Die Gartenlaube (1883)/Heft 46
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No. 46. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Glockenstimmen.
Hilf Gott! berath! hilf Gott!
So rief die kleine Signirglocke ihr Sprüchlein, welches vor zwei Jahrhunderten der fromme Glockengießer als Inschrift ihr eingegossen hatte. Sie verkündete der guten Stadt Arnstadt die Mittagsstunde.
Die Zeitläufte waren wieder darnach angethan, daß die Bürger ihre Füße geruhig unter den gedeckten Tisch zu strecken vermochten. Der furchtbare Krieg, der dreißig Jahre in dem heiligen römischen Reich deutscher Nation gewüthet hatte, war zu Ende geführt, der Friede mit der bräuchlichen Formel „für jetzt und ewige Zeiten“ geschlossen, verbrieft und besiegelt worden, und das deutsche Volk ging wieder einmal an’s Flicken und an’s Stückeln.
In Arnstadt machte diese Arbeit nicht allzu viel zu schaffen, maßen es nur insoweit gelitten hatte, als für eine streng lutherische Stadt sich unumgänglich geziemte. Denn es lag, an den Fuß des Thüringer Waldes geschmiegt, abseits von den großen Heerstraßen und vor streifenden Truppen durch gedoppelte Mauern und feste Thore geschützt. Wenn dennoch einmal die Wächter, die von den Thürmen der Stadt und dem hohen Schloßthurm der gräflich Schwarzburgischen Residenz Neidecke in das Land spähten, einen feindlichen Haufen gemeldet hatten, der bis an die Wassergräben herangekommen war, dann hatten die Bürger ihre Säckel geöffnet und sich von der Kriegsfurie losgekauft, oder, so die Einlagerung nicht abzuwenden gewesen war, die fremde Soldateska so wohl aus ihren vollen Kellern tractirt, daß diese ein Einsehen genommen und wiederum die Stadt glimpflich behandelt hatte. Ereignete es sich bei solcher Heimsuchung, daß die Rittmeister in den Straßen sich todt hieben und stachen, oder der Obrist ein paar widersetzliche Soldaten auf dem Marktplatz henken ließ, so genossen sie des Schauspiels und priesen heimlich die göttliche Fügung, daß ein Bösewicht den andern auffressen mußte. Als aber der Löwe von Mitternacht, wie Gustav Adolph genannt wurde, herangezogen war, da hatten sie ihm Thor und Thür aufgethan, schalmeiet und ihn angeblasen, auch darauf gegen die ganze Nachbarschaft ob der Ehre, die ihnen widerfahren war, sich gerühmt.
Jetzunder handelten sie wieder als Männer von Einsicht und Verstand: sie griffen zur Arbeit. Die fruchtbare schwarze Erde der Stadtflur, welche sich zwischen der Altenburg, den drei Gleichen und der vom Thüringer Waldgebirge herab rauschenden Gera hinstreckt, trug schwere Weizenähren, die nun kein Rosseshuf mehr bedräute; unter dem Walpurgisholze hin zogen sich die Hopfenpflanzungen in schnurgeraden Reihen, die Stangen wurden nicht mehr in Wachtfeuern verbrannt. Die Brauhäuser dampften Tag und Nacht, auf daß sich die leer getrunkenen Fässer wieder füllten. Auf schwanken Gerüsten standen die Tüncher und frischten die Gemälde auf, welche die Häuser zierten und ihnen ihre Namen verliehen. Unter ihrem Pinsel erstund ob der Hausthür der Frau Schmidtin am Sperlingsberg der wachsame Kranich mit seinem Stein in der rechten Klaue in glänzendem Braun, gleich der Frucht des Kästenbaumes, wie man die Kastanien benamste; erneute sich an dem Hause des berühmten Brauherrn Nicolaus Fischer auf dem Rieth in allen Farben des Regenbogens die Schilderei, welche den großen Christopher darstellte, wie er, einen Tannenbaum als Wanderstäblein in der Hand, den Heiland der Welt durch die Meerfluth trug. Und da Friedenszeiten stets die Schreiberei begünstigen, so klapperte auch die weit und breit berühmte Papiermühle, welche sich am Liebfrauenkirchhof mit roth gemalten Balken und vorspringenden Stockwerken erhob, so rastlos, wie der Weißebach rauschte, der sie trieb. Nur heute am dritten Pfingstfeiertag stand sie still.
„Sie läuten Mittag, Hanne,“ sagte die Papiermüllerin, Frau Henningin, indem sie in die Küche trat, angethan mit einer großen blauen Schürze, an der ihr jüngster Sohn, das Benjaminlein, hing. Allda war Johanne, die älteste Tochter, beschäftigt, das Tischgeräth vom Schüsselbrett zu langen. Das junge Mädchen prüfte mit scharfem Blick die wie Silber glänzenden zinnenen Teller und Näpfe. Dann rief sie der Magd zu: „Trine, die Stockflecken wollen noch immer nicht weichen, die sich dem Geschirr dazumal einverleibt haben, als es vor dem Volk des Königsmark im Keller vergraben worden war, und der Napf hat die Beule behalten von dem Wurfe, den der Krawat nach Dir damit gethan hat.“
Trine, in einem Mützchen, das gleich einer breit gedrückten Düte auf dem Kopf saß, mit einem kümmerlichen Schleifchen im Nacken, wie es solch armem Mensch zukam, beugte das zusammengewelkte Gesicht mit den Heidelbeeraugen und dem runden Pflaumennäschen über den Suppennapf und antwortete seufzend: „Das kostbare Geräth trägt es in alle Ewigkeit nach, daß ihm einmal ungebührlich begegnet worden ist. Mir heilte die Kopfnuß schneller.“
„Der liebe Gott weiß, warum er seine Menschen prüft,“ sagte Frau Henningin mit einem mißvergnügten Blick auf ihr [742] verunziertes Geschirr. „Ist das Essen gar? Es giebt freilich nur ein altes Huhn mit Reis und Safran; aber am dritten Feiertag kann man sich daran genügen lassen. Und es ist gut, so wir das Mahl bald auf die Seite bringen; denn nach der Nachmittagsbetstunde mußt Du im Staat sein, Hanne, auf daß Du rechtzeitig zum Maienfest kommst.“
„Ja,“ rief der Papiermüller vom Hausflur her, wo er wegen alter Lumpen mit ein paar struppigen Kerlen feilschte, „und heute besonders darfst Du Dich nicht versäumen.“
Johanne lachte hochfahrend auf bei diesen Worten und drehte mit dem Scheuerwisch die kunstgerechte Flamme aus die große Fleischschüssel.
„Wo steckt Hermann, daß er die Lumpen fortschafft?“ fragte der Papiermüller ungeduldig. „Gewißlich ist er wieder auf dem Glockenthurm. Ich werde ihm derohalb einmal den Kopf waschen.“
Jetzt verließ Johanne ihre Zinnteller und nahm sich der Lumpen an, während Herr Henning seinen alten Vater aus der Stube auf den Hausflur rief, um mit ihm zu berathen, wie viel Heller den Händlern zu zahlen seien. Auch Frau Henningin trat hinzu, als die Lumpen in einen Korb geschüttet wurden.
„Solche Feldbinden,“ seufzte sie, auf einen großen scharlachnen Lappen deutend, den das Benjaminlein herauszog, „hatte das Pappenheim’sche Volk, das unsere Stadt brandschatzte. Damals wurden alle Spartöpfe geleert. – Da ist auch ein Stück von einem blau gestärkten Kragen, wie die vom Merode’schen Regiment trugen, deren Obrist mit fünf Soldaten bei unserem Superintendenten Schuckeln einrückte und ihn zur Rede setzte wegen seiner Strafpredigt gegen das zuchtlose Soldatenvolk. Ist aber von Seiner Hochehrwürden niederdisputiret worden. Und sieh! das ist ein Stückchen von einer gelben Feldbinde, wie sie die Evangelischen um die Schultern geschlungen hatten, die mit dem Gustavus Adolphus unsere gute Stadt heimsuchten.“
Der Großvater schaute nachdenklich auf die Lumpen. „Da liegen die feindlichen Farben nun so friedlich bei einander, und die sie einst in bitterem Hader gegen einander trugen, sind längst des Todes verfahren. Der alte Schrammhans, wie sie den zersäbelten Pappenheim nannten, und unser Löwe von Mitternacht an einem Tage. Und über ein Kleines werden ihre Feldbinden weißes Papier und ihre Thaten darauf verzeichnet sein zu Nutz kommender Geschlechter. Das ist Welt.“
„Die Lumpen riechen wie Moder,“ sagte Johanne, „ich graue mich davor.“
„Man darf sich vor keiner Arbeit scheuen,“ rügte der Papiermüller.
„Du sollst Dich nicht damit befassen, Hannchen,“ tönte eine frische Stimme dazwischen, und Hermann sprang in den Hausflur. Es war ein schlanker Bursch, oben aus dem groben Röcklein, unten aus den Stiefeln herausgewachsen; er trug keine Kappe, und das blonde Haar war ihm sonder Kunst über der Stirn und im Nacken mit einem Schnitt gestutzt. Aber wenn Gewandschneider und Haarkräusler ihn im Stich gelassen hatten, so war Mutter Natur desto fürsorglicher gewesen. Sie hatte ihm eine kräftige und doch biegsame Gestalt gegeben, treuherzige blaue Augen, blitzende Zahnreihen, und die dicken Haarwellen auf der freien Stirn ihm ebenso anmuthig geringelt wie den flaumigen Bart um die lächelnden Lippen.
„Hermann, wo hast Du gesteckt?“ fragte ärgerlich Frau Henningin.
Er wurde roth. „Ich habe dem alten Fabian läuten helfen.“
„Immer, wenn man Dich braucht, sitzest Du auf dem Thurm,“ fuhr ihn der Papiermüller an. „Bist Du doch wie an die Glocken gebannt.“
„Es ist meine einzige Freude,“ erwiderte Hermann bescheiden.
„Glockenklang ist mir die lieblichste Musika.“
„Als ob in dieser Welt ein solcher armer Hiob Zeit hätte, einer lieblichen Musika, die gerade nach seinem Gelüst ist, zu lauschen!“ strafte der Papiermüller. „Lies lieber die Lumpen aus.“
Aber da stürmten noch zwei Kinder herein.
„Nein; erst hilft er mir meine Maie ausschmücken,“ bat der achtjährige Bastian. „Schlag zwei Uhr ziehen alle Jungenschulen aus.“ Er drängte ihm eine frische Birke und einen Korb voll purpurner Pfingstrosen und goldgelber Butterblumen mit grünen Herzchen auf, die an die Zweige gebunden werden sollten, und Christel, die zehnjährige Tochter, trug Johannens blau und silbernes Wockenband als Zierrath herbei.
„Ich möchte von ihm das Gebet für den dritten Pfingstfeiertag gelesen haben,“ sagte der Großvater. „Ihr wäret Alle in der Kirche; bei mir thun’s die Füße und die Augen nicht mehr.“ Und er nahm das Gesangbuch von der Kannrücke, wo es seinen Platz hatte neben einem mit Pfauenfedern aufgeputzten Glaskrug, auf dem Doctor Martin Luther abconterfeit war.
„Nein, schläfere das Benjaminlein ein,“ befahl Frau Henningin, „dieweil ich die Speisen anrichte.“ Sie reichte dem schlanken Burschen den Mantel hin.
Hermann sah von Einem zum Anderen, rathlos, wo zuerst zu beginnen sei. Mit einem scheuen Blick streifte er den dargereichten Kindermantel. Da trat Johanne dazwischen. Trotz ihrer feinen Gestalt hatte sie einen festen Schritt; sie hob das nußbraune Köpflein selbstbewußt in die Luft. „Zuerst hilft er mir die Lumpen fortschaffen!“ sprach sie mit einer Entschiedenheit, die man dem kleinen erdbeerrothen Mund nicht zugetraut hätte. „Und wenn ich zum Tanz gehen soll und Ihr könnt nicht mitgehen, so muß Hermann mich hinbringen und heim geleiten, wie es immer gehalten wurde, seitdem Bruder Zacharias gen Frankfurt auf die Wanderschaft gezogen ist.“
„Aber Du sollst ja heute mit dem Brauherrn Fischer gehen,“ klagte die Mutter.
„Ich gehe nicht mit Fischer’s Nicolaus,“ erwiderte schnippisch Johanne.
„Warum nicht?“ fragte der Papiermüller. „Er ist der Sohn des Mannes, der unserer Stadt zu ewigem Ruhm verholfen, dieweil er das Weizenbier erfunden hat, und wandelt würdig in den Fußstapfen seines Vaters weiter.“
Frau Henningin schlug die Hände zusammen. „Und was würde die Muhme Schmidtin sagen, die dem Fischer versprochen hat, Dich ihm als Tänzerin zuzuführen?“
„Sie wird inne werden, daß die Hanne Henningin sich nichts befehlen läßt,“ antwortete Johanne.
„Ich ginge auch nicht mit ihm,“ meinte Christel. „Wenn er Abends vom Bier nach Hause geht, wankt er hin und her, gleich einem Heuwagen, und gestern hat ihn der Vetter Rathsbrunnenmeister wieder nach Hause führen müssen. Gelt, Hanne?“
„Und im Weißebach hat er auch schon gelegen bei unseren Enten,“ lachte Bastian. „Nicht wahr, Hanne?“
Und Benjaminlein, das auf dem Arm der Mutter saß, krähte vergnügt mit, da es seine Geschwister lachen sah, und zauste die Mutter an der gebrannten Spitze, die ihre steif gestärkte schwarzseidene Haube gleich einem Heiligenschein umgab.
Der Papiermüller lächelte, und nickte gewichtig mit dem Kopfe. „Ja, unser braves Weizenbier ist stark. Es war sogar stärker und schlauer als der Pappenheim’sche Obrist mit seinem ganzen Stabe. Es hat ihn so herabgebracht, daß er die Schuldverschreibung der Stadt über zweitausend Thaler, welche er der Bürgerschaft durch gräuliche Drohungen abgepreßt hatte, vergaß und im Gasthof ,zum güldenen Schwanen’ liegen ließ, auf daß ein hochweiser Rath selbige verbrennen konnte. Es ist dem Nicolaus nicht zu verdenken, wenn er seinem Gebräu die gebührende Ehre erweist. Ein Räuschlein hat noch keinem Freier geschadet.“
Aber Johanne hörte nicht. Sie hatte mit Hermann den Lumpenkorb ergriffen und die Thür zu der Mühle geöffnet, um ihr neues Futter zuzutragen. Das Brausen des Baches, der darunter hintoste, verschlang die Worte.
„Armer Junge,“ sagte sie zu ihm, als sie allein in dem Raume waren, da heut die Mühlburschen feierten, „Allen mußt Du dienen, und Niemand dankt es Dir.“
Er sah mit einer fast andächtigen Innigkeit in ihre schimmernden rehbraunen Augen. „Ich habe die Gutthat zu vergelten, welche Deine Eltern an mir übten, da sie mich als armes Waisenkind in ihr Haus nahmen, und Gott weiß, daß ich allezeit mit Freuden thue, was ich Euch an den Augen absehen kann. Am liebsten freilich arbeite ich für Dich,“ schloß er schüchtern.
Sie schüttelte weise das Köpfchen. „Man muß sein Herz nicht allezeit auf der Zunge haben, nicht, wenn es vor Freude hüpft, nicht, wenn es wehleidig schlägt,“ belehrte sie ihren Schützling, der sie um zwei Kopfeslängen überragte. „Du hältst etwas auf mich, weil ich gut gegen Dich bin, nicht leide, daß Du das Benjaminlein wiegst, und Dir von dem weiten Wamms des [743] Urgroßvaters geholfen habe, in dem Du aussahst wie der Knecht Ruprecht. Das ist ganz in der Ordnung. Aber Du brauchst es nicht auszurufen wie der Bierrufer das aufgethane Bier; es versteht sich von selbst. Du magst den Nickel nicht leiden. Solcher Gefühle kann der Mensch sich nicht gänzlich entschlagen: aber Du treibst Deinen Haß zu weit. Wenn Du ihn siehst, bekommst Du einen rothen Kopf. Das ist unchristlich.“
„Schilt mich nur, Hannchen,“ sagte er demüthig. „Du weißt, wie gern ich still halte. Wenn Du mir nur dafür versprichst, daß Du heute nicht mit ihm auf dem Maienfest tanzen willst.“
Sie zog wichtig die zart gezeichneten Augenbrauen in die Höhe. „Das kann eine Tochter aus der Papiermühle dem ersten Brauherrn der Stadt nicht abschlagen. Man muß seinem Stand gemäß sich aufführen. Sieh mich doch nicht so verzagt an! Ich nehme Dich ja mit, daß Du auch Deine Lust hast und nicht den ganzen Nachmittag dem Großvater aus der Postille vorlesen mußt.“
„Ich eine Lust haben?“ fragte er, schwermüthig lächelnd. „Vielleicht, daß ich zusehen darf, wie Du Dich mit dem Nicolaus schwenkst? Wenn ich auch mit Schneiders Lieschen tanzen wollte –“
Sie fuhr auf. „Du wirst doch nicht mit der Liese tanzen? Die ist ja ein Fuchs, und sagt nicht das Sprüchwort, daß an einem solchen kein gutes Haar ist?“
„Das ist auch ein unchristliches Wort,“ mahnte Hermann; „Lieschen ist kein schlechtes Mädchen.“
Johannens Rosenwangen hatten sich mit einem feinen Purpur gefärbt. Heftig stürmte sie auf ihn ein: „So gehe und tanze mit ihr. Ich bleibe zu Haus und trage das Kind und schwatze mit dem Großvater von Historien, die sich vor hundert Jahren begeben haben, und stelle die Mühle und fege die Lumpen zusammen.“
„Hannchen,“ sagte er sanft, „weshalb bekommst Du nun einen rothen Kopf? Du sollst ja zum Tanz gehen und lustig springen, und ich darf zuschauen, gelt?“
Sie gewährte es ihm mit versöhntem Kopfnicken. Der Klang der Hausschelle rief sie in den Hausflur zurück.
