Die Gartenlaube (1882)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 44.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Spätsommer.

Novelle von C. von Sydow.
(Fortsetzung.)

Erna Lepel! Arndt war sich nicht bewußt, in dem Mädchen irgend eine Hoffnung geweckt zu haben. Trotzdem war es ihm nicht mehr behaglich in ihrer Nähe, und seine Unterhaltung mit ihr war ein seltsames Gemisch von aufrichtiger Kälte und unnatürlicher Zuvorkommenheit. Er sprach über hundert Dinge mit ihr, aber er wußte kaum, was sie antwortete. Er fand, daß sie hübscher geworden sei, doch selbst diese Bemerkung glitt kühl an seiner Seele ab.

Erna war zu klug, um seine Veränderung nicht sofort zu bemerken, und als er sich am Schlusse der Gesellschaft von ihr verabschiedete, war ihm, als blickten ihre lebhaften Augen traurig, wie in einem ersten Schmerze, vor sich hin. Er kam sich in diesem Augenblicke vor wie Einer, der im Leichtsinn vor einen Altar getreten ist, dessen Ritus ihn kalt läßt, weil er die Bekenntnisse seines Glaubens nicht theilt.

Dergleichen innere Erlebnisse schlossen ihn nur um so enger an Henriette. Diese empfand mehr und mehr für Alles, was er ihrem Sohne war, eine heiße Dankbarkeit und war ihm zugethan, wie ihrem besten Freunde; deshalb mochte sie ihn ungern einen Abend entbehren.

So verging der Winter, und eines Tages war es Frühling geworden. Dieser war wirklich einmal unmerklich gekommen – ohne Sturm und Regen.

Es ist etwas Eigenes um ein echtes Frühlingsgefühl. Die Empfindung höheren Werdens, aufwärts steigender Kraft und weicher, unbegrenzter Empfänglichkeit erfüllt uns, und das Herz hält plötzlich gleichen Tact mit dem großen Herzschlag der Welt.

Das Gefühl solcher Gehobenheit hatte sich in diesem wunderbaren Frühling auch Arndt’s in gesteigertem Maße bemächtigt; je länger er Freundschaftsrechte bei Henrietten genoß, desto mehr schwand in ihm jener eigenthümlich beklemmende Druck, dessen er sich zuweilen im Anfang ihrer Bekanntschaft nicht hatte erwehren können; es war in ihm eine gewisse zufriedene Heiterkeit, die vielleicht zum Theil auf ein bestimmtes erfreuliches Ereigniß zurückzuführen war: ihm war in jenen Tagen der Preis für einen öffentlich eingereichten Bauplan zuerkannt worden, und nun hatte er oft das Gefühl, als wäre jeder Tag ein Schritt, der ihn näher zu den Höhen des Lebens trüge. – –

Der Juli war vor der Thür und mit ihm nahten auch die Hundstagsferien des Knaben. Die beiden Malerinnen waren schon im Mai in die Thüringer Berge gegangen.

„Wir haben noch gar nichts über die Ferien beschlossen,“ sagte Henriette eines Tages zu Arndt. „Ich werde natürlich wieder mit Curt verreisen, aber nur auf die gesetzlichen vier Wochen.“

„Wohin werden Sie gehen?“ fragte der Architekt in erzwungen kaltem Tone, während eine dunkle Röthe ihm in’s Gesicht stieg.

„Ich dachte, wieder nach Rügen.“

Henriette hatte das mit plötzlicher Heiterkeit gesagt. Der Gedanke an die See schien eine Reihe bestrickender Bilder an ihrer Phantasie vorüber zu führen, und erst als ihr Blick auf Arndt fiel, zog wieder ein unsicherer Schatten über ihr Gesicht.

„Wir werden Sie sehr vermissen,“ sagte sie herzlich, und ein Seufzer stahl sich zwischen ihre Worte.

„Henriette, geben Sie mir ein Recht, Sie zu begleiten?“ fragte er und stemmte die erhebende Hand gegen die Lehne ihres Stuhles.

Sie mußte sich sammeln. Es gab nur eine Deutung für seine Worte. Sie erglühte unter seinen Blicken, um dann wieder zu erblassen.

Da brach es befreiend, wie ein entfesselter Strom der Leidenschaft, aus seinem Innern hervor.

„Henriette!“

Sie schwieg; ihr Gesicht wurde immer trauriger, und sie schloß einen Augenblick lang die Augen.

„O, das nicht! das nicht!“ sagte sie leise.

Er zog seine Hand von ihrem Stuhl zurück, blieb aber doch vor ihr stehen, als erwarte er noch etwas.

„Arndt,“ sagte sie dann, „Sie würden nicht glücklich werden an meiner Seite.“

„Das heißt,“ stieß er rauh hervor, „Sie würden es nicht werden an der meinen – o, Sie lieben mich nicht.“

Er athmete kurz auf, hob den Kopf kaum merklich und sah aus, wie Jemand, der durchaus standhaft bleiben will.

Noch einen Blick voll glühenden Verlangens warf er auf sie, wandte sich ab und ging zur Thür.

„Arndt!“ rief sie geängstigt und verwirrt. „Ist es denn unmöglich, daß wir Freunde bleiben? Arndt, denken Sie nicht, ich ließe Sie so gehen!“ Und sie eilte ihm nach und hielt ihm bittend beide Hände entgegen. „Freunde, Arndt! Freunde!“ rief sie noch einmal.

Ein bitteres Lächeln flog über seine Lippen.

„Freunde?“ wiederholte er scharf. „Ja, wenn Sie diese Stunde vergessen können! Ich werde mein Möglichstes thun.“

Sie zitterte vor seiner zornigen Liebe und sann, wie sie ihn besänftigen könne.

[726] „Wenn Curt zu Bett ist, kommen Sie wieder!“ sagte sie plötzlich. „Ich will Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, Arndt.“

„Ich werde kommen. Sie würden mich sonst gar für einen trotzigen Knaben halten,“ sagte er tonlos, mit fast ausdrucksloser Stimme und ging. – – –

In seinem einsamen Stübchen angekommen, begann Arndt ein rastloses Wandern. Nur ab und zu blieb er plötzlich stehen und warf einen zerstreuten, glanzlosen Blick über die gleichgültigen Gegenstände seines Zimmers hinweg, gleichsam in die Ferne, als sei er ein Schiffbrüchiger, der vom Strande aus apathisch zusieht, wie draußen das Meer sein Fahrzeug verschlingt. Nach diesem starren Versunkensein wieder das ruhelose Wandern! Endlich sank er müde auf sein Sopha.

Hier saß er lange, ohne sich zu regen, blaß, mit geschlossenen Augen, Verzweiflung in den Zügen. Plötzlich sah er auf und murmelte einen Fluch zwischen den Lippen, wie ein Spieler, der Alles auf eine Karte gesetzt und sich verrechnet hat.

Als es zehn Uhr vorbei war, erhob er sich, um zu Henrietten zu gehen.

„Weiter, immer weiter im Leben!“ rief er resignirt. „Aber gottlob! der Rest meiner Tage wird immer kleiner.“




11.

„Ich hätte es wissen sollen,“ sagte er, als er bei Henrietten eintrat. „Es war ein unverzeihlicher Knabenstreich, den ich vorhin begangen habe.“

Sie erhob sich und sah theilnehmend in sein blasses, stolzes Gesicht.

„Nein,“ sagte sie; „es ist meine Schuld. Ich hätte Ihnen eher erzählen sollen, was ich Ihnen jetzt ...“ Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie drückte seine Hand wie in schmerzlicher Verwirrung. „Arndt, unser jüngstes Gespräch,“ flüsterte sie, „hat die Todten in ihren Gräbern geweckt. Setzen Sie sich zu mir, und hören Sie mich an!“

Er that, wie sie wünschte, und nahm ihr gegenüber Platz, legte aber das Haupt zurück, sodaß sein Gesicht von dem Schatten eines hohen Schrankes gedeckt ward.

Henriette kämpfte mit sich selbst. Das Wort, mit dem sie beginnen wollte, ließ sich nicht auf die Lippe zwingen. Um sich zu beruhigen, legte sie die Hände in einander.

„Lassen Sie!“ sagte er, aufspringend, da sie noch immer nicht redete. „Erzählen Sie mir nichts! Schonen Sie sich!“

Er wollte gehen.

„Nein,“ warf sie ein und schlug die Augen voll zu ihm auf. „Sie sind mein Freund, Arndt – bleiben Sie! Sie sollen, Sie müssen mich hören.“

Da blieb er, und wieder setzte er sich, wie zuvor, in den Schatten zurück.

„Er war der Bruder von Auguste und Adelheid.“ sagte sie mit gesenkten Wimpern. „Ich hatte ihn schon als Kind gesehen und sah ihn dann wieder, als ich siebenzehn Jahre alt war. Er hatte alle Eigenschaften, welche einen Menschen glänzend und liebenswürdig machen. Und mehr als das, er war ein musikalisches Genie – und vielleicht auch ein poetisches – jedenfalls schrieb er Gedichte, die ich sehr schön fand. Von Beruf war er Kaufmann, und als wir damals vier Wochen lang neben einander auf dem Lande lebten, stand er im Begriff, nach Amerika zu gehen.“

Sie hielt einen Augenblick inne. Worte machen jede Erinnerung so plastisch, daß die Vergangenheit bei lebhaft fühlenden Gemüthern ohne Weiteres Gegenwart wird.

„Ja, Arndt, ich liebte ihn,“ fuhr sie mit bewegter Stimme fort, „und er liebte mich. Ich war damals jung, und er fand mich hübsch. Wir schwärmten mit einander – wir schwärmten von allem Schönen und Großen. Es war etwas in ihm, das nicht gut war. Schlecht war er nicht; nein, nein, das gewiß nicht! Aber er war egoistisch. – Adelheid sagte es mir noch an demselben Tage, an dem er mir seine Liebe gestanden – an dem Tage unserer Verlobung. Aber ich glaubte es nicht; wie hätte ich es glauben können, Arndt? Denn ich liebte ihn ja. – Er hatte dieselben schwarzen Augen wie Adelheid, aber sie waren weniger dunkel; denn sie hatten einen so ganz anderen Ausdruck: lichter, phantasievoller und ....“ hier sank ihre Stimme zu einem Flüsterton herab – „seltsam zerstreut. Aber der ganze Eindruck seiner Persönlichkeit .... Sie kennen .... Sie besinnen sich gewiß auf den antiken Hermes mit dem Flügelhut und den Flügelsohlen, der, leicht auf einem Felsen sitzend, nur eine Secunde lang zu rasten scheint – so sah er aus, Arndt.“

Wieder schwieg sie eine Weile; dann sagte sie gemessen:

„Er ging nach Amerika. Dort wurde er ein schlechter Kaufmann, aber ein großer Componist. Auch gab er Concerte in New-York, die einen Weltruf erlangten. Sie müssen von ihm gehört haben, Arndt; er hat in Amerika den Vatersnamen abgelegt und führt den Namen seiner Mutter. – Und in New-York hat er sich auch – verheiratet – mit einer viel genannten Concertsängerin. Ob er glücklich mit ihr geworden ist, weiß ich nicht; seine Schwestern reden nie mehr in meiner Gegenwart von ihm; – trotzdem scheinen mir oft Adelheid’s Augen zu sagen, daß er es nicht ist.“

Sie neigte sich gegen die Lehne ihres Stuhles zurück und blickte mit gedankenvollem Ernst vor sich hin, als vergesse sie eine Secunde lang, zu wem sie sprechen und daß sie überhaupt einen Zuhörer habe.

„Und Sie,“ fragte Arndt leise, „Sie lieben ihn noch?“

„Nein,“ sagte sie, „nein, Arndt, ich liebe ihn nicht mehr. Ich habe leben gelernt – ohne ihn, und es vergehen Tage, ja zuweilen Wochen, in denen ich gar nicht mehr an ihn denke. – Das ist keine Liebe mehr. Die Liebe zu ihm hat sich verwandelt in die Liebe zu meinem Sohne. Ich habe ihn nun schon längst über dem Kinde vergessen. – Doch – das ist vielleicht nicht ganz wahr, denn als ich den Knaben sah, war die Liebe zu ihm ja schon todt. – O! ich hätte es wohl nie geglaubt, daß wirkliche, wahrhaftige Liebe sterben kann, aber es ist so, Arndt; ein Hauch kann sie tödten; sie kann ausgeblasen werden wie ein Licht.“

Sie schauderte in sich zusammen und sagte in geisterhaftem Tone:

„Eine Andere – das war es – eine Andere!“ Dann richtete sie sich auf und fuhr zitternd fort. „Als ich es das erste Mal hörte, konnt’ ich es nicht fassen. Bis dahin hatt’ ich noch keinen Schmerz empfunden. – Nein .... es ist nicht mehr auszudenken, wenn es vorüber ist. – – Eine Andere – wie das klingt! – Verzweiflung ist eigentlich kein Schmerz mehr – Verzweiflung ist Wahnsinn – und ich hab’ es unzählige Male gefühlt, wie er aus dem tobenden Herzen emporkroch in die müden Gedanken – o, Arndt, Arndt – –“

„Doch die Verzweiflung athmet an ihrer eigenen Raserei aus,“ sprach sie nach einer secundenlangen Pause weiter. „Endlich – endlich werden die Gefühle dumpfer, und man schläft trotz aller Qualen ein. Ja – die Seele schläft – auch meine schlief. – Da las ich eines Tages nachträglich in der Zeitung seine Vermählungsfeier – und dabei erwachte ich wieder. Aber es war ein sonderbares Erwachen.“ – Sie stöhnte leise auf. „Denn gleichzeitig fühlte ich, daß Etwas in mir todt sei. – Nicht nur das Glück, auch die Liebe war gestorben. Todt, Arndt, todt – vollständig todt und vorüber! – – Die Welt im Ganzen kam mir merkwürdig unzusammenhängend und verblaßt vor – alle einzelnen Dinge aber interessirten mich wieder. – Es ist schauerlich – aber es ist so: die Liebe war erloschen – erloschen, wie ein Licht, an dem kein Fünkchen mehr glimmt.“

Und als sie so sprach, lag plötzlich auch etwas Todtes und Erloschenes in ihrem Auge, Etwas, das Arndt nie zuvor darin gesehen hatte, und sie hob die Hand wie in dumpfer Erinnerung gegen die Stirn, während ein eigenthümlicher Ausdruck von Abwesenheit über ihre ganze Erscheinung glitt.

Erst nach einer geraumen Weile sah sie ihn wieder an.

„Nicht wahr, Sie haben mich verstanden?“ fragte sie feierlich. „Aber – wir sind Freunde, Arndt! Nicht wahr?“

„Das Licht ist ausgeblasen, aber die Flamme kann wieder auflodern“ sagte er wie aus einem Traume heraus, „auflodern für einen Andern.“

„Für Andere – ja! Aber nicht mehr für einen Andern,“ antwortete sie sanft und traurig. „So Etwas erlebt man nur einmal.“

Sie schwieg wieder.

„Und Curt?“ fragte Arndt. „Was band Sie an Curt?“

Da kam eine wunderbare Bewegung über sie, und ihr Antlitz strahlte wie verklärt.

