Die Gartenlaube (1884)/Heft 20

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

No. 20.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


6.

Die Zingarella begab sich sofort nach dem „Leon Bianco“. Der überraschten Padrona trug sie ein Märchen vor; übrigens waren der feisten, schläfrigen Dame die Beweggründe Maria’s ja ziemlich gleichgültig. Das Mädchen wußte sich den eigenthümlichen Drang ihres Herzens vielleicht selber nicht zu erklären. War es ein Rest von Mißtrauen in die Person jenes geheimnißvollen Polizei-Aspiranten? Setzte sie Zweifel in die redliche Absicht des Cardinals? Oder machte sich überhaupt eine unerwartete Klarheit geltend, ein lichter Moment gleichsam in dem wahnwitzigen Rausch ihrer Verblendung? Das war schwer zu entscheiden. Vielleicht sogar entsprang ihre Absicht nur einer heftigen Neugier.

Am folgenden Tag, als es noch dämmerte, machte die Zingarella sich auf den Weg nach dem Albergo zum „Goldnen Kreuz“. Um diese Zeit schlief noch Alles, mit Ausnahme des niederen Dienstpersonals; es war also Aussicht vorhanden, die kleine Giulietta ungestört sprechen zu können.

Im Thorweg traf Maria einen Facchino, der mit dem Besen aus Spartgras die großen Basaltplatten kehrte. Sie fragte nach Giulietta Barrili, die vor Kurzem hier in Dienste getreten.

„Ach, die …?“ versetzte der Knecht. „Die hat das dritte Geschoß. Soll ich was ausrichten?“

„Wenn’s angeht, möchte ich selbst mit ihr reden. Wollt Ihr sie rufen, oder soll ich hinaufgehn?“

„Wie’s Euch genehm ist. Ihr trefft sie um diese Zeit in der Weißzeug-Kammer, – rechts am Ende des langen Corridors; da sortirt sie und flickt sie. Besser ist’s schon, Ihr bemüht Euch hinauf, denn die Haushälterin kann jeden Augenblick vom Frühstück herauskommen, und Die ist streng, Signorina, streng wie ein Satan!“

Maria dankte ihm und begab sich leisen Schrittes, als wünsche sie nicht bemerkt zu werden, in’s dritte Stockwerk. Die Thür der Weißzeug-Kammer stand offen und ließ einen Streifen röthlichen Morgenlichts auf den dunklen Corridor fallen. Unschlüssig trat Maria näher. Sie war ernstlich im Zweifel, wie sie ihr Anliegen bei Giulietta vorbringen könne, ohne Verdacht zu erregen.

„Grüß Dich Gott, Zingarella!“ klang es von den Lippen Giulietta’s. „Das nenn’ ich doch eine reizende Ueberraschung! Ich dachte schon, wie Du vorgestern so kalt und fremd Deiner Wege gingst, Du seiest zu stolz und wollest mit der Cameriera nichts mehr zu thun haben, – Deines Apuliers wegen! Schade, daß ich bis über den Kopf in der Arbeit stecke! Grade so Morgens …! Nun, ein Viertelstündchen wird sich erübrigen lassen: ich bring’s nachher wieder ein.“

„Ich komme mit Absicht so früh,“ sagte Maria. „Etwas sehr Wichtiges hab’ ich mit Dir zu besprechen, – und die Sache ist eilig. Sind wir ganz ungestört?“

„Ganz ungestört. Hier zur Linken befindet sich eine Trödelbude – weißt Du, ein Raum, wo altes Gerümpel, halb zerbrochene Möbel und sonstiger Kram verwahrt ist; – hier aber, rechter Hand, das Zimmer steht leer; – beiläufig gesagt: das einzige unbesetzte im ganzen Haus; denn es ist geradezu schrecklich, was jetzt an Fremden so nach Neapel strömt.“

Das Antlitz Maria’s bedeckte sich mit einer flammenden Röthe. Zum ersten Male in ihrem Leben sollte sie ernstlich Komödie spielen. Es widerstrebte ihr ganz unbeschreiblich, zumal dem einfachen, ehrlichen Geschöpf gegenüber, das, noch eh’ sie zu sprechen begann, mit gläubiger Neugier zu ihr emporschaute. – Aber das half nur Nichts. Hatte sie’s einmal sich vorgesetzt, so mußte sie ihre Rolle auch durchführen, – möglichst naturwahr und mit allen erforderlichen Nüancen.

Sie preßte also die Hand wider die Augen, halb aus jenem schauspielerischen Instincte heraus, der von Urzeiten ein Erbstück des Weibes ist, halb um ihre Scham und ihre Verwirrung zu bergen.

„Ach, Giulietta,“ seufzte sie, „wenn Du ahntest, was die unglückliche Zingarella zu leiden hat!“

Die gute Giulietta legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Du?“ rief sie erstaunt. „Die Braut Salvatore’s? Aber wahrhaftig, Du siehst ganz sonderbar aus, – wie verstört – und Deine Wangen glühen so fieberisch! Sprich doch, Maria, was ist geschehn?“

„Wenn Du’s geheim halten willst –“

„Das versteht sich von selbst.“

„Niemals ein Wort davon reden –“

„Mit keinem sterblichen Menschen!“

Maria athmete schwer. Dann sagte sie halblaut: „Ich fürchte, mein Salvatore verräth mich.“

„Unmöglich!“

„Ich habe die bestimmtesten Anzeichen. Neulich schon, als er nach Capri kam, war er nicht völlig wie sonst.“

„Ja, ja, mir selber ist’s aufgefallen,“ meinte Giulietta. „Er schien so ernst, so gedankenvoll, wie er an’s Ufer stieg …“

[326] „Das war das böse Gewissen. Er liebt eine Andre – oder zum wenigsten ...“

„Sei vernünftig, Maria. Der Schein trügt; und wenn’s schon wahr ist, daß Dein Verlobter allenthalben, wo er sich zeigt, die Mädchenherzen erobert, und wenn’s ihm vielleicht auch schmeichelt, so braucht er deshalb noch nicht selber entflammt zu sein. Im Grunde, wie wär’ es auch denkbar? Du, Maria, bist von Allen die Schönste, und Niemand wirft den Goldgulden weg, um sich nach der Kupfermünze zu bücken. Laß mich nur wissen, was vorgefallen: am Ende löst sich’s klar und natürlich, und es war nur die blinde Eifersucht, was Dich so in Aufruhr versetzt hat.“

Maria schüttelte heftig den Kopf. Die Nothwendigkeit, ihr Märchen jetzt weiter ausspinnen zu müssen, erfüllte sie mit einer Erbitterung, die sich auf Rechnung der erfundenen Treulosigkeit ihres Verlobten Luft schaffen durfte.

„Ich weiß, was ich weiß,“ rief sie stirnrunzelnd. „Salvatore bewirbt sich um die Tochter eines begüterten napoletanischen Bürgers. Ein Brief, den ich aufgefangen – du lieber Himmel, was soll ich das Alles noch weitläufig aus einander setzen! Ich bin arm, Giulietta, und heutzutage geht die Jagd der Menschheit nach Gold ... Selbst die Besten und Edelsten schlagen ihr Herz in die Schanze, wenn es den Mammon gilt. Mich liebt er – das mag schon sein: aber die Andere wird er zum Weibe nehmen!“

Sie erörterte nun mit wachsender Sicherheit, was sie vorhabe. Sie wisse, daß ihr Verlobter heut’ im Albergo zum „Goldnen Kreuz“ mit einem Verwandten des Mädchens eine Zusammenkunft habe. Sie, Maria, wünsche nun in Erfahrung zu bringen, wer diese abscheuliche Napoletanerin sei, und wie weit sich die Sache entwickelt habe.

„Vielleicht,“ so schloß sie, „läßt sich von der Verhandlung der beiden Männer Etwas erlauschen. Es käme nur darauf an, daß Du willst! Sprich, Giulietta: kann ich auf Deine Hülfe rechnen?“

Die Cameriera war alsbald Feuer und Flamme. In Herzenssachen fühlen die Frauen stets solidarisch. Die Entrüstung über den angeblichen Verrath des Apuliers wog alle Bedenken auf.

„Da fällt mir bei,“ sagte sie plötzlich, – „auf heute Nachmittag hat sich ein Signore anmelden lassen – drunten aus dem Calabrischen, wenn ich nicht irre – der könnte es möglicher Weise sein ...! Der das Zimmer für ihn bestellte – so ein Mann um die Dreißig herum – der sagte, bis morgen wolle der Signore hier in Neapel Station machen.“

„So? Und wie sah er aus, der’s bestellte? Schlank? Hager?“

„Schlank und hager, wie ich kaum einen Zweiten gesehn habe! Er ging in Schwarz und trug eine silberne Brille.“

Die Zingarella erkannte unschwer die Persönlichkeit des Polizei-Aspiranten, den Salvatore ihr drei- oder viermal hatte beschreiben müssen. Das Blut stieg ihr heiß in’s Gesicht. Sie meinte im ersten Augenblick, vor einer folgenschweren Entdeckung zu stehn. Dann aber sagte sie sich, der Signore aus dem Calabrischen müsse Seine Eminenz der Cardinal sein, – und diese Maske sei ganz begreiflich. Der Monsignore konnte unmöglich in seiner officiellen Carrosse vorfahren; er mußte incognito eintreffen; sonst würde sein Besuch im Albergo noch ungleich größeres Aufsehn erregt haben, als der Besuch des Apuliers im Palast Seiner Eminenz. – Maria legte sich das Alles zurecht; sie verstand jetzt auch, weshalb der Polizei-Aspirant gesagt hatte: der Signore aus dem Calabrischen werde im Gasthause übernachten. Das war unverfänglicher, als ein Absteigen auf wenige Stunden; – nach stattgehabter Besprechung konnten ja „unvorhergesehne Ereignisse“ eintreten, die eine sofortige Weiterreise nothwendig machten.

Noch höchlich erregt, stammelte sie allerlei widerspruchsvolle Redensarten.

Der auffällig hagere Mensch sei offenbar einer von den großstädtischen Heirathsvermittlern, die jetzt allenthalben ihr Wesen trieben; Salvatore selber habe ihr zugegeben – das heißt, er ahne ja Nichts – aber ein solcher Seelenverkäufer habe ihn neulich besucht; so glaube sie wenigstes, und nach Allem zu schließen ...

Sie unterbrach sich und schaute ängstlich in das sinnende Antlitz Giulietta’s. Diese jedoch war viel zu sehr von der Hauptsache in Anspruch genommen, als daß sie auf die Einzelnheiten im Verhalten Maria’s geachtet hätte.

„Zingarella,“ sagte sie plötzlich, „weißt Du, daß wir gewonnenes Spiel haben? Hör’ mal zu! Ich sprach vorhin den Facchino: der ist die lebendige Chronik hier im Albergo. Rein zufällig kam die Rede darauf: aber nun seh’ ich, es war eine Fügung des Himmels. Heute bis gegen Abend wird nur das Eckzimmer links in der ersten Etage frei; das aber ist schon wieder von Rom aus bestellt. Kommt also der Signore aus dem Calabrischen, so giebt’s im ganzen Hause kein anderes Zimmer, das er beziehen kann, als die Stube hier dicht neben an. Die Weißzeug-Kammer ist den ganzen Tag über abgeschlossen. Ich lasse Dich also ruhig hier. Wenn Du das Ohr an die Thür legst, wirst Du das Meiste von dem, was im Nebenzimmer gesprochen wird, deutlich verstehen können. Uebrigens halt! Sieh’ mal! Das hab’ ich noch gar nicht bemerkt!“

Sie wies mit dem Finger auf ein schmales, längliches Fenster, das rechts von der Seitenthür über einem der mächtigen Schränke die Wand durchbrach.

Ohne ein Wort zu sprechen, rückte Maria den Tisch herzu, schwang sich darauf, und beugte sich weithin über das verschnörkelte Schrankdach.

„Man überblickt so das halbe Zimmer,“ sagte sie leise. „Aber man wird auch von dort gesehen.“

„Dem läßt sich ja abhelfen,“ sagte Giulietta. „Da, versuch’ mal, ob Du das feststecken kannst.“

Sie nahm von den Stößen der frische Wäsche, die rechts und links auf den beiden Tischen geschichtet lag, einen kattunenen Küchenvorhang; Stecknadeln trug sie in der Tasche des Hausschürzchens.

Mit unsicherer Hand arbeitete Maria an dem Holzrahmen des Fensters herum. Endlich kam sie mit der Befestigung zu Stande.