„Das Gott erbarm! Ist das Leben eine Plage!“ tönte es ihnen entgegen, und eine stattliche Bürgersfrau wandelte herein im schwarzen Tuchmantel, eine steil aufgerichtete schwarzseidene Mütze auf dem Kopf, die am Rücktheil eben solche steife Bandschleifen gleich einem ausgebreiteten Pfauenschweif schmückten.
„Morgen habe ich große Wäsche. Was muß ich dazu alles vorrichten! Kuchen, Seife, Lauge. Und nun ist auch noch das Maienfest.“
Der Papiermüller lachte in seiner selbstgefälligen Weise, „Laßt’s gut sein, Muhme Schmidtin. Ihr Weibsen schafft, weil es Euch eine Freude ist. Derohalb erhebt Ihr Eure Arbeiten zu Festen, wie die Namen Waschfest, Schlachtfest, und – Gott behüt’ uns! – Scheuerfest besagen.“
„Du lieber Gott!“ rief die Schmidtin, „als ob wir die Worte erfänden! Das vollbringen die Männer, und wir armen Kreuzträgerinnen müssen nach ihnen thun und, so wir waschen, Kuchen backen, so wir schlachten, Fische sieden, wir haben allezeit die Plage, der vielwerthe Ehewirth hat das Fest.“
„Habt Ihr auch einmal einen Ehewirth gehabt, Muhme?“ fragte Bastian.
„Die Leute sagen, es sei immer nur eine Muhme Schmidtin allhier genannt worden,“ setzte Christel hinzu, „und der Meister Schmidt habe, hinter dem Backofen nicht herfür gedurft, darinnen er die kleinsten Semmeln in Arnstadt gebacken habe.“
„Daß Gott erbarm! Was erzieht Ihr für Früchtchen, Muhme Henningin!“ zeterte die Schmidtin.
„Soll ich mit für die Muhme decken?“ unterbrach sie Johanne. „Wollt Ihr fürlieb mit uns nehmen?“
„Sieh da, das Mühmchen!“ rief die Schmidtin beschwichtigt. „Immer gastfrei, wie für die Jungfer sich geziemt, bei der der reichste Bürger und Brauherr auf Freiersfüßen geht. Ist der Hermann ein Tolpatsch! Da läßt er einen Teller fallen. Ja, was ich sagen wollte, Hanne. Putz Dich dem Fischer nur recht in die Augen, auf daß Dich die Barbe vom Tuchmacher Brotkorb nicht aussticht. Sie ist zwar ein wahres Lerchenei mit ihren Sommersprossen; aber sie hat doch ein Auge auf ihn geworfen.“
„Dann soll sie das andere auch noch auf ihn werfen,“ sagte Johanne, indem sie die Tafel deckte. „Christel, streue die Maßlieben auf den Tisch! Wie hübsch die gefüllten blassen und dunkelrothen Blümlein auf dem weißen Tischtuch aussehen. Trine, setze den Suppennapf neben mich! Muhme, nehmt Platz auf dem Ehrenstuhl neben dem Herrn Vater! Bastian, sprich das Tischgebet!“
Alles folgte den gebieterisch gegebenen Anordnungen. Und dann begann sie ebenso flink vorzulegen. Dem Hermann, der neben ihr zu unterst saß, schöpfte sie zuletzt auf; aber die Muhme erschaute neidisch, daß es ein schönes Bruststück war, und daß sein Schüsselein bis an den Rand gefüllt wurde.
„Du bist ja auch der Längste,“ entschied sie herrisch, da er bescheiden wehrte.
„Wahrlich, da tritt Herr Fischer schon die Gasse daher,“ rief plötzlich die Schmidtin, einen Blick durch die von Weinlaub umsponnenen Fenster werfend. „Welch eine höchst ansehnliche Statur er hat!“
Vom Markt herunter schritt ein junger Mann, dem sein Bäuchlein stattlich eine Elle vorausging. Er trug ein Staatskleid von feinem Tuch, aus dessen bunt umsäumten Aermelschlitzen feine holländische Leinwandpuffen sich bauschten, Strümpfe von weißem Tuch mit breiten Aufschlägen verziert; sein rundes blühendes Haupt bedeckte ein emporgekrempter Filzhut. Ein Mantel mit Bänderbesatz und Schlingen flatterte von den Schultern trotz des Pfingstwetters; denn ohne Mantel auf der Straße sich zu zeigen, wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Ausgang in Hemdärmeln.
Johanne warf einen Blick hinaus. „Ich glaube, wir können aufstehn. Hermann, an Dir ist die Reihe, das Dankgebet zu sprechen.“
Stotternd, die Augen auf den Nahenden gerichtet, gehorchte dieser.
Sie stieß ihn ärgerlich mit dem Ellenbogen an: „Was ich gesagt habe, habe ich gesagt: wir gehen selband.“ Damit sandte sie die Magd mit dem Geschirr in die Küche, und dann klappte sie so fest die Treppe hinauf, als seien ihre Absätze kleine Spitzhämmer. Der Riegel an ihrem Giebelstüblein schnappte.
Der Botschafter manche pochten an die Thür, und es wurden verschiedentliche Aufforderungen durch das Schlüsselloch geflüstert, aber sie kam nicht zum Vorschein. Endlich ertönte gepreßt die Stimme der Mutter unten im Hausflur, und an dem Schlürfen, welches ihre Reden begleitete, wurde merkbar, daß sie allerhand Kratzfüße machte.
„Es thut uns von Herzen leid, daß Hanne Euer Geleit entbehren muß, dieweil sie sich mit ihrem Putz versäumt hat. Wollet deshalb keinen Haß auf uns werfen.“
Darauf zogen die alte Muhme und der junge Freier ab.
Die Kinder liefen mit der Maie fort. Auch das Ingesinde: Mühlburschen und Mägde, denen das Recht auf eine Festfreude nicht verkümmert werden durfte, ging zum Tanz. Das Ehepaar blieb daheim beim alten Großvater und dem jüngsten Kind, auf daß die Mühle treu gehütet werde.
Endlich klappte Johanne aus der Giebelstube herab. Sie hatte sich wahrlich schön gemacht, wenn sie auch in ernste Farben gekleidet war, wie das die Mode der Zeiten, die aus Kriege und andre Landplagen folgen, mit sich bringt. Sie trug ihren schwarzen Moorrock, der in viele steife Falten gelegt war, und über den eine weiße Schürze mit feinen Kanten sich spannte. Eine steif gefältelte Krause umstarrte den zierlichen Hals und fiel auf das Mieder von schwarzem Tuch nieder. Auch ihre Schmuckzierde hatte sie angelegt. Auf der Krause wiegte sich ein Halsband von Granaten, die in dem Ruf standen, angenehm zu machen vor den Augen der Menschen.
Athemlos eilte auch Hermann herbei in seinem zimmetbraunen Sonntagsrock, der aus einem abgelegten Mantel des Papiermüllers gefertigt war. Er hatte drüben im Garten neben dem Wasserthurm für Johannen ein Sträußchen von Balsam und Narden geholt. Mit diesen hohen Namen belegte man die bescheidenen Kräuter: Rosmarin, Spika, Minze. Zwischen ihren duftenden Blättern barg sich ein noch ganz geschlossenes Rosenknöspchen.
„Warum brachst Du es ab, ehvor es blüht?“ rügte sie weisheitsvoll und steckte das Sträußlein an ihr Mieder.
Er betrachtete sie mit leuchtenden Augen. „Ach, hätte ich [744] unsren Glücksducaten noch!“ rief er. „Das wäre ein schöner Anhenker an Deine Halskette. In der Mitte war das Auge Gottes geprägt, der Name Gottes des Sohnes und die Taube als das Sinnbild des heiligen Geistes, und rings um den Rand stand geschrieben: Hilf du heilige Dreifaltigkeit! Meine Eltern haben ihn gehütet wie ihren Augapfel; er war ihr einziger Schatz. Nur einmal in der Theuerung, da wir am Verhungern waren, hat mein Vater ein Stückchen mit seinem Schusterkneift herausgeschlagen und Brod dafür gekauft; aber meine Mutter war besorgt, daß keines der frommen Worte verloren ging. Die Jahreszahl mußte daran.“
„Die frommen Worte haben sich nicht bewährt,“ meinte Frau Henningin grämlich. „Da Dein Vater die goldene Münze gegen den Marodeschen Soldaten vertheidigte, der bei Euch eindrang, hat ihn der Mordgeselle erschlagen; den Glücksducaten aber hat er an die goldne Kette gehangen, die er um seinen Hals trug, und ist damit abgezogen.“
Ein Ausdruck von Zorn und Trauer verbreitete sich über Hermann’s Züge.
„Was wärmt Ihr die alten Historien auf?“ meinte Herr Henning ungeduldig. „Macht, daß Ihr fortkommt!“
Johanne bot den Eltern die Hand zum Abschiede.
„Verstauche Dich zum mindesten artiglich, so der Nicolaus Dich zum Tanze aufzieht, daß er sieht, Du hast Lebensart gelernt,“ sagte die Mutter mit verdrießlich hängender Unterlippe.
Auch der Papiermüller war ärgerlich ob ihrer Widersetzlichkeit gewesen. Aber da er sie so schön, keck und selbstbewußt dahin schreiten sah, mit dem Rockschweife wippend gleich einer Bachstelze, verflog ihm der Unmuth.
„Sie ist die schönste Jungfer in unserer guten Stadt, die doch so viele hübsche Mädchen hat, als sprängen sie wirklich aus dem Jungfernbrunnen im Jonasthale hervor,“ sprach er stolz.
„Aber es ist ein Kreuz und Leiden, daß sie einen solchen Starrkopf hat,“ nörgelte Frau Henningin.
„Der wird sich schon beugen,“ nickte der alte Großvater. „Ist’s nicht im Glück, ist’s im Leid, das den stärksten Willen zermürbt. Denn das Leid hat ewige Kräfte, unsere Kraft aber ist endlich.“
Die Pürschfahrt.
Unter den verschiedenen Jagdmethoden, welche auf unser Roth- oder Edelwild Anwendung finden, ist – nächst dem bekannten „Pürschgange“ – ohne Frage das Anfahren oder Pürschfahren als die interessanteste zu bezeichnen. Der Jäger hat hierbei Gelegenheit, in kurzer Zeit einen verhältnißmäßig großen Walddistrict zu durchforschen und unter dem fortwährenden raschen Wechsel der landschaftlichen Scenerie das Treiben des Wildes in den frühen Morgen- und späten Abendstunden mit Muße beobachten zu können.
Mit den schärfsten Gesichts- und Gehörswerkzeugen ausgerüstet und mit einem Geruchssinne (Nase, Witterung) begabt, für dessen wunderbare Feinheit den Menschen geradezu das Verständniß fehlt, besitzt unser Rothwild auch noch die Fähigkeit, den Menschen, selbst im ruhigen Stande, weit rascher erkennen und von anderen Gegenständen sicherer unterscheiden zu können, als andere Wildarten – den schlauen Fuchs nicht ausgenommen. In Revieren, wo dem Wilde stark nachgestellt wird, hält es daher oft sehr schwer, demselben auf anderem Wege als durch das ziemlich reizlose Treibjagen Abbruch zu thun. Andererseits nimmt das Rothwild bei anhaltender Schonung einen gewissen Grad von Dreistigkeit an und pflegt namentlich von den im Walde beschäftigten Arbeitern, Holzsammlern, Rinderhirten etc. wenig Notiz zu nehmen.
Gegen Fuhrwerke und selbst gegen Reiter bezeigt das Wild überhaupt weit weniger Mißtrauen als gegen Fußgänger, und es mag diese Eigenthümlichkeit wohl darin beruhen, daß das Wild eine gewisse Zuneigung für die ihm bekannten Erscheinungen der Reit- und Zugthiere und deren starke Ausdünstung (Witterung) hat. Auf diesem Verhalten des Wildes basirt vorzugsweise die Anwendung des Pürschwagens, der sich in Hinsicht auf Form und Bespannung nicht allzuweit von den landesüblichen Fuhrwerken entfernen darf. – Von Wichtigkeit ist die Anwendung möglichst niedriger Räder, welche dem Jäger das rasche und geräuschlose Besteigen und Verlassen des Wagens gestatten. Am Hintertheil des meist sechs- bis achtsitzigen, unverdeckten Fuhrwerkes ist ein geräumiges, starkes Packbrett (Schottkelle) angebracht, welches zur Aufnahme und zum Transport des erlegten Wildes dient. – Das Anfahren ist durchaus nicht Jedermanns Sache und kann nur durch eine revierkundige und mit Stand, Wechseln und Gewohnheiten des Wildes bekannte Persönlichkeit ausgeübt werden.
Beim Erblicken des Wildes sucht man – ohne die Gangart der Pferde oder Richtung des Fuhrwerkes plötzlich zu verändern – nach und nach unter Wind zu kommen und sich dem Wilde in einer schrägen Linie oder nach Umständen in weitem, allmählich verengtem Bogen auf Schußweite zu nähern. Betheiligen sich mehrere Schützen an der Pürschfahrt, so empfiehlt sich das unbemerkte Aussteigen derselben während des Anfahrens, sodaß schließlich nur noch ein Schütze im Wagen verbleibt, während die Uebrigen in geeigneten Entfernungen hinter Bäumen oder Büschen gedeckt stehen. Wird das Wild flüchtig, bevor der Wagen noch in Schußweite herangekommen, oder wird dasselbe vom Wagen aus fehlgeschossen, so haben die auf den Wechseln anstehenden Schützen dann meistens Gelegenheit, zu Schuß zu kommen.
In dieser Weise haben die beiden Jäger unseres Bildes (Seite 745) bereits in früher Morgenstunde einen schreienden Brunfthirsch erlegt. Er stürzte im Feuern, ward dann sofort „aufgebrochen“ und aufgeladen. Langsam und fast geräuschlos bewegt sich dann unser Fuhrwerk auf dem weichen, mit Sand und tiefem Tangel bedeckten Fahrwege weiter – da ertönt hinter uns aus dem Hochwalde nochmals der kurz abgebrochene „trenzende“ Laut eines Hirsches, und gleich darauf eilt ein starkes Rudel Wild schräg über die grüne thaubedeckte Blöße. Unser Pürschwagen hat inzwischen bereits Halt gemacht, der eine Jäger liegt im Anschlage auf den soeben herantrabenden Hirsch. Beim Erblicken unseres Fuhrwerkes macht das Rudel einen Augenblick neugierig Halt – da kracht der Schuß, man hört den Schlag der Kugel, sieht den getroffenen Hirsch eine gewaltige Lançade machen und dann mühsam dem im Dunkel des Waldes verschwindenden Wilde folgen. Noch eine ganze Weile hören wir das dumpfe Gepolter des flüchtig durch den Hochwald gehenden Rudels, dann wird allmählich alles still.
Nun wird zunächst die Stelle aufgesucht, und mit einem grünen Zweige bezeichnet (verbrochen), wo der Hirsch im Augenblicke des Schusses gestanden, man sucht und findet die durch den Körper des Hirsches gedrungene Kugel im nächsten Buchenstamm in guter Richtung – links und rechts neben der Fährte zeigen sich bald starke Tropfen hellrothen, schäumenden Schweißes – jedenfalls ein Lungenschuß – der Hirsch ist inzwischen wohl längst verendet. Aber wo ist er?