[727] „Ich sah den Knaben,“ sagte sie leise, „und seine Augen, obgleich sie nicht dunkel waren ...“

Arndt wurde immer unruhiger, und seine Hand ballte sich zur Faust; eine Secunde lang haßte er den Knaben.

„Curt’s Augen hatten eine wunderbare Aehnlichkeit mit ... mit den seinen,“ sprach Henriette weiter. „Alles in mir wachte auf – o Arndt, ich konnte diesen Augen nicht widerstehen, und so versenkte ich die letzte Empfindung für den geliebten Mann in die Liebe zu diesem fremden Kinde. – Ein Jahr zuvor hatte ich den Antrag von Curt’s Vater, die Werbung von Professor Brandenburg, zurückgewiesen, da – nachdem ich den Knaben gesehen, war mir plötzlich die Aufgabe meines Lebens klar geworden. – Ich verlobte mich mit Brandenburg, der schon damals ein Todescandidat war, und als wir getraut wurden, lag er bereits auf dem Sterbebett. Aber ich wollte es so, ich wollte ein Recht haben, diesen Knaben meinen Sohn zu nennen, denn ich konnte nicht mehr von ihm lassen. Ich weiß nicht, ob es eine jesuitische Sünde ist: während der Geistliche das Ehegelübde vorlas, sprach ich in meinem Herzen. ‚Ja, ich will Dein sein bis in den Tod.‘ Ich meinte den Knaben, und gleich darauf wechselte ich den Ring mit dem Vater. – Merkwürdig,“ setzte sie hinzu, und ihre Stimme bebte. „Ich glaubte, die Zeit liege auf allen diesen längst verschollenen Ereignissen wie eine schwere Altardecke, welche ich nie wieder würde heben können – und nun lebt die Vergangenheit wieder auf, indem ich von jenen Tagen spreche.“

„Und Sie waren glücklich in jenen Tagen?“ fragte Arndt, „sind es heute, Henriette? Und ihr Herz ist ausgefüllt bis in alle Ewigkeit?“

Sie antwortete nicht. Ihre Gedanken schienen weitab zu wandern.

„Gute Nacht, Henriette – es ist Zeit, daß ich gehe.“

Da trat sie vor ihn hin und ergriff sanft seine Hand.

„Ja,“ sagte sie, „ich bin jetzt glücklich. Und Sie, Arndt, Sie werden es auch wieder sein. – Sehen Sie, es klopfen täglich viele schöne Freuden an mein Herz, und wenn sie einen leisen und stillen Gang haben und ruhig bei mir eintreten, so schadet das nichts, denn meine Hand, welche ihnen die Thür öffnet, zittert ja nicht mehr vor Sehnsucht. – Ja, ich bin glücklich, Arndt, aber jene Freuden, die durch alle Adern rinnen – die wie das Brausen im Frühlingssturm in die jauchzende Seele herabfahren, die sind natürlich vorüber.“

„Sie sind eine Heilige, Henriette, wohl Ihnen, daß Sie es sind!“ Er sagte es resignirt, aber in die Resignation seiner Stimme klang doch etwas wie Spott.

„Arndt,“ bat sie beschwörend, „spotten Sie nicht in diesem Augenblicke! Es wäre eine schwere Sünde. O mein Freund, was gäbe ich darum, wenn ich Ihnen helfen könnte, glücklich zu sein, wie ich es bin!“

Er wandte das Gesicht ab.

„Alles geben Sie darum, Henriette – nur nicht sich selbst!“ sagte er und preßte die Zähne im Schmerze auf einander.

Sie bemerkte es wohl, noch einmal ergriff sie seine Hand.

„Freunde!“ stammelte sie, „Arndt, warum denn nicht? Alles, was noch mein war von meinem Herzen, habe ich Ihnen ja gegeben, und Sie sollen es behalten bis an’s Ende: meine Dankbarkeit ...“

Und diesmal konnte sie nicht anders: in dem überströmenden Wunschgefühle, ihn zu trösten hauchte sie einen leisen, abbittenden Kuß auf seine Hand.

„Was thun Sie, Henriette?“ preßte er heraus. „Wollen Sie, daß ich ewig Ihr Sclave sein soll? Henriette – – Henriette!!“

Sie fuhr zusammen.

„Nein,“ sagte sie. „Sie werden aufhören, zu lieben, wie auch meine Liebe aufgehört hat. – Gute Nacht, Arndt! Gehen Sie! – Es ist gut, daß wir bald reisen und daß wir uns eine Zeit lang nicht sehen werden. – Später ...“ sie brach jäh ab. – „Auch aus dieser – schrecklichen Stunde kann uns Gutes kommen,“ schloß sie dann hastig.

„Vielleicht haben Sie mit allen Ihren Behauptungen Recht,“ sagte er, während sein Gesicht immer finsterer wurde und sich seine Gestalt fast unheimlich in die Höhe richtete. „Aber, glauben Sie mir, Henriette, nicht jede Liebe ist ein Gott. Liebe kann auch ein Dämon sein.“

„Liebe nicht. Liebe ist immer ein Gott,“ rief sie bewegt. „Ohne die Liebe wäre unsere Seele vielleicht ein Kaufhaus geworden, aber wir wurden geliebt – und unsere Seele wurde ein Tempel.“

„Allerdings,“ erwiderte Arndt wegwerfend; „es giebt auch armselige Tempel, wie es verloschene Herzen giebt, Tempel, in denen das Altarbild fehlt.“

„Ja, Arndt,“ sagte sie ruhig, „das Bild wurde uns zertrümmert, weil wir davor gekniet – wir sollen vielleicht keine andern Götter haben, als – die Ideale der Liebe und der Pflicht – was wollten wir denn auch anders? Einen Himmel auf Erden? – Seit Adam und Eva war Niemand im Paradiese, es sei denn im Traum. – Auch wir haben vom Paradiese geträumt. Auch wir aßen von dem Baume des Lebens und wandelten unter Palmen.“

Wie sie so sprach, dünkte Arndt auf einmal, er habe sie nie zuvor so mädchenhaft lieblich, nie so schön gesehen, und plötzlich jauchzte es in seinem Herzen auf. Er sah sie mit einem ganz sonderbaren Aufleuchten von grimmer Liebe und Bewunderung an, drückte ihr noch einmal stummberedt die Hand und verließ schnell das Zimmer.

„Henriette,“ sagte er draußen, wo der Frühlingswind seine heiße Stirn umwehte, zu sich selbst, „die Leidenschaft in Dir ist nicht todt, sie schlummert nur – eines Tages aber muß sie wiedererwachen – und dann, dann bin ich Deinem Herzen der Nächste.“ – – –

Unruhig war Henriette nach Arndt’s Fortgang in der nächtlichen Stille ihres Zimmers zurückgeblieben.

Was hatte sie gethan? Ihr Herz klopfte ungestüm, wie seit Jahren nicht mehr. Zug um Zug, ganz, wie er einst an ihrer Seite gestanden, feurig, wie er einst über ihr gelächelt hatte, wenn ihr Haupt an seiner Schulter ruhte, sah sie den Geliebten ihrer Jugend vor sich. Wie hatte sie ihn all diese Jahre hindurch vergessen können?

Und die Thore der Vergangenheit sprangen plötzlich vor ihr auf, wie die Pforten einer alten, lange verschlossen gewesenen Kirche. Schaudernd, mit hinabgebeugtem Haupte, aber mit andächtig erhobenen Händen und selig-schwärmerischem Blicke trat sie in die geliebten, von tausendstimmigen Chören erfüllten Gewölbe ein, und an jedem Schritt den sie that, an jeder Stelle des Fußbodens, die sie berührte, hingen die Empfindungen welche einst an diesen Stätten über sie gekommen waren. O, die Macht der Erinnerung! Selbstvergessen stand Henriette in ihrem Zimmer.

Aber – „Eine Andere!“ – dachte sie plötzlich, und wie Eis legte es sich ihr auf’s Herz – kalt, kalt!

Was wollte sie? Wo war sie gewesen? Was hatte sie gethan?

„Nie wieder,“ sagte sie, „will ich von ihm reden. Es ist Mitternacht, ich habe die Todten aus ihren Gräbern geweckt.“

Erschöpft sank sie auf ihre Chaise-Longue. Ihr Haupt fiel zurück – ihre Glieder streckten sich ruhebedürftig aus. Sie schloß die Augen, und nun kam sie sich vor wie eine geheimnißvolle Leiche, aus der alle Unruhe der Welt entflohen ist, und was sich noch etwa von alten Erinnerungen in ihr regte, erschien ihr fremd und fern, fern wie Todtenwürmer, die hoch über ihr im Gebälke nagten.




12.

Ungefähr acht Tage später war Arndt eines Nachmittags zwischen allerlei Büchern, Plänen und Zeichnungen thätig.

Er arbeitete, wie sonst, mit der Anspannung aller Kräfte, aber nicht mit schwungvollem Frohsinn und thätigem Eifer, sondern mit einer gewissen Ueberhastung.

Als er sich so recht inmitten vollster Anstrengung befand, klingelte es bei ihm, und er stand auf um zu öffnen.

Einige Minuten später trat er mit Curt wieder ein, und sein Gesicht drückte eine fast verlegene Ueberraschung aus, obgleich die Besuche des Knaben nichts Seltenes waren. Auch Curt war dunkelroth geworden und wurde es noch mehr bei Arndt’s Frage, ob er gekommen sei, um für die Zeit der auf Rügen zu verlebenden Ferien von ihm Abschied zu nehmen.

„Ja,“ sagte er, und seine großen ausdrucksvollen Augen blickten unstät im Zimmer umher. „Ich wollte Ihnen Adieu sagen. Sie sind ja seit acht Tagen kein einziges Mal bei uns gewesen.“

„Freilich, ich hatte von Morgen bis Abend zu thun, Kind.“

„Wer das glaubt!“ sagte Curt, dessen Befangenheit auf einmal schwand, beinahe hart. „Ich nicht, Herr Arndt! Ich gewiß nicht!“

[728] „Knabe!“ rief der Architekt und fuhr ihm erregt in das üppige Haar über der Stirn, indem er das seltsame Kindergesicht zu sich aufhob. „Dir ist Manches erlaubt – aber nicht Alles.“

Da blitzten die Augen des Knaben heftig zu den ernsten, unruhigen Männeraugen über ihm empor.

„Ich will nicht, daß Sie meine Mutter traurig machen,“ stieß Curt hervor.

„Du irrst,“ sagte Arndt, sich entfärbend, und seine Hand zitterte leicht über der Stirn des Kindes. „Du irrst: ich mache Deine Mutter nicht traurig. – Ist sie denn traurig?“

„Ja, seit Sie nicht mehr kommen.“

„Dann sage Deiner Mutter, sie soll es nicht sein! – Sie soll nicht traurig sein um mich.“

Ein außerordentlicher Ernst sprach plötzlich aus dem leidenschaftlichen Blicke des Knaben; wie ein halbes Verständniß mußte es über seine junge Seele gekommen sein.

„Sind Sie denn auch traurig?“ flüsterte er in dem bangen Gefühl, vor einem großen Geheimniß des Menschendaseins zu stehn.

Arndt riß ihn an sich und küßte ihn.

„Geh!“ sagte er erschüttert. „Geh, mein Sohn und laß mich in Frieden!“

„Herr Arndt, was ist Ihnen? Kommen Sie mit! Wir können nicht ohne Sie reisen! Ach, Herr Arndt, Sie und die Mutter – – o, wie ich Sie Beide liebe! Ich möchte – –“

Er schwieg plötzlich, und flehend, mit großen Thränen in den Augen, schmiegte er sich an Arndt’s hohe Gestalt.

„Ich kann nicht, mein geliebter Knabe!“ sagte er hastig. „Aber ich werde morgen, wenn Ihr abreist, auf dem Bahnhofe sein.“

„Auf ein paar Tage – nur auf ein paar Tage, Herr Arndt, kommen Sie in diesen vier Wochen nach Rügen!“

„Ich werde versuchen zu kommen, mein Sohn. Wenn ich aber doch nicht kommen könnte wirst Du dann von Rügen aus einmal an mich schreiben?“

„Sie wissen ja: ich thue immer, was Sie und Mutter wünschen.“

„Also auf Wiedersehen morgen, mein Junge! Auf dem Bahnhofe! Grüß’ Deine Mutter! Adieu!“ – – –

Und am nächsten Morgen war Arndt auf dem Bahnhofe.

Die Locomotive ließ zum zweiten Male ihren häßlich schrillen Pfiff ertönen, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Arndt beeilte sich, den Perron zu verlassen; Henriette hatte sich bereits in eine Ecke des Coupés gedrückt, das sie allein mit ihrem Sohne inne hatte; nur dieser stand noch immer am Fenster und sah zerstreut hinaus.

Als schon eine gute Viertelstunde vergangen war und die letzten Häuser der Vorstadt eben vor den Augen der Reisenden verschwanden, sagte Curt plötzlich, aber immer noch ohne sich umzuwenden.

„Mutter, wie es mir schwer wird, mich von Herrn Arndt zu trennen! Und er ist traurig, Mutter, ich möchte mich nie mehr von ihm trennen. Weißt Du was ich möchte? Weißt Du, Mutter – –?“

„Nun?“ fragte sie gespannt und unruhig.

„Daß er mein Vater wäre!“

Henriette war für den Rest der Reise tief nachdenklich geworden; das Feuer innerer Erregung flammte auf ihren Wangen.




13.

Zwei Wochen waren vergangen, seitdem Arndt auf dem Bahnhofe von Mutter und Sohn Abschied genommen. Da erhielt er folgenden Brief von Curt:

  „Lieber Herr Arndt!

Nicht aus Bummelei oder Schlechtigkeit schreibe ich Ihnen erst heute – mit Schlechtigkeit meine ich, daß ich Sie vergessen hätte – sondern weil ich Ihnen immer etwas Wichtiges erzählen wollte. Es passirt aber weiter nichts, als daß wir alle Nachmittage spazieren gehen.

Auf Jasmund und Mönkgut war kein Quartier mehr; deshalb sind wir hierher ganz nach Norden in die Nähe von Arcona gegangen. Unser Dorf heißt Breege auf der Halbinsel Wittow.

Es ist gar kein Wald hier, und die Natur ist ringsum so einsam, wie es in Liedern und Geschichten manchmal beschrieben wird. In den ersten Tagen kam sie mir immer vor, als wäre sie ein trauriger Mensch, der den Kopf hängen läßt – aber Unsinn! Jetzt kenne ich sie besser. – Na ja, es ist ganz lustig zwischen den grauen Dünen; nur wünscht man sich dieses Jahr so oft – Etwas – – das nicht angeht.

Adieu, Herr Arndt! Ich wollte, o, ich wollte, Sie kämen noch! Sie wissen gar nicht, wie oft ich an Sie denke – wahrhaftig, bei hundert Gelegenheiten! Zweimal habe ich auch schon von Ihnen geträumt, und jeden Tag denke ich, Sie kommen vielleicht doch mit dem Dampfschiffe.

Mutter läßt Sie sehr grüßen.
Ihr treuer und gehorsamer 
Curt Brandenburg.“ 

Am zweiten Abend, nachdem Arndt diesen Brief empfangen hatte, wurde Henrietten von ihrer Wirthin ein Herr gemeldet, der sie zu sprechen wünsche.