„So! Hier an der Seite, oben, bleibt gerade ein Spalt frei, groß genug für das Auge. Das war ein kluger Einfall, Giulietta! Den vergeß’ ich Dir nicht. Und nun: strengste Verschwiegenheit!“

„Natürlich! Allein schon um meinetwillen! Wenn man’s erführe, dann könnt’ ich heut’ noch mein Bündel schnüren.“

Einige Zeit noch war Giulietta in der Kammer beschäftigt, während Maria, die Hände im Schooß gefaltet, auf dem Schemel saß und ihr gedankenvoll zuschaute.

Dann sagte die Cameriera:

„Gehab’ Dich wohl! Bis gegen Mittag kann’s dauern, eh’ der Signore hier eintrifft! Laß Dir inzwischen die Zeit nicht lang werden! Bin ich gerade im Treppenbau, wenn er kömmt, so geb’ ich Dir rasch ein Zeichen ...“

„Nein!“ wehrte die Zingarella. „Ich werde schon aufmerken. Halte Dich, soviel Du kannst, in den Zimmern! Ich möchte nicht, daß Dir Salvatore begegnet. Er hat Dich zwar nur ein paarmal gesehn, und vermuthet Dich allenthalben eher, als hier im Albergo: aber er hat ein scharfes Gedächtniß. Er könnte Dich ansprechen, und so das ganze Geheimniß aus Dir herausfragen ...“

„Was Du Dir vorstellst! Aber gut: wie Du willst! Also auf Wiedersehen!“

Sie drehte den Schlüssel um, und steckte ihn zu sich. Dann ging sie an ihre Stubenarbeit.

Kurz nach zehn hatte Giulietta für die zwei Damen auf Numero sechszig eine Bestellung beim Concierge. Mit gewohnter Leichtfüßigkeit rannte sie die breiten Steintreppen hinab. Im Erdgeschoß prallte sie so wider die starke, mantelumhüllte Gestalt eines glattrasirten Signore, den der Zimmerkellner eben nach oben geleitete.

„Corpo di Dio!“ fluchte der Fremdling mit unverkünstelter Vehemenz; denn der Ellbogen Giulietta’s, die ihm ausweichen wollte, war ihm unsanft wider den Magen gefahren.

„Ich bitte die Eccellenza tausendmal um Verzeihung,“ stammelte Giulietta purpurroth vor Verlegenheit. Die Eccellenza jedoch, überwältigt von dem bohrenden Gefühl ihres Schmerzes, krümmte sich, und fluchte dann abermals, und zwar so ganz und gar nicht salonfähig, daß selbst Giulietta, deren Ohr doch an die Kraftausdrücke der Schiffsleute und Fischer gewöhnt war, über die Derbheit des Unbekannten erstaunte.

[327] Gleich darauf indeß schien der Signore das Bedürfniß zu fühlen, diesen Ausbruch seiner wahren Natur vor sich selbst gut zu machen.

Giulietta, nachdem sie ihre Bestellung beendigt hatte, kam auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage wieder an ihm vorüber.

„Mein Kind,“ sagte er jetzt mit eigenthümlicher Salbung, „Ihr dürft mir nicht übel nehmen, daß ich vorhin im ersten Schreck eine Wendung gebraucht habe, die ich sonst aus Grundsatz verschmähen würde. Indeß, – ich versichere Euch, Euer Ellbogen ist ganz verteufelt – ich will sagen: ganz außerordentlich spitz, und Ihr flogt die Stufen herab, wie ein Stein aus der Schleuder.“

Giulietta war über diesen Wechsel der Tonart sichtlich erfreut, denn der strafende Blick des Zimmerkellners hatte ihr nichts Gutes geweissagt. Sie schaute dem Fremdling voll ins Gesicht, als ob sie sich überzeugen wollte, ob dort noch Spuren jener ersten Erbitterung zu finden seien. Die breiten, etwas gerötheten Züge athmeten jedoch ein überraschendes Wohlwollen; insbesondere mühten sich die grauen, blitzenden Augen, recht freundlich zu scheinen. Das Gesicht bekam dadurch einen frappirenden Ausdruck von Schalkhaftigkeit, da sich der rechte Augendeckel ein wenig mehr schloß als der linke.

Die Cameriera entschuldigte sich nochmals wegen der Ungeschicklichkeit, die ihr zur Last fiel, und schlüpfte dann mit dem Ausdruck höchster Befriedignng nach Numero sechszig.

„Das ist er,“ sagte sie zu sich selbst. „Der garstige Mensch, der die schöne Zingarella unglücklich machen will! Freut mich nur, daß ich ihn so angerannt habe! Das sei ihm ein Vorzeichen!“

Maria befand sich bereits auf dem Posten. Mit fiebernder Neugier lugte sie durch den Vorhang.

Marsucci, der „Signore aus dem Calabrischen“, trat bedächtig über die Schwelle; der Cameriere folgte ihm.

„Sagt an, guter Freund,“ wandte sich Marsucci zum Kellner, „man ist doch vollständig ungestört in der Stube hier? Mein Verwandter, der das Zimmer bestellte, hat dem Wirth bereits angedeutet, daß es ernste Geschäfte gilt – Familiengeheimnisse, die man gerne für sich behält.“ ...

Er machte bei diesen Worten eine Geberde in der Richtung der Seitenthür, die zum Weißzeuggelaß führte.

„O,“ versetzte der junge Mensch, „was das betrifft, da kann der Signore durchaus unbesorgt sein. Die Kammer daneben ist unbewohnt und den ganzen Tag über verschlossen. Nur in der Frühe kommt die Cameriera hinein. Na, und da drüben links da liegt ja die Vollwand, die läßt keinen Schall hindurch; auch ist die Signora, die dort logirt, vor einer Stunde schon ausgegangen, und erst zu Abend kommt sie nach Hause.“

„Gut, gut,“ sagte Marsucci. „Man orientirt sich doch gern. So, nun geht! Wenn ich etwas bedarf, werde ich die Klingel ziehen.“

Der Kellner entfernte sich. Marsucci aber schritt nach dem purpurgeblümten Sopha, das, die Seitenthür verstellend, gerade unter dem Wandfenster stand, setzte sich und wartete auf sein Opfer.

Maria preßte ihr Antlitz wider die Glasscheibe, aber ihr Blick vermochte den vermeintlichen Cardinal, der sich hier als „Signore aus dem Calabrischen“ einführte, trotz aller Anstrengung nicht zu erreichen.

Von Zeit zu Zeit holte Marsucci tief und geräuschvoll Athem, wie ein Mensch, der eine lästige Obliegenheit vor sich hat. Nach einer Weile rauschte etwas zu Boden: der Mantel, den er über die Lehne des Sophas gelegt, war herabgeglitten. Maria hätte ihn also jetzt ganz und voll überschauen können, den „Monsignore“, und noch dazu in der Zwanglosigkeit des Heroen, der sich unbeobachtet glaubt! Welche Tücke des Zufalls, daß er just hier den Platz unter dem Fenster gewählt, während doch drüben, wo eine lange, schmale Thür nach dem kleinen Altane ging, ein mächtiger Sessel stand, der wie geschaffen schien für eine Persönlichkeit von dem gebietenden Rang Seiner Eminenz!

Ihr Verdruß währte nur kurze Zeit. Nach fünf Minuten schon klopfte es. Marsucci erhob sich. Mit ehrfurchtsvollem Beben gewahrte sie, daß er in der That die glänzende Gewandung des hohen kirchlichen Amtes trug, vor welchem, nach ihrer Meinung, alle Insignien weltlicher Hoheit in’s Bedeutungslose zusammenschrumpften. Pochenden Herzens schlug sie ein Kreuz ...

Marsucci öffnete. Emmanuele Nacosta und Salvatore Padovanino traten langsam über die Schwelle.

Das Gemach, nur durch die gardinenverhangne Altanthür erhellt, war düster genug, um der schändlichen Maskerade ausreichende Chance zu bieten. Des Abends bei Kerzenbeleuchtung hätte der fragwürdige Cardinal ein ungleich schwereres Spiel gehabt.

Uebrigens war nicht zu leugnen, daß Beide, Marsucci sowohl wie Nacosta, ihre Rollen mit einer Gewandtheit durchführten, wie sie nur dem beweglichen und phantasiereichen Südländer eigen ist.

Schier zu Boden gedrückt durch die Last einer theatralischen Devotion, verneigte sich der Polizei-Aspirant vor seinem Spießgesellen, als erblicke er am Hochaltare das Venerabile. Marsucci seinerseits copirte die wohlwollende Herablassung, die segenspendende Milde des Kirchenfürsten ein wenig plump, aber doch bis in’s Einzelne glaubhaft – dergestalt, daß der Apulier, der so wie so vor Erregung kaum athmen konnte, ganz von jenen heiligen Schauern erfüllt ward, die Nacosta vorausgesetzt hatte.

Auch Maria ward mit jeder Secunde mehr in Fesseln geschlagen.

Die Art und Weise, wie der Gaukler das farbenprächtige Kleid rauschen und wallen ließ; das Weihevolle seiner Bewegungen, und dann der gewaltige Eindruck, den er auf Salvatore hervorbrachte – dies Alles wirkte auf das junge Mädchen berauschend. Und jetzt nahm er wirklich auf jenem alterthümlichen Sessel Platz, sodaß es nicht anders aussah, als erblicke man den Statthalter Gottes auf dem geweihten Sitz des Apostels ...!

„Mein Sohn,“ begann Marsucci, die Stimme dämpfend, „es ist ein großes, ein gewaltiges Werk, dessen Durchführung wir beschlossen haben, und dankerfüllten Herzens erkenne ich den opferwilligen Muth an, der Deine Seele erfüllt! Nur weil ich in väterlichem Wohlgefallen auf Dich herabschaue, weil Du mir lieb und theuer bist, nur deshalb, mein Sohn, habe ich den Bitten unsres gemeinsamen Freundes hier nachgegeben und Dir eine Begegunng gewährt, die eigentlich überflüssig erscheint. Ungläubiger Thomas, wähnst Du, der Zweifel erhöhe die Verdienstlichkeit Deines Vorhabens? Wahrlich, Salvatore, ich sage Dir: Wer da nicht siehet und doch glaubet, der wird die Krone des Lebens erwerben!“

Diese pomphafte Ansprache klang in ihrer Art so natürlich, daß der Apulier sich bereits schämte, einem so wohlwollenden Herrn gegenüber Zweifel gehegt und Bedingungen gestellt zu haben. In der Exaltation seines Herzens bedachte er nicht, daß es ja Nacosta gewesen, dem er auf Anrathen der Zingarella mißtraut hatte.

Der falsche Monsignore De Fabris begann jetzt eine Erörterung über den altehrwürdigen Begriff des frommen Betruges, über die sittliche Berechtigung derjenigen Täuschungen, die für Einzelne oder für die Gesammtheit von Nutzen seien , ohne die Interessen Andrer zu verletzen. Der pfiffige Komödiant bethätigte dabei eine so schlagende Casuistik und einen so schlau erkünstelten Schein orthodoxer Gelehrsamkeit, daß Leute von größrer Erfahrung sich hätten bethören lassen.

Auf eine schüchterne Anfrage Emmanuele Nacosta’s entwickelte nun Marsucci – immer mit der gleichen halb geistlichen, halb diplomatischen Vornehmheit – die Einzelheiten des Planes, wie er sie sich vorgestellt habe. Auch was dann später erfolgen solle, wenn die erhoffte Wirkung auf die politische Situation der Stadt und des Landes erreicht sei, legte er fast mit den nämlichen Worten dar, die seiner Zeit Emmanuele Nacosta gebrancht hatte.

Nur den Tag und die Stunde der Ausführung konnte er nicht mit Genauigkeit festsetzen, obgleich der Apulier gerade in dieser Hinsicht eine bestimmte Auskunft erwartet hatte; denn lediglich von dem Willen des Cardinals hing es doch ab, um welche Zeit er eine bestimmte Stelle Neapels passiren wollte.

Hätte sich Salvatore nicht in einem völlig abnormen Zustande des Gemüths befunden, – dieser Mangel in der Rolle Marsucci’s wäre ihm aufgefallen.

So aber nahm er ebenso wenig Anstoß daran, wie Maria, deren Begeistrung noch immer zu wachsen schien. – Welch ein Mann, dieser Monsignore De Fabris! Wie hehr und wie heilig! Dazu dies milde, freundliche Antlitz und die sympathische Art, wie er beim Sprechen das rechte Auge ein wenig zusammendrückte, [328] als wolle er den Sterblichen, die sich ihm nahten, Muth in das zaghafte Herz flößen! Wie gern hätte sie jetzt ihren Lauscherposten hinter dem Vorhang verlassen, um hinüberzueilen und voll dankbarer Inbrunst die ringgeschmückte Hand Seiner Eminenz an die Lippen zu pressen! Wie gern hätte sie dem Erlauchten zu wissen gethan, daß auch sie eingeweiht war in den großen patriotischen Plan, daß sie die That ihres Geliebten billige, daß sie ihn selig preise, Unannehmlichkeiten und Kümmernisse ertragen zu dürfen im Dienste des hochwürdigen Cardinals Monsignore De Fabris!