Nun kommt der treue Begleiter des Hochwildjägers alter Schule an die Reihe: Sellmann, der edle Schweißhund! – der bei uns zu Lande nicht „unter der Achse des Wagens“ läuft, wie ein Metzgerhund unter dem Karren – sondern seinen Platz allezeit im Wagen neben seinem Herrn hat. Unbeweglich wie eine Bildsäule ist er mit scharfem Blicke allen Vorgängen bis zum Schusse gefolgt – nun weiß er, um was es sich handelt, und ist ganz Feuer und Leben. – Am Riemen zur Fährte gelegt, schießt er blitzschnell dahin – die schnobernde Nase tief am Boden – „So recht! verwundt Hirsch! vorhin mein Mann!“ lautet der Zuspruch des Jägers, und weiter und weiter waldein geht die Reise bis hinunter zum Wasserlauf im kühlen Grunde, wo im moosüberwachsenen Steingeröll, vom hohen Riedgrase halb verdeckt, sich zuerst die Krone einer hohen Geweihstange, dann der breite rothe Rücken (Ziemer) des bereits verendeten Hirsches zeigt. – Zwölf Enden ungerade und noch gut bei Leibe für die späte Jahreszeit. Der glückliche Schütze bricht mit geübter Hand zunächst die übliche Trophäe: Haken (Eckzähne) aus, sie werden einen Augenblick ob ihrer Stärke und dunklen Färbung bewundert und wandern dann, vorsichtig in ein Stück Papier gewickelt, in die Westentasche des Jägers. Dann folgt das übliche Aufbrechen des Hirsches – inzwischen ist der
[745] [746] Pürschwagen so nahe als möglich heran gefahren, und mit vereinten Kräften wird der Hirsch nicht ohne einige Mühe aufgeladen. Da ruht er nun neben seinem Rivalen – sie hatten vielleicht die ganze Nacht hindurch gekämpft, und noch vor wenig Stunden dröhnte ihr trotziger Ruf durch den weiten schweigenden Wald – nun liegen sie still und friedsam neben einander, im engen Raum zu einem formlosen Knäuel zusammengezwängt – nur die Köpfe mit den stolzen Geweihen haben wir sorglich herausgestreckt und befestigt.
Die Pfeifen sind in Brand gesetzt. – Einsitzen! – Alles in Ordnung? – Ja! – Fort! – Und in raschem Trab fördern die dampfenden Gäule den ächzenden Pürschwagen über den holprigen Knüppeldamm der Chaussee zu, welche zum fernen gastlichen Forsthause führt. L. B.
Eine chinesische Seeräubergeschichte.
Vor Kurzem brachten die Zeitungen ausführliche Berichte über die Plünderung, welche die Söhne des himmlischen Reiches wieder einmal in Canton an europäischen, namentlich aber an deutschen Einwohnern glücklich ausgeführt hatten, und fast zu derselben Zeit gelangte in unsere Hände ein leider etwas verspäteter Bericht eines Hamburger Capitains, welchem chinesische Fischer sein Schiff nach allen Regeln des Piratenhandwerks ausgeraubt hatten. Der schlichte Bericht giebt ein so lebenswahres Bild der traurigen Verhältnisse, die in den chinesischen Gewässern herrschen, daß er ohne Zweifel das Interesse unserer Leser erwecken wird.
Die Brigantine „Mataram“, Capitain Robert Hertzberg aus Hamburg, ging am 26. April dieses Jahres unter holländischer Flagge von Hongkong nach Amoy und hatte außer dem genannten Capitaine folgende Besatzung an Bord: den Steuermann M. Lindner aus Fehmern, zwei malayische Bootsleute mit ihren Frauen, einen chinesischen und einen malayischen Koch, sowie acht malayische Matrosen. In Folge eines Sturmes gerieth dieselbe am 1. Mai in der Nähe der Pratasinsel auf Untiefen und blieb auf einem gesunkenen Korallenriff festsitzen.
„Damit das Schiff bei etwa steigendem Wasser nicht höher auftreiben konnte,“ schreibt uns Robert Hertzberg, „ließ ich beide Anker fallen. Die Luft klärte sich auf, doch blieb der Himmel bewölkt und hatte ein drohendes Aussehen. Deshalb befahl ich, all meinen schönen Kajütenproviant und unser Zeug in die Boote zu packen, um dies vorläufig an Land in Sicherheit zu bringen, im Falle wir etwa das Schiff über Nacht verlassen müßten. Blieb das Wetter gut und bekamen wir das Schiff wieder flott und in tiefes Wasser, so konnten wir dies immer wieder leicht an Bord nehmen. Ich wollte den Steuermann mit den Booten an Land schicken und selbst mit drei Mann an Bord bleiben, um das Ausschleudern des Wurfankers vorzubereiten. Das Schiff war zur Zeit noch unversehrt und völlig dicht, Masten, Segel, Takelwerk, Alles in guter, seetüchtiger Ordnung. Als die Boote fertig waren, ließ ich noch den Proviant, die Reis-, Fisch- und Fleischfässer aus dem Unterraume, wo sie mit als Ballast dienten, nehmen und in’s Zwischendeck setzen, damit sie beim etwaigen Leckwerden des Schiffes nicht beschädigt werden konnten.
Als wir noch hierbei beschäftigt waren, sahen wir plötzlich sechs Sampans (Boote), voller Chinesen, von der Insel aus auf’s Schiff zugerudert kommen. Die Malayen fingen an, sehr ängstlich zu werden, während ich, der ich die Piratentage längst vorüber wähnte, mich schon freute, nun wahrscheinlich kräftige Hülfe zu bekommen. Bald waren die Chinesen längsseit, sie prüften Alles mit wilden, gierigen Augen, beriethen sich kurz, dann, meines Zurufens ungeachtet, kletterten sie wie die Katzen an den Rüsten in die Höhe und an Bord und begannen, sämmtlich mit Aexten und mit großen Hackmessern bewaffnet, die raffinirteste Plünderung. Die erschreckten Malayen stürzten sofort, bis auf die drei Mann, die ich zum Hierbleiben bestimmt, in die bereitliegenden Boote, und gab ich dem Steuermann Ordre zum Abstoßen. Ich sah die Chinesen auf den Raaen mit ihren scharfen Beilen die neuen, schönen Segel herunterhauen, hörte das Krachen der Axthiebe in der Kajüte und versuchte nochmals durch Zeichen und Zurufe sie zurückzuhalten. Da kamen die drei Malayen und weigerten sich, länger an Bord zu bleiben, da die Chinesen drohten, sie zu tödten. Zu gleicher Zeit sprang ein Bandit mit erhobener Axt auf mich los, mit augenscheinlich nicht sehr freundlicher Absicht; ich fiel ihm noch eben rechtzeitig in den Arm und einer der chinesischen Anführer kam hinzu und war so vernünftig, den Kerl und seine herbeistürzenden Collegen zurückzuhalten; doch bedeutete man uns, daß wir uns schleunigst zu entfernen hätten. Ich sah das völlig Nutzlose des Widerstandes, und da das dritte der Boote noch nicht abgestoßen war, schickte ich erst die drei Malayen hinein und folgte dann, mit bitterschweren Gefühlen – als Letzter selbst nach.
Ich ließ die Boote nach der uns zugekehrten Südseite der Insel rudern. Wir landeten unbeschädigt etwa dreiviertel Seemeilen vom Westende derselben, schleppten alles Zeug und Proviant auf die Dünen in die niedrigen Büsche und zogen die Boote hoch auf den Strand; dann schlugen wir, so gut es ging, ein Lager auf und richteten uns ein, aus den Bootsegeln und einigen mitgenommenen Persenningen (in der Seemannssprache getheertes Segeltuch) kleine Zelte aufbauend. Pratasinsel ist von Hufeisenform, zwar nur niedrig, doch ziemlich ausgedehnt; auf der uns gegenüber liegenden Nordseite schienen einzelne Bäume zu stehen, sonst ist der Rücken der Insel nur mit niedrigem, krüppligem Buschwerk bewachsen, während der ganze Strand, so weit das Auge reicht, mit alten Schiffstrümmern bedeckt ist. Die Malayen griffen sich Seemöven (die gerade Brutzeit hatten und überall mit Eiern und Jungen in Massen herumsaßen), dann schleppten sie von den alten Wrackstücken zusammen, und bald hatten sie mehrere tüchtige Lagerfeuer im Gange. Vor dem Lager, auf der höchsten Stelle der Düne, ließ ich den längsten Bootsmast aufrichten und dann die holländische Flagge aufhissen.
Abends erschienen etwa ein Dutzend Chinesen und verlangten das Großboot. Ich hätte es ihnen abschlagen können, doch wäre dies, sobald sie, wie vorauszusehen, in Masse erschienen, nicht länger möglich gewesen, daher machte ich gute Miene zum bösen Spiel und ließ es ihnen schließlich nach langem Unterhandeln gegen die Bedingung, daß man uns die Hälfte der Reis-, Fisch- und Wasservorräthe, sowie zwei größere Segel zu Zelten abgeben und das Boot zurückbringen sollte, sobald sie es nicht mehr brauchten. Die ganze Nacht hielten wir Wache und ließen ein mächtiges Feuer brennen. Die Chinesen schlichen beständig um’s Lager herum, stahlen allerlei Kleinigkeiten, doch der erwartete Ueberfall erfolgte glücklicher Weise nicht.
Am Morgen (2. Mai) verlangte ich von den Chinesen die Erfüllung der gestern Abend vereinbarten Bedingung, doch wurde dies rundweg abgeschlagen und mir bedeutet, daß sie den Proviant selbst nöthig hätten, nur Wasser wollte man uns erlauben, selbst von Bord zu holen. Durch unseren chinesischen Kajütenkoch, der als Dolmetscher fungirte, erfuhren wir, daß von einer Flotte von sechs großen Fischerdjunken drei Stück an der Ostseite der Insel verankert lägen. Die drei anderen wären im letzten Teifun[1] an der Südseite gestrandet, die Mannschaften jedoch gerettet. Zusammen wären gegenwärtig sechsundachtzig Mann auf der Insel, und blieben sie vorläufig mindestens so lange hier, bis Eintritt beständig schönen Wetters erfolgte – unsere Proviantvorräthe wären ihnen daher sehr willkommen.
Unsere Lage war nun sehr ernst, nur die Kajüten-Proviantvorräthe hatten wir mitbekommen, dieselben konnten für alle Mann höchstens vierzehn Tage ausreichen – was dann? Daß ein Schiff ansegeln sollte, stand nicht zu erwarten, wohl aber, daß die Piraten uns täglich überfallen und uns noch das wenige Gerettete rauben konnten. Hier galt es einen Entschluß zu fassen. Als gegen acht Uhr gerade kein Chinese herumlungerte, rief ich alle Mann zusammen und stellte ihnen die Sache vor. Keiner wußte Rath. Da bot ich ihnen an: mit dem Steuermann und einem Malayen zu versuchen, in der Schaluppe die chinesische Küste zu erreichen, um Hülfe zu holen. Ich bewies [747] ihnen, daß dies das einzige Mittel zu unser Aller Rettung sei, und daß es am besten sei, diesen Plan sofort auszuführen, so lange wir noch im Besitz des Bootes uns befänden. Da das Unternehmen ein sehr riskantes war, mußte ich den Steuermann, als einzigen den voraussichtlichen Strapatzen gewachsenen Europäer, zu zuverlässiger Hülfe in Nothfällen mithaben, den Malayen wollte ich nur zum Wasserausschöpfen gebrauchen, da das Boot leckte. Zuletzt stimmten Alle bei, nur Einer behauptete hartnäckig: ‚wenn Einer ginge, müßten Alle gehen oder Alle müßten dableiben,‘ deshalb wählten die anderen Matrosen selbst diesen Einen, daß er mit uns gehe.
Als die Sache soweit erledigt und beschlossen, ließ ich sofort die Schaluppe launschen und klar machen, Mast, Segel, Ruder, Steuer, Compaß etc. hineinbringen, meine Kiste mit Chronometer, Sextant, nautischen Büchern, Karten, den Schiffspapieren, holländische Flagge etc. als Ballast, und an Proviant eine Kiste mit Biscuit, 6 Dosen präservirtes Fleisch, 2 Flaschen Rothwein und 10 Flaschen Bier hineinsetzen. Dann nahmen wir Abschied, und bei munterer südlicher Brise, klarem, schönem Wetter und ruhiger See schifften wir uns ein.
Da die Piraten nichts merken durften (sie hätten uns vom Schiff aus noch leicht den Weg abschneiden können), ruderten wir erst direct auf’s Schiff los. Als wir endlich ziemlich nahe gekommen waren, sodaß der Wind uns günstig war, hörten wir plötzlich mit Rudern auf, setzten schnell den Mast auf, hißten das Segel und fort ging’s – in’s chinesische weite Meer hinein!
Als die Chinesen an Bord sich enttäuscht fanden und sahen, daß wir am Schiffe vorbei und in’s offene Meer hinaus segelten, erhoben sie ein großes Geschrei, doch wir spotteten bereits aller Verfolgung.
Wie wir später erfuhren, bekamen sie doch eine große Angst, als sie die beiden Europäer also entwischt sahen, verließen bald darauf insgesammt das Schiff und hielten große Berathung an Land. Den nächsten Tag fuhren sie wieder an Bord, richteten von vorn bis hinten mit ihren Beilen die größtmöglichste Verwüstung an, kappten dann den Fockmast halb durch, den Klüverbaum herunter, sägten das Ruder durch und hoben es aus, schlippten die Ankerketten und fuhren wieder an Land. Das arme Schiff aber wurde von einer Ebbesteigung seewärts geführt. Die Malayen konnten es noch am nächsten Tage – ein hülfloses Spielzeug von Wind und Wellen – weit ab am nordwestlichen Horizonte treiben sehen und bemerkten auch, daß über Nacht die Masten gefallen waren.
Unsere Bootreise verlief die beiden ersten Tage ziemlich glücklich, wir hatten mäßige Südwestbrise, mäßigen Seegang und schönes Wetter. Nur Nachts war es mißlich mit dem Steuern, da wir keine Laterne hatten und bei der bewölkten, nebeligen Luft die Neumondnächte pechdunkel waren, sodaß wir weder Sterne noch Compaß sehen konnten. Dennoch bekamen wir am Nachmittag des zweiten Tages die Berge der chinesischen Küste in Sicht, und Abends bei Dunkelwerden hatten wir das Feuer von Breaker-Point im Norden, bei etwa 10 Seemeilen Distanz.
Da wurde es gegen 9 Uhr windstill und eine Stunde später sprang ein steifer Nordoster auf. Der Wind steigerte sich in heftigen Böen rasch zum Sturm, und die See ging nach kaum einer halben Stunde schon so hoch, daß wir[WS 1] uns mit dem Boote nicht mehr bergen konnten. Ich ließ den Mast, das Segel mit Raae und Baum und ein paar Ruder zusammenlaschen, steckte das Ende der Fangleine mitten darauf, und wir warfen dies über Bord als schwimmenden Anker, worauf der Steuermann vorn, ich hinten, das Boot mit den zwei übrigen Rudern möglichst mit dem Kopfe auf der See hielten. Doch Sturm und See nahmen bald in einer Weise zu, daß all unsere Kraft und das schärfste Aufpassen kaum hinreichten, das Boot zu halten; der malayische Matrose hatte beständig zu thun, das hineinschlagende Wasser auszuschöpfen. Es war eine lange und traurige Nacht, und ich werde jene Stunden so leicht nicht vergessen, namentlich als das endlich anbrechende Tageslicht unsere verzweifelte Nothlage uns erst in ihrer ganzen nackten Schrecklichkeit erkennen ließ. Die See war gar zu hoch und wild, jede einzelne Woge ein Brecher, jeder Augenblick konnte unser letzter sein und ringsum nirgends Hülfe oder Rettung – wir waren allein in der weiten Meereswüste, allein auf uns selbst angewiesen. Schwere Böen brausten über uns dahin, Regen und Hagelschauer schlugen uns abwechselnd in’s Gesicht (wir hatten längst unsere Kopfbedeckungen verloren und waren nur leicht angezogen), doch mit hartnäckiger Ausdauer und höchster Anstrengung im Gebrauch unserer Ruder gelang es, uns selbst warm und das Boot flott zu erhalten, und wenn auch zuweilen ein gar zu wilder Brecher das Boot theilweise mit Wasser füllte, so gaben wir doch die Hoffnung nicht auf, schöpften rasch das Wasser aus und arbeiteten und ruderten weiter.