„Wer ist es denn?“ fragte sie zögernd und offenbar nicht ganz angenehm überrascht.

„Arndt ist es, der seine Freunde einmal rudern möchte!“ antwortete eine kräftige, wenn auch leise zitternde Stimme, und als Henriette und Curt nach der Thür blickten, sahen sie in ein wohlbekanntes Gesicht, dessen gehaltener Ernst und eigenthümlich erzwungene Ruhe etwas Respect Einflößendes und zugleich etwas Ergreifendes hatten.

Curt stand einen Augenblick wie versteuert.

„Ich wußt’ es. Ich hab’ es die Nacht geträumt,“ stotterte er dann vor sich hin, und als die Wirthin hinaus war, jauchzte er förmlich auf und stürzte auf Arndt zu. Doch plötzlich riß er sich wieder von ihm los und warf einen scheuen Seitenblick auf seine Mutter.

Henriette war befangen, und als sie den Freund mit herzlicher Dankbarkeit für sein Kommen begrüßte, sah sie ihm nicht, wie wohl früher, voll in’s Gesicht.

Arndt erklärte dann, daß er wirklich nur gekommen, um Curt einmal eine ausgedehnte Wasserpartie zu ermöglichen – bei welcher er freilich zu seinem eigenen Besten etwas Seeluft zu schlucken hoffe – und daß er übermorgen schon wieder abreisen werde. Das Gesicht des Knaben strahlte vor Unternehmungslust.

Daß Arndt den Rest des Tages bei Brandenburgs verlebte, war natürlich, und Henriette glaubte mehr und mehr aus seinem Benehmen herausfühlen zu dürfen, daß es ihm jetzt heiliger Ernst sei, ihre Bitte um fortgesetzte, nicht mißzuverstehende Freundschaft zu erfüllen, aber trotzdem nahm ihr Wesen etwas Verschleiertes an. – –

„Hattest Du Herrn Arndt in Deinem Briefe gebeten, zu kommen?“ fragte Henriette später ihren Sohn.

„Nein, gebeten nicht,“ antwortete Curt mit auffallender Kürze, und küßte seiner Mutter so stürmisch die Hand, wie er es sonst nur that, wenn er etwas abzubitten hatte.




14.

Nachdem man am andern Morgen die verabredete Wasserfahrt bei köstlichem Wetter in’s Werk gesetzt, wurde der Nachmittag einem gemeinsamen Spaziergange in die sogenannten „Tannen“ gewidmet.

Die drei Wanderer gingen zunächst auf der von kleinen frisch angepflanzten Birken abgegrenzten Chaussee entlang, welche sich malerisch auf der Höhe des schmalen Landstreifens hinzieht, der die nördliche Halbinsel mit der südlicher gelegenen verbindet und sich zwischen offener See und Bodden, zwischen sanften Dünenketten und dunklem Kieferngehölz dahinschlängelt.

Bot der den ganzen Nachmittag in Anspruch nehmende Spaziergang mittelst der stets wechselnden, wunderbar schönen Landschaftsbilder immer neue Reize, so lieh das Schauspiel des Sonnenuntergangs ihm einen erhebenden, großartigen Abschluß: der hochgespannte Westhimmel, der sich wie eine ununterbrochene Halbkugel über der weiten Ebene von Wasser und Land wölbte, leuchtete in allen Regenbogenfarben über dem goldglühenden Sonnenball, der langsam gegen den Horizont herabsank. In warmem Violett schimmerten jenseits die etwas ansteigenden Küsten der vielzackigen Insel; feurig glänzte der weite Wasserspiegel, und wie eitel Gold funkelten die Fenster der Breeger Schifferhäuser vom

[729]

Polnische Israeliten in der Synagoge.
Nach dem Oelgemälde von A. Kozakiewicz.

[730] fernen Ende des Boddens herüber. Dann lösten sich die verschiedenen Farben; in geheimnißvollem Hauch erstarben sie und gingen langsam in einander über und unter.

Plötzlich sah man nichts, als eine einzige, feuergetränkte, purpurrothe Gluth: Himmel, Wasser und Land – Alles war übergossen von einer einzigen flammenden Pracht. Tiefer und tiefer sank die Sonnenkugel herab, und athemlos standen die drei Wanderer, um das Scheiden des Tagesgestirns mit Andacht zu verfolgen. Jetzt tauchten die letzten Strahlen unter: der Bann war gebrochen, und das Menschenwort trat in seine Rechte zurück.

„Ah!“ sagte Arndt „so Etwas sah ich noch nie. Aber wer die Arme nach dieser Gluth ausbreitete, wäre ein Narr.“

„Die Arme nicht, aber die Seele soll man ihr entgegenbreiten,“ meinte Henriette hastig-leise.

„Henriette,“ flüsterte Arndt, „Sie sind kein Wesen von Fleisch und Blut. Ihre Seele ist anders, als die Seelen gewöhnlicher Sterblicher – sie hat volles Genüge in der Idee. Wir Anderen möchten an das Herz reißen, was schön ist, unser nennen, was entzückt. Und unser, ganz unser ist nur das, was wir in die Arme pressen dürfen. Nur an der Wirklichkeit erwarmt unser Idealismus und erstarkt unsere Kraft, Henriette!“

Sie preßte die Hand gegen das klopfende Herz; sie wollte ihm weichen, aber sie konnte nicht.

„Wirklichkeit ist wie heißer Sonnenglanz,“ sagte sie unruhig, „und Genuß der Phantasie ist wie Mondscheinbeleuchtung; ich weiß kaum, was schöner ist.“ Sie sah sich nach Curt um, der nur wenige Schritte von ihnen stand.

„Arndt“ begann sie dann wieder ernst, und wollte hinzusetzen „Nehmen Sie Rücksicht auf meinen Sohn!“

Aber sie brachte es nicht über die Lippen, sobald sie in das Gesicht ihres Freundes blickte.

„Ihr Blick, Ihr Ton macht mir einen Vorwurf,“ sagte er bitter. „O, ich fühle es wohl; ich muß um Verzeihung bitten. Können Sie verzeihen, Henriette, daß Sie geliebt werden? O, bedenken Sie, daß ich morgen abreise und nie gekommen wäre, wenn nicht dieser Knabe so bestrickend geschrieben hätte! Sagen Sie mir, was ich soll!“

„Nichts,“ erwiderte sie, „– jetzt nichts! – Lassen Sie uns weiter gehen, mein Freund!“

Dunkler wurden die fernen Küsten; über das Kiefernwäldchen sanken die träumerischen Schleier der Nacht, und jetzt verblaßte auch der feurige Schein am Himmel mehr und mehr. Dunkel ringsum, und der rothe Hauch auf den Wassern war nichts mehr als eine vorschwebende Erinnerung an die Pracht des Abends, nur der weiße Schaum leuchtete noch grell zwischen dem schwarzen Uferschilf hervor. Alles einsam – die Fluth schien zu schlafen, kaum daß sich der Wind ab und zu wie ein träumender Nachtgeist in den Kieferwipfeln regte.

Arndt machte mechanisch Feuer, um eine Cigarre anzuzünden. Das Leben seines in der Dunkelheit auf einmal grell beleuchteten Gesichts erschien ganz nach innen gedrängt.

„Er ist traurig, Mutter!“ rief eine Stimme in Henriettes Seele. Curt hatte das neulich gesagt, Curt, der mit seinem Freunde betrübt war und dem alle Quellen der Freude und des Genusses zuzuführen Henriette für ihre heiligste Pflicht hielt, den glücklich zu machen sie in ernster Stunde geschworen hatte – Curt!

„Arndt,“ sagte sie plötzlich mit schwacher und doch wundersam fester Stimme, „wollen Sie versuchen, glücklich mit mir zu werden? Ich will, was Sie wollen.“ Und sie ergriff mit einem leisen Zittern seine Hand.

„Henriette!“ flüsterte er, er fand nur dieses eine Wort.

Wie im Rausche ging er an ihrer Seite und preßte ihre Hand in der seinen, daß es sie schmerzte. Doch sie ließ es geschehen. Wortlos gingen sie weiter und weiter, und als es immer finsterer wurde und sie ihren Weg rücksichtslos über Haidebüsche und Sumpfstellen, über gefällte Kiefern und versprengte Steine nehmen mußten, da zog er ihren Arm fest durch den seinen und flüsterte:

„Weißt Du, Henriette, daß ich nun der Beschützer Deines Lebens geworden bin?“

„Ich danke Dir!“ antwortete sie, doch für sich sprach sie weiter. „Und weißt Du auch, daß ich Dich zum Vater meines Sohnes gemacht habe? Vergiß es nie!“ –

Unterdessen waren sie dem Dorfe immer näher gekommen, und seine kleinen, scheinbar beweglichen Lichter blitzten auf wie Glühwürmchen in der Johannisnacht.

„Seht!“ rief jetzt Curt mit ausgestrecktem Arme; er blieb stehen und wartete auf das langsam herankommende Paar. „Herr Arndt, haben Sie schon früher einen so schönen Tag erlebt?“

„Nein, mein Sohn; meine früheren Tage sind überhaupt wenig schön gewesen.“ –

Sie waren im Dorfe angekommen. Arndt begleitete Mutter und Sohn in’s Zimmer. Henriette zündete Licht an, und zu Curt gewendet, sagte sie mit unaussprechlicher Sanftmuth und Freundlichkeit:

„Sieh, mein Sohn, Freund Arndt wird Dein Vater sein. – Lieb’ ihn, wie Du mich liebst – und sei ihm noch gehorsamer, als Du mir warst! Denn ein Vater darf weniger vergeben, als eine Mutter.“

Curt sah sich eine Secunde lang wie zweifelnd um.

„Mutter, Mutter! ich wußte, daß Du gut bist,“ rief er dann leidenschaftlich und umschlang mit beiden Armen die schöne, holdselige Frau – den treuen, sorgsamen Schutzengel seiner Kindheit.

Arndt biß die Zähne zusammen. Noch einmal bäumte sich sein Stolz unmuthig wider sein eigenes Herz auf und schrie mit tobender Stimme in die Brandung seiner aufgewühlten Seele hinein: daß er verächtlich sei, wenn er Henrietten nicht auf der Stelle ihre Freiheit zurückgäbe. War es doch nur ein Opfer, das sie ihm entgegenbrachte – nicht Liebe, nicht Liebe!

Doch nun auf einmal sah er Curt vor sich knieen.

„Vater, ich will Dir gehorchen,“ sagte der feurige Knabe sanft und mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Liebe und Ergebung – – da starb die Eifersucht in der Brust des erregten Mannes, und er schloß den Sohn liebevoll in die Arme.

Als Arndt aufblickte, war er nicht mehr derselbe. er fühlte plötzlich, daß er hier der Herr sei. Wie Jemand, dem unerwartet ein Königreich zufiel, hob er das Haupt. – Sie hatte ihm das Opfer ihrer selbst gebracht – wohl! er nahm es an, voll und ganz – er kannte keine Rücksicht mehr: er zog sie an sein Herz und drückte die ersten glühenden Küsse auf ihre zitternden Lippen

„Du wirst mich lieben“ sagte er, und seine Stimme klang mehr gebieterisch, als prophetisch, „Du wirft mich lieben, wie ich Dich liebe, Henriette.“

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen; sie lächelte freundlich und beinahe vergebend zu ihm empor.

Das rührte und beschämte ihn, und es war fast, als ob es eine Abbitte sein sollte, daß er jetzt nicht noch einmal ihren Mund küßte, sondern ihr nur warm in die Augen sah.

Das „Gute Nacht, lieber Arndt!“ „Gute Nacht, meine Braut!“ war bald darauf gesprochen. Henriette war allein mit ihrem Sohn. – –

„Mutter, hast Du ihn lieb? O, solch ein schöner Mann, solch ein guter, herrlicher Mann! Wie ein Meergott sieht er aus. Bist Du nicht glücklich, Mutter? O, sag’ ein Wort!“

„Ja, Curt, ich habe ihn lieb.“

„Ach, das ist schön. Ich wollte heute ein großes Gedicht machen und konnte es nicht; vielleicht kann ich es jetzt.“

Da schloß sie plötzlich die Augen, und ihre tief herabfallenden Wimpern lagen wie ein dunkler Flor auf ihrem blassen Gesicht. Ein Zweifel fuhr durch ihre Seele und berührte sie unheimlich, wie ein kalter Zugwind: ob es diesem ungewöhnlichen Knaben wirklich dauerndes Bedürfniß sein würde, einen Vater zu haben? – –

Während sie so fragte, ging Arndt durch die stille Augustnacht seiner Wohnung zu und redete sich unruhig ein, daß es schöner sei, nicht von vornherein ebenso leidenschaftlich geliebt zu werden, wie man selbst liebt – es blieb dann noch Etwas übrig, das man, mit der Zeit im Bunde, erobern mußte. Und selbst, wenn man es nicht erobern würde .... hatte nicht der glühende Mittag etwas Beängstigendes, und war nicht der Spätnachmittag mit seinen tiefer fallenden Strahlen und halb geschlossenen Blumenkelchen eigenthümlich süß und befreiend? – Und mit einem solchen Spätnachmittage durfte er wohl Henriettens Seele und ihr edelruhiges Wesen vergleichen.

„Gewiß!“ sagte er sich, „das freundlich hinnehmende Weib ist schöner als das verschwenderisch gebende, das sanfte beglückender als das erregte.“

(Fortsetzung folgt.)




[731]
Deutschlands große Industrie-Werkstätten.
Nr. 15. Deutsche Tintenfabrikation.

Die Zeit ist noch nicht so fern, wo die Tintenbereitung in Deutschland in der ureinfachsten Weise betrieben wurde. Ja, noch heute giebt es hier und dort speculative Köpfe, welche nach einem vom Großvater geerbten Recept für ihren Hausbedarf und wohl auch für die nächste Umgebung eine blaßschwarze Flüssigkeit, sogenannte Tinte fabriciren. Dem Werthe dieses Fabrikats entspricht der zu seiner Herstellung benutzte Apparat – ein in irgend einem Winkel stehendes, mehr oder weniger schadhaftes Gefäß, in welchem seiner Zeit Galläpfel, Vitriol u. dergl. m. mit Wasser angerührt wurden und dessen Inhalt eine mächtige Schimmeldecke zeigt. Solchem Behälter entstammte auch die Flüssigkeit, die vor zwanzig Jahren den Tintenbedarf des von mir besuchten königlich preußischen Gymnasiums deckte, eine graue Tinctur, die nur den einen Vorzug hatte, daß der Lehrer auf den ersten Blick ersehen konnte, ob die Schüler ihre Arbeiten mit guter Tinte zu Hause oder in aller Eile während der Pause auf der Schulbank mit „Schultinte“ angefertigt hatten. Ich werde diese von der ehrwürdigen Gemahlin unseres nunmehr selig ruhenden Castellans fabricirte Tinte mein Leben lang nicht vergessen; denn sie hat mir zu gutem Theil zu der biconcaven Brille verholfen, die jetzt meine unzertrennliche Begleiterin in des Lebens Mühsalen und Freuden bildet. Wie mir ist es wohl Hunderten und Tausenden ergangen, und man darf sicher annehmen, daß den erschreckend großen Procentsatz an Kurzsichtigen der deutschen Nation nicht allein die Ueberbürdung mit Schulaufgaben, sondern auch jene „von des Gedankens Blässe angekränkelte“, der Hausindustrie entstammende Tinte verschuldet hat.