Jetzt erwähnte Marsucci auch den Betrag der Belohnung, die er dem Retter des gefährdeten Vaterlandes in Aussicht stelle. Die gewaltige Ziffer, so klar und so ohne Rückhalt versprochen, wirkte auf den Apulier vollends betäubend. Das wog ja hundertfältig die Entsagungen auf, die ihm oblagen, die Kämpfe und Prüfungen! Was eine solche Ernte verhieß, war kein Opfer zu nennen! Er schwur sich heilig und theuer, die Rolle, die der Monsignore ihm zuertheilt hatte, mit eiserner Consequenz durchzuführen, und so zu verdienen. was ihm halb wie geschenkt vorkam ...

Die Unterredung währte an die zwanzig Minuten. Dann verließ der Apulier mit Emmanuele das Zimmer. Marsucci blickte hinter dem Ueberlisteten mit einem boshaft-spöttischen Grinsen her, das von Maria zum Glück nicht bemerkt wurde, denn jetzt hatte sie nur noch Augen für die hoheitsvolle, edle Gestalt ihres Geliebten.

Als die Thür sich geschlossen hatte, erhob sich der Pseudo-Cardinal aus dem Sessel, durchmaß ein paarmal, die Hände reibend, die Stube und machte dann unter dem Wandfenster Halt. Sorglich, um ja kein Geräusch zu machen, stieg Maria von ihrer Höhe herab und setzte sich auf den Schemel. Sie schloß die Augen. Ein leuchtendes Zukunftsbild zog an ihrer Seele vorüber. Glückselig lächelnd sank ihr Haupt nach rückwärts wider den Eichenschrank. So entschlummerte sie.

Nach geraumer Zeit drehte sich in der Kammerthür der Schlüssel. Es war Giulietta, die ihre Gespielin in Freiheit zu setzen kam. –

Halb noch schlaftrunken fuhr Maria empor.

„Santa Madonna!“ rief sie. „Du hast mich erschreckt, daß ich zittere.“

Dann, mit gedämpfter Stimme:

„Ist er fort? Der ... der Signore aus dem Calabrischen?“

„Noch nicht,“ flüsterte Giulietta. „Aber er sitzt bereits mit Dem, der ihn angemeldet, draußen vor der Loge des Pförtners und wartet auf ein Cabriolet. Briefe sind eingetroffen, ich glaub’ aus Florenz, daß er heute noch reisen muß.“

Die Zingarella nickte still vor sich hin.

„Sag’, Giulietta,“ hub sie nach einer Weile an, „Ihr kennt ihn nicht, den Herrn aus Calabrien? Der Wirth zum Beispiel – der kennt doch die halbe Welt –“

„Nein,“ fiel ihr Giulietta in’s Wort; „er hat zwar seinen Namen genannt, der Padrone aber entsinnt sich nicht ...“

Maria athmete auf. Die Sache war also Geheimniß geblieben. Inmitten ihrer sonnigen Träume nämlich hatte sie plötzlich eine bange Vision gehabt. Sie sah ihren Salvatore mit Ketten beladen in der Gerichtshalle, – und der Wirth vom Albergo zum „Goldnen Kreuz“ trat vor und sagte aus, er habe damals in dem mantelumwallten Fremdling, der sich für einen Kaufherrn aus Calabrien ausgegeben, den Monsignore De Fabris erkannt; er habe die Unterredung Seiner Eminenz mit Salvatore belauscht; das Alles sei abgekartet – zum großen Schaden des Allgemeinwohls, zum Verderben des Staates. Und nun sprach der Gerichtshof ein mitleidsloses Verdict aus, – nicht allein über Salvatore, sondern auch über den hochmögenden Cardinal ...

„Bist Du meinem Apulier begegnet?“ fragte Maria nach einer Weile.

„Nein,“ sagte Giulietta. „Du hattest ja auf’s Strengste befohlen ... Uebrigens, die Wahrheit zu reden. es hat mir an Zeit gefehlt, sonst hätt’ ich’s doch wohl drauf angelegt. Männer wie Salvatore sieht man nicht alle Tage. Du brauchst nicht eifersüchtig zu werden,“ fügte sie lachend hinzu. „Mein Herz ist unbetheiligt; jch liebe ihn nur mit den Augen! Das kommt von den Malern her, die wir auf Capri beherbergt haben! Die stellen sich oft wie närrisch, und vergehn vor Bewundrung, und wenn man sich einbildet, sie erobert zu haben, dann war es nur künstlerisch ... Na, jetzt aber ernsthaft: was hast Du erlauscht? Ist’s Wahrheit – oder hast Du Dir’s eingeredet?“

Maria erwog, daß die Fortsetzung ihrer Erfindung nicht mehr zweckmäßig sei. Im Gegentheil: der Eindruck, den ihre spätere Lossagung von Salvatore herbeiführen würde, war um so lebhafter, je unauflöslicher sie bis dahin mit ihm verknüpft schien.

So erklärte sie denn, ihre Vermuthung sei ein Irrthum gewesen; Salvatore sei treu und ehrlich wie je; nicht um eine Heirath habe es sich gehandelt, sondern um rein geschäftliche Dinge, um eine glänzende Stellung, die man ihrem Bräutigam angeboten – und was ihr sonst in den Sinn kam.

„Siehst Du,“ triumphirte Giulietta, „es ist doch ein wahres Sprüchwort, daß die Eisersucht eine doppelte Binde über den Augen trägt! Ich wußte es ja! Wie wäre es auch nur möglich, eine Perle wie Dich zu verlassen, um verächtliches Gold zu heirathen!“

So plauderte sie noch fünf Minuten lang, während Maria, von dem unbestimmten Gefühl beherrscht, daß sie gut thäte, sobald als möglich das Haus zu verlassen, eine lebhafte Zerstreutheit bekundete.

„Geh’ nur ganz gelassen und gleichgültig die Treppe hinab,“ sagte Giulietta, als sie endlich auf den Corridor traten. „Kein Mensch wird sich um Dich bekümmern, und schließlich wär’ es doch auch kein Unglück, wenn man erführe, Du habest hier eine Jugendgespielin aufgesucht!“

„Ich möcht’ es vermeiden. – Und nochmals, Giulietta: nicht wahr: Du schweigst, wie das Grab?“

„Ich schwör’ es Dir zu, Maria! Leb’ wohl, – und glückliche Fahrt! Grüß’ mir das trauliche Capri! Ach, Du glaubst nicht, wie ich manchmal vor Sehnsucht vergehe! Aber es hilft Nichts.“

Die Mädchen küßten sich. Langsam stieg Maria die Stufen hinab.

Da sie kein Geld mehr besaß, trat sie zunächst unweit der Chiaja in den Laden eines Juweliers und verkaufte die goldene Nadel, die sie im Haare trug. Dann begab sie sich zu Fuß nach Resina, wo sie durch Zufall eine günstige Fahrgelegenheit nach Sorrent fand. Ein befreundeter Schiffer ruderte sie von dort nach der Insel hinüber.




7.

Drei Tage später ereignete sich unweit des Teatro San Carlo jener denkwürdige Auftritt, der ganz Neapel auf Wochen hinaus in die größte Erregung stürzte.

Seine Eminenz der Cardinal Monsignore De Fabris hatte, von seinem Privatsecretär begleitet, in der bekannten vierspännigen Kalesche seine Wohnung verlassen, um dem Gesandten einer befreundeten Großmacht einen Besuch abzustatten. Wie stets, wenn die Equipage des Cardinals sich zeigte, war die Straßen entlang, durch die ihn der Weg führte, ein lebhaftes Gedränge entstanden. Das niedere Volk, das den Monsignore vergötterte, streckte von allen Seiten grüßend die Hände aus und erfüllte die Luft mit donnernden Jubel- und Hochrufen, die Seine Eminenz mit einem freundlichen Winken der rechten Hand erwiderte, ohne sich aus den behaglichen Kissen des Wagens vorzubeugen.

In der Nähe des Carlo-Theaters staute sich die immer wachsende Menschenmenge so stark, daß weder die beiden Vorreiter, noch die vier Dragoner zur Rechten und Linken der Equipage im Stande waren, ihrem Gebieter freie Bahn zu verschaffen. Im langsamsten Schritt ging es durch die schmale Mündung einer der Straßen, welche von Nordosten her auf die Piazza einlaufen.

Da, unmittelbar an der Ecke des menschenerfüllten Platzes, erkrachte ein Schuß. Eh’ noch die Menge wußte, was dieser Schuß zu bedeuten hatte, sah man bereits die hagere Gestalt des Polizei-Aspiranten Emmanuele Nacosta mit einem hochgewachsenen, blassen, auffallend schönen Jüngling verzweiflungsvoll ringen. Der Jüngling, kein Anderer als Salvatore Padovanino, hielt noch die rauchende Reiterpistole in der krampfhaft geschlossenen Faust, augenscheinlich bemüht, den zweiten Schuß wider die Brust seines wüthenden Angreifers zu entladen.

„Hülfe!“ schrie der Polizei-Aspirant. „Hülfe! Man ermordet den Cardinal!“

Jetzt, da die Mündung der Reiterpistole sich beinahe senkrecht nach oben gekehrt hatte, krachte ein zweiter Schuß, glücklicher Weise ohne Jemanden zu verletzen.

[329]

Verlassen.
Nach dem Oelgemälde von Ferdinand Pacher.

[330] „Es lebe De Fabris!“ rief die erschreckte und erbitterte Menge. Im Handumdrehen war Salvatore zu Boden gerissen. Die Lazzaroni, die sich von jeher durch einen unwiderstehlichen Hang zur Bestialität ausgezeichnet, würden ihm übel mitgespielt haben, wenn Emmanuele Nacosta nicht im Namen des Polizei-Präsidenten ihren Angriffen Einhalt gethan und den Niedergeworfenen als seinen Gefangenen in Anspruch genommen hätte.

Die Equipage des Cardinals war inzwischen weiter gefahren, und zwar mit immer wachsender Schnelligkeit; denn auf Befehl Seiner Eminenz hatten die Kriegsleute blank gezogen und, als der Anblick der entblößten Säbel nichts fruchtete, einige der hartnäckigsten Bewundrer des großen Staatsmannes unsanft mit der flachen Klinge bearbeitet, so daß die Stauung bald überwunden war. Der Monsignore De Fabris, so schneidig er sich in seinen politischen Maßnahmen auch geberdete, war im Grunde ein ängstlicher und für seine persönliche Sicherheit äußerst besorgter Herr. Sobald die Kunde von dem Vorgefallnen sein Ohr erreicht hatte, war ihm das ganze enthusiastische Getümmel des napoletanischen Pöbels als heuchlerische Komödie erschienen, bestimmt, seine Aengstlichkeit einzulullen und so den Kugeln der Mordgesellen den Weg nach seinem Herzen zu bahnen.

Auf ein Signal des Polizei-Aspiranten traten zwei oder drei seiner Amtsgenossen, sämmtlich in der gewöhnlichen Tracht der Bürger, zu der Stelle heran, wo man den wilderregten Apulier nur mit Mühe am Boden hielt. Man verschnürte ihm die Hände mit Baststricken. Dann ward er auf die Füße gestellt. Emmanuele fragte ihn barsch, wie er heiße.

Salvatore gab keine Auskunft.

Jetzt kam einer von den Dragonern, die den Wagen des Cardinals escortirt hatten, mit hochgeschwungenem Säbel zurückgesprengt, – Alles gewaltsam zur Seite treibend. Bei der Gruppe der Polizisten angelangt, machte er Halt.

„Wer von Euch hat den Meuchelmörder gefaßt?“ rief er, zu Emmanuele Nacosta gewendet.

„Ich,“ gab dieser zurück.

„Gut. Seine Eminenz der Cardinal wünscht, daß Ihr ihm heute noch über den Vorfall Bericht erstattet.“

„Seine Eminenz ist allzu gütig,“ versetzte Nacosta. Ein helles Roth stieg ihm in das hagre Gesicht: diese glückliche Wendung, die ihn sofort mit dem Cardinal in persönliche Beziehungen brachte, überraschte ihn trotz der Tollkühnheit seiner Hoffnungen.