So ging es den ganzen Tag hindurch, es wurde Abend, und wieder brach die Nacht herein ohne irgend welche Veränderung im Wetter. Wir waren auf’s Aeußerste erschöpft; wie wir die Nacht überstanden, ist mir heute noch ein Räthsel. Zuweilen schien es, als wenn der Sturm etwas nachlassen wollte, und dann war die Gewalt der sich brechenden und überstürzenden Wogen um so schlimmer; dann wieder brauste der Wind mit neuer Wuth über uns dahin, und wir konnten nur mit Aufbietung aller noch übrigen Kräfte das Boot flott erhalten. Zuweilen wurde das Boot mit solcher Wucht von einem Brecher fortgerissen, daß die am schwimmenden Anker befestigte Fangleine mit schwerem Ruck und Krach sich spannte und wir stetig befürchten mußten, entweder das Tau reißen oder den Steven des Bootes herausbrechen zu sehen. Mehrere Male, da wir in einer unbezwingbaren Schlafsucht befangen waren, fielen uns die Ruder aus der Hand – der Körper verlangte sein Recht – bis nach wenigen Minuten eine See das Boot nahezu umwarf und uns immer auf’s Neue bis auf die Haut durchbadete. Zitternd vor Kälte griffen wir dann rasch auf’s Neue zu den (glücklicher Weise vorsichtshalber festgebundenen) Rudern, schöpften schnell das Wasser aus und nahmen den Kampf auf’s Neue auf. Der malayische Matrose war gar nicht mehr zu gebrauchen.
Endlich – endlich – endlich! graute der Morgen, doch die See war toller als je zuvor, der Sturm wüthete ungeschwächt weiter. Mehrere Male wollten wir schon den nutzlosen Kampf aufgeben – da sahen wir plötzlich etwa gegen 7 Uhr einen großen Dampfer auf uns zukommen. Rasch wurde die holländische Flagge an eins der Ruder gebunden, und ich ließ den Steuermann damit winken, während wir unsere Stimmen zu lautem Hülferuf vereinten und ich selbst mit dem anderen Ruder das Boot möglichst stetig hielt. Doch der Dampfer fuhr nahe vorüber, ohne von uns die mindeste Notiz zu nehmen. Man hatte uns zwar gesehen (wie ich später vom dritten Ingenieur des Schiffes in Hongkong erfuhr), doch man sprach: ‚das sind nur dumme Chinesen!‘ und fuhr weiter.
Bitter enttäuscht, doch ohne ein Wort zu sprechen, nahmen wir den Kampf gegen die Wogen auf’s Neue auf. Doch wir waren auf’s Höchste ermattet; der Wein war ausgetrunken, das Bier machte uns nur durstiger – die Noth fing an kritisch zu werden. Da nahmen Wind und See von etwa 10 Uhr an rasch ab; mit neu erwachender Hoffnung bemerkten wir es. Mittags konnten wir schon die Ruder einlegen, der Wind ging südöstlich. Gegen 2 Uhr war die See schon so nieder, daß wir das treibende Anker wieder einholen, den Mast aufsetzen und das Segel gerefft aufhissen konnten, dann steuerten wir vor dem Winde der Küste zu, die wir deutlich vor uns liegen sahen. Wir waren im Sturm, wie ich bald erkannte, von Breaker-Point bis Chelang-Point heruntergetrieben. Noch Abends liefen wir Fokai-Point vorbei und wollten dann in Lee, an der Nordseite von Mendoza-Eiland landen; doch als wir gegen 10 Uhr dorthin kamen, fanden wir nur steile Küste, Klippen und schwere Brandung. Schon wollten wir die Hoffnung aufgeben, da stießen wir auf ein großes Fischnetz, rasch wurde die Fangleine daran fest gemacht, Mast und Segel niedergenommen, und bald lagen wir im tiefsten Schlafe, dem ersten seit gut 90 Stunden.
Als wir am nächsten Morgen durch Stimmengeschrei geweckt wurden, war es bereits heller Tag; ein chinesischer Sampan lag neben uns mit etwa 8 Mann darin (wahrscheinlich die Eigner des Fischnetzes). Wir baten um etwas Wasser, doch statt dessen begannen die Chinesen unser Boot zu überholen und wollten sich Alles zueignen, wollten mir sogar den Ring vom Finger und den Rock vom Leibe ziehen, als ich indeß mit dem Steuermann Miene zu energischer Vertheidigung machte, entfernten sie sich rasch, wahrscheinlich in der Absicht, Verstärkung zu holen. So wie sie fort waren, schnitt ich die Fangleine des Bootes durch, wir setzten den Mast auf, hißten das Segel und bei frischer Ostbrise steuerten [748] wir wieder seewärts, um Single-Eiland herum auf Hongkong zu, wo wir, nach 5 Tagen und 4 Nächten, wohlbehalten anlangten.
Ich ließ das Boot bei einem deutschen Schiffe und begab mich sofort zum Bericht an Land zum Consul, der uns, mich und den Steuermann, vorläufig in einem Hôtel unterbrachte. – Den nächsten Tag war ich mit Briefen vom Consul bei dem englischen Commodore und dem amerikanischen Admiral und erhielt von dem Ersteren endlich am nächsten Tage Antwort: daß das Kanonenboot ‚Swift‘, augenblicklich in Swatow stationirt, nach Pratas beordert werden sollte. Am 10. Mai ging ich mit dem Dampfer ‚Kwangtung‘, die Ordres für den ‚Swift‘ in der Tasche, nach Swatow, und am 11. Mai Vormittags 10 Uhr ging ich mit dem ‚Swift‘ von Swatow in See. Eben als wir absegeln wollten, traf der Dampfer ‚Ferntower‘ von Saigun ein und berichtete, daß er den ‚Mataram‘ ohne Masten und verlassen 30 Meilen südostwärts von Pedro blanco treiben gesehen habe.
Am 12. Mai langten wir nach zehntägiger Abwesenheit wieder bei Pratas-Eiland an, wo wir die malayische Mannschaft glücklicher Weise noch gesund und wohlauf vorfanden. Sie waren überglücklich und beteten mich fast an, daß ich ihnen Wort gehalten.
Aber der ‚Swift‘ hatte sehr große Eile –! und so wurde uns nur erlaubt, etwa die Hälfte unserer Effecten mitzunehmen, der chinesische Koch (der sich wahrscheinlich verspätet hatte), sowie sämmtliches geraubtes Inventar des ‚Mataram‘, das von den Chinesen alles auf einen Haufen gepeilt war, und unsere anderen Sachen wurden zurückgelassen. Die Boote landeten weit ab vom Lager, sie waren keine Stunde an Land, dann ging’s in größter „hurry“ wieder an Bord und fort in See.
Die Malayen erzählten, daß sie die ganze Zeit von den Chinesen sehr belästigt worden seien, jedoch durch die Vermittelung des chinesischen Kochs zwei Segel zu Zelten und ein Faß Wasser erhalten hätten. Aller Proviant und Wasser seien gerade denselben Morgen, als der ‚Swift‘ ankam, zu Ende gewesen. Außerdem erzählten sie vom Schiffe das schon Erwähnte, daß die Chinesen die Ketten geschlippt hätten und ‚Mataram‘ seewärts getrieben wäre. –
Am 13. Mai, Nachmittags 3 Uhr (Pfingstsonntag) erreichten wir Hongkong und verließen den ‚Swift‘ und am 16., nachdem Verklärung abgelegt und Protest unterzeichnet war, wurden alle Mann vor’m holländischen Consul abgemustert und entlassen. Noch denselben Tag lief die Nachricht von Swatow ein, daß das Dampfboot ‚Tamsui‘ den ‚Mataram‘ in See, unweit Breaker-Point treibend getroffen und in den Hafen von Swatow eingeschleppt habe. Sofort segelte ich in dem Dampfer ‚Killarney‘ ab und langte am folgenden Mittag in Swatow an, wo ich vom holländischen Consul im ‚German home‘ untergebracht wurde, dann fuhr ich an Bord des ‚Mataram‘. Doch das Herz blutete mir, als ich das gute, brave Schiff betrat und es in diesem schrecklich verwüsteten Zustande fand. Ich hatte es überall so schön in Ordnung gehabt, nach so manchem vergossenen Schweißtropfen und angestrengtester Mühe, und nun hatten es ruchlose Piratenhände in wenigen Stunden in ein ödes, trauriges Wrack verwandelt!
Das Schiff wäre fast unbeschädigt gewesen, wenn es die Chinesen nicht in Besitz genommen; es war allerdings auf Grund gewesen, doch das kann sehr leicht passiren, damit ist es noch lange nicht verloren. Die meisten Schiffe, die auf See fahren, haben das schon ein-, viele mehrmals durchgemacht. Wie zum Hohn hatten die Chinesen die weiße hintere Kajütenwand mittels der aufgefundenen Farben mit Dankwörtern an ihre Götter beschmiert; die eine Sudelei bedeutete: ‚Tausend Dank, Gott! schöner Tag, viel Beute, kein Kampf‘ etc.
Schade, daß kein holländisches Kriegsschiff in der Nähe war: so werden die Piraten auf Pratas nach Belieben mit ihrem Raube schalten und walten können und ungestraft davon kommen. Das Benehmen des ‚auf Ordre‘ handelnden ‚Swift‘ kann den Piraten nur zur Ermuthigung dienen; daher würde ich es nicht ungerecht nennen, wenn das nächste Schiff, das dort von den Chinesen geplündert wird, ein englisches wäre.“
Die Braut in Trauer.
Früh am nächsten Vormittage ereignete sich dann etwas, das Helene nöthigte, ihren Erwägungen eine andere Richtung zu geben. Sie erhielt einen Brief in einem zierlichen Umschlag. Im Kreuzpunkt auf der Rückseite zeigte sich eine kleine Rosenknospe. Unwillkürlich mußte sie an die Knospe denken, die Herr von Brendeln im Knopfloch getragen hatte, und nun erbrach sie den Brief mit zitternden Fingern. Was hatte er ihr zu schreiben?
Während des Lesens überflammte helle Röthe Wangen und Stirn. Sie schwand langsam wieder; ein Lächeln spielte über das Gesicht hin, und unmittelbar darauf wurde die Lippe von den kleinen Zähnen gefaßt und tief eingedrückt. Sie hielt den Brief noch unbeweglich vor sich hin, als die Augen schon darüber weg blickten, und dann faltete sie ihn mit aller Ruhe zusammen und schob ihn in’s Couvert zurück.
Assessor von Brendeln machte ihr mit der Anzeige, daß seine Ernennung zum Regierungsrath gestern Abend eingetroffen sei, einen förmlichen Heirathsantrag. Er betheuerte in einigen poetisch angehauchten Sätzen seine leidenschaftliche Verehrung, wagte auch an ein wenig Gegenneigung ihrerseits glauben zu dürfen – so viel seiner Bescheidenheit vorerst genügen müsse – und versicherte schließlich, er selbst werde mit Frau Consul Berghen in allernächster Zeit sprechen. Es scheine ihm das Richtige, daß sie durch ihn erfahre, was sie voraussichtlich im ersten Augenblick nicht angenehm berühren werde. „Und so, mein theuerstes Fräulein,“ schrieb er, „behalten Sie denn freieste Wahl, mich unbegreiflicher Vermessenheit zu beschuldigen, oder mit einem Wort meine Kühnheit zu rechtfertigen. Ich vertraue meinem guten Stern.“
So war nun also auf ein ganz bestimmtes Ziel in nächster Nähe hingewiesen, das zu ergreifen lediglich von ihrem Willen abhing. Nahm sie den Antrag an, so ergab sich alles Weitere von selbst. Ihre Zukunft war gesichert in der Weise, wie man in ähnlichen Fällen von gesicherter Zukunft eines Mädchens mit mäßigen Ansprüchen an’s Leben zu sprechen pflegt. Die Ansprüche brauchten nicht einmal ganz mäßig zu sein. Der Mann, der sich um ihre Hand bemühte, war von Adel, in einem höheren Staatsamt, als geistvoll und geschäftstüchtig bekannt. Auch sonst sprach nichts gegen ihn. Diese rein praktischen Erwägungen waren jetzt ganz Helenens nüchterner Stimmung gemäß. An eine Versöhnung mit der Familie Berghen war nicht zu denken; sie hätte ihre völlige Unterwerfung zur Voraussetzung gehabt. Nun bot sich ein bequemer Weg zu einer mittleren Höhe, auf der ihr wohl sein konnte, wenn sie nicht idealistischen Träumereien thörichter Weise nachhing. Wozu das auch? Es war ja kein Mensch auf der Welt, der von ihrem Herzen etwas haben wollte, wie sie es in ihrer Brust klopfen fühlte. Was Brendeln von ihr erwartete, schien ihr überhaupt da gar nicht abgewogen werden zu können.
Wenige Stunden später ließ die Frau Consul sie auf ihr Zimmer bitten. Sie fand dort auch Osterfeld und Selma. Alle drei waren augenscheinlich in großer Aufregung. „Das ist also der Schlüssel zu Deinem sonderbaren Benehmen in letzter Zeit,“ begann die Mama. „Nun verstehe ich Deine gestrige Haltung. Wir erleben ja merkwürdige Dinge.“
„Das hätte ich Dir nie zugetraut,“ rief Selma.
„Da ist’s nun zu Tage, welchen Rückhalt man hatte,“ meinte Osterfeld boshaft lächelnd.
„Wovon sprecht Ihr?“ fragte Helene, mit großen, kalten Augen im Kreise umschauend.
„Thue noch unschuldig,“ verwies sie die Frau Consul streng, eine Visitenkarte, die vor ihr auf dem Tisch lag, aufhebend und wieder fortwerfend. „Man wird mir nicht einreden, daß so etwas ohne Mitwissen des andern Theils geschieht. Wenn Du es denn noch ausdrücklich hören willst: Herr von Brendeln ist bei mir gewesen und hat – um Deine Hand angehalten.“
„Und was – hast Du ihm geantwortet?“ fragte Helene beklommen.
[749]
[750] „Ich habe ihm geantwortet,“ sagte die alte Dame, indem sie sich hoch aufrichtete, „daß Du meine Tochter nur bist, so lange Du selbst es sein willst, daß ich darüber hinaus keine Macht habe, Dir etwas zu erlauben oder zu verbieten. Nähmest Du seine Werbung an, so sei damit auch jene Vorsorge entschieden.“
Helene schwieg. Aber ein leichtes Zucken der Stirn und des Mundes bewies, wie sehr ihr Gemüth beunruhigt war.
„Liebst Du diesen Herrn von Brendeln denn?“ fragte Selma pathetisch.
Helene blickte rasch auf. „Lieben –! Ich liebe ihn nicht.“
„Aber Sie heirathen ihn dennoch,“ fuhr Osterfeld brüsk drein.
Helene lächelte spöttisch. „Wenn ich ihn liebte und heirathete ihn nicht – das hätte auch geringe Bedeutung.“
„Was willst Du damit sagen?“ fragte die Mama. „Ich würde die Verirrung Deines Herzens sehr bedauerlich finden, aber der Entschluß, sie durch Entsagung selbst zu berichtigen, müßte mir doch achtbar erscheinen, den andern Fall hätte ich übrigens für unmöglich gehalten, daß Du einen Mann, den Du nicht liebst …“ Sie wendete das Gesicht ab und hüstelte in die Hand.
„Man heirathet heutzutage nicht aus Liebe,“ ergänzte Osterfeld spitz.
Helene hob kaum merklich die linke Schulter, die ihm zugekehrt war. „Wissen Sie das etwa aus Erfahrung?“
„Das war sehr unzart, Helene,“ verwies seine Frau. „Osterfeld ist, hoffe ich, über jeden Verdacht erhaben, aus Interesse geheirathet zu haben.“
„Um so besser für Dich,“ antwortete Helene. „Es ist ja auch gleichgültig, da Du befriedigt bist.“
„Als ob ich so leicht zu befriedigen gewesen wäre!“ ereiferte sich Selma, die nun statt der Empfindsamen die Empfindliche vorkehrte. „Ich finde es mindestens sehr sonderbar, daß Du allerhand Spitzen gegen uns wendest, wo Du allen Grund hättest Dich zu vertheidigen.“
„Zur Sache, zur Sache,“ forderte die Mama mit ungewöhnlicher Energie. „Sie ist mit einem einzigen Worte abgemacht. Was hat Herr von Brendeln zu erwarten?“
Helene stand einen Augenblick tief in sich gekehrt, während Aller Blicke auf sie gerichtet waren. „Jedenfalls die ganze Wahrheit,“ sagte sie dann leise, „und wenn sie ihn nicht abschreckt –“
„Helene!“ riefen die beiden Frauen wie aus einem Munde.