Der Unzulänglichkeit der alten deutschen Tinten-Recepte hatten wir es auch zu verdanken, daß noch kaum vor wenigen Jahrzehnten englische und französische Tinten den Weltmarkt beherrschten und in Deutschland selbst einen sehr großen Absatz fanden. Das war kein erfreuliches Industriebild in dem Lande der Dichter und Denker, welches unter den Consumenten der schwarzen Flüssigkeit obenan steht.

Bald jedoch trat eine Wendung zum Besseren ein. Muthig und lebensfroh raffte sich die deutsche Industrie auf und suchte auch auf diesem Gebiete ihre Gegner zu verdrängen; sie wurde darin besonders unterstützt durch die hohe Entwickelung der Chemie in unserm Vaterlande – heute sind wir schon in der Lage, mit vortrefflicher deutscher Tinte über Siege der deutschen Tinte zu schreiben.

Zunächst wurde das mit seinem Handel die ganze Welt beherrschende England auf’s Haupt geschlagen. Gegenwärtig sind die englischen Tinten von den deutschen Fabrikaten weit überflügelt und von dem deutschen Boden fast gänzlich verdrängt worden; denn im Jahre 1880 wurden beispielsweise bei uns nur noch 45 Doppelcentner englischer Tinten in einem Gesammtwerth von 1260 Mark eingeführt. Dann gelang es unsern Landsleuten, auch Frankreich in die Enge zu treiben, und wenn vor zwei Jahren unsere Nachbarn jenseits der Vogesen bei uns noch 1191 Doppelcentner Tinten für 33,348 Mark absetzten, so haben sie diesen Erfolg nicht etwa einer besseren Beschaffenheit ihrer Waare, sondern lediglich der eleganten Packung und Etiquettirung derselben zu verdanken. Dabei muß der deutsche Fabrikant unter den ungünstigsten Bedingungen mit dem französischen concurriren; denn Frankreich erhebt von den deutschen Tinten den sehr hohen Zoll von 16 Franken pro 100 Kilogramm, wogegen an der deutschen Grenze für dasselbe Quantum nur 3 Mark an Zollgebühren zu entrichten sind. Dabei wuchert in deutschen Köpfen noch gar üppig das blinde Vorurtheil, daß alles, was aus Frankreich und vor Allem aus Paris kommt, besser sein müsse, als das, was in Deutschland fabricirt wird, und leider ist es Thatsache, daß, während die bedeutendsten deutschen Tintenfirmen im Auslande höchst erfolgreich mit den Franzosen concurriren, sie gerade in Deutschland selbst mit diesen Concurrenten den härtesten Kampf zu bestehen haben.

Aber die kampflustige junge Tintenindustrie Deutschlands schrak vor allen diesen Schranken nicht zurück; sie begnügte sich nicht mit den auf heimathlichem Markte errungenen Vortheilen; sie warf vielmehr ihre Producte auch auf den großen bisher ihr verschlossen gebliebenen Weltmarkt, und auch hier wußte sie festen Fuß zu fassen und in den skandinavischen Staaten, in Rußland, in Südamerika und in Ostindien deutsche Tinte zu Ehren zu bringen. Wir führten bereits im Jahre 1880 gegen 2800 Doppelcentner Tinte und Tintenpulver in einem Gesammtwerthe von etwa 90,000 Mark aus. Das ist ein vielversprechender Anfang.

Aber die Lorbeerkränze, die goldenen Medaillen und die Ehrendiplome, mit welchen die deutschen Tintenfabrikanten auf den jüngsten Weltausstellungen ausgezeichnet wurden, waren nicht so leicht zu erringen, wie man noch allgemein zu glauben geneigt ist. Nur durch eine gewaltige Summe redlicher und unermüdlicher Arbeit wurde der gute Ruf dieser deutschen Fabrikate auf dem Weltmärkte begründet; denn der moderne Tintenfabrikant muß in den schwierigsten Capiteln der Farbenchemie durchaus sattelfest sein; er muß fortwährend weiter studiren und mit der Zeit vorwärts schreiten; er muß die Forschungsresultate der gelehrten Theoretiker auf ihre Verwendbarkeit in der Praxis prüfen, um nach einer langen Reihe von Versuchen zum Ziele zu gelangen und eine haltbare, leicht flüssige und farbenschöne Tinte herzustellen.

Es ist daher wohl die Pflicht eines Volksblattes, wie die „Gartenlaube“, solcher Errungenschaften des deutschen Fleißes ehrend zu gedenken und vor den Augen seiner Leser ein Bild der modernen deutschen Tintenfabrikation zu entrollen. Nur zu rasch sind wir Menschen von heute ja mit dem Tadel bei der Hand, wenn wir irgendeinen Fehler an dem so mühevoll hergestellten Präparate entdecken, vielleicht werden wir gegen den Tintenchemiker gerechter sein, wenn wir den Umfang und das innere Getriebe seiner Arbeit überschauen.

Zu diesem Zwecke hat sich der Verfasser dieses Artikels im Auftrage der „Gartenlaube“ bei einem Tintenchemiker eingeladen, der unter den auf diesem Gebiete Vorwärtsstrebenden in erster Linie genannt werden muß und der schon vor einer Reihe von Jahren ein heute nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande in seiner Art einzig dastehendes Etablissement gründete. Wohl den meisten unserer Leser ist durch eine wohlrenommirte Fabrikmarke, die auf zahllosen Tintenflaschen und -fläschchen zu finden ist, der Name Eduard Beyer’s in Chemnitz bekannt.

Schon auf dem Bahnhofe jener sächsischen Fabrikstadt wurden wir von dem liebenswürdigen Herrn, der deutsche Tinte nach Wladiwostok in Sibirien und nach Peru, nach Tromsoe im hohen Norden und nach Melbourne im Süden Australiens verkauft, begrüßt [732] und fuhren mit ihm nach seiner Fabrik, die, am westlichen Ende der Stadt gelegen, aus einem freundlichen Waldpark hervorblickt. Wir wollen unsere Leser mit der Beschreibung der verhältnißmäßig sehr umfangreichen Haupt- und Nebengebäude derselben verschonen. Erst der Einblick in das innere Getriebe derselben – es werden von hier alljährlich viele Millionen Flaschen in alle Weltgegenden versandt – läßt uns ihre wahre Bedeutung erkennen, und nur von diesem wollen wir daher hier reden.

Sehen wir uns zunächst die Rohstoffe, aus denen hier die schwarze Flüssigkeit gebraut wird, etwas genauer an!

Der erste Rohstoff, der uns vorgeführt wird, bietet dem Laien wenig Interesse; denn er ist reines Wasser. Für den Tintenfabrikanten aber muß er wohl von besonderer Wichtigkeit sein; denn in die mächtigen Wasserreservoirs der Beyer’schen Fabrik wird dieses gewöhnliche Naß durch Pumpen theils aus den sehr ergiebigen, eigens zu diesem Zwecke gefaßten Quellen des nahe gelegenen Buchenwaldes, theils aus einem in den Felsen gebohrten tiefen Brunnen befördert, je nachdem hartes oder weiches Wasser gebraucht wird.

Verladen des Blauholzes in den Wäldern von Centralamerika.
Originalzeichnung von A. Göring.

Auch der zweite Rohstoff ist uns von der Schulbank her zur Genüge bekannt, und unwillkürlich denken wir bei seiner Betrachtung: „Was in aller Welt sollen wir über das bekannte Ding berichten? Ein solcher Gallapfel an einem Eichenblätt wird höchstens als Initialranke für unsern ,Gartenlauben‘-Artikel geeignet sein.“ Geringschätzend möchten wir an diesem Erzeugnisse der Gallwespe vorübergehen, aber wir zögern doch; denn unser Begleiter erzählt uns von ihm höchst interessante Geschichten. Die Haufen, die da vor uns liegen, entstammen keineswegs unseren heimischen Wäldern; sie sind vielmehr von weither nach Deutschland gebracht worden, da sie an Gerbsäuregehalt unsere heimischen Galläpfel bedeutend übertreffen. Neben den für die geringeren Sorten von Tinten bestimmten, aus dem Süden Amerikas und Centralafrika importirten Galläpfelsurrogaten zeigt uns unser Begleiter die vorzüglichen asiatischen Sorten, die mosulischen, welche aus der Handelsstadt Mosul am Tigris stammen, und die bekannteren aus Aleppo, die man in langen schmalen Ballen versendet; er berichtet uns auch von Galläpfeln, die man auf den Märkten von Smyrna und Tripoli feilbietet, und von den Marmoringalläpfeln, welche apulischen Gallwespen ihren Ursprung verdanken. Mit größerem Interesse blicken wir nun auf den letzten, einen ungarischen, Galläpfelhaufen, und über Länder und Meere schweifen unsere Gedanken, von dem rastlosen Strome des Welthandels ergriffen, dessen Wogen auch an die Schwelle dieser Fabrik schlagen.

Wir setzen unsere Wanderung fort, um alsbald vor Scheiten röthlich gefärbten Holzes Halt zu machen. Das ist der dritte für die Tintenfabrikation sehr wichtige Rohstoff, das Blauholz, welches in Centralamerika heimisch ist. Man nennt es auch westindisches Blutholz, und der Baum, aus dessen Stamme es gewonnen wurde, führt in der Wissenschaft den Namen Haematoxylon campechianum. (Ein Zweig desselben schmückt das Initial dieses Artikels.) Die Zellen dieses Holzes enthalten einen Farbstoff, das Haematoxylin, welches die wunderbarsten Eigenschaften besitzt: Mit Kali und Ammoniak bildet es Lösungen, die sich an der Luft sehr schnell purpurroth, blau oder prachtvoll violett, bei längerem Stehen aber fast schwarz färben und die mit Metalloxyden (besonders mit Thonerde, Bleioxyd, Kupferoxyd, Eisenoxyd etc.) theils prachtvoll gefärbte Flüssigkeiten, theils farbige Niederschläge gäben. Dieses Farbstoffs wegen ist das Blauholz nicht nur für den Tintenchemiker von besonderem Werthe, sondern wird auch in den größten Quantitäten zum Färben der durch verschiedene Beizen getränkten Woll-, Seiden- und Baumwollstoffe [733] und des Leders benutzt. Der nicht unbedeutende Gehalt des Holzes an Gerbstoffen gab in früheren Zeiten manchem Arzte Veranlassung, es auch in Krankheiten als Heilmittel anzuwenden.

Man unterscheidet im Handel hauptsächlich vier Sorten Blauhölzer: 1) das Mexikanische oder Laguna-Campecheholz, welches das beste, das heißt das hämatoxylinreichste ist, 2) das Honduras-, 3) das Jamaika- und 4) das Domingo-Campecheholz. Der Verbrauch des Blauholzes ist ein ganz bedeutender und steigert sich trotz der Concurrenz der Anilinfarben immer noch. Leider scheint aber der Zeitpunkt nicht mehr fern zu sein, an welchem der Bedarf in Folge der großen Verwüstung der Wälder bei der gegenwärtigen Gewinnungsmethode nicht mehr wird gedeckt werden können. Die Chemie wird daher bald auf Ersatz dieses wunderbaren in dem Blauholze enthaltenen Farbstoffes bedacht sein müssen.

Ursprünglich kannte man nur das Blauholz aus der Campechebai, und der Handel mit demselben lag fast ausschließlich in englischen Händen. Die vielfachen Streitigkeiten, welche in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beim Fällen der Bäume zwischen den Engländern und den damaligen Besitzern des Landes, den Spaniern, zu entstehen pflegten, veranlaßten D. Barham, im Jahre 1716 Samen des Campechebaumes auf Jamaika auszustreuen, wo er sich so acclimatisirte, daß bald große Länderstrecken von ihm bedeckt wurden.

Wir sehen also, die Alte und die Neue Welt geben ihre Producte zur Anfertigung unserer Tinten her; ein wunderbarer Kreislauf der Stoffe offenbart sich unserem inneren Auge: denkt wohl der amerikanische Arbeiter, der die einzelnen Scheite des Blauholzes im tropischen Urwalde auf Maulesel verladet (vergl. unsere Abbildung S. 732) auch einmal daran, daß aus diesen Scheiten vielleicht Tinte gewonnen wird, mit welcher einst die Mächtigen der Erde Kriegserklärungen oder Friedensschlüsse zeichnen werden?

Die Extractoren und Vacuumapparate der E. Beyer’schen Tintenfabrik in Chemnitz.
Originalzeichnung von G. Sundblad.


Und nun die Menge anderer zur Tintenfabrikation nothwendiger chemischer Substanzen, die stattliche Zahl der verschiedenartigsten Chemikalien, deren nähere Beschreibung uns der knapp zugemessene Raum verbietet – alles das belehrt uns, daß wir es hier mit einer Großindustrie in des Wortes vollster Bedeutung zu thun haben. Staunend betrachten wir jetzt den Inhalt der kleinen Tintenflasche; wir haben kaum geahnt, daß die Atome, aus welchen er zusammengesetzt ist, so weit hergereiste Herrschaften sind.

Doch die Zeit drängt; wir müssen die Fabrik selbst in Augenschein nehmen. Dumpfe, schnarrende Töne schallen uns aus einem Gemach entgegen, an welchem wir gerade vorübergehen; wir betreten dasselbe und sehen, wie durch die Raspeln, breite mit Messern besetzte Scheiben, die eine Dampfmaschine treibt, das eisenharte Blauholz in gröbliches Pulver zerschnitten wird. Die hier gewonnene, groben Sägespänen nicht unähnliche Masse wird in besonderen Räumen mit Leimlösung begossen und unter einer bestimmten Temperatur einer mehrwöchentlichen Gährung unterworfen. Erst nachdem das Blauholz diesen Proceß durchgemacht hat, kann man demselben den Farbstoff entziehen.

Um diesen Vorgang aber kennen zu lernen, betreten wir jetzt die interessanteste Abtheilung der Beyer’schen Fabrik, die große Halle, in welcher die Extractoren und die Vacuumapparate aufgestellt sind. Links auf unserm obenstehenden Bilde erblicken wir zunächst die aus starkem geschmiedetem Kupfer hergestellten Extractionsapparate, in welchen die Galläpfel, Farbhölzer und andere Rohmaterialien durch Dämpfe unter einem hohen Atmosphärendruck ausgesogen werden. Zur rechten Seite auf unserer Abbildung sind dagegen die Vacuumapparate, große, kugelförmige, gleichfalls aus Kupfer geschmiedete Gefäße, dargestellt. In ihnen werden Lösungen solcher Farbstoffe, die bei höherer Temperatur, wie z. B. bei der [734] des kochenden Wassers, einer Zersetzung unterliegen, bei niedriger Temperatur und im luftleeren Raume bis zu dem gewünschten Grade concentrirt. Zu diesem Zwecke stehen die Vacuumapparate mit Luftpumpen in Verbindung. Durch kleine, in ihrer Wand angebrachte Glasfenster können wir uns jeden Augenblick davon überzeugen, daß ihr Inhalt, eine röthlich violette Flüssigkeit, wirklich kocht und brodelt, aber unter einem so geringen Wärmegrade, daß wir die Hand getrost an die Wand des Apparates legen können, ohne uns irgendwie zu verbrennen.