Der Dragoner entfernte sich. Salvatore Padovanino aber ward unter den maßlosesten Schimpf- und Wuthreden der Bevölkerung abgeführt nach dem Staatsgefängniß von Pizzo Falcone.

Die Stöße und Faustschläge der entrüsteten Lazzaroni hatte er mit höhnischem Gleichmuth ertragen; sie bewiesen ihm ja, wie vollkommen Alles geglückt war, wie augenscheinlich er Dem glich, was er vorstellen wollte: einem fanatischen Missethäter. Jetzt aber, als die schwere, eisenbeschlagene Thür hinter ihm in das Schloß fiel, als der Kerkermeister die wuchtigen Riegel vorstieß und dann fluchend davontappte – jetzt befiel den Apulier doch ein heimliches Mißbehagen, das Nichts zu thun hatte mit der äußeren Unwirthlichkeit seines Aufenthalts.

(Fortsetzung folgt.)




Die Ansteckungswege der Kinderkrankheiten.

Von Dr. L. Fürst (Leipzig).
1.0 Das Wesen der Ansteckung.

Das Kind vor Ansteckung zu schützen, ist, besonders zu Zeiten, in denen der Todesengel an so manche Thür klopft und aus manchem glücklichen Familienkreise ein Kind oder selbst mehrere mitgehen heißt, ein dringender, sehr natürlicher Wunsch der Mutter. In solchen Epidemieen tritt die Bitte um Aufklärungen und Belehrungen täglich an den Arzt heran; sein eigener Wunsch, zu rathen und zu helfen, zwingt ihm das Wort auf die Lippen, die Feder in die Hand und drängt jedes in ihm auftauchende Bedenken darüber zurück, daß sich der oder jener dünkelhafte, beschränkte Geist über die „populäre“ Form einer solchen Besprechung moquiren könnte. Populär im besseren Sinne heißt einfach, ohne die oft damit verwechselte, dem Hörer oder dem Lehrer wenig schmeichelhafte Trivialität, dem Fassungsvermögen und Verständniß auch solcher Kreise angemessen, die nicht zu dem betreffenden Fach gehören.

Gemeinfaßlich eine wissenschaftliche, theoretische Forschung darstellen zu wollen, eine Frage, die über den Horizont des Nichtarztes geht, für das praktische Leben so gut wie kein Interesse hat, wäre thöricht und nutzlos. Aber gemeinfaßlich muß eine Frage der öffentlichen und häuslichen Gesundheitspflege erörtert werden, die nicht nur von höchster Bedeutung für das Haus und die Gesellschaft, sondern auch ohne die Mitwirkung einsichtsvoller Eltern, Pflegerinnen und Kinderfreunde unlösbar ist. Wer für die Nothwendigkeit volksthümlicher Darstellung von Aufgaben der Volksgesundheitspflege kein Verständniß hat, wer nicht begreift, daß Regeln der Hygiene aus der Sprache der Wissenschaft und des Gesetzes in das Praktische übersetzt, zum Gemeingut der größten Kreise gemacht werden, in Fleisch und Blut aller Schichten der Bevölkerung übergehen müssen, wenn sie durchgreifend nützen sollen, dem ist überhaupt nicht zu helfen. Der gesunde Menschenverstand und das Mitgefühl sprechen lauter, als engherziges, verrostetes Vorurtheil.

Rechtfertigt sich aber schon im Allgemeinen die volksthümliche Besprechung von Fragen der Gesundheitspflege, um wie viel klarer und selbstverständlicher ist sie in Fragen der Kinder-Gesundheitspflege. Wo es sich darum handelt, Jedermann zur Theilnahme an dem Kampfe gegen die Ansteckung in Kinderkrankheiten aufzufordern, ist geheimnißvoll-vornehmthuende Reserve geradezu lächerlich. Hier wird es Pflicht, das Schweigen zu brechen und daran zu erinnern, daß die ärztliche Kunst ja gegenüber der zum Ausbruch gelangten Krankheit meist machtlos ist, specifische Mittel fast nicht besitzt und, wie erst jüngst einer der namhaftesten Kliniker zugestand, ihren Schwerpunkt in der Verhütung der Krankheit zu suchen hat. Hier ist ein Feld, auf welchem thatsächlich viel genützt werden kann, sobald die Familie den Arzt in dem für beide gemeinsamen Bestreben unterstützt, die Uebertragung der Krankheiten einzuschränken.

Der intelligente Arzt, der, getragen von höherer Auffassung seines Berufs, dessen Hauptaufgabe nicht im Heilen des einzelnen Falles, sondern im Bekämpfen der Krankheit erkennt, wird zum Apostel der Gesundheitspflege, wenn er, in Wort oder Schrift, die Lehren der Wissenschaft, die eigenen und fremden Erfahrungen, Vielen zu Gute kommen läßt. Wenn es wahr ist, „daß jeder Mensch durchschnittlich zwanzig Tage alljährlich durch Krankheit verliert“, so lohnt sich jedes Bemühen, das Erkranken zu verhindern, am Einzelnen und an der Gesammtheit. Man lernt – besonders angesichts von Epidemieen – selbst zugreifen, anstatt thatenlos die Hände in den Schooß zu legen, oder Alles Gott und der Behörde zu überlassen.

[331] Daß gerade das Kind mehr als der Erwachsene ansteckenden Krankheiten ausgesetzt ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden. In diesem zarten Alter trifft das Krankheitsgift von Masern, Scharlach, Diphtherie, Pocken, Keuchhusten etc. auf einen hierfür besonders empfänglichen, noch allen krankmachenden Einflüssen offenem Organismus. Das Kind ist unstreitig in besonderer Gefähr, etwa ähnlich der Bevölkerung auf isolirten Inseln, die bis zur ersten Ansteckung eines ihrer Bewohner z. B. die Masern nicht kannten und nun zu Tausenden davon befallen und hingerafft wurden.

Selten und nur im Beginn ist das Auftreten von Kinderkrankheiten ein vereinzeltes. Gar bald pflegen sie, erst in der Wohnung, dann im Hause sich zu verbreiten und, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Ort zu Ort verschleppt, die Eigenschaft von Epidemieen anzunehmen. In anderen Fällen wieder nisten sie sich, im engeren Kreise einer Anstalt, einer Gebäudegruppe, einer Ortschaft „endemisch“ ein. Gelingt es nicht, die ersten Fälle einschließen und ihre Verbreitung zu verhindern, so wächst anfangs das Gespenst der Epidemie unaufhaltsam, täglich steigt die Zahl der Befallenen, dann hält sie sich auf gewisser Höhe, endlich wird sie wieder geringer, gleich als ob das Krankheitsgift sich erschöpft und abgeschwächt hätte, bis die Epidemie erlischt. Dabei kann ein und dieselbe Krankheit, z. B. Scharlach, das eine Mal eine bösartige, das andere Mal eine mehr gutartige Epidemie erzeugen.

Der eigenartige Charakter, den jede einzelne Kinderkrankheit besitzt, zwang schon lange zu der Vorstellung, daß „das Ansteckende“ einer jeden ein ganz besonderer Stoff sei; daß durch das Keuchhusten-Gift immer nur Keuchhusten, durch Diphtherie-Erreger nicht Masern, durch „Ziegenpeter“ nicht Windpocken erzeugt werden können. Aber Was und Wo ist der Ansteckungsstoff? Um den Schleichwegen, auf denen er sich verbreitet, nachzuspüren, möchte man ihn wenigstens einigermaßen kennen. Daß er als „Miasma“ in der Luft oder im Wasser oder im Boden vorhanden ist oder sich zu gewissen Zeiten entwickelt, wie die Malaria, die den Vergnügungsreisenden am Tiberstrande und den Forscher in den Flußgebieten Afrikas dahinrafft, ist bei Kinderkrankheiten sicher nur ausnahmsweise der Fall. Vielmehr neigt man sich allgemein der Ansicht zu, daß das Wesen der Ansteckung ein „Contagium“ sei, ein im Körper eines Kindes sich entwickelnder, von Kind zu Kind übertragbarer Stoff, unsichtbar, von feinster Vertheilung, außerordentlich vermehrungsfähig, oft durch Bodenverhältnisse, Klima, Witterung und dergleichen allerdings noch begünstigt, aber nicht die einzelnen, isolirten Kinder gleichsam durch eine gemeinsame Ursache befallend, sondern auf deutlich zu verfolgendem Wege weiter getragen durch den menschlichen Verkehr.

Lange Zeit erschien diese Art der Ansteckung gerade so räthselhaft, wie die durch Sinnes- und Nerveneinfluß, welche in dem interessantesten und unheimlichsten epidemischen Nervenleiden, der „Tanzwuth“, im Jahre 1374 nach dem Erlöschen des „schwarzen Todes“ ihren Ausdruck fand. Hier wirkte der Anblick halb rasender, in sinnlosen springenden Bewegungen durch die Straßen ziehender Menschen ansteckend auf die Volksmassen in den Niederlanden, in Italien, in der Rheingegend, wo die Unglücklichen in der Capelle des heiligen Veit zu Zabern und an anderen Orten von ihrem unheimlichen Leiden durch Gebete befreit wurden. Allerdings lag eine Ansteckung vor, wenn auch nur durch Nachahmung; das schwache Abbild jenes Leidens in dem „kleinen Veitstanz“, der sich bekanntlich leicht in einer Familie oder Schulclasse durch den bloßen Anblick weiter verbreitet, ist ein Beispiel für diese Form der Ansteckung. Diese „nervöse“ Uebertragung, wie sie auch beim Lachen und Weinen, bei Ruhe und Erregung, bei Jovialität und Verstimmung sich bemerkbar macht, ist in der That eine Art „Ansteckung“, ganz ähnlich dem Gähnen der Langeweile.

Seit es ansteckende Krankheiten giebt, hat sich jederzeit der Zustand der Culturentwickelung getreu in der Art und Weise wiedergespiegelt, wie man das Wesen der Ansteckung zu deuten und erklären versuchte. Daß in der Bibel jede Epidemie als ein Strafgericht Gottes dargestellt wird, ist sehr natürlich. Die Verhängung der Pest über Pharao und sein Land, die Pest zu der Zeit Davids, welche 70,000 Menschen hinraffte, die Massentödtung von 185,000 Mann während einer Nacht, vollzogen im assyrischen Lager „unrch den Engel des Herrn“, sind Beweise dieser religiösen Auffassung. Eine solche ist auch im griechischen Mythus herrschend. Die Götter waren es, welche zürnend und strafend das Sterben durch Epidemieen veranlaßten. Apollo selbst mit seinen silbernen Pfeilen bringt Pest und Verderben, so als Vergeltung für den Raub der Tochter seines Priesters Chryses durch Agamemnon:

„Plötzlich entsandt’ er das böse Geschoß, und die Männer Achajas
Starben in Haufen dahin.“

Näher unserer heutigen Auffassung stehen schon die Erklärungen der Seuchen aus historischer Zeit, so des Lagertyphus, den uns Thukydides beschreibt und den er selbst auf Ueberfüllung Athens mit Kriegern und Landbewohnern im zweiten Jahre des „Peloponnesischen Krieges“ (430 v. Chr.) zurückführt. Aehnliche Epidemien von Typhus schildern römische Geschichtsschreiber ganz rationell meist im Zusammenhange mit Krieg oder Ueberschwemmungen.

Wie tief, fast thierisch stehen gegenüber den Völkern des Alterthums die des Mittelalters da, wenn verheerende Seuchen über sie hereinbrachen! Im Orient stumme Ergebung, dumpfes Hinbrüten und eine Thatenlosigkeit, die ihre höchste Leistung in Absperrung und Vernachlässigung der unglücklichen Opfer sucht. Im Abendlande kindischer Aberglaube und wilder Fanatismus in Verfolgung Schuldloser, welche die angebliche Ursache der Epidemien sein sollten, oder zügellos-leidenschaftliche Nerven- und Geisteskrankheiten als Folgezustände von Furcht und religiöser Schwärmerei. Als im 6. Jahrhundert die Pest aus Syrien, Aegypten und dem Byzantinischen Reich über Europa hereinbrach und täglich 5000 bis 10,000 Menschen tödtete, erweckte dieses allgemeine Unglück, mit dem man die Zuchtruthe Gottes, den Kometen, sowie Erdbeben in Verbindung brachte, zwar im Anfange die edelsten Leidenschaften, Hingebung, Besserung und Buße, aber desto ungezügelter erwachten die Frevel nach dem Erlöschen der Seuche. Furchtbareres begab sich im 14. Jahrhundert, der Schreckenszeit des „schwarzen Todes“, der im Morgenlande 23, in Europa 25 Millionen Menschen dahinraffte, Deutschland allein um 1,200,000 Bewohner ärmer machte. Auch für diese Noth suchte man die Ursache zunächst in Naturerscheinungen. Wiederum spielte der Komet mit feurigem Schweif eine große Rolle. Medaillen künden uns noch den Schrecken, den er verursachte:

„Gott geb das uns der Komet-Stern
Besserung unseres Lebens lern“ –

Zeichen und Wunder waren die nothwendigen Vorläufer oder Begleiter von Volksseuchen. Meteore, Ueberschwemmung oder Dürre, vulcanische Ausbrüche, Erdbeben und Orkane sah man als Ursache der Epidemien an. Geistig-sittliche Epidemien, vor denen uns heute graut, waren die traurige Folge.

