist: es sind in dem und dem Zoologischen Garten Löwen, Tiger, Bären, Wölfe etc. geboren.

Dresden hatte am 22. Juni die große und seltene Ueberraschung, daß in seinem Zoologischen Garten eine Giraffe geboren wurde.

Die sächsische Hauptstadt besitzt seit 1876 eine weibliche und seit 1877 eine männliche Giraffe, und diese Thiere sind bis jetzt zu einer solchen Höhe (beinahe 17 Fuß) und Schönheit gediehen, daß man sie mit Recht als die hervorragendsten unter den jetzt in der Gefangenschaft gehaltenen bezeichnet.

Man hoffte schon seit mehreren Jahren von diesem hohen Paare Nachkommenschaft zu erzielen, gab aber endlich, da alle äußeren Anzeichen fehlten, die Hoffnung auf, als am obenerwähnten Tage Frau Giraffin eines Kindleins genas.

Nur in London, Wien und Hamburg ist der Fall einer Giraffengeburt in der Gefangenschaft bisjetzt vorgekommen, und es ist daher um so mehr zu bedauern, daß unser junges Thier nur drei Tage am Leben blieb. Nach gemachten Erfahrungen der obenerwähnten Gärten stehen die Neugeborenen dieser Thiergattung nach acht bis zehn Stunden auf, um sich ihre Nahrung bei der Mutter zu suchen. Leider war die junge Giraffe des Dresdener Gartens von so großer Körperschwäche, daß es ihr unmöglich war, sich aufzurichten, obgleich die Mutter alles aufwandte, um sie durch Lecken zum Aufstehen zu ermuntern. Verschlimmert wurde die Situation noch dadurch, daß alle Versuche, die Giraffin zu melken, mißriethen; denn wenn man ihr zu nahe kam, wurde sie so scheu und durch Ausschlagen so gefährlich, daß man von der Verabreichung von Giraffenmilch absehen mußte; es war glücklicher Weise eine[WS 1] frischmelkende Kuh in der Nähe, und so gab man dem Thiere am Tage der Geburt noch Abends Kuhmilch, welche es auch gern nahm; es sog davon zwei Flaschen aus; den zweiten Tag wurde, um noch kräftiger zu wirken, ein Versuch mit einer kleinen Dosis Tokayer Wein mit und ohne Ei gemacht, das Thier war aber durch massenhaften Schleim, welchen es von sich gab, am kräftigen Saugen verhindert, und obgleich ihm am nächsten Tage, wo ein Dromedar ein todtes Junges zur Welt brachte, noch Dromedarmilch verabreicht wurde, starb es am 25. Juni früh.

Es ist sehr die Frage, ob die Giraffin wieder werfen wird, und wenn dies der Fall sein sollte, so würde es immerhin circa zwei Jahre dauern, da die Tragzeit dieser Thiere vierzehneinhalb Monat währt. A. S.     


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In der dritten Sure heißt es: „Die wahre Religion vor Gott ist der Islam; wer sich zu einer anderen Religion als zum Islam bekennt, dessen nimmt sich Gott nicht an; denn er gehört zu den Verlorenen“ – und in der siebenten Sure: „O ihr Gläubigen! nehmet weder Juden noch Christen zu Freunden! Wer dies thut, der ist Einer von ihnen.“ Diese wenigen Citate genügen wohl schon als Beweis der absoluten Unduldsamkeit des Islams.
  2. Für Touristen, welche die fränkische Schweiz besuchen wollen, dürfte unter den neueren Reisehandbüchern Band 53 von „Grieben's Reisebibliothek“ besonders zu empfehlen sein.
  3. In Leipzig wie in Dresden bildeten sich Lehrer in der Handfertigkeit bei Handwerkern aus, und unter Leitung der Herren Dr. Götze und Director Kunath sind in beiden Städten Schulwerkstätten errichtet worden, die in voller Blüthe stehen.
  4. Emden 1882, in Dresden durch H. Burdach.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ein