Das Princip, auf welchem die Thätigkeit dieser Apparate beruht, ist ein altbekanntes. Jeder weiß ja, daß schon die Wärme der geschlossenen Hand genügt, um Weingeist im luftleeren Raume sieden zu lassen; wir brauchen unsere Leser kaum an die mit rother Flüssigkeit gefüllten Glaskugeln, an die sogenannten „Temperamentmesser“ und „Liebesthermometer“ zu erinnern.

Die Handhabung, das Füllen und Ausleeren aller dieser Apparate ist durch die Maschinerie so leicht zu bewerkstelligen, daß wenige Menschenhände genügen, um den großen Saal in vollem Betriebe zu erhalten.

Aus allen diesen Kesseln verschiedenster Größe wird nun die gewonnene, der fertigen Tinte sehr nahe kommende Flüssigkeit in die Bottiche geleitet, die in den umfangreichen Kellereien der Fabrik (vergl. die nebenstehende Abbildung) aufgestellt sind. Der Anblick dieser Masse von Tinten, die hier gleich dem edlen Moste in dunklem Keller ihrer Klärung entgegengeht, läßt uns auf ein Weilchen vergessen, daß wir uns in der Schreibtintenfabrik befinden, und unwillkürlich an eine andere „rothe Tinte“ denken.

Die Kellereien der E. Beyer’schen Tintenfabrik in Chemnitz.
Originalzeichnung von G. Sundblad.

Von hier steigen wir auf einem Fahrstuhl wieder in höhere und lichtere Regionen. Unser Gang führt uns in das chemische Laboratorium, den geistigen Mittelpunkt der ganzen Fabrik, über dessen Bedeutung wir schon im Eingang dieses Artikels gesprochen haben. Nun geht es treppauf, treppab durch die verschiedenartigsten Räumlichkeiten, als da sind: Füllsaal, Packraum, Flaschenboden, Zusammenstellraum, Comptoir u. dergl. m. Wir ersparen uns die nähere Beschreibung dieser in jeder großen Fabrik vorhandenen Räume. Wenn der Leser seine Phantasie ein wenig anstrengen will, so wird er sich schon ein Bild des hier sich entwickelnden Treibens selbst construiren können. Er denke sich nur eine Unzahl von leeren und vollen Flaschen, die durch fleißige Hände gefüllt, etiquettirt und geordnet werden. Das giebt ein buntes Bild.

Nur Folgendes möchten wir besonders hervorheben: Der große Absatz der Beyer’schen Tinte wurde, abgesehen von der Güte der Waare selbst, durch die gute Packung und die geschmackvolle Ausstattung des Fabrikates errungen, zwei Umstände, die leider auch in anderen Industriezweigen in Deutschland nicht genügend beachtet werden und deren unverantwortliche Vernachlässigung so manchen guten deutschen Handelsartikel auf dem Weltmarkte zu Grunde gehen ließ.

Ehe wir diese Musteranstalt verlassen, müssen wir noch ihrer Geschichte gedenken, und wir geben zu diesem Zwecke dem Schöpfer und Leiter derselben das Wort:

„Als ich am 1. November 1856 die käuflich erworbene Löwenapotheke in Chemnitz übernahm,“ schrieb Herr Eduard Beyer vor zwei Jahren gelegentlich seines fünfundzwanzigjährigen Geschäftsjubiläums, „da verband ich gleichzeitig mit meiner Thätigkeit als Apotheker die Darstellung einer Tinte, welche zu dem in den fünfziger Jahren zu allgemeiner Anwendung gelangten Copirverfahren unerläßlich nöthig war, die aber bis dahin meist für schweres Geld von England und Frankreich bezogen werden mußte. Die Frucht vieler Vergleichs- und Verbesserungsversuche war eine Tinte, die in angenehm röthlicher Farbe aus der Feder floß, bald in Schwarzblau überging und eine dunkel veilchenblaue Copie lieferte, während die Originalschrift in ein tiefes Schwarzblau überging. Sie führte den so überaus gerechtfertigten und trotzdem mannigfach belächelten Namen ‚Chemnitzer veilchenblauschwarze Copirtinte‘ und mit ihrem Vertrieb wurde die hochangesehene Papier- und Schreibwaarenhandlung von Robert Winckler, die älteste in Chemnitz, betraut. Schnell erwarb sich die Tinte einen guten Ruf, welcher rasch die Grenzen von Chemnitz überschritt. Bald reichten die ersten, höchst primitiven Fabrikationsmittel, nur bestehend in einem großen Waschkessel und einigen Fässern, nicht mehr aus, und die Gründung einer besonderen Fabrik war schon im Anfang der sechsziger Jahre ein unabweisbares Bedürfniß. Im Jahre 1863 wurde in einem stattlichen, mit Dampfbetrieb und anderen reichen Hülfsmitteln ausgestatteten Gebäude die Fabrikation fortgesetzt und unaufhörlich erweitert. War im Jahre 1856 mit einer Tintensorte und einem Kunden begonnen worden, so wurde im Laufe der Jahre die Fabrikation von circa achtzig verschiedenen Sorten Thatsache; bei vielen tausend Kunden fanden dieselben freundliche Aufnahme und raschen Vertrieb, und heute giebt ein in jeder Hinsicht stattlicher Katalog beredtes Zeugniß von den erreichten Erfolgen, und seine Nummern finden, in den mannigfachsten Packungen, etiquettirt in fast allen Sprachen der Culturvölker, in ganz unglaublichen Mengen ihren Weg in alle Theile unseres Erdenrundes.“

Mit diesen Worten des bewährten Vorkämpfers der deutschen Tintenindustrie beschließen wir die Schilderung dieser Fabrik. Wir hoffen fest, daß sowohl er selbst wie auch andere deutsche Tintenfabrikanten in ihren Anstrengungen nicht erlahmen und ihr hohes Ziel, die endgültige Eroberung des Weltmarktes, zu Nutz und Frommen Deutschlands erreichen werden. An unsere Landsleute im Auslande möchten wir aber am Schluß die Bitte richten, auch ihrerseits für die deutsche Tinte einzutreten und nach Kräften dem deutschen Fleiße und der vorzüglichen deutschen Waare in fernen Ländern die Wege zu ebnen.

Valerius. 


Von Christiania nach Bergen.

Bilder aus Norwegen von Karl Konrad.0 Mit Illustrationen nach den Aquarellen von Prof. C. Werner.

1. 0 Christiania.

Der den germanischen Stämmen von Alters inne wohnende Wandertrieb, welcher in früheren Zeiten so häufig in die Geschicke der europäischen Länder und Völker eingegriffen, scheint in unserem Jahrhundert der Dampfkraft mit erneuter Stärke erwacht zu sein. Freilich hat er heutzutage nichts mehr mit Eroberungssucht und Beutelust gemein, verleugnet aber im Uebrigen keineswegs seinen alten Charakter. Nicht einzig und allein der Freude am Naturgenusse – denn diese finden wir auch bei anderen Völkern – sondern eher einem gewissen Hange zur Romantik und vor allem der Lust am Wechsel entsprungen, Eigenthümlichkeiten, die dem germanischen Nationalcharakter schon seit den ältesten Zeiten ankleben und ihm von je den Spott der Nachbarvölker eingetragen haben, hat dieser Wandertrieb in der sogenannten Vergnügungs- oder Ferienreise seinen neuesten Ausdruck gefunden.

[735] Nachdem er im Süden bereits jeden romantischen Punkt, jedes idyllische Fleckchen ausgespäht, ist ihm vermöge der fortschreitenden Entwickelung der modernen Communicationsmittel neuerdings ein Gebiet erschlossen worden, das, bisher abseits und unbeachtet gelegen und daher noch mit dem vollen Reize des Geheimnißvollen umkleidet, neue und lohnende Entdeckungen in Fülle verspricht. Es ist der skandinavische Norden, die Ultima Thule unserer Vorfahren, für unsere nordpolforschende Zeit aber nicht länger das Ende der Welt.

Die vielgelesenen Schilderungen namhafter deutscher Schriftsteller wie Mügge, Laube, Rasch, Passarge haben die bis dahin festgewurzelten Vorurtheile, welche sich Skandinavien als eine sterile, vegetationslose Eis- und Felswüste unter einem ewig trüben Himmel und bevölkert von wilden Thieren vorstellten, so ziemlich beseitigt, und mehr und mehr hat sich seitdem der große, bis dahin fast ausschließlich Italien und die Alpenländer überfluthende Touristenstrom den skandinavischen Reichen und unter ihnen vornehmlich dem wildromantischen Norwegen zugewendet.

Die Mehrzahl der Reisenden, welche eine Rundtour durch die norwegischen Hochlande beabsichtigen, wird, da fast sämmtliche Zugangsrouten in der Landeshauptstadt Christiania münden, diese zum Ausgangs- oder Schlußpunkt ihrer Reise wählen müssen. Aber nur die wenigsten verweilen hier länger, als es zu einer flüchtigen Umschau nothwendig ist. Wer den Norden aufsucht, will meistens lediglich dessen großartige Natur bewundern, und nur selten hat man zudem Christiania unter den sehenswertheren Städten Europas nennen hören. Und dennoch ist, gänzlich abgesehen von den vortrefflichen Gasthöfen, welche diesen Ort mehr als einen anderen in ganz Norwegen zu einem Ruhepunkte geeignet erscheinen lassen, Christiania eine in mehr als einer Beziehung interessante Stadt, die hinsichtlich ihrer Lage selbst im Süden nur wenige Rivalinnen zu fürchten hat, im Norden aber gar keine. Wohl gewährt das alterthümliche Bergen, umgeben vom siebengezackten Felsenkranz, einen großartigeren Totaleindruck; wohl zeigt die fluthumrauschte Inselstadt Stockholm mit ihren stolzen Palästen und metallenen Heldenbildern, ihren kühnen Brücken und granitenen Quais ein vornehmeres und imposanteres Stadtbild, an Anmuth, Farbenfülle und Abwechselungsreichthum aber stehen Christianias Umgebungen einzig da.

Von welcher Seite man sich auch der Hauptstadt Norwegens nähert, ob zu Wasser oder zu Lande, stets wird man durch ihren ersten Anblick um so mehr überrascht und entzückt sein, als die Naturgenüsse, welche die lange Reise geboten, nur bescheidener Art waren. Die Fahrt auf dem zwölf deutsche Meilen langen, bald meerartig breiten, bald zum Strome verengten Fjord, an einsamen Klippenstränden, zerstreuten Felsinseln, dunklen Nadelholzungen und rothbemalten Fischerhütten vorbei, ist bei aller Anmuth auf die Dauer doch etwas monoton und ermüdend. Sobald aber der Dampfer die weit vorspringende Landzunge Nœsodtangen umfahren hat, entfaltet sich mit einem Schlage das ganze zauberhafte Panorama von Christiania vor den entzückten Augen, welche Mühe haben, es in allen seinen Einzelheiten zu fassen.

Kommt man aber mit der Eisenbahn von Gothenburg, so fühlt man sich, nachdem man den ganzen langen Tag durch eine unerfreuliche Wald- und Felswüste dahin geeilt, doppelt erfrischt, wenn man, am Rande des den Christiania-Fjord östlich begrenzenden Hochplateaus angelangt, tief unten den metallisch blitzenden Meeresarm mit seinen Hunderten von Inseln, vom Glanze der scheidenden Sonne übergossen, vor sich ausgebreitet sieht, ein Anblick, der uns so lange erfreut, bis der Zug langsam auf Gallerien und Dämmen in das weite, farbenreiche, mit menschlichen Wohnungen übersäete Thal hinabgestiegen ist.

Die Landschaft um Christiania hat nichts von dem herben, ernsten Charakter, der sonst dem Norden eigen, sondern ist von heiterem, fast südlich zu nennendem Liebreize. Auf Schritt und Tritt werden hier Erinnerungen an die apenninische Halbinsel wach. Schauen wir von dem steil aus dem Fjorde aufsteigenden, waldbekleideten Ekeberg landeinwärts auf das in satten Farben leuchtende Thal des Akerselv, in dem sich die ausgedehnte Stadt mit ihren langen, weiß schimmernden Häuserreihen, ihrem hochragenden Schlosse, ihren vielen Thürmen, die alle von der mächtigen Kuppel der Dreifaltigkeitskirche überragt werden, behaglich bettet, so fällt uns das ferne, schöne Florenz ein, wie wir es vom sonnigen Bello Squardo oder von Fiesole aus gegrüßt haben. Gleiten wir dann wieder im leichten Nachen über den blauen Wasserspiegel des Fjords und senden von hier den Blick nach der von einem weiten, aus sanften Hügeln, grünen Wäldern und blühenden Auen gebildeten Amphitheater umgebenen Stadt, so gedenken wir Comos und seines lieblichen myrthenumdufteten Sees, dessen stolzen Alpenhintergrund man hier freilich nicht suchen darf. Schweifen wir aber an der vielgewundenen Fjordküste umher, wo unzählige Villen aus dunklem Tannengrün hervorleuchten und sich mannigfach wechselnde Aussichten auf die malerischen Felseninseln und Vorgebirge eröffnen, so wähnen wir uns an den Golf von Neapel versetzt, nur daß hier die Formen weicher, die Farben matter sind und kein qualmender Bergriese dieses Paradies mit Tod und Vernichtung bedroht.

Aber nicht blos malerisch schön ist die Lage Christianias, sie ist vor allen Dingen höchst vortheilhaft für Handel und Verkehr. Der tiefe, gute und sichere Häfen gewährende Fjord, in welchem selbst in strengen Wintern das Fahrwasser durch einen Eisbrecher offen gehalten wird, ermöglicht eine directe Dampfschiffsverbindung mit allen größeren europäischen Hafenplätzen, während Schienenstränge nach verschiedenen Richtungen hin die norwegische Hauptstadt mit Drontheim, Stockholm und Gothenburg in Verbindung setzen. Vermöge dieser günstigen Verkehrsverhältnisse ist Christiania, das bereits gegen 200 eigene Schiffe besitzt, eine der bedeutendsten Handelsstädte in Nordeuropa geworden. Außerdem ist es auch der Hauptsitz der zwar noch geringfügigen, sich aber von Jahr zu Jahr mehr entwickelnden norwegischen Industrie. Wir finden hier eine beträchtliche Anzahl großer Maschinenfabriken und Sägemühlen, so wie mehrere Brauereien im größten Stile, welche jenes kräftige, stark alkoholhaltige, aber sehr wohlschmeckende Bier erzeugen, das neuerdings auch im Auslande verdiente Anerkennung gefunden hat und bis nach Brasilien exportirt wird. Weitere Ausfuhrartikel sind Holz, Fische, Felle; eingeführt werden dagegen hauptsächlich Colonialwaaren, Getreide und Wein.