Anstatt die Ursachen der Infection aufzusuchen oder diese auf vernünftige Weise zu erklären, gab man sich entweder leichtsinnigen Ausschweifungen hin, wie bei der Pest zu Florenz, die 60,000 Opfer forderte, oder einer religiösen Verzückung, wie es die „Geißelbrüder“ thaten. Sodann beschuldigte man die Juden der Brunnenvergiftung, und tödtete zuerst in Chillon am Genfer-See, dann in vielen Städten Deutschlands in fanatischem Wahnsinn Tausende durch Feuer und Schwert, zu Mainz 12,000, zu Straßburg 2000, und so fort. Der Boden Deutschlands, zumal der Rheinlande ist von dem Blute dieser Unschuldigen getränkt. Hierzu kommen die Massenopfer, welche in Folge „blutender Hostien“ dahingemordet wurden, ein Wahnsinn, der uns jetzt um so furchtbarer erscheint, weil wir es heute durch ein leicht zu wiederholendes Experiment feststellen können, daß ein mikroskopisch kleiner Pilz auf Stärkemehl diesen rothen Farbstoff bildet, den man für Blut hielt. Es folgten vom 13. Jahrhundert an die Hexenprocesse. Die rasende Menge, welche das Ansteckende der Krankheiten nicht verstand, mußte ihr Opfer haben und Hunderte unschuldiger Frauen, denen die Folter die sinnlosesten Geständnisse erpreßt hatte, endeten auf dem Holzstoß. Fast ein Jahrhundert, nachdem der Leipziger Professor Thomasius diesen Wahnsinn verurtheilt hatte, mußte noch verstreichen, Männer wie Friedrich der Große und Joseph II. waren schon gestorben, als die letzte Hinrichtung einer Hexe stattfand. Heutzutage lächelt man, wenn eine Mutter für die Erkrankung ihres Kindes den bösen Blick, das „Beschreien“ anschuldigt, und vergißt, daß dies die letzten Spuren des Hexenglaubens sind.

[332] Nach und nach glaubte man, der Ansteckung auf andere Weise beikommen zu können. Man zündete große Holzstöße auf den Straßen an, um die Luft zu reinigen, wie dies noch jetzt in der Campagna geschieht. Man verbrannte grünes Holz, Kräuter etc., um damit zu räuchern. Man erschütterte die Luft durch Kanonendonner und Glockenläuten. Noch unsere Voreltern wendeten zur Verhütung des Erkrankens Aderlässe und Abführmittel an, ein Verfahren, welches sich aus den Tagen des Mittelalters herschreibt, und wenigstens einen schwachen Versuch ärztlicher Ueberlegung repräsentirt.

Erst vom Ende des vorigen Jahrhunderts an beginnen wissenschaftliche Erklärungsversuche für das epidemische Auftreten mancher Krankheiten. Bald ist es das Auftreten gasiger Ansteckungsproducte, bald eine „Gährung“, die man als Ursache der Epidemien ansieht. Aber erst den letzten Jahrzehnten war es vorbehalten, allmählich den Schleier zu lüften, der über diesem Entsetzen verbreitenden, geheimnißvollen Wesen der Seuchen ruht – eine Forscher-Arbeit, die erst zum kleinen Theile gelöst ist, aber in den jüngst verflossenen Jahren bereits die überraschendsten Entdeckungen hervorgebracht hat.

Die kleinsten pflanzlichen Gebilde, Pilze von so winzigen Verhältnissen, daß man sie nur mit den stärksten Mikroskopen, mit künstlichen Beleuchtungs- und Färbemethoden zu erkennen vermag, sind als die Erreger und Verbreiter ansteckender Krankheiten erkannt. Was man Jahrtausende lang als etwas Unfaßbares, Unerklärliches zu betrachten gewohnt war, es ergiebt sich als die enorme Wucherung gewisser pflanzlicher Parasiten, einzelliger kleinster Gebilde, die sich durch Theilung in der Körperwärme so rasch vermehren, daß einer dieser feinen Spaltpilze in einem Tage 16 Millionen erzeugen kann. Es ist dies eine Einwanderung, die den Organismus des Menschen, wenn sie sich dort eingenistet hat, zu Grunde zu richten vermag.

Sonntagmorgen.
Nach dem Oelgemälde von O. Schulz.

Wie im Leben überhaupt, so zeigt sich auch in diesem Falle wieder, daß unbekannte, unsichtbare, kleine Feinde oft viel schlimmer sind, als große, offen entgegentretende. Die letzteren kann man erkennen, vermeiden, selbst bekämpfen. Der auf heimlichen Schleichpfaden sich nahenden, verborgenen Feinde, die weniger durch ihre einzelne Bedeutung als durch ihre Zahl schaden, kann man sich kaum erwehren. Berge der schönsten Rebenpflanzungen, üppig bestandene Kartoffel- und Getreidefelder, gewaltige Wälder werden von ihnen zerstört. Nichts ist vor ihnen sicher; nichts hemmt ihren Lauf. Ein einziger solcher Pllzkeim, der in einem Apfel auftritt, steckt die andern daneben lagernden an; ein anderer rafft das stattliche Rindvieh eines Stalles hin, einem dritten fallen Millionen Krebse oder Seidenraupen zum Opfer. In der Milch, im Brod, im Fleisch, in Allem was wir genießen und was uns umgiebt, ja in uns selbst sind diese Pilze enthalten. Unser Körper widersteht ihnen durch seine Lebensenergie, aber wenn sie sinkt, dann sind diese kleinsten Feinde, denen er Trotz bot, schon auf der Lauer, sind mächtiger als er, und noch ist der Athem nicht entflogen, so haben sie bereits von unserer „irdischen Hülle“ Besitz ergriffen. Nicht immer vermag der Körper den in ihn eindringenden kleinen Mikrokokken (den Rundzellen-Pilzen) oder Bacterien (Oval-Pilzen) oder Bacillen (Stäbchenzellen-Pilzen) Widerstand zu leisten; sie erfüllen seine Gewebe, zerstören sie, und der „Herr der Schöpfung“ muß nur zu oft jener verächtlichen Sippe erliegen, die sich wuchernd, Alles durchdringend, seiner Organe bemächtigt. – In der Pilzlehre oder Parasiten-Theorie ist wahrscheinlich auch für einen großen Theil der ansteckenden Kinderkrankheiten der Schlüssel gegeben. Theils kennt man schon die den einzelnen Krankheiten eigenthümlichen Pilzarten, theils ist man ihnen auf der Spur, und weiß wenigstens, woran sie haften, wie sie in den Körper eindringen, wodurch sie weiterverbreitet werden. Mit der Kenntniß des Feindes wächst die Möglichkeit, sich und sein Haus vor ihm zu schützen. Wenn die Mutter weiß, daß diese ihrem Kinde gefährlichen kleinsten Organismen bei Masern im Blut, in den Thränen, im Nasenschleim, in den Hautschuppen sich finden, bei Scharlach in den letzteren und in den Ausscheidungen, bei Diphtherie in den Belegen, bei Keuchhusten im Auswurf, bei Typhus in den Entleerungen, wenn sie weiß, daß die Luft um den Kranken von ihnen erfüllt ist, so ist damit schon viel gewonnen. Viel, wenn auch noch nicht Alles. Denn bekanntlich sind auch der Boden, das Trinkwasser, das Grundwasser etc. oft Sitz der Krankheitskeime; unsere Umgebung, der wir uns nicht leicht entziehen können, wird uns verhängnißvoll.

Wir kennen also das Wesen der Ansteckung. Wie aber die Krankheits-Erreger auf den Körper übergehen, wie sie sich weiter verbreiten, das muß einer besonderen, zusammenhängenden Betrachtung unterworfen werden.




[333]

Die Repser Burg.0 Originalzeichnung von R. Püttner.

Eine Sachsenburg in Siebenbürgen.

Im Jahrgang 1869, Nr. 30 stellte die „Gartenlaube“ ihren Lesern zwei Burgen des Siebenbürger Sachsenlandes, das Honigberger Castell und die Burg Rosenau, in Wort und Bild dar. Dort ist auch die Erklärung über den Ursprung und die Bedeutung dieser Befestigungen gegeben. Es waren und sind nicht Ritterburgen, sondern Bürger- und Bauernburgen. Dem Orden der deutschen Ritter war allerdings von dem ungarischen König Andreas II. das wüste Burzenland zur Niederlassung angewiesen, und sie hatten mit staunenswerther Rührigkeit dort in kürzester Zeit Festen, wie namentlich die Marienburg, als ihren Hauptsitz, gebaut, deutsche Colonisten herbeigezogen und ihr Gebiet durch Eroberungszüge in die Walachei vergrößert. Da sie aber den mit dem König abgeschlossenen Vertrag wohl hier und da außer Acht ließen, mußten sie schon nach dreizehn Jahren, 1225, das Land wieder räumen und zogen von da nach Preußen. Mit ihnen erlosch der Ritterstand bei den Sachsen.

Die Lage des Landes, in der Nähe der gefährlichsten Feinde, zwang die deutschen Bürger und Bauern selbst zu beständiger Wehrhaftigkeit, und da sie in der Werkstatt wie auf dem Acker stets die Waffen zur Hand haben mußten, so lehrten Erfahrung und Noth sie bald auch, für Weib und Kinder und das bewegliche Hab und Gut Schutz zu suchen: sie verwandelten das festeste Gebäude jedes Orts, die Kirche, zum Castell und bauten, wo sich ihnen ein passender Berg oder Hügel in nächster Nähe dazu bot, je der Größe des Orts und seiner Bewohnerzahl entsprechende Burgen. Die meisten Kirchen lagen in der Mitte der Ortschaften, und so sind die Castelle, wo sie oder ihre Trümmer sich erhalten haben, noch heute ihr Schmuck. Sie bestehen aus einem starken, mit Vertheidigungsthürmen versehenen Mauerring, an welchem im Innern ein oft mehrere Stockwerke hoher Anbau mit so viel Kammern, als Familien untergebracht werden mußten, angebaut war. Auch durfte es nicht an Schwibbogen, Gewölben und Kellern zur Unterbringung von Vieh und Geräthschaften fehlen. Noch heute werden namentlich die Kammern in den erhaltenen Bauten oft zur feuersicheren Aufbewahrung der Ernten benutzt. In den Burgen findet man natürlich dieselbe Einrichtung, nur daß diese weit fester und vertheidigungsfähiger waren.

Eine der umfangreichsten und stärksten dieser Burgen war die des Marktfleckens Reps, einst der Zufluchtsort von etwa zweitausend Bewohnern des Orts. Reps gehört zu den ältesten deutschen Niederlassungen in Siebenbürgen, es war, nachdem König Geisa II. (1141 bis 1161) zum Schutz seines Landes und seiner Krone gegen die walachischen Raubhorden Colonisten aus Flandern und vom Niederrhein in’s Land gezogen, nach Hermannstadt, Leschkirch und Schenk die vierte Colonie. Die Burg ist schon im 13. Jahrhundert erbaut, eine gewaltige Feste mit dreifacher Ringmauer. Wenn man auf der Eisenbahn von Schäßburg nach Kronstadt der Stelle sich nähert, wo dieselbe in das Homorod-Thal eintritt, öffnet sich zur Rechten das Koßbachthal und der Blick auf Reps mit dem etwa 120 Meter über der Thalsohle aufragenden Basaltberg, von welchem uns die Burg entgegenschaut. Die Besteigung derselben ist an der Süd- und Ostseite des Weges nicht schwer, da hier die Häuser und Obstgärten des Orts bis nahe an die erste Ringmauer aufsteigen, während nach Nord und West die Felsen steil abfallen.