Nun brach Helene in Thränen aus. „Was wollt Ihr noch von mir?“ rief sie. „Was bin ich Euch noch? Auch Ihr sollt die Wahrheit hören, da doch nichts mehr zu verderben ist. Ich lese in Euren Herzen. Nicht weil Ihr mich liebt, fordert Ihr mich ganz für Euch; nicht weil Ihr mich liebt, meint Ihr meine Schritte lenken zu müssen. Ich bin Euch ein Todtenopfer, und so achtet Ihr mich. Aber ich bin Euch solchen Dienst nicht schuldig – keinem, auch dem Todten selbst nicht. Und nun das gesagt ist, – was bleibt noch zu sagen? Ich weiß, daß ich Euch nichts mehr sein kann, außer diesem nichts zu geben habe, das für Euch Werth hat. Jetzt würde ich Wohlthaten empfangen, wenn ich weiter annähme, was ohne Vergeltung bleiben muß. Mein Stolz empört sich dagegen. Und wenn nun ein armes Mädchen allein in der Welt dasteht, und ein achtbarer Mann bietet ihm seine Hand – verdient sein Edelmuth eine kränkende Abweisung?“
Osterfeld lachte laut auf. „Edelmuth! Herr von Brendeln – so, so, so! Edelmuth gegen ein armes Mädchen? Diese Komödie ist zu närrisch.“
„Ich verstehe Sie nicht,“ sagte Helene, peinlich berührt. „Was finden Sie dabei so überaus lächerlich?“
„Der edelmüthige Mann,“ rief er und schnitt dazu eine Grimasse, „der das arme Mädchen heirathet, das ihren reichen Bräutigam beerbt hat!“
Helene fuhr erschreckt zurück und stieß dabei einen Laut aus, der nicht verständlich war, aber die stürmische Erregung des Gemüths kennzeichnete. Gleich darauf deckte sie die Hände auf die Augen und drückte die Finger tief ein.
Der Pfeil hatte getroffen. Die Frau Consul beobachtete einen Moment die Wirkung. Dann sagte sie: „Osterfeld hat Recht. Herr von Brendeln ist nichts als ein kluger Rechner. Sicher hat er von dem Testament Robert’s Mittheilung erhalten. Es versteht sich von selbst, daß wir Dein formelles Recht unangetastet lassen. Wenn Dir aber noch ein Rest von Zartgefühl geblieben ist, findest Du vielleicht selbst die zureichende Schätzung für einen Mann, der bei seiner Bewerbung an dem älteren Verhältniß des Mädchens keinen Anstoß nimmt, für dessen Ausstattung sein großmüthiger Vorgänger gesorgt hat.“
Nun sie ausgesprochen hatte, zog Helene mit einer stoßartigen Bewegung die Hände von den gerötheten Augen fort und schöpfte tief Athem. „Haltet mich für so schlecht als Ihr wollt,“ stöhnte sie heraus, „aber einen so gemeinen Vorwurf verdiene ich nicht. Das Testament – ich erinnere mich jetzt, daß davon die Rede gewesen ist. Einmal und nicht wieder. Ich habe nie ernstlich seine Bedeutung erwogen – ich habe nie über seine Folgen nachgedacht – ich hatte diese Mittheilung gänzlich aus dem Gedächtniß verloren. Und Herr von Brendeln –! Ihr beschuldigt ihn des niedrigsten Eigennutzes. Aber es ist doch noch zu beweisen, daß Eure lieblose Vermuthung zutrifft. Noch bin ich durch kein Versprechen gebunden, aber ich fühle die Verpflichtung, für ihn einzutreten, wenn er ungehört verdammt wird.“
Sie schaute stolz im Kreise um und wendete sich dann der Thür zu. „Halt!“ rief die alte Dame nach. „Ich muß eine bestimmte Erklärung fordern, da sie nun doch einmal Herr von Brendeln von mir erwartet.“
„Laßt mir wenige Stunden Zeit,“ sagte Helene, ohne sich zurückzuwenden. „Ihr werdet dann über meine Gesinnungen wenigstens nicht weiter im Zweifel sein.“ Damit verließ sie das Zimmer.
Und dann, ohne jedes Zögern, kleidete sie sich zum Ausgehen an, bestieg auf dem nächsten Halteplatz eine Droschke und ließ sich zu Uhrmacher Grün fahren. Den Kutscher hieß sie warten.
„Es kann Dir diesmal nichts helfen, Onkel Benjamin,“ sagte sie, bevor der alte Herr sich noch auf seinem Arbeitsplatze nach der Thür zugekehrt hatte. „Lege Schirm und Brille fort, nimm Hut und Stock und begleite mich.“
„Hoho!“ rief er, und ein knurrender Laut zog lang nach. „Ich bin doch nicht nur so zu commandiren.“
„Aber wenn ich recht herzlich bitte, die Arbeit eine kleine Stunde ruhen zu lassen? Es wird ja nicht so lange dauern, und es muß sein, Onkel Benjamin.“ Sie legte die Hand auf die Brust und sah ihn recht ernst und entschieden an. „Ganz gewiß, es muß sein.“
Er schob den Schirm über die kahle Stirn und blickte ihr mit seinen blauen Augen kopfschüttelnd in das erhitzte Gesicht. Dabei schien er sagen zu wollen: So – so! Wollen doch einmal abwarten. Aber er sagte es nicht und sagte eine kleine Weile überhaupt nichts. Die Augenlider fingen an sehr beweglich zu werden, die Stirn krauste und glättete sich abwechselnd. Wie sie so ernst vor ihm stand, mochte wohl in ihrem Wesen etwas sein, das blinden Glauben forderte. Und so äußerte er denn am Ende kleinlaut: „Ja, wenn es sein muß …“ und erhob sich zugleich langsam vom Stuhl. Nun umarmte und küßte sie ihn. Er ließ sich’s ziemlich mürrisch gefallen.
„Aber ich werde doch erfahren können, was es giebt?“ fragte er, indem er schon sein Arbeitszeug fortpackte.
„Alles,“ versicherte sie. „Aber später, mein guter Onkel, später. Es ist sogar durchaus nothwendig … aber später. Erst muß das in’s Reine gebracht sein, und ohne alle Worte – ich möchte sagen, auf alle Fälle. Bis zwei Uhr längstens haben wir Zeit. Der Wagen wartet ja auch –“
„Nun gut, gut!“ brunmmte er, „ich beeile mich ja schon.“ Er streckte den Arm nach dem Hut aus, der zwischen den Wanduhren an einem Nagel hing, und zog ihn wieder zurück. „Kann’s nicht auch Walter sein?“ fragte er halblaut, wie schon der ablehnenden Antwort gewiß.
„Nein, Onkel,“ entgegnete sie denn auch, „Keiner als Du. Ich brauche meinen Vormund.“
„Ah so! den Vormund. Dem hast Du bisher wenig zu thun gegeben. Nun soll’s wohl nachkommen im letzten Jahre?“ Er bürstete den Hut mit dem Rockärmel glatt. „Ich will nur Walter melden, daß ich weggehe,“ sagte er und trat in das Cabinet, das zu den hinteren Wohnräumen führte. Es dauerte ziemlich lange, bis er zurückkam. Wahrscheinlich ward der sonderbare Fall dort noch besprochen. Helene klopfte mehrmals ungeduldig mit dem kleinen Sonnenschirm auf die Hand und musterte die Uhren ringsum, die doch alle fast auf dieselbe Secunde die schon vorgerückte Zeit zeigten.
Als sie dann endlich im Wagen Platz genommen hatten, fragte sie: „Welchen Notar kannst Du empfehlen, Onkel? Er darf aber nicht allzu sehr beschäftigt sein, da wir rasch abgefertigt sein wollen. Es drängt wirklich sehr.“
[751] Er nannte verwundert zwei, drei Namen.
„Wer wohnt am nächsten?“
„Hm – Doctor Mossau.“
„Also zu Doctor Mossau, Kutscher.“
Sie wurden sehr bald vorgelassen. Helene stellte sich und ihren Vormund vor. „Zwanzig Jahre bin ich aber bereits alt,“ fügte sie hinzu.
„Womit kann ich dienen, mein Fräulein?“ fragte der Geschäftsmann, dessen gutmüthig kluges Gesicht Vertrauen einflößte. „Ich bitte, Herr Grün, nehmen Sie Platz.“
„Zuerst eine allgemeine Frage,“ begann Helene. „Lachen Sie mich nicht aus, wenn sie recht dumm sein sollte. Also … Wie soll ich’s nur in eine feste Formel bringen? Wenn Jemand ein Testament macht und setzt darin Einen zu seinem Erben ein – muß der auch durchaus sein Erbe sein?“
„Durchaus nicht,“ antwortete der Notar. „Der Eingesetzte hat das Recht, der Erbschaft zu entsagen.“
„Ist das ganz sicher?“
„Ganz sicher, mein Fräulein. Ist Ihnen eine Erbschaft zugefallen, von der Sie sich befreien wollen?“
„Ja – vor zwei Jahren.“
„Ah! vor zwei Jahren schon. Das ist etwas anderes.“
„Also geht’s doch nicht?“ fragte sie betroffen.
„Gewiß – aber nur in bestimmter, kurz bemessener Frist. Sie wäre in diesem Falle längst abgelaufen.“
Der Uhrmacher horchte sehr verwundert zu und wiegte immer wieder den grauen Kopf. Von welcher Erbschaft war denn die Rede?
„Und was man dann einmal hat, muß man durchaus behalten?“ erkundigte sich Helene weiter, den Knopf des Schirmes in das Kinn eindrückend.
„Das steht wieder auf einem anderen Brette,“ meinte der Notar. „Einer Erbschaft entsagen, heißt gar nicht Erbe sein wollen. Ist man’s einmal geworden, so muß man die Folgen auf sich nehmen. Eine Erbschaft ist ein Ganzes. Es können dazu so gut Passiva als Activa gehören, und die ersteren unter Umständen –“
„Ach! von dergleichen ist hier gar nicht die Rede,“ rief sie ein wenig erleichtert. „Es handelt sich, wie die Leute sagen, die es wissen müssen, um eine reiche Erbschaft. Ist’s nun zulässig?“
Der Notar lächelte nicht ohne Verlegenheit, wie er sich zu der wunderlichen Clientin stellen solle. „Zulässig! Wer etwas geerbt hat, kann darüber verfügen – er kann’s verschenken, wenn er freigebig sein will.“
„Aber, Kind,“ fiel der Uhrmacher ein, „ich weiß doch nicht –“
„Gleich, Onkel, gleich,“ begütete das Mädchen. „Ich bin bald mit meinen Fragen zu Ende.“
„Wenn von Ihnen selbst die Rede ist, mein Fräulein,“ bemerkte der Notar, „so würde in solchem Falle allerdings Ihr Herr Vormund, vielleicht auf dem Gericht, ein sehr gewichtiges Wort mitzusprechen haben.“
„O – mein Vormund ist mein lieber, guter Onkel“ entgegnete sie, „der allemal nur mein Bestes will. Und das Gericht – das fragen wir lieber gar nicht. Die es angeht, werden nicht glauben, daß ich über’s Jahr anderen Sinnes sein kann; und ich kann’s ihnen ja dann auch noch ausdrücklich bestätigen.“
Nun trug sie den Fall vor, so weit er den Notar interessirte, und versicherte ihn, überzeugt zu sein, daß sie sich’s ernstlich überlegt habe und unter keinen Umständen davon abgehen werde, und dabei blickte sie auch seitwärts auf Onkel Benjamin, der mit halbgeöffnetem Munde zuhörte, nickte ihm freundlich zu und warf auch für ihn irgend ein bekräftigendes Wörtchen ein.
„Ich will mich jeder Frage enthalten,“ sagte der Notar, „was der Anlaß zu einer so auffälligen Willenserklärung ist. Wenn ich aber niederschreiben soll, was Sie verlangen, so muß ich vorerst der Zustimmung Ihres Herrn Vormundes versichert sein. Herr Grün scheint selbst so wenig informirt –“
„Onkel –!“ bat Helene mit dem zärtlichsten Ausdruck ihrer weichen Stimme. „Wenn ich Dich versichere, es muß sein …“
„Dann muß es freilich sein,“ antwortete er. „Ich kann mir wohl denken, daß die Frau Consul –“
„Still!“ sagte sie und legte den Finger auf den Mund. „Du erfährst Alles und wirst mir Recht geben. Schreiben Sie also, was zu schreiben ist, Herr Doctor. Aber es kommt mir ganz wesentlich darauf an, die Ausfertigung noch heute zu erhalten.“
„Heute noch? Diese Eile, mein Fräulein –“
„Aber Sie wissen ja nicht, wie sehr es drängt. Heute noch. Am liebsten warte ich darauf.“
Der Notar schüttelte den Kopf. „Ich werde diese wichtige Urkunde jedenfalls nur in die Hand Ihres Herrn Vormunds legen,“ sagte er mit aller Entschiedenheit. „Ich würde sie gar nicht aufnehmen, wenn ich nicht wüßte, daß sie erst durch Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ihre volle Gültigkeit erlangen kann.“
„Gut denn!“ schloß Helene. „Ich darf mich auf Onkel Benjamin verlassen.“
Während Doctor Mossau seinem Schreiber dictirte, nahm sie den Onkel in eine Ecke des Zimmers und sprach leise, aber desto eifriger in ihn hinein. Es genügte eigentlich schon, daß sie bestätigte, man habe ihr diese Erbschaft vorgeworfen, um den alten Herrn auf ihre Seite zu bringen. Er war offenbar gar nicht unzufrieden mit ihrer raschen Handlungsweise, glaubte aber doch als Vormund seine Bedenken äußern zu müssen, ob es sich verantworten lasse, so leichthin ein Vermögen aufzugeben. Sie gebe in Wirklichkeit gar nichts auf, entgegnete sie, als einen Anspruch auf dem Papiere. „Oder vermagst Du Dir vorzustellen,“ fragte sie, „daß ich diese Erbschaft je herausfordern könnte, wenn mein persönliches Verhältniß zur Familie Berghen gelöst wäre? Und es ist gelöst, sobald ich aufhöre, die Braut in Trauer zu sein.“ Das leuchtete ihm ein.
Der Notar las das Schriftstück vor. Helene war mit dem Inhalt ganz einverstanden; sie wünschte nur noch ausdrücklich zugefügt, daß sie sich verpflichte, unaufgefordert nach erlangter Großjährigkeit ihre heutige Erklärung zu wiederholen. Dann unterschrieb sie mit fester Hand, und auch der Uhrmacher gab seine Unterschrift. Nachmittag um sechs Uhr sollte die Ausfertigung abgeholt werden können.
Helene begleitete ihn wieder nach Hause. Sie schien in der heitersten Stimmung zu sein oder sich wenigstens zu bemühen, sie äußerlich zu bethätigen. Dem Onkel entging doch nicht, daß sie häufig die Farbe wechselte, mit ihren Gedanken nicht recht bei dem Nächsten war, wovon sie sprach, und ganz zerstreute Antworten gab. Zu Hause angelangt, sagte sie: „Es wäre mir lieb, Onkel, wenn bei dem, was ich noch mitzutheilen habe, Walter zugegen sein wollte. Möchtest Du ihn nicht bitten, mir eine Minute seiner kostbaren Zeit zu schenken? Oder – wir gehen lieber gleich zu ihm.“
Doctor Martin Luther.
Luther war schon im November 1521 einmal als Edelmann im Wappenrocke und dichtem Vollbart in Wittenberg gewesen, und eilte jetzt im März 1522, von Melanchthon bestürmt, trotz Acht und Bann den Freunden zu Hülfe. Damals schrieb er noch von der Wartburg aus dem Kurfürsten, der ihm in ehrenhaftester Weise allen „möglichen“ Schutz zusagte, das kindlich-stolze Glaubenswort:
„Ich komme in einem gar viel höheren Schutz und habe nicht im Sinn, von Euren Kurfürstlichen Gnaden Schutz zu begehren. Ja, ich halte, ich wollte E. K. F. G. mehr schützen, als sie mich schützen können.“
Luther, dessen Seele jetzt ganz erfüllt war von dem hohen Geist und den idealen Wahrheiten des Neuen Testaments, dessen Uebersetzung er eben vollendet hatte, wagte auch diesen Kampf im [752] festen Glauben an die unüberwindliche Siegeskraft des Wortes der göttlichen Wahrheit und bestieg in Wittenberg sofort unter dem Zuströmen alles Volkes die Kanzel und hielt acht Tage hinter einander vor halb Wittenberg jene gewaltigen Zeitpredigten, die wir noch besitzen und die zu den glänzendsten Zeugnissen seines Geistes gehören. Bald war die Versöhnung, der Friede hergestellt, und nur Karlstadt, der sich persönlich tief verletzt fühlte, zog bald darauf hinweg, um Luther später durch bittere Händel zu kränken.