Christiania ist eine verhältnißmäßig junge Stadt, die Nachfolgerin des alten, etwas weiter östlich am Fuße des Ekeberges gelegenen Olso, das, jetzt zu einem ärmlichen Vororte herabgesunken, zur Unionszeit Landeshauptstadt und eine nicht unbedeutende Niederlassung der Hansa war, bis es im Jahre 1624 durch eine furchtbare Feuersbrunst vollständig eingeäschert ward. Den dadurch obdachlosen Bewohnern befahl Christian der Vierte, Dänemarks gefeiertster Nationalheld und einer der wenigen dänischen Könige, die sich auch um Norwegen verdient gemacht haben, sich jenseits des Flüßchen Akerselv im Schutze der alten, schon unter König Hakon dem Siebenten erbauten Veste Akershus neu anzusiedeln. So entstand das nach seinem neuerdings durch eine Statue geehrten Gründer benannte Christiania. Noch heute bildet jene aus regelmäßigen Häuserquadraten bestehende älteste Anlage den Kern der norwegischen Hauptstadt, deren City, die jedoch einen architektonisch ziemlich dürftigen Charakter zeigt. Dafür herrscht hier in den Geschäftsstunden ein reges Leben, das sich namentlich an den beiden Häfen, welche durch eine vorspringende Felszunge von einander geschieden werden, entfaltet. Letztere trägt die erwähnte altersgraue, aber als Bauwerk wenig interessante Festung, von deren hohen Wällen sich dem Spaziergänger herrliche Blicke auf den inselreichen Fjord mit seinen lieblichen Hütten, sowie auf die beiden belebten Häfen und die thurmreiche, landeinwärts langsam ansteigende Hauptstadt darbieten.

Um die alte Stadt Christian’s des Vierten hat sich nun innerhalb der letzten Decennien das neue Christiania in weitem Halbkreise ausgebreitet, und zwar mit rapider, an amerikanische Verhältnisse erinnernder Schnelligkeit. Aus dem armseligen Landstädtchen, das noch zu Anfang dieses Jahrhunderts kaum 9000 und noch vor 25 Jahren erst 40,000 Einwohner zählte, hat sich allmählich eine große und wohlhabende Stadt entwickelt, welche jetzt 124,000 Menschen Obdach und Nahrung giebt und ihren Culminationspunkt noch lange nicht erreicht zu haben scheint. Leider hat man versäumt bei Zeiten einen rationellen Bebauungsplan aufzustellen. Die alljährlich entstehenden Häuserreihen ziehen sich immer weiter in’s Land hinein, während sich mitten in der Stadt noch viele wüste Plätze finden. So kommt es, daß Christiania einen unverhältnißmäßig großen Raum einnimmt, ohne den Eindruck einer modernen Großstadt zu hinterlassen. Neben stattlichen Neubauten gewahrt man noch häufig alte Holzbaracken, [736] welche freilich, da das Aufführen neuer untersagt ist, mehr und mehr verschwinden.

Von dem imposanten Centralbahnhofe führt die lange, elegante, laden- und verkehrsreiche Karl-Johann-Straße mitten durch das Herz der Stadt und an deren Hauptgebäuden vorbei, in ihrem letzten Theile zur linken Hand durch schattige Parkanlagen begrenzt, nach dem hochthronenden, die Aussicht stattlich abschließenden Schlosse, das seinerseits dominirend auf Stadt und Land herabschaut. Vor seiner kolossalen, aber etwas nüchternen Front erhebt sich das Meisterwerk Brynjulf Bergslien’s, die einfach edle Reiterstatue jenes genialen Emporkömmlings, der als Jean Baptiste Bernadotte in einem bescheidenen Advocatenhause zu Pau geboren ward und als König Karl der Vierzehnte im Stockholmer Residenzpalaste die Augen schloß.

Auf einem schmucklosen, aber mächtigen Unterbau, der als Inschrift nur den Wahlspruch des Königs zeigt: „Des Volkes Liebe mein Lohn“, steht das prächtige, lebendig vorwärts schreitende Pferd, auf dessen Rücken der Herrscher in leichter, ungezwungener und doch würdevoller Haltung sitzt, den Hut in der Hand, als ob er soeben aus dem Portal des Schlosses geritten käme, die Grüße des Volkes freundlich zu erwidern. So schickt er den Blick zur Stadt hinab, hinüber nach dem Hause des Storthings, mit dem er sich seine ganze Regierungszeit hindurch im Kampfe befand.

Noch imponirender in seinem Aeußeren als die Königsburg, wenngleich in einem seltsam gemischten bizarren Stil erbaut, aber breit und trotzig den Eingang zur innern Stadt bewachend, und somit den Charakter der in ihm herrschenden Gewalt trefflich zur Anschauung bringend, erscheint Norwegens Stolz, sein Parlamentshaus, dessen Auffahrt mit zwei prächtigen Löwen aus Granit geschmückt ist.

Inmitten der schattigen Anlagen, welche den Raum zwischen den Wohnstätten des Herrscherthums und der Volksvertretung ausfüllen, steht, wie ein Vermittler zwischen beiden feindlichen Gewalten, seit neuester Zeit das Standbild Henrik Wergeland’s, des größten lyrischen Dichters Norwegens, der zugleich einer der bedeutendsten Politiker des Nordens war. Wie er, der glühende Freiheitsschwärmer, den Heldenkönig Karl Johann in begeisterten Gesängen feierte, so hat auch hier seine Statue den rechten Platz gefunden.

Am Fuße des Schloßhügels gewahren wir ferner die Gebäude, welche den Zwecken der erst im Anfange dieses Jahrhunderts als erstes Zeichen der nationalen Erhebung gegründeten Hochschule dienen.

Die Zahl der Studenten in Christiania beträgt in der Regel 500 bis 600; sie tragen seltsame schwarze Baretts mit einer langen auf die Schulter herabhängenden Seidenquaste.

Vor vielen Städten ähnlicher Größe zeichnet sich Christiania durch gemeinnützige Anstalten aus. Von Pferdebahnen durchzogen und von einem ausgebreiteten Telephonnetz früher als manche deutsche Großstadt überspannt, ist es in jeder Hinsicht den Anforderungen der Zeit nachgekommen. Stattliche Schulen und Hospitale werden gebaut und eine prächtige Dampfküchenanstalt sorgt für die billige Verpflegung der ärmeren Classen. Auch an Kirchen – durchweg geschmackvolle, moderne Rohbauten – ist kein Mangel; denn es herrscht viel tiefe, oft sogar Auswüchse treibende Religiosität in Norwegen. Dahingegen kann eine so junge und zumeist durch den Handel emporgekommene Stadt nicht reich an Kunstschätzen sein. Was sich unter den Gemälden der kleinen Nationalgallerie an ausländischen Arbeiten findet, ist größtentheils werthlos, die norwegische Schule aber, die sich in diesem Jahrhundert nicht geringe Achtung erworben hat, ist auf das Stattlichste in mehreren Meisterwerken von Gude, Tidemand, Morton Müller, Arbo, Cappelen etc. vertreten. Höchst interessant sind ferner die verschiedenen Sammlungen der Universität, und unter diesen namentlich das altnordische Museum, welches, wenn auch nicht so reichhaltig wie die Sammlungen in Kopenhagen und Stockholm, manchen höchst seltenen Schatz besitzt. Eine solche Menge prächtiger, geschnitzter Thüren von alten Holzkirchen findet man nirgends wieder. Hier ist auch das berühmte Vikingerschiff zu sehen, dessen Auffindung vor einigen Jahren ein so allgemeines Interesse erregte. (Vergl. Jahrg. 1880, S. 472.) Das höchst merkwürdige, jetzt in geschickter Restauration befindliche Fahrzeug zaubert die romantischen Zeiten der nordischen Seekönige auf das Lebhafteste vor des Beschauers Auge.

Ein großer Schmuck Christianias sind die vielen öffentlichen Anlagen und Gärten, die sich in allen Stadttheilen finden. Im Frühling, wenn Syringen und Goldregen in unendlichen Mengen duften und blühen, rufen sie einen wahrhaft zauberhaften Eindruck hervor. Gleich hinter dem Schlosse dehnt sich der herrliche Schloßgarten aus, in dessen schattigen Laubgängen man den sechszigsten Grad nördlicher Breite vollständig vergißt. Schwäne gleiten auf einem kleinen See umher, ein hoher Springbrunnen verbreitet Kühle, wohlgepflegte Teppichbeete erfreuen durch ihren reichen Farbenschmuck das Auge. Hinter diesem Parke beginnt das eleganteste Viertel Christianias, die Homansby, in deren luftigen, mit geschmackvollen Villen besetzten Straßen vornehme Ruhe herrscht.

An Aussichtspunkten und interessanten Ausflugszielen ist Christianias Umgebung überreich und auch hierin mit der Neapels vergleichbar. Ein Uebelstand aber beeinträchtigt häufig den Genuß an den sonst so lohnenden Streifereien durch dieses Paradies. Nirgends nämlich, oder doch nur äußerst selten, finden sich Orte, wo sich der müde Wanderer erfrischen kann. Die norwegische Gesetzgebung will dem so trinklustigen Volke die Tugend der Mäßigkeit mit Gewalt anerziehen, und der unschuldige Fremde muß unter den strengen Maßregeln des Storthings mitleiden.

Ein elegantes Sommercafé aber befindet sich auf der Ladegaardsö, einer sich weit in den Fjord erstreckenden Halbinsel, die ebenso wohl deshalb, wie auch wegen ihrer Naturreize das Hauptausflugsziel aller Fremden und Einheimischen ist. Und dies mit Recht; denn ein so entzückend lieblicher Naturpark, wie die Ladegaardsinsel, wird in so unmittelbarer Nähe einer großen Stadt – kleine Dampfschaluppen vermitteln den Verkehr mit dieser – wohl schwerlich wieder gefunden. Zum besonderen Schmucke dient ihr das zierliche, im sogenannten Tudor-Stile erbaute Schlößchen Oscarshal, das sich nahe dem Strande auf einem terrassirten Hügel erhebt und, aus seiner dunklen Tannenumrahmung hell hervorleuchtend, von allen Aussichtspunkten in Christianias Umgebung gesehen wird. Ursprünglich von König Oscar dem Ersten erbaut, gehört es jetzt dem Staate, bleibt aber noch immer für die königliche Familie reservirt. Sein höchst sehenswerthes, die weit berühmten Gemäldecyklen von Gude, Irich und Tidemand enthaltendes Innere ist dem Publicum zugänglich; vom Thurme erschließt sich eine überwältigend herrliche Aussicht auf das dunkelgrüne, rings von leuchtendem Wasser umfluthete Laubmeer des Ladegaardsö bis zu den blauen Bergen des Askerlandes, die in lichten Wellenlinien den Horizont begrenzen.

Kein Fremder, der sich schon von hier aus einen Einblick in die eigentliche norwegische Gebirgsnatur verschaffen möchte, sollte es unterlassen, den circa 11 Kilometer nordwestlich gelegenen Frognersœter zu besuchen. Köstlich schattige Waldwege führen hinauf, und oben sieht man von der Gallerie eines im altnorwegischen Bauernstile erbauten Landhauses den ganzen Christiania-Fjord mit seiner interessanten Küstengliederung und seinem Inselarchipel wie eine Landkarte sich zu Füßen. Etwas höher auf der Tryvandshöhe, wo wir uns auf der Spitze eines hölzernen Aussichtsthurmes gegen 1800 Fuß über dem Meere befinden, öffnet sich die nach allen Seiten freie Aussicht auf ein Gebirgsbild voll düsterer Erhabenheit, das im Westen bis zu den fernen Hochgebirgen Thelemarkens reicht, aus welchen die etwa 17 deutsche Meilen entfernte und gegen 6000 Fuß hohe Schneekuppe des Gausta deutlich hervortritt.

Im Uebrigen aber ist es weniger die Großartigkeit der Formen, als vielmehr die innige Verschmelzung von Gebirg, Wald und Meer zu einem harmonischen Ganzen, was der Landschaft um Christiania ihren eigenthümlich bestrickenden Zauber verleiht. Eines ihrer anmuthigsten und eigenartigsten Elemente bilden die unzähligen, im Fjord gruppenweise verstreuten Eilande, jedes ein abgeschlossenes kleines Paradies für sich, jedes von individueller Physiognomie. Bald sind es winzig kleine nackte Felsklippen, bald große fruchtbare Gärten, hier mit einsamem herrlichem Hochwald bestanden, dort mit den reizendsten Villen besetzt. Die Vorliebe der Norweger für Landhäuser, in welchen sie ihre schönen, aber kurzen Sommer genießen, hat hier einen eigenen Villenstil geschaffen, der, wenn er sich auch in seinen Hauptelementen an das modernisirte Schweizerhaus anlehnt, vermittelst einer durch die leichte, luftige Holzconstruction begünstigten Fülle des reizendsten Schnitzwerkes, sowie zahlreicher Veranden, Gallerien und Balcons einen originellen Eindruck macht und neuerdings sogar im Auslande, z. B. in den Umgebungen Wiens, Nachahmung gefunden hat. Diese zahlreichen Landhäuser verleihen der Umgegend Christianias etwas ungemein Belebtes und Anmuthiges. Die besuchenswertheste unter allen Inseln ist nächst der Ladegaardsö

[737]

Ansicht von Christiania.
Nach dem Aquarell von Professor C. Werner.

[738] die Hovedö (Hauptinsel), welche das schönste unter allen Panoramen Christianias und außerdem noch die allerdings ziemlich unbedeutenden Ruinen eines von englischen Mönchen gegründeten Cisterzienserklosters aufweist. Die eigentlichen Villeninseln aber sind die im lieblichen Bunde-Fjord, einem Zweige des Haupt-Fjords, liegenden Malmö, Ormö und Sjursö.

Eine Villeggiatur am Christiania-Fjord hat ihre ganz besonderen Reize. Man segelt, badet, veranstaltet Landpartien und Picknicks im Grünen und freut sich der köstlich frischen Meer- und Bergluft. Der Geschäftsmann, welcher am Tage in der Stadt seinem Berufe nachgehen muß, genießt wenigstens die Abende draußen im Kreise der Seinen. Noch zur Mitternachtszeit, die ja hier im Hochsommer keine Dunkelheit bringt, steht man oft reichgeschmückte, mit vergnügten Menschen gefüllte Boote auf dem traumhaft stillen Wasserspiegel zwischen den Waldinseln dahingleiten und hört überall fröhliche Stimmen erschallen. Namentlich in der Johannisnacht, dem Mittsommerfeste, das zu Ehren des Sonnen- und Lichtgottes schon in vorhistorischen Zeiten im skandinavischen Norden gefeiert ward, bleibt Alles bis zur Morgenröthe wach. Da flammen Freudenfeuer von den Bergen und Inseln, ja selbst von Flößen die man auf dem Fjord schwimmen läßt; Raketen und Leuchtkugeln steigen in die fast tageshelle Luft, und überall wogen dichte Menschenmassen, die sich, wenn auch in merkwürdig stiller Weise, des Sommereinzuges freuen.

Aber auch der Winter in Christiania hat seine Vorzüge. Er ist zwar streng und andauernd, bringt aber meist windstilles, klares und sonnenhelles Wetter. Dann blüht auf der weiten glatten Fläche des Fjordes, oft bei Musik und bengalischer Beleuchtung, der Eissport.