Das hart auf den Fels aufgesetzte Mauerwerk erscheint in seinem Altersgrau wie mit diesem verwachsen. Vieles an Thürmen und Mauern ist zerfallen, nur auf dem höchsten Felsplateau steht ein neu hergestelltes Häuschen, und von hier ist der freie Blick in die Landschaft ein entzückender. Da strecken sich am Fuß des Bergs die langen geraden Gassen von Reps aus mit ihren netten Häusern, stattlichen Wirthschaftsgebäuden und üppigen Obstgärten. Die Häuser der Deutschen zeichnen sich im Sachsenland überall durch soliden Steinbau mit Ziegelbedachung aus, während die Ungarn sich mit leichtem Holzbau begnügen und die Walachen meist in Lehmhütten hausen. Auf dem Repser Marktplatz mit der evangelischen Kirche, dem Rathhaus, der Schule und Pfarrwohnung und den stattlichsten Wohngebäuden fühlt man sich wie mitten in Deutschland, nicht wie wenige Meilen von der ehemaligen türkischen Grenze entfernt. Daß der Ort sich eines Schwefelbades und einer Salzquelle erfreut, sei nur nebenbei bemerkt.

Richten wir den Blick in die Ferne, so eröffnet sich nach Osten das Altthal bis zu den spitzen Felsenkegeln der Kalkgebirge von Rákos und Uermös, im fernen Süden grüßen die Gebirge des Burzenlandes und der Zeidner Berg herüber, und nach Westen ragt über das wellige Hügelland mit seinen Auen und Wäldern und Dörfern mit hellleuchtenden Kirchen und Thürmen empor das Fogarascher Hochgebirg mit dem ewigen Schnee seiner Häupter. [334] Während wir aber von dem hohen Standpunkt durch das Trümmerwerk zurück vor das Burgthor wandeln, mag sich wohl unserem Herzen ein Vergleich aufdrängen, der uns das Auge trübt. Unwillkürlich denkt man an Albert’s Lied von der Repser Burg:

„Aus Gartengrün und Aehrengarben,
In hoher trotziger Gestalt,
Erhebt der Berg, gefurcht mit Narben,
Die Felsenstirne von Basalt.

D’rauf ruht, dereinst dem Feind zum Hohne,
Und blickt in’s Land so kühn, so weit
Die thurmgeschmückte Mauerkrone –
Ein Zeuge der vergangnen Zeit.

O Felsenburg! mit ernstem Mahnen,
Zeigst du in die Vergangenheit,
Ein Grabesdenkmal uns’rer Ahnen;
Ein Bild vielleicht auch uns’rer Zeit.

Weh’, wenn wir diesen Mauern gleichen,
So trüb erhellt vom Abendschein,
Ein öder Bau voll Trümmerleichen,
Ein still zerfallendes Gestein!“

Gottlob ist noch keine Furcht vonnöthen, daß dieses traurige Bild zur Wahrheit werde, wie bitter wir auch die Zustände der Gegenwart im alten Sachsenlande beklagen müssen. Gerade diese Bauernburgen sind die lautesten Zeugen für die Unverwüstlichkeit eines Volksstammes, der seit siebenhundert Jahren den fürchterlichsten Kriegsstürmen von außen und unsäglichen Bedrängnissen im Innern getrotzt hat. Jede dieser Bauernburgen hat ihre blutige Geschichte. Man wird nur schwer ein zweites Völkchen von der Macht der Sachsen aufstellen, das an Kämpfen und Drangsalen Gleiches bestanden hat und doch noch besteht. Wie oft haben sie in ihren Kämpfen gegen Walachen und Türken, ja selbst gegen die Ungarn und ihre eigenen Gewalthaber auf Leben und Tod gefochten, wie oft haben die Bewohner weiter Strecken nichts als das nackte Leben in ihre Dorfcastelle oder Bergburgen gerettet, wie oft ist ihr Hab und Gut in Flammen aufgegangen, und sie mußten Alles, vom verwüsteten Feld bis zu Haus und Hütte von Neuem bauen, – und immer blühte neues Leben aus allen ihren Ruinen. Wahrlich, wir Deutsche dürfen stolz sein auf ein solches Volk deutschen Stammes und Namens. Aber auch den Ungarn gebührte es und stände es gar wohl an, die Geschichte dieses tapferen Völkleins mit gerechtem Stolze der Geschichte Ungarns einzuverleiben. Wenn der Magyar seine Ritterlichkeit auf das Glänzendste vor aller Welt bethätigen will, so muß er vor Allem die Tapferkeit ehren und würdigen, und wenn er seine Geschichte nicht selbst erniedrigen will, so muß er es dankbar rühmen und preisen, daß mehr als einmal der sächsische Heldenmut, die tüchtige Bewaffnung und Kriegführung der Sachsen die ersten Anstürme der schlimmsten Feinde Ungarns aufgenommen, mehr als einmal sich für Ungarn geopfert hat. Eine ritterliche Nation darf solche Blätter ihrer Geschichte nicht vergessen, der wahre ritterliche Sinn wird lieber einem tapferen Gegner die Hand zum Bunde reichen, als seinen Stolz darin suchen, diesen Gegner zu knechten, seiner angeborenen geistigen Würde zu berauben und ihn zu dem feilen Haufen zu werfen, der sich – gesinnungslos und feig oder um schnöden Vortheils willen jede beliebige Nationalität aufprägen läßt. Wir möchten uns sehr gern der Ueberzeugung freuen, daß diese Ritterlichkeit in dem tapfern Volke der Magyaren noch zum Sieg gelangt, ihm zur höchsten Ehre. Friedrich Hofmann.     


Das neueste deutsche Bühnendrama.

Von Rudolf von Gottschall.
III.[1]

Wie Putlitz, so verfolgten auch Leopold L’Arronge und Ernst Wichert in ihren Dramen eine Richtung, welche sich an diejenige von Roderich Benedix anschließt, während, wie wir gesehen, Paul Lindau und Hugo Buerger der neufranzösischen Sittenkomödie Gefolgschaft leisten.

L’Ärronge kommt von der Berliner Posse her und unterscheidet sich von Benedix gerade darin, daß er diese Herkunft nicht verleugnen kann und in seine Stücke einzelne oft sehr wirksame possenhafte Motive verwebt. So verdankt sein „Doctor Klaus“ einen nicht geringen Theil des großen Erfolges den Scenen im Sprechzimmer des Doctors, wo dessen Kutscher als Stellvertreter agirt und mit seinen Pfusch- und Wundercuren das Publicum höchlich ergötzt. Aehnliche komische Scenen und Motive finden sich in den „Sorglosen“, dem „Compagnon“ und andern Stücken, während Benedix mit einer gewissen Peinlichkeit alle Wirkungen verschmähte, die ihm aus der Lustspielsphäre herauszufallen schienen. Davon abgesehen hat aber L’Arronge mit Benedix den sittlichen Ernst gemein, den Trieb, die Menschen zu bessern und zu bekehren, indem er ihnen den Spiegel vorhält, in welchem sie ihre Fehler und Schwächen erblicken. Und zwar hat L’Arronge mit besonderer Vorliebe die verfehlten Erziehungsmethoden der Eltern, ihren Leichtsinn oder ihre allzugroße Strenge, ihre Affenliebe und grenzenlose Nachgiebigkeit satirisch gegeißelt. Seine Dramen bilden ein Album der pädagogischen Auswüchse und Krankheiten, und so anerkennenswerth dessen Tendenz ist, so kann doch durch die mannigfachsten Arabesken die Einförmigkeit derselben nicht ganz verdeckt werden.

Den ersten Schritt aus der Berliner Posse zum Volksdrama that L’Arronge mit „Mein Leopold“, einem Stücke, das als ein glücklicher Wurf bezeichnet werden muß. Obgleich noch behaftet mit dem gesanglichen Aufputze der Posse, entfaltet sich dasselbe doch zu einem Charaktergemälde mit tüchtiger gediegener Charakteristik: der in seinen Sohn kindisch verliebte Vater, der ihn durch Verwöhnung und Verzärtelung in’s Verderben stürzt, der wackere Schuhmachergeselle mit der göttlichen Grobheit, der soliden bürgerlichen Moral, das Vatersöhnchen selbst und seine brave Schwester: das sind tüchtige mit festem Griffel ausgeführte Zeichnungen, und auch die Scenen aus dem Volksleben sind frisch ohne schwankartige Aufdringlichkeit.

In dem Lustspiele „Hasemann und seine Töchter“ hat L’Arronge das letzte Band abgestreift, das seine Erzeugnisse an die Berliner Gesangsposse knüpfte; hier gab es weder Couplet, noch Gesang, obschon Papa Hasemann in seinen Coursbüchern und bei seinen Eisenbahnmalheurs reichlichen Stoff für derartige musikalische Ergüsse finden konnte. Die Töchter des Herrn Hasemann werden von der Mutter verzogen, bis es dem Vater zu bunt wird und er mit starker Hand das Steuerruder des auf den Wellen treibenden Familienschiffes ergreift. Es geschieht dies nicht ohne eine Art von gewaltsamem Ruck, bei welchem der Charakter etwas aus den Fugen geht. In den „Wohlthätigen Frauen“ wird die Vereinsmanie der Mütter gegeißelt, welche darüber ihre Kinder vernachlässigen, in „Haus Lonei“ die finstere Strenge der Väter, welche die Söhne zur Verzweiflung bringt: dies Stück hat ernste, fast tragische Reflexe. Im „Compagnon“ sehen wir einen allzu zärtlichen Vater, der bei seiner verheiratheten Tochter eine parasitische Existenz führt und dem jungen Ehepaare in jeder Hinsicht zur Last fällt: kurz, die Stücke von L’Arronge sind ein pädagogischer Spiegel, für Väter und Mütter und solche, die es werden wollen.

In „Die Sorglosen“ wird die Eitelkeit der Familien an den Pranger gestellt, die über ihre Verhältnisse hinaus leben und sich dabei noch von allerlei Hochstaplern düpiren lassen. L’Arronge tritt überall mit der handgreiflichsten moralischen Tendenz auf, weiß aber die bittern Pillen des Reformpredigers mit allerlei heiterem Ueberguß zu verzuckern. Dies gilt besonders von seinem „Doctor Klaus“, in welchem Stücke zwar auch der schwache und verblendete Vater nicht fehlt, in dessen Mittelpunkt aber ein tüchtiger bürgerlicher Charakter steht, welchem Pflichterfüllung das höchste Gesetz ist.

Ernst Wichert hat nie dem Cultus der Posse an den Ufern der Spree und der Panke gehuldigt; er lebt in der Stadt der [335] reinen Vernunft, und der Schatten Kant’s, der dort zwar nicht mehr auf seinem Philosophendamme wandern kann, seitdem ihn der Lärm der Locomotiven verscheucht hat, der aber doch von den Ufern des Pregels sich nicht vertreiben läßt, stimmt hier die Jugend ernster. So hat auch Wichert anfangs historische Dramen gedichtet, wie der „Wiking von Samland“, ehe er der heitern Muse huldigte. Sein glücklichster Wurf auf dem Gebiete des Lustspiels war „Ein Schritt vom Wege“, ein Stück von lebhafter Introduction und heiterer, frischer Entwickelung. Es herrscht hier die „reine Vernunft“, welche romantische Launen zur Ordnung ruft und vor allen Experimenten warnt, die von der geraden Heerstraße des Lebens abführen.

In diesem Kampfe gegen die Genialitätsmarotten liegt eine feinsinnige Moral, die nicht so hausbacken ist wie diejenige der Stücke von L’Arronge, freilich auch nicht von so allgemeiner Tragweite; denn zu solchen genialen Ausschreitungen sind nur wenige Naturen geneigt. Auch „Peter Munck“ ist eine moralisirende Gedankendichtung, gegen die Herzlosigkeit der „Männer von Eisen“ gerichtet, welche ihrem äußeren Glücksstande jedes Opfer bringen. Die Sprache in „Peter Munck“ ist oft echt poetisch und gedankenreich: doch die Zauberschleier der Raimund’schen Muse flattern allzu locker und luftig über einer sehr realistisch gehaltenen Dichtung, deren Motive doch magischer und dämonischer Art sind. „Der Narr des Glücks“, dem immer gleichsam die Thür der Fortuna vor der Nase zugeschlagen wird, ist ein echter Lustspielheld; doch bringt hier ein Motiv aus dem Kreise der neufranzösischen Dramatik, des „Père prodigue“ und ähnlicher Stücke, einen fremdartigen Zug in das kleinstädtische deutsche Familiengemälde. „Ein Freund des Fürsten“ schlägt einen etwas höheren Ton an im Stile des Hackländer’schen „Geheimen Agenten“. Auch die andern Lustspiele Wichert’s zeigen das Bestreben eines verständigen und bühnengewandten Autors, das Theater zu einer Stätte sinniger Erheiterung zu machen, bei der ein gediegener Ernst mindestens im Hintergrunde lauscht. Das ist auch die Physiognomie der Lustspiele von Otto Gensichen, wie „Die Märchentante“ und „Frau Aspasia“ und diejenige der feinsinnigen Bluetten von Feodor Wehl.