In einer jener Reden hat Luther seinen Glauben an die Macht des Wortes der Wahrheit in den herrlichen Worten ausgesprochen:
„Nehmt ein Exempel an mir. Ich bin dem Papst, dem Ablaß und allen Papisten entgegengestanden: aber mit keiner Gewalt, mit keinem Frevel, mit keinen Stürmen; sondern ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich gar nichts dazu gethan. Dieses Wort, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philippo (Melanchthon) und Amsdorf getrunken habe, oder bin guter Dinge gewest, hat so viel zuwege gebracht, daß das Papstthum so schwach und unmächtig geworden ist, daß ihm noch nie ein Fürst oder Kaiser so viel hat abbrechen können. Ich hab’s nicht gethan, das Wort, von mir gepredigt oder geschrieben, hat allein das Alles ausgerichtet. Was meint Ihr wohl, daß der Teufel denken wird, wenn man solch Ding will mit Rumor ausrichten? Er sitzt hinter der Hölle und denkt: das ist ein Spiel für mich, an dem ich meine Freude habe, mir wird ein Theil aus dieser Beute wohl zufallen! Summa summarum: Predigen will ich’s, schreiben will ich’s, aber dringen mit Gewalt will ich Niemand; denn der Glaube will willig und ungenöthigt sein und ich soll Niemand mit den Haaren davon- oder dazuziehen und kann keinen gen Himmel treiben oder mit Knitteln den Himmel zuschlagen.“
Luther stellte nun freilich auch einige Neuerungen wieder ab, aber im Ganzen blieb doch das Meiste davon bestehen und breitete sich immer weiter in den deutschen Landen aus. So z. B. wurden überall die Klöster immer leerer, und zwei Jahre nach Luther’s Rückkehr war neben ihm nur noch der Prior im Wittenberger Augustinerkloster übrig geblieben, und als auch dieser, der zwecklosen Verwaltung des Klostergutes müde, davonging und Luther nun dem Kurfürsten die Schlüssel des Klosters überbrachte, überließ ihm Friedrich der Weise das Kloster als Wohnung, und Luther führte dann im Sommer 1525, nachdem er schon 1524 sein Ordenskleid abgelegt hatte, Katharina von Bora als seine Gattin in die ehemaligen Klosterräume und gestaltete sie zum ersten deutschen Familienpfarrhaus um.
Schon von der Wartburg aus hatte Luther über den Verwirklichungseifer der Wittenberger geschrieben: „Guter Gott, die werden auch noch den Mönchen Eheweiber geben; doch mir werden sie keine Frau aufdrängen.“ Aber bald drängte er selbst Viele zum Heirathen und nur von sich meinte er, wer den Ketzertod jeden Augenblick zu erwarten habe, solle nicht freien. Doch schrieb er im Jahre 1525, wenn der Kurfürst wolle, daß er auch in dieser Sache „zum Exempel vorhertrabe“, so wolle er auch freien, da er doch im Sinne habe, im Ehestand zu sterben, zum Zeugniß, daß er den von Gott gefordert erachte, wenn es auch nur eine Josephs-Ehe (Matth. 1, 25) sei, die etwa auf dem Todbette geschlossen würde.
Aber als Luther im Juni 1525 damit umging – so erzählt ein Zeitgenosse – die gewesene Klosterjungfrau Katharina von Boren (sie war aus einer verarmten adeligen Familie) für einen Pfarrer Dr. Glatz zu freien, kam dieselbe zu Amsdorf und bat ihn, er möge doch Luther von diesem Vorhaben abbringen. Wenn er (Amsdorf) oder Luther um sie gefreit hätten, hätte sie sich nicht geweigert, aber den Dr. Glatz könne sie nicht nehmen.
Luther sagte später: „Damals hatte ich meine Käthe nit lieb, denn ich hatte sie im Verdacht, als wäre sie stolz und hoffärtig,“ aber als er jetzt diese Aeußerung von Amsdorf erfuhr und ihm hinterbracht wurde, daß einer der juristischen Professoren gesagt habe: „Wenn dieser Mönch ein Weib nimmt, so wird alle Welt und der Teufel selber lachen und er wird sein ganzes bisheriges Werk zu nichte machen,“ so entschloß er sich plötzlich, „der Welt zu Trutz und seinem Vater zu Willen“ Katharina bei ihrem Wort zu nehmen. Er hat am 13. Juni um sie geworben, und als Katharina, die zuerst nicht wußte, ob es Ernst oder Spaß sei, ihm willig ihre Hand zusagte, sorgte Luther, daß sie ihm schon Tags darauf von Bugenhagen angetraut wurde. Vierzehn Tage später wurde dann nachträglich das feierliche Hochzeitsfest gehalten, bei dem freilich sogar ein Melanchthon fehlte, weil auch er diesen Schritt für höchst bedenklich hielt. Luther’s „Käthe“, die er wohl auch seine Domina oder auch „den Herm Käthe“ nennt, ist eine tüchtige und energische Frau gewesen und hat den großen Haushalt so umsichtig geleitet, daß den vier Kindern, die von sechsen den Vater überlebten, ein kleines Landgut und bescheidenes Vermögen hinterblieb. Luther’s Ehe aber ist ein Vorbild deutschen Familienglücks und deutscher Familienfreuden geworden, und als edle Zier galt in diesem Hause das deutsche Lied in Ton und Wort. In diesem Kreise ließ der alternde Luther seinem reichen und derben Humor, zuweilen auch seiner „Lust am Fabuliren“ freien Lauf, und aus diesem letzteren Grunde, wie auch um des oft gar geringen Geistes der zahlreich ihm zuströmenden Gäste willen, darf man die von eben diesen gesammelten „Tischreden Luther’s“ nur mit Vorsicht und Auswahl benutzen.
Das Jahr 1525 sollte aber auch in Betreff der socialen Frage des Mittelalters zu den verfrühten, gewaltthätigen und deshalb erfolglosen Lösungsversuchen des Bauernkriegs führen. Schon in den Kindertagen Luther’s hatten Bauernaufstände längs des Rheins gewüthet, kurz vor seinem öffentlichen Auftreten war in Württemberg der „Bund des armen Conrad“ niedergeschlagen worden. Aber jetzt drohte die Flamme wieder in neuer und viel furchtbarerer Lohe aufzuschlagen und, was für Luther sehr bedenklich [753] war, der Aufruhr redete in der Sprache der Luther-Schriften und formulirte seine Forderungen mit den Worten der deutschen Luther-Bibel! Das zeigte sich augenscheinlich in den „Zwölf Artikeln der Bauernschaft“, die ein Prädikant in Waldshut verfaßt hat und die bald das Programm der ganzen Bewegung geworden sind. Gegen sie hat Luther eine „Ermahnung zum Frieden“ geschrieben. Er hält dem Adel seine Sünden vor, denn Niemand Anderem als den Fürsten und Herren, sonderlich den blinden Bischöfen und tollen Pfaffen habe man diesen Unrath zu verdanken. Er habe wohl andere Artikel in seinem Buch an den christlichen Adel gestellt, „aber weil Ihr die habt in den Wind geschlagen, müßt Ihr nun solche eigennützige Artikel hören und leiden und geschieht Euch eben recht, als denen nicht zu rathen ist.“
Aber auch den Bauern erklärte er, daß ihre Forderungen über alles gerechte Maß hinausgehen, und selbst wenn sie gegründet wären, so sei es nicht Recht, daß sie dieselben stellten „mit dem Schwert in der Faust“. Das sei auf keinen Fall christlich. „Darum lasse ich Euere Sache sein, möget Ihr thun und lassen, was Euch Gott nicht wehrt. Aber den christlichen Namen, den christlichen Namen sage ich Euch, den lasset stehen und machet den nicht zum Schmiddeckel Eueres ungeduldigen, unchristlichen Vornehmens; den will ich Euch nicht lassen, noch gönnen, sondern mit Schrift und Wort Euch abreißen nach meinem Vermögen, so lange sich eine Ader regt in meinem Leibe.“
Und zum Schluß sagt er:
„Da es zwischen den Herren und Bauern also steht, so sind beide gleich unchristlich, darum werden sich beide aufreiben und Gott wird einen Buben mit dem andern stäuben.“
Als es dann zu dem furchtbaren Blutbade kam, in dem die tolle Wuth der Bauern die langjährige Tyrannei ihrer Herren durch empörende Grausamkeit und barbarische Verwüstung zu vergelten suchte und alles, was Wohlstand, Bildung, Kunst und Wissenschaft hieß, wie von wilden Wogen weggeschwemmt zu werden drohte – da hat Luther jenes fulminante Büchlein: „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ ausgehen lassen, in dem er von den Fürsten ein einiges, rasches, muthiges und unverzagtes Niederwerfen des Ausstandes forderte.
Seine Meinung aber hat er später in einer Rechtfertigungsschrift jenes harten und von der Nachwelt viel getadelten Büchleins drastisch dahin ausgedrückt:
„Ich habe Beides besorget: würden die Bauern Herren, so würd der Teufel Abt werden, würden aber die Tyrannen Herren, so würd seine Mutter Abtissin sein.“
Man hat oft gesagt, mit dem Jahre 1525 sei Luther ein Anderer geworden, aber das gilt von ihm nur, soweit es überhaupt von seinem ganzen Volke behauptet werden kann. Das Jahr 1525 war eben ein furchtbarer Hagelsturm, der über die erste frische Frühlingszeit der national-religiösen Reform unseres Vaterlandes hereinbrach. Was das Jahr 1849 für das ihm folgende Jahrzehnt gewesen ist – und das weiß Jeder, der die fünfziger Jahre denkend mit erlebte – das ist seiner Zeit das Jahr 1525 für unser Volk gewesen. Von nun an fiel freilich die Reformation, wenigstens nach ihrer nationalen und politischen Seite hin, bald ganz in die Hände der Fürsten und Diplomaten, und die bisherigen theologischen Führer kehren aus den großen Kämpfen der Reichstage auf ihre lateinischen Lehrstühle und in die engen Studirstuben zurück, viele mit der ernsten Absicht, dogmatische Versöhnungs- und Ausgleichsprojecte zu ersinnen. In diese Zeit des ersten Niedergangs der protestantischen Bewegung fällt auch der bittere Abendmahlsstreit und das Marburger Gespräch mit Zwingli (1529).
Nach dem Bauernkrieg hat Luther noch zwanzig Jahre in Wittenberg als Reformator und Ordner des protestantischen Kirchenwesens, als Lehrer, Kämpfer und Hüter des evangelischen Glaubens, als Visitator der sächsischen Kirche, als Gründer der deutschen Schule gewirkt. Er hat in seinem Katechismus mit genialem Geist ein kurzes Volkslehrbuch geschaffen, von dessen kühner Einfachheit noch heute viel zu lernen wäre, und schon dreihundert Jahre vor Einführung des „Schulzwanges“ das helle Wort geschrieben:
„Kann die Obrigkeit die Unterthanen zwingen, daß sie müssen Spieß und Büchse tragen zum Kriegführen, wie viel mehr kann und soll sie die Eltern zwingen, daß sie ihre Kinder zur Schule halten, weil hier ein ärgerer Krieg vorhanden ist mit dem Teufel, der damit umgeht, daß er Städte und Fürstenthümer will so heimlich aussaugen und von tüchtigen Personen leer machen, bis er den Kern ausgebohrt und die ledige Hülle zurückgelassen hat von unnützen Leuten, mit denen er spielen und gaukeln könne, wie er will.“
Am 5. Mai 1525 starb Friedrich der Weise. Sein Bruder und Nachfolger, Johann der Beständige, blieb Luther treu zugethan, wie auch dessen Sohn, Johann Friedrich, der von 1532 an regierte. Luther äußerte sich damals:
„Mit Herzog Friedrich ist die Weisheit, mit Herzog Hansen die Frömmigkeit gestorben, und nun hinfort wird der Adel regieren, so Weisheit und Frömmigkeit hinweg ist. Sie wissen, daß mein junger Herr einen eigenen Sinn hat und nicht viel auf die Schreibfedern giebt, das gefällt ihnen wohl.“
Doch hat sich nachher auch Johann Friedrich „der Großmüthige“ als ein gewissenhafter, frommer und treuer Fürst bewährt, wenn er auch beschränkteren Geistes war als sein Vorgänger. Es ist bekannt, wie nach vielen Wechselfällen Karl V. endlich mit Frankreich und mit Rom Frieden schloß und im Jahre 1530 nach seiner durch den Papst in Bologna vollzogenen Kaiserkrönung mit dem Entschlusse über die Alpen kam, in Deutschland endlich Ordnung zu schaffen, die Abgewichenen zum Glauben zurückzuführen und die Einheit der Kirche wieder herzustellen. Kurfürst Johann hatte sofort alle seine Theologen nach Torgau bestellt, wo sie die Artikel aufsetzten, „von denen man nicht weichen könne“. Dann waren sie über Coburg, wo Luther, der Geächtete und Gebannte, auf der sicheren Veste „in der Region der Vögel“ zurückbleiben mußte, zum Augsburger Reichstage gezogen, wo [754] Dr. Eck eine Disputation über ein Büchlein vorschlug, in dem er mehr als 400 Ketzereien aus Luther’s Schriften zusammengestellt hatte. Der Kaiser zog am 15. Juni mit großem Pompe ein; vor der Stadt segnete der päpstliche Nuntius die Versammlung, die mit Ausnahme der protestantischen Fürsten niederknieete, doch als im Dome ein zweites Niederknieen stattfand, sah man den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen allein stehend über die Menge ragen; da erhob sich auch wieder der Markgraf von Brandenburg, der schon in Speyer die Protestation mit unterzeichnet hatte.
Der Kaiser aber ließ dann Abends die Drei mit dem Lüneburger Herzog zu sich rufen und verbot ihnen durch seinen ebenfalls anwesenden deutschredenden Bruder, den König Ferdinand, ihre mitgebrachten Theologen predigen zu lassen. Im Namen der Ueberraschten und Erschreckten antwortete darauf der Landgraf von Hessen, daß doch ihre Prediger nichts Böses oder Neues predigten, sondern allein das Wort Gottes, wie es die alten christlichen Lehrer ausgelegt und geschrieben hätten. Da erglühte des Kaisers Antlitz vor Zorn, und kurz erklärte er, er werde das Predigen nicht dulden. Darauf aber brach der Markgraf hervor:
„Ehe ich mir das Wort Gottes nehmen lasse und meinen Glauben verleugne, will ich lieber jetzt gleich niederknieen und mir den Kopf abhauen lassen.“
Betroffen rief der deutsche Kaiser, der der deutschen Sprache fast gar nicht mächtig war: „Nit Kopf ab, lieber Fürst, nit Kopf ab.“
Nochmals erklärten sie, sie könnten von ihren Predigern nicht lassen, nochmals versicherte Ferdinand, der Kaiser, dem es Gewissenssache sei, werde es durchaus nicht leiden, da erklärte auch der Landgraf:
„Kaiserlicher Majestät Gewissen ist nicht Herr und Meister über unser Gewissen.“
Darauf gingen sie mit einem Tage Bedenkzeit davon.
Das war die Lage des Jahres 1530. Es schien Alles verloren! Man hatte mit Rom jede mögliche Verständigung gesucht und zog sich auch jetzt in der Augsburgischen Confession, die nicht aus Luther’s Geist noch aus seiner Feder stammt, auf das Aeußerste zurück, sodaß Luther schrieb, so sanft und leise hätte er freilich nicht treten können; Melanchthon aber, der Verfasser der Confession, seufzte:
„Wollte Gott, daß wir den Frieden erhielten, wäre es auch um noch härtere Bedingungen als diese.“
Ja noch in letzter Stunde faßte dieser ängstliche Gelehrte den Arm des Kurfürsten, als derselbe die Confession unterschreiben wollte, und meinte, die Fürsten sollten nicht so viel wagen, sondern nur die Theologen unterschreiben lassen. Weil aber Johann ihm antwortete: „Ich will thun, was recht ist, unbekümmert um meinen Fürstenhut,“ hat sich Luther über diese „Confession der Fürsten“ höchst erfreut ausgesprochen, ein Wort, das „bekenntnißtreue“ Theologen auf das Schriftstück der „Augsburger Confession“ zu beziehen wagen, weil sie die letztere mit Vorliebe gern als das Grundbekenntniß der gesammten protestantischen Kirche bezeichnen. Luther saß unterdessen auf der Veste Coburg, schrieb Gutachten und Flugschriften in Menge und übersetzte neben den Psalmen und Propheten auch die Fabeln des Aesop! Ueber seine Ausschließung vom Reichstage weiß er sich mit etwas satirischem Humor zu trösten, indem er an seine „lieben Tischgenossen in Wittenberg“ schreibt:
„Ihr wißt, daß wir nicht auf den Reichstag gen Augsburg ziehen; wir sind aber wohl auf einen andern Reichstag kommen. Es ist ein Rübfeld gleich an unserm Fenster hinunter, wie ein kleiner Wald, da haben die Dohlen und Krähen einen Reichstag hingelegt, da ist ein solch Zu- und Abreiten, ein solch Geschrei Tag und Nacht, als wären sie alle trunken, voll und toll. Es sind große, mächtige Herren; was sie aber beschließen, weiß ich noch nicht. So viel ich aber von einem Dolmetscher vernommen, haben sie einen gewaltigen Zug und Streit vor wider Weizen, Gerste, Hafer und allerlei Korn und Getreide und wird Mancher dabei Ritter werden und große Thaten thun. So sitzen wir hier auch im Reichstage, hören und sehen, wie die Fürsten und Herrn ritterlich schwänzen, den Schnabel wischen und die Wehr stürzen, daß sie siegen und Ehr einlegen wider Korn und Malz. Wir wünschen ihnen Glück und Heil, daß sie allzumal an einem Zaunstecken gespießt wären.“
In diesem Schlußworte ist am besten die Stimmung ausgedrückt, in welcher sich Luther damals der Gesellschaft, die auf dem Augsburger Reichstage versammelt war, gegenüber befand. Damals schrieb Luther auch das bekannte köstliche Briefchen an seinen vierjährigen Sohn Hänschen und ließ eine ernste, geistesfrische und hohe Schrift „an die in Augsburg versammelten Prediger“ ausgehen, in welcher er sich selbst an den großen Tagen der Vergangenheit erquickt, die zahlreichen Früchte, die weitgreifenden Folgen seiner Reformation darlegt und dieselbe noch einmal mit aller Hoheit und Kühnheit seiner besten Tage rechtfertigt. Je freudiger er der Vergangenheit gedenkt, um so kühler, ja fast gleichgültig sieht er dem Treiben der Gegenwart zu, von der er nicht viel mehr erwartet als den Anfang eines langsamen Zerfalles: denn er weiß Keinen, dem er so recht trauen, auf den er so recht bauen könnte für die Zeit, da er selbst nicht mehr da sei.