Auch das gesellige Leben Christianias wird gerühmt. Die Gastfreundschaft der Nordländer und ihre liebenswürdige Zuvorkommenheit gegen Fremde sind ja in der ganzen Welt genugsam bekannt. Oeffentliche Vergnügungen giebt es hier allerdings nur in geringem Maße, und es ist auffallend, wie still und ehrbar in dieser Beziehung die norwegische Hauptstadt im Vergleich zu Stockholm und Kopenhagen erscheint. Für das Theater namentlich schaut hier weit geringeres Interesse zu herrschen, als in unseren deutschen Großstädten. Außer den dramatischen Arbeiten der nationalen Dichter, von welchen sich Björnson und Ibsen ja auch bei uns Eingang verschafft haben, führt man meist Uebersetzungen aus dem Französischen auf; denn gegen das von Deutschland Kommende hegt man, ganz vergessend, daß dort die Wiege der skandinavischen Cultur gestanden, noch mancherlei Vorurtheile, wenn sich auch[WS 1] der nach dem dänischen Kriege hier grassirende wüthende Deutschenhaß wesentlich gelegt und einer theilweisen Anerkennung unserer Verdienste Platz gemacht hat.

Die Zeit der skandinavischen Unionsbestrebungen scheint jetzt auch vorüber zu sein, während eine starke und von Jahr zu Jahr wachsende Partei Norwegen als selbstständige Republik von Schweden losgelöst sehen möchte, obgleich es ja schon jetzt mit letzterem Reiche wenig mehr als die Dynastie gemeinsam hat. Diese residirt fast ausschließlich in Stockholm. Der König, nach dem Gesetze verpflichtet, drei Monate des Jahres in Norwegen zuzubringen, kommt meist ohne seine Familie und mit geringem Gefolge in’s Land. Obwohl er beim Volke durchaus nicht unpopulär ist, mag ihm doch seine Stellung dem Storthing gegenüber, die ihm jegliche Autorität nimmt, den Aufenthalt in diesem seinem Königreiche nicht besonders angenehm erscheinen lassen.

Es war zwar die Rede davon, der Kronprinz werde als Vicekönig von Norwegen seine Residenz in Christiania aufschlagen, es scheint aber, als ob dieser Plan sich noch nicht so bald realisiren werde. Auch der jugendliche Kronprinz mag sich kaum nach der unmittelbaren Nähe des Storthings sehnen, der ihm erst kürzlich, bei Gelegenheit seiner Vermählung, eine geringe Erhöhung seiner sehr bescheidenen Apanage verweigert hat. Uebrigens war die deutschfeindliche und skandinavische Partei mit der Wahl des Thronerben wenig zufrieden. Man hätte lieber die älteste Tochter des Prinzen von Wales, die Enkelin der Königin Victoria und des Königs von Dänemark, als künftige Herrscherin begrüßt. Trotzdem wurde die Kronprinzessin bei ihrem am 11. Februar dieses Jahres erfolgten Einzuge in Christiania mit enthusiastischen Kundgebungen und einer Reihe so glänzender Feste empfangen, wie sie Norwegens Hauptstadt nie zuvor gesehen.

So steht denn zuversichtlich zu hoffen, daß es der liebenswürdigen Enkelin unseres Kaisers, welche die Herzen ihrer neuen Landsleute im Sturme errungen zu haben scheint, von der Höhe des Thrones aus gelingst werde, den skandinavischen Völkern Sympathie für deutsche Sitte und deutsches Wesen einzuflößen und die Bande zwischen Nord- und Südgermanen wieder enger zu knüpfen.




Populäre heimische Vögel auf der Anklagebank.

Eine praktische vogelkundliche Untersuchung.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.

Das seit mehr als fünf Jahrzehnten übliche Losungswort „Schutz den Vögeln!“ wird heutzutage gerade da am meisten gehört, wo der tiefere Blick in das Leben der gefiederten Wesen fehlt, ja selbst in die neuerdings erlassenen Gesetze und Polizei- Ordnungen über den Vogelschutz haben sich mehrfache Ungereimtheiten und Widersprüche eingeschlichen, welche auf Unkenntniß der Sache zurückzuführen sind; so ist es denn sicher an der Zeit, das Publicum über die Nützlichkeit und Schädlichkeit der einzelnen Vogelarten von Neuem aufzuklären, und wir thun es an dieser Stelle um so lieber, als wir neben altbekannten Thatsachen hier wesentlich Neues über die Frage des Vogelschutzes mitzutheilen in der Lage sind – Ergebnisse der jüngsten Beobachtungen und Forschungen auf dem einschlägigen Gebiete.

Die Frage des Vogelschutzes beschäftigt gegenwärtig die Gemüther auf’s Lebhafteste, und Vereine und Privatpersonen erwägen sie immer auf’s Neue. Angesichts dieses Umstandes dürfen wir wohl bei den Lesern der „Gartenlaube“ gerade gegenwärtig ein genügendes Interesse für den Gegenstand voraussetzen, um die Einladung wagen zu können: den folgenden Betrachtungen über unsere populären heimischen Vögel und ihre Stellung zur Frage des Vogelschutzes freundliches Gehör zu schenken. Wir werden einige volksthümliche Vögel Deutschlands der Reihe nach in den Bereich der Betrachtung ziehen.

1. Die Diebereien der gemeinen Krähe und Dohle in Feld und Garten.

Schon im Jahre 1876 erklärten wir kraft fortgesetzter eingehender Beobachtungen der Rabenkrähe (Corvus corone) und der Dohle (monedula turrium), daß wir diesen beiden Rabenvögeln in unseren früheren Werken im Allgemeinen zu viel nutzenbringende Eigenschaften zugestanden. Neue ergänzende Erfahrungen nach dieser Richtung hin ließen in uns endlich die Ueberzeugung reifen, daß Krähe und Dohle allerorts dieselben sind: freche Diebe an den Früchten und dem Obste in Feld und Garten gefährliche Feinde den Klein- und Mittelvögeln.

Die Krähe ist langsam und ungewandt im Fluge und allen ihren Bewegungen. Das alte Klein- und Mittelgeflügel ist deshalb vor ihren Nachstellungen sicher. Aber man controllire einmal unausgesetzt den scheuen schwarzen Dieb zur Zeit seines Nistens! Wie er schon zeitig im Frühjahre, vom März und April an, die Nester der Ackerlerche, des Goldammers, der Stein- und Wiesenschmätzer, des Baumpiepers und unzähliger anderer nützlicher Erdnister zerstört durch Raub der Eier und Jungen, so bestiehlt er in Sträuchern und auf Bäumen die Nester ebenso vieler angenehmer und nützlicher Singvögel.

Dabei geht der geweckte Geselle planmäßig zu Wege: er hält eine förmliche Suche nach den Nestern, unterstützt durch sein scharfes, das dickste Gebüsch und den dichtesten Baumschatten durchdringendes Krähenauge. In derselben planmäßigen und unermüdlichen Weise, wie er den Eiern und Nestlingen nachspürt, verfolgt er die ausgeflogenen jungen Vögel. Schon früher beobachteten wir, wie Krähen eben flügge gewordene Steinschmätzer aus ihren Verstecken aufscheuchten und dann im Fluge durch wiederholtes Stoßen die Bedrängten nöthigten, in dem Wachsthum des Bodens Schutz zu suchen. Hierauf durchschritten die Verfolger in aufgerichteter Haltung die Plätze, woselbst die Vögel eingefallen waren und sich versteckt hielten, nach allen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eauch

[739] Seiten hin scharf spähend mit den Gaunerblicken, um bald die Niedergekauerten auszukundschaften und zu tödten. Viele Räubereien an anderen Kleinvögeln haben wir seither in den verschiedensten Gegenden bis in die neueste Zeit hinein beobachtet, indem wir den diebischen Vogel immerwährend scharf im Auge behielten. Zumeist in der ersten Morgendämmerung, von Nichts gestört und beobachtet, stellt er seine Kundschaftungen an; er rückt mit immer zunehmender Frechheit aus dem Feld in die Gärten, bis nahe an die menschlichen Wohnstätten, Ja in deren Umgebungen, um seinen Raubgelüsten zu fröhnen. Im Hofe und der Nähe des Hauses ist junges Hausgeflügel nicht sicher vor diesem schwarzen Satan, besonders wenn er eine größere Brut zu ernähren hat. Es ist von guten, zuverlässigen Beobachtern des Oefteren wahrgenommen worden, daß Krähen in den zoologischen Gärten einen empfindlichen Raub an den Eiern der Schwimmvögel und den Gelegen der Gänse und Schwäne verübt haben. Selbst mit den Hausthieren hält die Krähe Mahlzeit, indem sie sich deren Futterplätze und die Freßnäpfe merkt, um sich daselbst rechtzeitig zum Zehnten der Fütterung einzustellen. An Gewässern lauert sie mit großer Ausdauer auf Krebse und Fische und merkt ersterem mit großer Schlauheit die Lebensgewohnheiten ab: wenn er Abends auf das Ufer krabbelt, steht sie schon da, um ihn zu packen; sie benutzt den niederen Stand der Bäche, um der Fische in den Tümpeln mit Erfolg habhaft zu werden. Ja, ihre Berechnung geht noch weiter: Wenn Schafe vor ihrer Schur in Bächen gewaschen werden, so weiß sie aus Erfahrung, daß hierdurch viele Fische betäubt oder gar getödtet werden und nun auf der Wasseroberfläche stromabwärts getrieben werden. Sogleich ist die allwissende Krähe zur Ausbeute dieser Thatsache da.

Je mehr die Bedürfnisse seiner sauberen Nachkommenschaft zunehmen, desto mehr steigt die Verwegenheit dieses Rabenvogels; das Beispiel eines frechen Krähenpaares weckt und ermuntert ein zweites, ein drittes, das Gleiche zu thun. Und so kommt es, daß es dem aufmerksamen Auge des frühwachen Beobachters öfters gelingt, einen Trupp Krähen zu entdecken, der aus gemeinschaftlichem Diebszuge begriffen ist. Hin und wieder verhält sich die eine oder die andere Krähe bei solchen Nachstellungen anscheinend gleichgültig, indem sie sich an dem Aufspüren und dem Verfolgen ihrer Gesellschafterinnen nicht betheiligt, aber es sind dies nur Ausnahmen bei einzelnen Individuen, und diese selbst nehmen, durch das augenfällige Beispiel der Räubereien der Sippschaft verführt, nach und nach den Charakter des großen Haufens an.

Die Krähe ist ein Ueberall und Nirgends der Flur, und nichts entgeht so leicht ihren wachen Sinnen: Wie sie sie sich der Vogelwelt dadurch dienstbar erweist, daß sie dem Kleingeflügel durch Geschrei und lebhaftes Verfolgen den Raubvogel verräth, so zeigt sie sich dem den Räubern glücklich entkommenen Vogel höchst verderblich: Vielmals haben wir gesehen, daß sie den Ort sich merkte, wo kleinere, vor dem Raubvogel sich an den Boden flüchtende Vögel Zuflucht gesucht hatten – sie erhaschte schnell die ängstlich in ihrer Lage Verharrenden.

Es ist nicht zu verwundern, daß ein so geweckter, scharfsichtiger Vogel, wie die Krähe, leicht jede Quelle für Diebstahl und Raub entdeckt. Neben den Singvögelbruten sind die Krähen bei ihrem ständigen Aufenthalte in den Fluren den Bruten der Rebhühner, der Wachteln selbst der Fasanen, sowie dem „Satz“ (Jungen) der Hasen, also den jagdbaren Kleinthieren, sehr gefährlich. Wie oft haben wir gesehen, wie beide Krähengatten zur Zeit ihrer Jungenpflege Rain, Wiese, Acker ebenso eifrig nach Vogelnestern und jungen Vögeln absuchten wie nach Insecten und sonstiger Nahrung. Dabei beweist sich die Krähe höchst vielseitig. Hier benutzt sie lauernd die Abwesenheit des Brutvogels, um unbarmherzig das Nestgelage zu plündern; dort lauscht sie nach dem Gezirp hungernder junger Vögel, um sie entweder zu beschleichen oder jählings zu überfallen. In anderen Fällen wieder erhebt sie beim Ansichtigwerden oder Verfolgen eines jungen Häschens meist laute Signalrufe, auf welche sofort die Schwestern in der Flur erscheinen, um desto erfolgreicher den Raub gemeinschaftlich an dem entdeckten Opfer zu begehen. Regel bei ihr ist jedoch schlaues Lauern, hinterlistiger Raub, und nur bei vollkommener Sicherheit greift sie offenkundig an, indem sie alte Brutvögel gewaltsam vom Neste aufstöbert.

Die Krähe bewährt sich als eine Allesfresserin. Obgleich sie die thierische Nahrung der pflanzlichen vorzieht, so verschmäht sie die letztere durchaus nicht, ja sie geht zeitweise derselben sehr eifrig und unausgesetzt nach. Wer hat nicht im Hochsommer und Herbst die Diebin beim empfindlichen Raube von unreifen und reifem Obste ertappt? Von der Kirsche, der Aprikose und anderem Steinobste bis zum Apfel zehntet sie die Feld- und Gartenbäume. Kaum sind die Feldfrüchte in der Höhe, so stellt sich auch schon die Krähe zum Stehlen ein. Nun überfällt in Schaaren auch ihre kleinere Verwandte, die ungemein rührige Dohle mit ihren ausgeflogenen Jungen, die Felder, die Fluren, die Baumstücke, die Haage, und wenn im Herbste die Garben unsere Felder bedecken, dann wimmelt’s von diesem Diebsgesindel überall bedrohlich. Wer dann die Verheerungen dieser Flüge nicht gewahrt, der ist blind für die Erkenntniß solcher und ähnlicher Naturerscheinungen. Ganze Krähenfamilien plündern völlig die Erbsenländereien, indem viele Schoten von ihnen nur angebissen und dann zu Boden geschleudert werden. Diese Plünderungen geschehen in einer wahren Hast und verwüstenden Leidenschaft. Schon im Vorsommer fallen die alten Dohlen die Erbsenstrecken an und füttern ihre Jungen mit der halbreifen Frucht.

Krähe und Dohle schicken sich vermöge ihres wachsamen, klugen Wesens, ihrer Anstelligkeit und Emsigkeit in alle Lagen, in jedes Verhältniß und beuten jede Gelegenheit aus, und Vorsicht und Frechheit halten sich bei beiden, in erster Linie aber bei der bedächtigeren Krähe, das Gleichgewicht. Mit zunehmender Sicherheit, da wo sie sich geschont und geschützt fühlen, wächst ihre Kühnheit, und sie dringen alsdann auf dem Felde in die Hausgärten, um über Erbsen und Obst herzufallen und die früher schon erwähnten Unbilden an Nest und Vogel zu begehen.