Ganz anders gehn die Dichter der flotten Lustspielschwänke zu Werke, welche gegenwärtig die deutsche Bühne beherrschen; hier erscheint die komische Muse bald im Festgewande des Salonstückes, bald in den Hemdärmeln der Posse: die Handlung hat meistens einen athemlosen blitzartigen Verlauf und läßt das Publicum so wenig wie möglich zur Besinnung kommen; was die Jagd auf Witze betrifft, so wird darin bald mit grobem, bald mit feinem Schrot geschossem. Ist der Wurf der Handlung ein glücklicher und wird das Schwankartige noch mit einer gewissen Decenz behandelt, so können solche Stücke dem Ideal eines guten Lustspiels nahe genug kommen; ja wir werden aus diesem Bereiche einige verzeichnen, welche nicht nur zu den erfolgreichsten, sondern auch zu den besten Lustspielen der jüngsten Epoche gehören, während die große Mehrzahl durch die bunte Häufung burlesker Motive unter jedes literarische Niveau herabsinkt.

Einer der Führer dieser lustigen Schaar ist Julius Rosen (Nikolaus Duffek), der eine anerkennenswerthe Virtuosität in der Geschwindigkeit und Behendigkeit besitzt mit der er beliebige aus dem Leben gegriffene Stoffe auf die Bühne lancirt. Oft ist die Handlung wie aus der Pistole geschossen; sie beginnt mit einem totalen Wirrwarr, der sich erst allmählich klärt.

So ist’s in „Kanonenfutter“, „Citronen“ und vielen andern Stücken Rosen’s: die Schwankmuse feiert ihre Orgien. Den Purzelbäumen der Handlung entsprechen oft die Purzelbäume der Charaktere. Der Lustspielschwank ist ja bei der Posse in die Schule gegangen, und in der Posse verdirbt ja das Couplet die Charaktere, indem es wie eine Schellenkappe von Kopf zu Kopf wandert, mag es wohl oder übel passen. Solche gesprochene Couplets finden sich in allen Schwänken. Rosen’s Talent ist indeß keineswegs gering zu schätzen; er hat jene Schnellfertigkeit Kotzebue’s, die nie verlegen um Erfindungen ist und die Verwickelungen aus dem Aermel streut; freilich beruhen sie oft auf dem marionettenhaften Gebahren der Helden, welche sich da in Schweigen hüllen, wo jeder vernünftige, nicht an den Drähten des Lustspieldichters tanzende Mensch sprechen würde; mit einem einzigen Worte aber würde die ganze Verwickelung explodiren. Rosen hat indeß manchen glücklichen Wurf gethan, wie in dem Lustspiele „O diese Männer!“ in welchem ein Grundgedanke sich sehr glücklich in einer Menge von dramatischen Varianten ausprägt.

Ein Geistesverwandter Rosen’s ist der Socialdemokrat Leopold von Schweitzer[WS 1], welcher in seinen Mußestunden der ernsten und heitern Dramendichtung huldigte. Schweitzer hatte oft ganz gute Lustspielgedanken, mit denen er aber nicht recht hauszuhalten wußte, z. B. in „Das Vorrecht des Genies“, „Die Darwinisten“, auch in seinem besten Lustspiele „Epidemisch“, in welchem die alle Kreise ergreifende Speculationsmanie in ganz erheiternder Weise geschildert ist. Ebenso sucht 'Rudolf Kneisel irgend einen Lustspielgedanken in einer entsprechenden, bisweilen etwas schablonenhaften dramatischen Architektonik durchzuführen, wie in „Emma’s Roman“, „Das einzige Gedicht“, „Die Tochter Belial’s“ und in anderen mit richtigem Instincte gewählten und behandelten Stoffen, die aber in seiner dramaturgischen Retorte niemals recht ausgekocht werden.

Dagegen kümmert sich einer der heitersten Lieblinge Thaliens, Gustav von Moser, nicht im Entferntesten um Grundgedanken und irgend welche komische Thesen, die mit dramatischer Dialektik gelöst werden sollen; er greift frisch hinein in’s menschliche, besonders in’s soldatische Leben, faßt einen guten Cameraden, hält ihn fest und schleppt ihn auf die Bühne. Mit unverwüstlicher guter Laune, die Hände in den Hosentaschen, geht sein Humor spazieren, und was ihm in den Weg kommt, ein kleines Begebniß, eine humoristische Redewendung, das wird für ihn sogleich zum Kern, um den sich ein Lustspiel krystallisirt. Diese gute Laune in ihrer vollendeten Harmlosigkeit ist ein glänzender Vorzug der Moser’schen Lustspiele; sie sind nirgends angekränkelt von der bleichen Farbe der Reflexion; es klafft kein Riß zwischen dem, was der Dichter wollte, und dem, was er leistete: er wollte eben nur, was er leistete. Da ist nichts Absichtliches, nichts Gezwungenes. Was er giebt, ist oft wenig in Bezug auf geistige Quintessenz; aber er giebt es mit einem so gewinnenden Lächeln, einer so selbstgenügsamen Fröhlichkeit, daß man es hinnimmt ohne einen Schmerzenszug der Enttäuschung im Gesicht.

Gustav von Moser begann mit Einactern, die meistens mit Geschick dramatisch gegliedert waren und recht artige Pointen hatten; dann folgten die größeren Lustspiele, bei denen er in der Regel Mitarbeiter hatte, anonyme oder solche, die auf dem Zettel genannt wurden. So schrieb er mit Benedix das „Stiftungsfest“, mehrere Stücke zusammen mit Stanislaus Lesser, andere mit Franz von Schönthan und Otto Girndt, mit seiner Frau, mit der Schwägerin seiner Tochter, Gräfin Bethusy-Huc, mit Autoren, deren Namen noch nicht in der dramatischen Literatur aufgetaucht waren. Die Mitarbeiterschaft ist in Deutschland bisher nur bei Possen üblich gewesen; Moser ist der Erste, der nach französischem Muster sie auch beim Lustspiele eingeführt hat. Es ist nicht leicht, einen Blick in dies Atelier zu thun und zu sagen, wo Moser aufhört und wo seine Mitarbeiter anfangen. Beim „Stiftungsfest“ war der Entwurf beiden Autoren gemeinsam; die Grundlage des Textes hatte Benedix geschrieben; dann hatte Moser diesem Texte die Lichter seiner guten Laune und kleiner Theatereffecte aufgesetzt. Dies aber war wieder Benedix nicht genehm; er meinte, das Stück sei dadurch zum Schwank geworden, und dazu wollte er nicht seinen Namen geben. So trennten sich die Autoren, noch ehe ihr Werk über die Bühne ging: wir erhielten zwei Stiftungsfeste, von denen dasjenige mit Moser’s schwankartigen Mätzchen fast über alle Bühnen ging, während die solide Arbeit von Benedix ziemlich unbeachtet blieb. Später war Moser glücklicher mit seinen Mitarbeitern; man hat nie von Zwistigkeiten und Zerwürfnissen gehört; bisweilen scheint indeß seine eigene Thätigkeit nicht viel über die Retouche und kleine scenische Einlagen hinausgegangen zu sein.

Moser hat mancherlei Stücke aus dem bürgerlichen Leben geschaffen: „Ultimo“, ein erfolgreiches Stück von sehr lockerer Composition und ohne jede Einheit, „Der Hypochonder“ mit etwas trivialen kleinbürgerlichen Motiven, „Der Sclave“, „Onkel Grog“, „Glück bei Frauen“ und andere, Treffer und Nieten bunt durch einander; doch seine eigentlichen Lorbern wachsen auf dem Gebiete des Officierlustspiels; „Der Veilchenfresser“ und „Krieg im Frieden“ sind ohne Zweifel seine besten Stücke, und auch den auf das Gebiet der Gesangsposse abschweifenden „Reif-Reiflingen“ mag man sich noch gefallen lassen. In diesen Stücken [336] herrscht Munterkeit und Lebensfrische; die Verwickelungen sind einfach, aber ansprechend, die Lösung ist heiter und ungezwungen, der Dialog nicht geistsprühend, aber jovial und lebendig. Diese Spiegelbilder unseres Officierslebens zeigen in Ton und Haltung, wie sehr dasselbe sich verfeinert und veredelt hat seit der Zeit, als Julius von Voß die liederlichen Fähnriche und Lieutenants der unglücklichsten Epoche der preußischen Geschichte mit ihrem ganzen haarsträubenden Cynismus auf die Bühne brachte.

Bei „Krieg im Frieden“ hatte sich Franz von Schönthan als Mitarbeiter betheiligt: ein Autor, der vorher einige waghalsige, aber lustige Schwänke, wie „Sodom und Gomorrha“, verfaßt hatte und später in „Ein Schwabenstreich“ und „Roderich Haller“ in die Bahn des solideren, aber etwas mit Chargen bevölkerten Lustspiels einlenkte. In beiden Stücken spielen literarische Interessen und Fragen mit, aber sie sind vom Standpunkte der seichtesten Belletristik behandelt. Vergleicht man damit die geistvolle Behandlungsweise solcher Themata in der Bühnenliteratur unserer jungdeutschen Epoche, so sieht man, daß unser Theater seit jener Zeit auf ein tieferes geistiges Niveau herabgedrückt worden ist.

Neben dem Lustspiele und dem Lustspielschwanke führt die Posse noch immer ein auskömmliches Leben, obschon ihre Glanzzeit vorüber ist. Die Berliner Possendichter Jacobson, Mannstein, Wilken, Treptow bewegen sich noch immer im Geleis von Kalisch und Emil Pohl: doch ist die Zeit des soi-disant classischen Coupletwitzes vorüber und derselbe sickert ziemlich dürftig in den Rinnen der alten Schablone fort.

Wie indeß in den Schwanklustspielen oft Stoffe aufgegriffen sind, die in die Posse gehören, so wird man umgekehrt in den Possen oft durch ganz glückliche Lustspielmotive überrascht, die aber natürlich hier verpuffen, weil sie in keiner Weise durchgearbeitet sind. Die frühere Ausstattungsposse findet jetzt nur noch einen beschränkten Kreis; die Ausstattungsstücke haben einen ernsteren Ton, und es überwiegt das balletartige Ensemble wie „Frau Venus“ und „Excelsior“ mit Blumenthal’s poetischer Illustration, wie diese Zugstücke des Berliner Victoriatheaters beweisen.

Neben der breiten Masse der Lustspieldichtung in Prosa geht indeß auch, wenngleich nur sporadisch, das stilvolle Lustspiel, das Lustspiel in Versen einher, welches nach spanischen Mustern, mit epigrammatischem Federballspiel und poetisch facettirten Belustigungen des Witzes eine meist in Maskenscherzen verlaufende Handlung begleitet. Hier ist tonangebend und im Ganzen bisher vereinsamt der Nibelungendichter und -Rhetor Wilhelm Jordan, der seine Lustspiele „Die Liebesleugner“ und „Durch’s Ohr“ trotz ihres vornehmen Tons mit Erfolg auf die Bühne gebracht hat.

Die dramatische Production der jüngsten Zeit ist regsam; es fehlt auch nicht an neu auftauchenden Talenten; doch das Publicum ist im Ganzen kühl und spröde geworden auch dem Besseren gegenüber. Es fehlt der begeisterte Zug, welcher z. B. die jungdeutsche Epoche charakterisirte. Oper und Operette stehen im Vordergrunde des Interesses: die erstere mit verschwenderischer Pracht und zugleich mit dem Anspruche des Kunstwerkes der Zukunft, die alleinberechtigte Bühnendichtung zu sein. Das recitirende Drama hat einen schwierigeren Stand als früher, doch es wird diese Uebergangsepoche überwinden und von den Ausschreitungen und Irrthümern derselben Nutzen ziehen.


Volksirrungen in der Sprache.[2]

Maulwurf und Heuschrecke. – Liebstöckel und Tausendgüldenkraut. – Sündfluth, Wetterleuchten. – Kegelschieben, Schur, Treff. – Schönbartspiel, Kümmelblättchen. – Flitterwochen. – Friedhof. – Zu guter Letzt.