Und er hatte wohl Recht, denn damals konnte Melanchthon, zwölf Tage nach der Ueberreichung der von ihm verfaßten Augsburgischen Confession, dem römischen Cardinal Campegius schreiben:
„Wir haben keine von der römischen Kirche verschiedene Lehre, wir sind auch bereit derselben zu gehorchen, wenn sie nur nach ihrer Gnade, welche sie stets gegen alle Menschen gebraucht hat, einiges Wenige übersieht oder fahren läßt, was wir nicht mehr ändern können, wenn wir es auch ändern wollten.“
Das war freilich nicht des Mannes Geist, von dem einer seiner Schüler Namens Spangenberg schrieb:
„Wenn ich den Dr. Martin Luther durch Wittenberg gehen sah, dünkte mich’s, als sähe ich ein wohlgerüstet Streitschiff, das unter die Feinde auf dem ungestümen Meer dieser Welt, unter die Papisten, Juden, Schwärmer und Rottengeister getrost und unverzagt hineinsetzet, alles verjagt und erlegt, und in fröhlichem Triumph den Sieg herwieder brächte.“
So ging die frohe freudige Jugendzeit der Reformation bereits vor Luther’s Tode zu Ende, und er selbst, von Leiden geplagt, grämlich, zänkisch und eigensinnig, wie es zuweilen des übermüdeten Alters Art ist, ging sichtlich seinem leiblichen Zerfall entgegen. Und so starb er schließlich alt und elend auf einer Reise nach Mansfeld, in seinem Geburtsort Eisleben, am 18. Februar 1546. Aber ein dauernd wirksames Leben führte er von da an bis heute in der dankbaren Erinnerung der deutschen Nation, und wird es führen, so lang „die deutsche Zunge klingt“. Wenn auch seine Schriften – was nicht so sein sollte – thatsächlich nur noch von Wenigen gelesen werden, so ist doch sein Charakterbild, seine Geschichte so fest und scharf in die ehernen Tafeln der deutschen Geschichte eingegraben, daß auch die gehässigste Polemik sein Andenken nicht dauernd schänden kann.
Wie sehr unser Luther einem Jeden, der ihm näher tritt, das Herz abgewinnt, hat Gustav Freytag in dem wahren Worte ausgesprochen:
„Manches an ihm erscheint fremd und unhold, so lange man ihn aus der Ferne betrachtet, aber dieses Menschenbild hat die merkwürdige Eigenschaft, immer größer und liebenswerther zu werden, je näher man herantritt.“
Blätter und Blüthen.
Die Taubenfütterung auf dem Marcus-Platz in Venedig. (Abbildung S. 749.) Im Jahrgang 1866, S. 340 der „Gartenlaube“ schilderten wir einen Mittag auf dem Marcus-Thurm, welchem ein Bild der allmittäglichen Taubenfütterung auf dem Marcus-Platz (von Paul Thumann) beigegeben war. Diese Fütterung, die seit undenklichen Zeiten als eine fromme Sitte, wohl in Folge einer Stiftung, stattfand und selbst durch die Hungersnoth während der Belagerung 1849 nicht unterbrochen wurde, hat sich bis heute auch trotz des pietätlosen Zeitstromes der Gegenwart erhalten. Noch jeden Mittag um zwei Uhr kommen die blauen Tauben in Menge herbeigeflogen, um sich ihre regelmäßige Labung zu holen. Unser heutiges Bild stellt die Scene vor einem der drei Flaggenmaste dar, welche vor der Marcus-Kirche stehen, einst die Flaggen der drei der Republik Venedig unterthanen Königreiche Cypern, Candia und Morea, später die kaiserlich österreichische Fahne trugen und durch die graziöse Eleganz der Ornamente das Auge fesseln. Nach Gsell-Fels sollen die Ceremonien des Palmfestes den Tauben ihre geschützte Stätte verleihen.
[755] Eine Locomotive, die mit ihrem eigenen Dampfe geheizt wird, dürfte manchen Leser an Münchhausen erinnern, der sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zog, und doch ist dieses Fabelding im buchstäblichen Sinne der Erfindungsgabe eines deutschen Chemikers, des Herrn Moritz Honigmann in Aachen geglückt, und haben damit bereits im Anfange des August vollgelungene Probefahrten auf der Pferdebahnstrecke Aachen–Haaren stattgefunden. Eine Locomotive von vier Pferdekräften wurde an einem feststehenden Dampfkessel mit einer Dampfspannung von drei Atmosphären Ueberdruck versehen und fuhr darauf ohne Feuerung und Rauch und ohne das gewohnte Geräusch zu machen, fünf bis sechs Stunden lang auf den Schienen umher, indem, wie gesagt, ihr eigener Dampf benutzt wurde, den Dampfkessel auf der nöthigen Temperatur zu halten, um lange mit ungeschwächten Kräften weiter arbeiten zu können. Das scheinbare Wunder beruht darauf, daß man eine concentrirte Salzlösung, die bei einem viel höheren Wärmegrade siedet als Wasser, durch eingeleiteten Wasserdampf allmählich zu einem höheren Temperaturgrade erhitzen kann, als ihn der eingeleitete Wasserdampf selbst zeigt. Die Honigmann’sche Locomotive besitzt nun innerhalb ihres eigentlichen Dampfkessels, dessen Wasser vor Beginn der Fahrt durch hineingeleitete gespannte Dämpfe auf etwa 145° erhitzt wird, einen zweiten, cylindrischen Innenkessel, der mit concentrirter Natronlauge gefüllt ist. In diese Flüssigkeit, welche erst bei circa 190° C. siedet, wird der verbrauchte Wasserdampf der Locomotive hineingeleitet und erhitzt dieselbe beständig so stark, daß sie fünf bis sechs Stunden lang dem sie umspülenden Wasser des Hauptkessels so viel Wärme abgeben kann, daß eine genügende Dampfspannung erhalten wird. Der Innenkessel mit seiner wärmesammelnden Laugenfüllung wirkt somit wie eine innere Feuerung des Hauptkessels, obwohl er seine eigene Wärme aus diesem empfängt. Daß hierbei nun trotz alledem keine Hexerei stattfindet, ergiebt sich daraus, daß nach einer gewissen Zeit (bei der Versuchslocomotive in fünf bis sechs Stunden) das Spiel aufhört und, die Kraft der Locomotive erschöpft ist. Alsdann ist nämlich durch das beständige Eintreten des Wasserdampfes in die Natronlauge diese so sehr verdünnt worden, daß ihr Siedepunkt nicht mehr hoch genug liegt, um dem Dampfkessel noch ferner Wärme abgeben zu können. Man muß sie dann wieder zu ihrer vorigen Stärke eindampfen, um sich ihrer von Neuem als Hitzesammlers bedienen zu können, und in diesem der Benutzung vorausgehenden Wärmeaufwand liegt somit die Lösung des Räthsels. In der eingedampften Lauge giebt man der Locomotive ein Vermögen mit, welches sich ebenso ausgiebt, wie jedes andere, nur daß die Schwächung hier in der Form einer Verdünnung mit Wasser stattfindet. Die in die Augen springenden Vorzüge dieser Locomotive sind, daß sie keiner Feuerung bedarf, somit gar keinen Rauch entwickelt, außerdem wenig Geräusch macht und noch weniger Explosionsgefahren darbietet, als eine gewöhnliche Locomotive, Vorzüge genug, um ihr eine bedeutende Zukunft zu sichern. C. St.
Der Luther-Kopf zu Worms (Abbildungen S. 752 u. 753) am Luther Denkmal von Ritschel erhitzte jüngst in ungewöhnlicher Weise die Gemüther vieler Kunstbeflissenen. „Rietschel oder Donndorf“ war die Parole in den Fachblättern wie in der Tagespresse, und wie das in der Regel ist, für einen todten Künstler erheben sich mehr und wärmere Stimmen, als für einen lebenden. Donndorf hatte einen schweren Stand, doch hat die nicht gerade erquickliche Streiterei für ihn das Gute gehabt, mehr Licht in die ziemlich dunkle Entstehungsgeschichte des Wormser Luther-Kopfes zu bringen, und damit ist Donndorf von der Hauptanklage doch entlastet worden.
Gleich nach Einweihung jenes großartigen deutschen Denkmals ging eine dunkle Sage durch das Volk, der wichtigste Theil desselben, der Luther-Kopf, rühre nicht vom Altmeister Rietschel her, sondern sei eine Art Notharbeit seines Schülers Donndorf. Man wußte, Rietschel war während des Schaffens an jenem Werk auf den Tod erkrankt, und dann hatte man ein Gerücht vernommen, der Rietschel’sche Luther-Kopf sei wenige Tage vor dem Abschicken in die Gießerei durch einen Unfall in viele Stücke gebrochen und Donndorf, allerdings sein begabtester, sein Lieblingsschüler, habe in aller Eile einen neuen Kopf modellirt, der schon zwei Tage nach dem Unfall in die Erzgießerei verschickt worden sei.
Diese Sage, aus Wahrem und Falschem entstanden, ist nun im Laufe der Zeit vielfachen Wandlungen unterworfen gewesen. Es gab selbst Leute, die gar nicht an einen wirklichen Unfall glauben wollten, sondern von schülerhafter Anmaßung, Pietätlosigkeit, Uebergriffen und anderen schönen Dingen sprachen, die hier nur angedeutet sein mögen.
Zum Glücke für Donndorf und gewiß auch für den heimgegangenen Meister ist jetzt durch den erneuten Streit über den Luther-Kopf die klassische Zeugenschaft eines großen Zeitgenossen Rietschel’s zu Tage gefördert worden. Schnorr von Carolsfeld, der Bibel-Illustrator und Schöpfer jener gewaltigen Cartons, war mit Rietschel herzlich befreundet, er besuchte ihn häufig im Krankenzimmer, und endlich wurde er von dem dahinsterbenden Meister zum künstlerischen Testamentsvollstrecker ernannt. Das heißt, Schnorr sollte die Ausführung des Luther-Kopfes überwachen, er sollte Sorge tragen, daß die Intentionen, wie er sie in der verflackernden Seele trug, durch seinen Schüler Donndorf zur Ausführung gelangten.
Und nun mag das Tagebuch Schnorr’s selbst reden (1861):
- „3. Februar. Sonntag … Sodann gehe ich nach dem Rietschel’schen Hause, wo, wie ich gehört, viel Sorge um den theuren Hausvater herrscht. Die liebe Frau Rietschel eröffnete mir mit wenigen Worten, daß Dr. Walther den Kranken gestern untersucht und das Uebel sehr vorgeschritten gefunden habe. Ich verstehe, was das aus dem Munde der Frau sagen will. Die Frau Professor meint aber doch, daß es Rietschel freuen werde, mich zu sehen, und er empfängt mich auch. Der Verfall ist sichtlich, dabei zeigt sich deutlich, daß Rietschel selbst klare Vorstellung von seinem Zustande hat. …
- 4. Februar. Montag … Nach drei Uhr begebe ich mich nach Rietschel’s Atelier. Wie mir Rietschel vorgestern (soll heißen: gestern) sagte, hat Donndorf aus des Meisters Auftrag an dem Kopfe der Luther-Statue mehrere Aenderungen vorgenommen. Rietschel wünscht, daß ich den veränderten Kopf nun sehe und mein Urtheil darüber ausspreche. Die Statue (in Gyps) steht im Garten, um die Wirkung im Freien beurtheilen zu können. Ich glaube, daß die Aenderungen Donndorf’s im Wesentlichen glücklich sind und die Individualität des Reformators kräftiger und charakteristischer geben. Einige Milderungen in der Ausprägung der Formen und Züge rathe ich an, um auf eine richtige Mitte zu lenken …
- 5. Februar. Dienstag … Ich gehe nach Rietschel’s Atelier, um zu sehen, was Donndorf noch an dem Kopfe gethan hat. Die Statue ist wieder unter Dach und Fach, Donndorf selbst nicht zugegen. Ich sehe aber den Kopf genau an und finde, daß derselbe seit gestern noch sehr gewonnen hat. Hierauf gehe ich zum Meister … und erstatte ihm Bericht über die Ausführung seiner Wünsche. Rietschel scheint sehr zufrieden zu sein mit der Weise, in welcher sein Auftrag ausgeführt worden ist …
- 7. Februar. Donnerstag … Nachmittag verfüge ich mich wieder in das Rietschel’sche Atelier, um den Luther-Kopf zu sehen, Donndorf hat die angerathenen Aenderungen gemacht, und ich glaube, der Kopf hat sehr gewonnen. Jetzt ist der Luther-Typus klar ohne Herbheit ausgeprägt, und der Kopf wird gut wirken. Aus dem Atelier gehe ich zu Rietschel in die Wohnung, um ihm Bericht zu erstatten … Rietschel findet sichtlich eine Beruhigung darin, daß ich mich seines Auftrages eifrig angenommen habe. Er wünscht nun noch, daß ich Seine Majestät den König, welcher demnächst die Luther-Statue sehen wird, empfange. Gern unterziehe ich mich auch diesem ehrenvollen Auftrag …
- 10. Februar. Sonntag … Gegen 4 Uhr mache ich einen Besuch bei Rietschel. Er sitzt im Kreise der Seinen … der arme Mann sieht sehr verfallen aus. Der Arzt meint nun selbst, daß es sich wohl nur noch um Wochen handle …
- 13. Februar. Mittwoch. Nachmittag will ich bei Frau Rietschel einen Besuch machen. Er schläft. Die Frau Professor, welche mir dieses mittheilt mit der Bemerkung, daß er immer schwächer werde, berichtet mir von einem recht betrübenden Vorfall, der im Atelier sich zugetragen hat. Beim Abformen des neuen Kopfes des Luther-Modells reißt der zu schwache Strick und die Form wie der Kopf zerbricht beim Herabfallen in viele Stücke. Dieser Unfall unter den jetzigen Umständen, wo unter Anderem auch die Ablieferung nach Lauchhammer sehr drängt, ist sehr beklagenswerth …
- 14. Februar. Donnerstag. Nachmittag begebe ich mich in Rietschel’s Atelier. Ich finde Geheimrath Kohlschütter daselbst. Der Luther-Kopf ist wieder aus dem Gröbsten hergestellt. Mit Rietschel geht es übel. Das Fieber wie die Schwäche nehmen in raschem Fortschritt zu. Ich sehe ihn nicht. Er liegt. Wir werden ihn nicht mehr lange haben.
- 15. Februar. Freitag. Nach Tisch gehe ich wieder nach Rietschel’s Atelier. Der neue Luther-Kopf fast fertig und ich würde keinen Unterschied mit dem ersten aufzufinden vermögen …
- 16. Februar. Samstag. Ich spreche Frau Professor Rietschel. Es geht ihrem Manne sehr übel und ich werde ihn nicht mehr sehen …
- 19. Februar. Dienstag. Nach drei Uhr gehe ich in das Rietschel’sche Atelier, um mit Donndorf nähere Verabredung wegen der Ausstellung des Luther-Modells zu treffen … Der Kopf ist nun in Gyps ausgegossen und mit der Statue gut verbunden. Er scheint mir sehr schön zu sein.