Da die Dohle die Krähe aus ihren Streifereien im Frühling und Herbst vielfach begleitet, so lernt erstere der schlaueren, geriebeneren Verwandten manche ökonomische Unbilden ab. Beide, vornehmlich die Krähe, folgen zwar dem Pfluge des Landmannes und nehmen herausgepflügte Engerlinge und Regenwürmer auf, allein die Ausbeute an den bloßgelegten Maikäferlarven ist nicht besonders hoch anzuschlagen, da erfahrungsmäßig die an die Luft gesetzte Larve doch stirbt. Es sollen übrigens hiermit den Krähen und Dohlen ihre regen Bethätigungen am Erbeuten von Kerfen in allerlei Gestaltungen nicht abgesprochen werden. Haben wir doch schon 1876 über ein Zusammenrotten von Krähen und Dohlen berichtet, wo beide an Büschen und Bäumen sitzende Brach- oder Sonnenwendkäfer (Melolontha solstitialis) erbeuteten, sich jedoch bei dieser Ernährung bei weitem nicht so anstellig zeigten, wie dies ihre Verwandte, die nützlichere Saatkrähe, bei ihrer bekannten Maikäferjagd thut.

Zu den erwähnten seelischen Eigenschaften tritt bei beiden Raubvögeln auch noch ihre allbekannte Neugierde. Ueber diese ist bereits so viel geschrieben worden, daß wir hier füglich darüber schweigen können.

Der Mäusefang spielt eine große Rolle im Leben der Krähe, aber mit ihm ist es gerade so bestellt, wie mit der erwähnten Kerfnahrung: die Krähe unterbricht diese Bethätigung gar oft, um in der Ernährung zu wechseln, und sie richtet im Vergleich mit viel gewandteren und ausgiebiger der Erbeutung hingegebenen Mäusejägern, wie Mäusebussarden, Eulen, Wieseln, Füchsen, Katzen u. a. m. wenig, in wirklichen Mäusejahren oft so viel wie nichts aus.

Aus diesem lebensgetreuen Bilde der beiden Rabenvögel folgt nun der Schluß, daß der ökonomische Schaden, den sie anrichten, den Nutzen sehr überwiegt, welchen man ihnen zuschreiben kann. Daraus ergiebt sich in unser Aller Interesse folgende Regel: man wehre den Krähen und Dohlen soviel wie möglich das Vorrücken in die Gärten und verfolge sie überhaupt mit allen Mitteln – nicht aber in der Brutzeit! Und selbst während dieser nehme man ihnen, soweit es möglich, die Brut! Wir empfehlen den Jagdbesitzern, sich getrost der seiner Zeit so sehr geschmähten Krähenhütten unter Zuhülfenahme des Uhus oder einer sonstigen gezähmten Eule zu bedienen, und zwar unbekümmert um das Geschrei, welches darüber mancherseits erhoben werden mag. Diese Anstalten sind die erprobtesten Mittel zum erfolgreiche Erlegen der durch sonstige Jagd kaum erreichbaren Raubvögel.



(Fortsetzung folgt.)



[740]

Blätter und Blüthen.

Der älteste Soldat der deutschen Armee in Frankreich 1870 und 1871 scheint sich auf Grund unserer Nachforschungen endlich gefunden zu haben. Aber nicht der früher von uns erwähnte Herr Borghard ist es, und auch nicht der alte Camerad Dürr in Ludwigsburg, der zwar fünf Tage später geboren als Borghard (am 11. April 1821), aber vier Wochen früher in Dienst getreten und noch heute als Wachtmeister seiner württembergischen Traincompagnie activ ist. Diese beiden überflügelt Ferdinand Roggisz, welcher am 15. Januar 1814 in Rudersdorf bei Berlin geboren wurde und im Herbst 1836 bei der vierten Schwadron des dritten Ulanenregiments in Fürstenwalde eintrat. Im Jahre 1839 als Unterofficier zur Reserve entlassen, trat er bei der Mobilmachung 1859 freiwillig wieder in den Dienst, und zwar wurde er Sergeant bei dem sechsten Ulanen-Landwehr-Regiment in Langensalza. Sein Wunsch, gegen die Franzosen zu fechten, ging damals nicht in Erfüllung. Um so freudiger folgte er 1870, im siebenundfünfzigsten Jahre stehend, dem Rufe des Königs und trat, freiwillig und wieder als Sergeant, bei der vierten Schwadron des zweiten Reserve-Husaren-Regiments ein, das damals in Merseburg gebildet wurde. Mit demselben wohnte er der Belagerung von Straßburg und dann, beim Werder’schen Armeecorps, Division Schmeling, sämmtlichen Gefechten desselben und namentlich der dreitägigen Schlacht vor Belfort von Anfang bis zum Ende bei, alle Strapazen dieser schweren Tage stramm ertragend, und verfolgte die Franzosen Bourbaki’s bis an die Schweizergrenze. Im November 1870 wurde ihm sein erster Enkel geboren. Die Feldpostkarte, welche ihm dieses frohe Ereigniß verkündete, war lange umhergeirrt und in vielen Händen gewesen, ehe sie ihn traf; dadurch war diese Kunde weit im Heere herumgekommen, und darum erlebte der alte Held die Freude, daß er beim Vorbeimarsch von den Soldaten der verschiedensten badischen, ostpreußischen, posenschen und anderer Regimenter mit dem Zuruf: „Hurrah Großvater!“ begrüßt wurde. Er war eine Ehrengestalt für alle Soldaten, und selbst die Feinde achteten den tapferen und biederen alten Mann. Uebrigens standen mit ihm zugleich zwei Söhne im Felde, der ältere als Zahlmeister bei einem westfälischen Landwehrbataillon, der andere als Feuerwerksmaat bei der Marine. Nach der Rückkehr und Auflösung des Regiments schnallte auch Großvater Roggisz den Säbel ab und griff wieder, als Land-Feuersocietäts-Beamter, zur Feder, bis man ihm 1880 den wohlverdienten Ruhestand gönnte, den er zu Burg bei Magdeburg genießt.


Hunde als Nahrungsmittel der Menschen. Wo auch immer Menschen weilen, überall ist der Hund ihr treuer Begleiter, ihre wirksamste Stütze und Hülfe. Heißt es doch schon im Vendidad, dem ältesten und echtesten Theil des Zend-Avesta: „durch den Verstand des Hundes besteht die Welt.“ Für die erste Bildungsstufe des Menschengeschlechts waren und sind noch heute diese freilich einigermaßen mystischen Worte eine goldene Wahrheit. Die Rinder und Schafe der Arier werden bewacht vom Hunde, dessen Bellen einer feinen Bemerkung Lazarus Geiger’s zufolge der erste Sprachversuch eines Thieres ist, von diesem allerältesten Hausthiere, das auch nebst Knecht und Wittwe dem Häuptlinge in’s Grab nachfolgte. Professor Schaafhausen, der scharfsinnige Durchforscher so mancher prähistorischen Fundstätten Europas, entnahm aus der Art der gewaltsamen Zertrümmerung der Hundeknochen westfälischer Höhlen, daß der Hund dem Menschen einst zur Nahrung gedient hätte. Sogar jene kleine Rasse, die Vorfahren des sogenannten Torfhundes, deren Reste in den mährischen Höhlen Schipka und Certovadira Professor Woldrich so erfolgreich untersuchte, wurde verzehrt. Und doch besteht ein gewaltiger Unterschied in dieser Beziehung zwischen den hundeessenden Höhlenbewohnern Europas und den heute Hunde züchtenden und essenden polynesischen oder afrikanischen Rassen.

„Wo der Hund als Nahrungsmittel geschätzt wird, bleibt er stupid,“ ist ein treffender Ausspruch Darwin’s. Träge und dumm sind jene Hunde auf den Marquesas, Hawaii und Tahiti, die nicht bellen, nur heulen, die man ausschließlich mit Früchten ernährt und mästet, durch Ersticken tödtet und durch heiße Steine in Gruben zum leckeren Mahle zubereitet. Die auf den Antillen lange vor Oviedo gezüchteten stummen Hündchen galten als große Leckerbissen, und von Mexico bis Peru und auf den weiten Grasflächen bis Guyana finden wir den gleichen Gebrauch des Hunde-Essens, wie in Asien bei den Bewohnern von Nedschd, bei den Nagas in Bengalen, den Dayaks auf Borneo, den Battas auf Sumatra etc. In den verschiedensten Gegenden des „Schwarzen Erdtheils“ trafen Reisende solche Hunde-Esser, z. B. die Chevas und Tumbucas, die Ovambos und die Cameruns.

Nach den Berichten der englischen Expedition unter Burton und Speke stehen die krüppelhaften Pariahhunde bei den Maurwis in großer Gunst; sie halten ein Dämpffleisch von jungen Hunden der Tafel eines Monarchen würdig, ganz wie die Engländer in den Tagen Karl’s des Zweiten. Wenn Bongo und Dinka es unbegreiflich finden, daß die Mittus so gern und leidenschaftlich Hunde verzehren, so hat das nach Schweinfurth darin seinen triftigen Grund, weil bei diesen die wilde Katze eine große Delicatesse bildet. Zwischen Fondj und Rohl fand derselbe Reisende eine großartige Hundezucht etablirt; überall wimmelte es von jungen Welpen, welche an die Madis um Sclavinnen verhandelt werden. Bei den Modes und Brôtos kostet eine Frau nur zwei bis drei fette Hunde.

Und gäbe ich noch seitenlange Berichte von Andern, sie würden nur den bekann[t]en Ausspruch Bernardin de St. Pierre’s in seinen „Etudes de la nature“ illustriren: Hunde verzehren ist der erste Schritt zum Cannibalismus. Das Züchten derselben zu Mastvieh macht zugleich den Geist dieser Thiere stumpfsinnig. Derartig waren die Hunderassen der prähistorischen Menschen nicht. Die Thiere dienten ihnen zur Jagd, zur Bewachung der Heerden, zum Schutz des Eigenthums und der Familie. Höchstens erlaubte man sich Eines:

War nämlich durch Verletzung oder Krankheit der kluge, geistig so hoch über den anderen Hausthieren stehende Hund unbrauchbar geworden, so verzehrte man ihn vielleicht mit ähnlichen Hintergedanken, wie z. B. die Karagassen durch Verzehren des Zobels oder Fuchses ihr Jagdglück zu stärken wähnen, wie die Indianer durch den Genuß des Wolfsfleisches auch die Kraft jenes Thieres, durch Ausschlürfen des Gehirnes auch dessen Scharfsinn sich anzueignen meinen.


Polnische Israeliten in der Synagoge. (Mit Abbildung S. 729.) Wir führen heute unseren Lesern die Holzschnittreproduction eines trefflichen Gemäldes vor, welches auf der diesjährigen internationalen Kunstausstellung in Wien allgemeine Anerkennung fand. Dasselbe stellt einige vorzüglich gelungene Charakterköpfe betender polnischer Israeliten aus der Umgegend von Krakau dar. Eine Charakterstudie spricht für sich selbst, und so genügen wohl wenige Worte zur Erklärung unseres heutigen Bildes. Im Vordergrunde desselben erblicken wir das scharfgeschnittene Gesicht eines der Betenden mit der eigenartigen galizischen Kopfbedeckung. Derselbe ist, wie sein Nachbar zur Rechten, mit dem Bettuch oder Betmantel, dem „Talles“, welchen der israelitische Knabe bei seiner Confirmation erhält, umhüllt. – Der Maler des sehr gelungenen Bildes, Anton Kozakiewicz, ist selbst ein Krakauer Kind; er besuchte zunächst die Kunstschule seiner Vaterstadt, ging dann nach Wien, wo er den Unterricht Engerth’s genoß, und nahm 1871 seinen Wohnsitz in München. Seine Bilder, deren Stoffe meistens dem Volksleben seiner Heimath entlehnt sind, zeichnen sich durch künstlerische Composition und ein lebhaftes Colorit aus.


Zur Gründung eines „Verbandes deutscher Touristenvereine“. In der Entwickelung des deutschen Touristenwesens, dessen Verdienste um die Erforschung und endgültige Erschließung der heimischen Gebirgswelt wir schon mehrfach an dieser Stelle hervorgehoben, ist in jüngster Zeit ein bedeutsamer Wendepunkt eingetreten. In Nr. 29 dieses Jahrganges haben wir die Gründung eines Verbandes, der etwa dreißig deutsche Touristenvereine mit ungefähr 40,000 Mitgliedern umfassen sollte, in Aussicht gestellt. Zum Zwecke dieser Gründung traten nun die Delegirten von elf Vereinen am 14. bis 16. October in Frankfurt am Main zu einer Berathung zusammen und beschlossen, bis zum Mai nächsten Jahres eine constituirende Versammlung zu berufen. Da auch von vielen anderen Vereinen, die durch Delegirte nicht vertreten waren, inzwischen zustimmende Adressen eingegangen sind, so darf das Gelingen des Werkes als vollständig gesichert betrachtet werden. Die Ziele, welche der Verband sich vorgesteckt hat, lassen sich kurz in Folgendem zusammenfassen: er will unter Wahrung der Selbstständigkeit der einzelnen Vereine das Touristenwesen in Deutschland fördern und namentlich in noch nicht erschlossenen Gegenden auf Erforschung der deutschen Berge anregend wirken. Ferner gedenkt er, ein engeres Zusammenwirken der einzelnen Vereine zu vermitteln, auf Verkehrserleichterungen und Preisermäßigungen im Eisenbahn- und Dampfschiffswesen hinzuarbeiten und die Empfehlung guter Gasthöfe zu übernehmen. Als Mittel hierzu wird ein Vereinsorgan erscheinen, welches außer Vereinsmittheilungen gediegene Aufsätze und interessante Nachrichten touristischen Inhaltes veröffentlichen wird. Zum einstweiligen[WS 1] Vorort des Verbandes wurde schließlich Frankfurt am Main gewählt, wo auch der provisorische Centralausschuß gegenwärtig seinen Sitz hat.


Kleiner Briefkasten.

Abonnent in Darmstadt. Uns ist nicht bekannt, daß man Cigarrenabschnitte anders als zum Rauchen aus der Pfeife verwenden könne. Sie wollen sich eine Absatzquelle in Kreisen suchen, die nicht in der Lage oder nicht geneigt sind, an ihr Rauchmaterial einen hohen Preis zu wenden.

E. Crèvecoeur. Ungeeignet! Verfügen Sie über das Manuscript!

P. v. H. in M. Wenden Sie sich an ein Regimentsbureau! Ein besonderes Buch wird über den Gegenstand wohl kaum existiren. Die betreffenden Verordnungen darüber sind übrigens im „Armeeverordnungsblatt“ (Berlin, Mittler u. Sohn) zu finden.

N. W. in P. Im Verlage von Friedr. Geißler in Leipzig erschienen und noch zu haben.

C. L. Mlr. Vergleichen Sie gefälligst unsern Artikel: „W. Hoffmann’s Nähstuhl“ in Nr. 17 des Jahrgangs 1881.

Frieda und Marie in Paris. Wirklicher Name, kein Pseudonym!


Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen:

„Neue Gedichte“ von Ernst Scherenberg. Eleg. geb. mit Goldschnitt. Preis 2 Mark 60 Pfennig.

Diese „Neuen Gedichte“, welche sich schon durch den Namen ihres Autors einführen und in feiner solider Ausstattung sich als ebenso elegantes wie billiges Geschenkswerk präsentiren, bedürfen so wenig einer besonderen Empfehlung, wie die bereits in zweiter Auflage in demselben Verlage erschienenen „Gedichte“ Scherenberg’s.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einstweiilgen