- 21. Februar. Donnerstag. Am frühen Morgen kommt die Nachricht, daß unser lieber Rietschel bei Tagesanbruch (um 6 Uhr) seinen Geist ausgehaucht hat.“
So der Hergang nach unantastbarer Ueberlieferung, und kurz wiederholt: Rietschel war mit seinem Luther-Kopf noch nicht zufrieden, er beauftragte seinen Schüler nach seinen Intentionen einen zweiten Luther-Kopf zu modelliren; der kranke Meister sah jedenfalls diesen letzteren vom Fenster aus im Garten stehen, sein großer Freund und Berather sanctionirte die Neuschöpfung nach eigenen Milderungen und der Meister ging befriedigt oder mindestens beruhigt über sein letztes Werk in den Tod. Der Bruch des Modells verliert jede Wichtigkeit, da selbst das kunstgeübte Auge eines Schnorr keinen Unterschied entdecken konnte, und dann ist Donndorf’s Luther-Kopf zerbrochen und nicht derjenige von Rietschel, welcher sich noch gegenwärtig unverletzt im Besitz des Professor Kietz in Dresden befindet.
Hermann Krone in Dresden hat nun durch eine Reihe vorzüglicher photographischer Aufnahmen beider Köpfe ermöglicht, daß sich auch die weitesten Volkskreise über beide Auffassungen ein Urtheil bilden können. Zwei der besten Ansichten findet der Leser im Holzschnitt wiedergegeben, und zwar haben wir, um die Vergleichung zu erleichtern, beide Köpfe in gleicher Büstenform dargestellt, und betrachten wir nun dieselben mit parteilosem Auge, so müssen wir, trotzdem der Meister selbst noch unzufrieden damit war, doch sofort zugestehen: Rietschel’s Kopf ist unendlich sympathischer, als derjenige von Donndorf. So und nicht anders denken wir uns unseren Luther, wie er in männlicher Geradherzigkeit und religiöser Innigkeit in ruhigeren Zeiten zum Volke redete. Mit diesem Gesichtsausdruck können wir uns ihn auch in seiner stillen Häuslichkeit an der Seite seiner geliebten Katharina vorstellen – aber der große historische Luther spricht nicht aus dem Rietschel’schen Kopf. Das ist nicht der Luther, den ein gewaltiger innerer Geist, den er selbst nicht hemmen konnte, zur That forttrieb, das ist nicht der Mann, der sich mutterseelenallein gegen Kaiser und Fürsten, gegen Papst und Priesterthum auflehnte. Dieser letztere Luther sieht dem Donndorf’schen Kopf um Vieles ähnlicher, und mag man auch von antiker Maske und sonst etwas reden, es darf uns das nicht irre führen, die Leidenschaft ist allzeit dieselbe und wird, wenn sie künstlerisch dargestellt werden soll, von der Antike nicht so sehr abweichen dürfen. Luther sagt von sich selbst:
[756] „Ich bin dazu geboren, daß ich mit Rotten und Teufeln muß kriegen und zu Felde liegen, darum meiner Bücher viele so stürmisch und kriegerisch sind. Ich muß die Klötze und Steine ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, Pfützen ausfüllen, Bahn machen und zurichten. Soll ich aber ein Fehl haben, so ist es mir lieber, daß ich zu hart rede und die Wahrheit zu heftig herausstoße, denn daß ich irgend einmal heuchelte und die Wahrheit inne behielte.“
Da haben wir den gewaltthätigen, rücksichtslosen Mann, den öffentlichen, den historischen Luther, der mit ganz erstaunlicher Energie und Unerschrockenheit in die papistische Finsterniß hineindonnerte, und dieser Mann steht unzweifelhaft dem Donndorf’schen Kopf näher.
Wir wollen uns nicht an dem Streit betheiligen, wir suchten beiden Auffassungen gerecht zu werden, aber wir dürfen hier nicht fragen: welcher Kopf ist sympathischer? sondern: welcher Kopf ist wahrer? Einzelne Stimmen gingen so weit, zu fordern, der Donndorf’sche Kopf sollte vom Wormser Denkmal entfernt und durch den von Rietschel ersetzt werden. Diese Pietät gegen den verstorbenen Meister mag rühmlich sein, ob sie berechtigt ist, steht dahin, das Luther-Denkmal steht schließlich doch nicht um Rietschel’s, sondern um Luther’s willen an seinem Platze.
Nun, das deutsche Volk kann sich jetzt sein Urtheil bilden, die letzte Instanz bleibt ihm in dieser Angelegenheit vorbehalten. Th. G.
Vermißte (Fortsetzung von Nr. 36):
60) Karl Stein, geboren 1853 zu Festenberg in Schlesien, lernte in Berlin die Handlung, hatte dort mehrere Stellungen innegehabt und überall günstige Führungsatteste erhalten. Seit 26. Oktober 1881 ist er spurlos verschwunden, nachdem er seine Stelle aufgegeben und sich bei der Polizei abgemeldet hatte. Er soll die Absicht gehabt haben, nach Java zu gehen; da er aber alle Sachen in seiner Wohnung zurückgelassen hat, befürchten seine Eltern, es sei ihm ein Unglück zugestoßen.
61) Der Bäcker Wilhelm Spier aus Kleinenbremen bei Minden (Westfalen) hat wegen unglücklicher Verhältnisse 1861 seine Heimath verlassen. Nachdem derselbe drei Jahre in London als Bäcker gearbeitet hatte, machte er auf einem russischen Schiffe Reisen nach Triest, England und Australien. Seit 1867 hat er nicht mehr an die Seinen geschrieben.
62) Der Schuhmacher Gustav Schöps aus Eisenberg in Altenburg ging 1861 von Schandau aus auf die Wanderschaft. Von Köln schrieb er, daß er nach Paris zu gehen beabsichtige. Dies ist die letzte Nachricht, die er seiner um ihn bekümmerten Schwester zukommen ließ.
63) Eduard Rudolf Schröter, geboren 1840 zu Radeburg, früher Buchbinder, zuletzt Bahnbeamter, reiste vor viereinhalb Jahren nach Hamburg, um angeblich eine Erholungsreise zu machen, und ist seitdem spurlos verschwunden. Schröter trug schwarzen Voll- und Schnurrbart, graumelirtes Kopfhaar, hatte graue Augen er war kurzsichtig und trug eine goldene Brille. Mutter und Sohn desselben bitten dringend um Nachricht.
64) Eine arme Wittwe und verlassene Mutter, Frau A. M. in Danzig, sucht ihren Sohn aus erster Ehe, A. Rudolf Soth. Derselbe hat sie seit fast zehn Jahren ohne Nachricht gelassen. Rudolf Soth, geboren 1839, begab sich 1870 mit seiner Frau nach Moskau, wo er als Mechaniker arbeitete; 1873 schrieb er, daß er im Poltaw’schen Gouvernement Beschäftigung gefunden. In seinem letzten Briefe theilte er die Absicht mit, wieder nach Moskau überzusiedeln. Seitdem wartet die Mutter vergeblich auf Kunde.
65) Aehnliches haben die Eltern Schmidt in Soldin zu beklagen. Ihr Sohn, der Maurer Friedrich Adolf Schmidt, ist seit April 1880 verschwunden. Zuletzt hat er sich in Berlin aufgehalten, von da ist er angeblich nach Schweden gegangen. Schmidt hatte schwarzes Kopfhaar, röthlichen Schnurrbart; auf der Pupille des linken Auges hatte er ein Hornpickel von der Größe eines Stecknadelkopfes.
66) Der Schneider Karl Eduard Seifert, geboren 1835, ging 1862 aus Freiberg fort, ohne zu hinterlassen wohin, schrieb darnach aus Reichenbach im Voigtland, daß er auswandern werde. Seitdem hat er nicht wieder geschrieben und ist auch trotz aller von seinen nunmehr im Greisenalter stehenden Eltern aufgewendeten Mühen und Kosten nicht zu finden gewesen.
67) Joseph Popper aus Wällischbirken in Böhmen, 23 Jahre alt, ist seit 1878, zu welcher Zeit er sich in Paris aufhielt, verschollen. Sein alter Vater bittet um Nachricht über ihn.
68) Der Aufenthaltsort Moritz Platow’s, der bis 1878 in Hill Farm bei Framglingham in der englischen Grafschaft Suffolk wohnte, wird von dem Bruder des Vermißten gesucht.
69) Der Uhrmachermeister August Schumann, 55 Jahre alt, bis 1878 fast immer in Petersburg wohnhaft, wird gebeten, seine jetzige Adresse in der Redaction der „Gartenlaube“ abzugeben. Gleichzeitig ergeht die Bitte an diejenigen, welche etwas Näheres über den Aufenthaltsort des Schumann wissen, gütigst kurze Notiz darüber niederzulegen.
70) Ein Niederösterreicher, Namens Rohringer, wanderte in den 1820er Jahren als Begleiter eines ungarischen Grafen nach Amerika aus. Mitte der 1860er Jahre brachten österreichische Blätter eine Ladung Seitens französischer Behörden an die unbekannten Erben eines in Frankreich auf der Rückreise von Amerika in seine Heimath verstorbenen Oesterreichers, gleichen Namens, welche Aufforderung in den Jahren 1872 oder 1873 wiederholt wurde. Die Verwandten jenes Rohringer erfuhren hiervon erst mehrere Jahre später, weshalb es ihnen trotz aller Bemühungen nicht mehr gelang, jene Blätter, in denen die Kundmachung enthalten war, oder die Behörde, von welcher selbe ausging, ausfindig zu machen. Es ist ihnen nur bekannt, daß der Ort, woselbst Rohringer mit Tod abging, Charlier oder Charlieu genannt worden sei. Aber auch Nachfragen an verschiedenen Orten ähnlichen Namens in Frankreich blieben erfolglos. Vielleicht ist Jemand in der Lage, durch einige Zeilen an die „Gartenlaube“ der Familie eine nähere Mittheilung zu machen.
71) Paul Sander, geboren 1847 zu Greulich bei Bunzlau, war als Former in Prenzlau beschäftigt, fuhr dann nach England und arbeitete dort wiederum als Former in Liverpool und Edinburgh. Im Jahre 1867 ließ er sich von einem Bremer Schiffe „Else“ oder „Elisa“ zu einer Fahrt nach Ostindien werben. Vor seiner Abreise schrieb er zum letzten Male. Seitdem für seine greisen Eltern verschollen.
72) Die Geschwister Pavesch vermissen seit 1858 ihren Bruder Karl Pavesch. Derselbe, geboren 1830, fuhr mit seinem siebenzehnten Jahre als Schiffsjunge, später als Schiffsschreiber auf verschiedenen amerikanischen Handelsschiffen. Die letzten Briefe datiren aus London und aus Bombay.
73) Martin Christoph Ommen, geboren zu Wittmund, 32 Jahre alt, welcher von Essen an der Ruhr im December 1881 die letzte Nachricht an seine Eltern gelangen ließ, wird aufgefordert, seinen jetzigen Aufenthaltsort anzugeben.
74) Karl Höpker aus Wiesbaden hat seit August 1880, wo er aus Glasgow schrieb, nichts von sich hören lassen und wird hiermit aufgefordert, Erbschaftsangelegenheiten halber seine Adresse der Redaction der „Gartenlaube“ zukommen zu lassen.
75) Heinrich Ellerbrock, 1857 in Kleinborstel bei Hamburg geboren, im Waisenhause erzogen, ging, nachdem er einige Zeit bei einem Krämer gelernt, im Jahre 1871 zur See. Seitdem ist er verschollen. Einem ungewissen Gerüchte nach soll er sich in Montevideo aufgehalten haben. Ihn sucht seine Schwester.
76) Ende der 1840er Jahre wanderte aus Schwersenz bei Posen Karl Klose nach Australien aus, beschäftigte sich dort mit Goldgräberei und hinterließ bei seinem ungefähr 1860 erfolgten Tode ein Vermögen von circa 40,000 Dollars. Auf einen in den Zeitungen 1874 erfolgten Aufruf hin übergaben die in Lodz in Russisch-Polen wohnenden Verwandten einem Neffen des Verstorbenen ihre Papiere zur Erhebung des Vermögens. Dieser Neffe gab als seinen Wohnort Adelaide an; er konnte aber vom Consulat dort nicht aufgefunden werden. Warum? Vielleicht kann von einem Leser der „Gartenlaube“ der Wohnort des Verstorbenen oder des Neffen ausfindig gemacht werden.
(Fortsetzung folgt.)
Ernestine Wegner. Es ist ein tragisches Verhängniß, das über den Vertreterinnen der heiteren Kunst in der deutschen Reichshauptstadt waltet. Tausende erfreuen sie durch ihren glücklichen Humor, durch die Anmuth ihrer Erscheinung und ihres Spiels, und sie selbst, die so viel Fröhlichkeit um sich verbreiten, steigen früh in’s Grab. Bald nach Mathilde Ramm-Beckmann und nach Adele Krèn ist nun auch Ernestine Wegner gestorben, wie jene in der Blüthe ihrer Jugend und ihres Talentes, kaum nachdem sie ihren großen Ruf in der Künstlerwelt fest begründet hatte. Noch nicht dreißig Jahre alt, zur schmerzlichen Ueberraschung aller der zahllosen Freunde ihres Talentes, die kaum von ihrer Krankheit gehört hatten, ist Ernestine Wegner am 2. November in Wiesbaden entschlafen. Die „Gartenlaube“ hat im Jahre 1878, als Ernestine Wegner dem Berliner Wallner-Theater eine neue Glanzperiode schuf, das Portrait der Künstlerin und ihre Charakteristik aus der Feder Albert Traeger’s gebracht. Heute, wo wir den frühen Tod der unvergleichlichen Soubrette beklagen, können wir ihr kaum einen treffenderen Nachruf widmen, als mit der Wiederholung der damals geschriebenen Worte Traeger’s: „Ihr sprudelnder Humor, ihre liebenswürdige, kecke Unbefangenheit, ihre übermüthige Laune machen sie zu einer der vorzüglichsten, unwiderstehlichsten Soubretten, aber sie ist unendlich mehr als ein weiblicher Clown oder ein Hanswurst im Unterrock. Sie hat Natur und Herz und jenes feine Gefühl, das man den künstlerischen Verstand nennen möchte; ihre jedes Hindernisses spottende Gestaltungsfähigkeit bleibt immer auf jenem Gebiete, das von den Linien der Wahrheit und der Schönheit begrenzt wird.“ Dieser ewig lachende Mund hat sich nun für immer geschlossen.
Kleiner Briefkasten.
K. F. in Hamburg. Ueber die erste Frage wird Ihnen in jeder Buchhandlung Auskunft ertheilt. Als Reuter-Verehrer wird Ihnen die Nachricht willkommen sein, daß die hiesige Verlagshandlung von C. A. Koch soeben zwei „Ergänzungsbände zu den sämmtlichen Werken von Fritz Reuter“ in zweiter Auflage herausgegeben hat. Der erste Band zeigt Ihnen Reuter als Dramatiker; indem er die Lustspiele: „Der 1. April 1856“ und „Fürst Blücher in Teterow“ enthält; der zweite Band bringt unter dem Namen „Julklapp“ eine Sammlung von Polterabendgedichten (gleichfalls in leichter dramatischer Form). Aus den meisten der hübsch erfundenen Julklapp-Gedichte lacht Reuter’s prächtiger, gemüthvoller Humor, und die beiden Lustspiele sprechen vorzugsweise durch die natürliche Zeichnung der einzelnen Personen an.
R. P. in Lausanne. Marlitt’s „Haideprinzeßchen“ finden Sie im Jahrgang 1871, Nr. 31.
J. F. in Paris. Sie haben darin Recht, daß die Melodie der Marseillaise kein französisches Original ist: Rouget de l’Isle entnahm sie der „Missa solemnis“ Nr. 4 des deutschen Componisten Holzmann.
F. M. in Bremen. Nach ärztlichen Autoritäten Schwindel.
Inhalt: Glockenstimmen. Eine Bürgergeschichte aus dem 17. Jahrhundert. Von Stephanie Keyser. S. 741. – Die Pürschfahrt. S. 744. Mit Illustration von Ludwig Beckmann. S. 745. – Eine chinesische Seeräubergeschichte. Aus dem Originalberichte eines Seecapitains. S. 746. – Die Braun in Trauer. Von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 748. – Doctor Martin Luther. Von Emil Zittel (Schluß). S. 751. – Blätter und Blüthen: Die Taubenfütterung auf dem Marcus-Platz in Venedig. S. 754. Mit Illustration S. 749. – Eine Locomotive. – Der Luther-Kopf zu Worms. S. 755. Mit Abbildungen. S. 752 und 753. – Vermißte. – Ernestine Wegner. – Kleiner Briefkasten. S. 756.
- ↑ Wirbelstürme im chinesischen Meere.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: mir