Kaum hat der Frühling siegreich den Winter aus dem Felde geschlagen, kaum hat der fleißige Gärtner den Boden seines Gartens umgeackert und in musterhafter Weise durch Harke und Walze geebnet, so ist auch schon mit dem Frühling „das Verderben erwacht und lauert nicht länger verborgen; denn plötzlich bricht aus dem Hinterhalt der Feind“ – aller Ebenen der ohne Rücksicht auf äußere Schönheit des Bodens und auf die noch so zarten Pflänzlein seine Erdhügel aufwirft und nicht selten dadurch eine große Anzahl der Lieblinge des betriebsamen Gärtners und Landmannes, – der Maulwurf. Und treibt er sein Zerstörungswerk denn wirklich mit dem „Maule“, wie sein Name zu sagen scheint und wie vielleicht manch ein wackerer Landmann annehmen wird? Nicht genug, daß die Gelehrten dem widersprechen und uns beweisen, daß der kleine Bösewicht die Erde keineswegs mit dem Maule, sondern mit den Schaufeln seiner Vorderfüße aufwirft, müssen wir das ursprüngliche Vorhandensein des Wortes Maul in seinem Namen überhaupt in Abrede stellen. Das altdeutsche Wort moltworf, das über multwurf, mûlwurk zu unserm Maulwurf wurde, will nur ein Thier bezeichnen, welches die molte, d. h. die Erde, aufwirft, gleichviel mit welchen Werkzeugen es dabei arbeitet. So ist der Maulwurf nichts als der Erdaufwerfer.

Nicht weniger Unrecht als dem Maulwurf thut man gemeiniglich einem andern Garten- und Wiesenthierchen, der Heuschrecke, bei deren Namen man wohl an den Schrecken denkt, den das plötzlich aufspringende Geschöpf dem stillen Wanderer einjagt. Eine boshafte Zeit hat sie sogar der ihr ursprünglich innewohnenden Mannheit beraubt, während noch das so gefühlvolle Lied des Bruder Studio

„Was ein g’rechter Heuschreck is,
Sitzt im Sommer auf der Wies,
Auf der Wiese muß er singen,
Allweil hin und wieder springen, etc.“

dem Männlichen im Geschlechte des Thierleins gerecht wird. Ja noch mehr, das hochpoetische Lied führt uns sogar durch seine Hervorhebung der Thätigkeit des schreckhaften Springers auf das dem zweiten Theile des Wortes zu Grunde liegende Zeitwort schrekken = springen, hüpfen. Der hewiskrekkeo (hewi = Gras, Heu) ist also durchaus nichts weiter als ein ganz unschuldiger Grashüpfer, dem man sehr mit Unrecht etwaige Erschreckungsgelüste zumuthet.

Besonders viel sprachliche Irrungen des Volkes lassen sich in seinen Pflanzenbenennungen nachweisen; aus der reichen Zahl seien nur zwei hervorgehoben. Wie poetisch klingt nicht der Name Liebstöckel! Ein Blumenstöckchen der Liebe scheint es zu sein und ist doch im Grunde nichts anderes, als eine Wortentstellung der lateinischen Benennung der Pflanze ligusticum (das heißt in Ligurien heimisch) und seiner Nebenform levisticum. Schon im Mittelhochdeutschen heißt es lübestecke und öfter noch liebstuckel, woraus denn unser Liebstöckel entstanden ist. – Doch was ist dies Alles verglichen mit der Entstehung des deutschen Namens der Herba Centauria, des Tausendgüldenkrautes! Diese Benennung hat eine förmliche Geschichte ihrer Entstehung. Den lateinischen Namen trägt die Pflanze zu Ehren des Kentauren Chiron, des Kroniden, der, in allen Wissenschaften, besonders aber in der Arzneikunde wohl erfahren, in seiner am Pelion gelegenen Höhle viele Heldenjünglinge und Göttersöhne unterrichtet hat; so den Herakles, den göttlichen Asklepios, den Jason und endlich den „Renner“ Achilles. Eine Zeit, welche den heilkundigen Kentauren nicht mehr kannte, zerlegte sich die Benennung seiner Pflanze in centum (hundert) und aurum (Gold) und schuf sich so ein Hundertguldenkraut. Indeß war dies Wort eine mehr gelehrte als volksthümliche Schöpfung. Die Zahl Hundert ist nie so volksthümlich im Gebrauch gewesen, wie Tausend, welches namentlich dazu diente, hyperbolische Mengebezeichnungen in Zahlen auszudrücken. Noch heute ruft der Verliebte: Tausend Grüße send’ ich Dir; wie wenig volksthümlich würde es klingen? wenn er sagte „hundert Grüße“, und „ich grüße Dich viel tausendmal“ singt das schöne Mendelssohn’sche Lied. So ist auch in unserem Worte aus hundert tausend geworden, so aus der Pflanze des alten Kentauren irrthümlich und doch so schön unser liebliches, auch poetisch verklärtes Tausendgüldenkraut.

Noch die Puttkamer’sche Orthographie läßt dem Schreibenden die Wahl zwischen der Schreibung Sündfluth und Sintfluth, und

[337]

Die Schneeziege.
Originalzeichnung von Fr. Specht.

[338] doch, wie gewaltig verschieden ist der Sinn der einen von dem der andern! Das ursprünglich allein Richtige ist die sinfluot oder sintfluot, in welcher sin, sint etwas Großes, Ausgedehntes und lange Anhaltendes (vergl. angelsächsisch sinlîf = ewiges Leben und unsere Pflanze Singrün = Immergrün) bedeutet; da nun diese große Fluth der allgemeinen Sündhaftigkeit der verderbten oder zu verderbenden Menschheit halber eintrat, so ward sie dem Volke und selbst den Gelehrten zur Sündfluth, wie sie z. B. in Luther’s Bibel erscheint. Und nicht nur die gedankliche Zusammenstellung der Worte, auch die äußere wörtliche hat diesen Uebergang sehr erleichtert; spricht doch schon Meister Heinrich Frauenlob (gestorben 1318) von menschlîcher sünden sintfluot. Man sieht, von hier aus bis zu der irrthümlichen und doch wieder treffenden Umbildung des Wortes zur Sündfluth konnte nur ein sehr kleiner Schritt sein.

Nicht minder schön hat das Volk sich aus der Erscheinung des „leuchtenden“ Blitzes bei einem fernen Gewitter oder einfach „Wetter“, wie es in Weber’s Freischütz „aufzieht“, die Bezeichnung Wetterleuchten gebildet, ein Wort, das in Schiller’s „Schlacht“ als Wetterleucht erscheint, und das doch in seiner ursprünglichen Gestalt weterleich mit leuchten ableitlich nichts gemein hat, sondern in Folge der Bedeutung seiner letzten Silbe leich lediglich als ein „Spiel“ und besonders als ein certamen, als ein Kampfspiel der Elemente aufzufassen ist. Das Wort leich ist in einzelnen Gegenden Deutschlands noch in der Bedeutung Spiel erhalten, wie denn der Thüringer eine bestimmte Art des Kegelspiels einen Kegelleich nennt. Und wie stolz ist er, wenn ihm nicht im Wortspiele mit „Treff“ (frz. trèfle, lat. trifolium, Kleeblatt), der hier meist Eicheln genannten Farbe der Karte, zugerufen zu werden braucht: „Treff ist Trumpf“; wie erhaben über alle Anderen fühlt er sich, wenn er es versteht möglichst viele Schuren (fälschlich oft jour gesprochen) zu schieben; wie wenig denkt er bei Gebrauch dieses Wortes schieben daran, daß man eigentlich nicht schieben, sondern „scheiben“ (schîben), das heißt die Kugeln rollend fortbewegen sagen müßte, wie der Baier auch richtiger noch spricht, und daß man erst den Sinn des Fortschiebens der Kugel oder Umschiebens der Kegel in das Zeitwort hinein legte, als das ursprüngliche scheiben anfing unverständlich zu werden.

Da wir einmal von den Naturerscheinungen zu den Spielen übergegangen sind, so mag uns zunächst noch das Nürnberger Schönbartspiel darthun, wie willkürlich das Volk oft mit den überlieferten, dem ursprünglichen Sinne nach aber allmählich nicht mehr verstandenen Worten verfährt. So nahe es nun auch liegt, bei Betrachtung des Namens an „schön“ zu denken, so sehr muß doch hervorgehoben werden, daß in der älteren Gestalt des Wortes schemebart der erste Bestandtheil scema, scheme eine oft sogar sehr „unschöne“ Larve oder Maske bezeichnet, daß der Name also für ein Spiel gebraucht sein will, dessen Theilnehmer in meist bärtigen Gesichtsmasken auftreten.

Und wem wäre nicht das namentlich in unserer Kaiserstadt beliebte Kümmelblättchen bekannt! Aber hast du wirklich, wenn du je diesem Spiele zugeschaut, die Spielenden so große Massen des edlen Kümmeltrankes vertilgen sehen, daß dir der Name des Spiels als von dieser Aeußerlichkeit hergenommen erscheint? Viel bezeichnender ist die richtige Ableitung, welche es als ein Spiel mit drei Karten hinstellt und dem Namen das Wort gimel zu Grunde legt, das sowohl den dritten Buchstaben des hebräischen Alphabets bedeutet, als auch für die Zahl drei in dieser Sprache gebräuchlich ist.

Woher leiten unsere verheiratheten Leserinnen die Bezeichnung der vielleicht schönsten Zeit der Ehe ab, den Namen der Flitterwochen? Gewiß wird der in den ersten Monden der Ehe so überaus willfährige Mann sein holdes Gemahl gerade in dieser Rosen- oder, wie der süßlichere Franzose meint, Honigzeit reich mit Flitter und Tand aller Art ausstatten, aber da sich selbstverständlich nur der bemittelte Gatte den Ankauf derartiger zum Theil sehr überflüssiger Gegenstände gestatten kann, so giebt es in der Ehe ärmerer Erdenbewohner überhaupt wohl keine Flitterwochen im eigentlichen Sinne? Wenn wir das Wort von Flitter, Tand ableiten, allerdings nicht; glücklicher Weise aber hat es damit nichts gemein, sondern stammt ab von dem altdeutschen Zeitworte flitarazjan, welches „schmeichelnd liebkosen“ (französisch flatter) bezeichnet, und vermöge dessen die Flitterwochen nun zu einer Zeit werden, welche so recht eigentlich die Zeit der Liebkosungen genannt werden kann, gleichviel ob das „gevlitter“ im Palaste des Reichen oder in der sogenannten „kleinsten Hütte“ die liebenden Herzen erfreut.

Vom Scherz zum Ernst! Vielleicht das schönste Beispiel irrthümlicher Umdeutung eines Wortes im Volksmunde, einer Umdeutung, welche dem Worte im Laufe der Zeit einen ungleich tieferen Sinn verliehen hat, als er in der ursprünglichen Gestalt und Bedeutung desselben lag, bietet unser Friedhof dar. Ursprünglich bezeichnete das Wort einen Hof, der in Folge der Ableitung seiner ersten Silbe vom altdeutschen vrîten (schonen) vom Anbau verschont bleiben sollte, der daher auch meist eingefriedigt wurde, in den nur die edelste aller Saaten eingesenkt werden sollte, wie Schiller’s Glocke ernst andeutet, einen „Freithof“, wie der Süddeutsche noch heute etymologisch richtig sagt. Aber im Laufe der Zeit hat ihn unser Volk in irrthümlicher Vertauschung des unverstandenen ersten Theiles des Wortes mit dem naheliegenden vride (Friede) zu einem Hofe umgewandelt, in welchem das Menschenherz endlich den langersehnten Frieden finden soll, den die rauhe Welt da draußen ihm nimmer geben kann.

Und nun „zu guter Letzt“ sei dieser Redensart selbst gedacht. Wenn schon ganz ungezwungen in ihr der Sinn des „Letzten“, des Endes einer Handlung zu liegen scheint, so hat sie doch mit diesem Letzten nichts zu thun, sondern stammt ab von letze, der Abschied, ein Wort, das seinerseits wieder dem letzten Geschenke oder Trunke sein Dasein verdankt, mit welchem der Scheidende sich noch einmal letzte; ist doch dem Schweizer die letzi noch heute der Abschiedsschmaus, und die Letzipredigt eine Abschiedspredigt. Unsern Volksliedern ist die Redensart „Jemandem etwas zur Letze lassen“ besonders als „beim Scheiden ein Andenken hinterlassen“ bekannt, und ihre letzte Anwendung in der Schriftsprache unserer Classiker dürfte sie in den Worten Wieland’s gefunden haben:

„Wie sie zu guter Letze
Den goldenen Becher mir bot.“

Dr. Söhns.     

Blätter und Blüthen.

Die Schneeziege. (Mit Abbildung S. 337.) Die Schneeziege (Capra lanigera) gehört zu den charakteristischsten Thiererscheinungen der nordamerikanischen Wildnisse, sie steht so vereinzelt unter ihren Verwandten da, wie die gleichfalls dort hausende Gabelgemse, und wenig Kunde von ihr ist bisher noch zu uns gekommen, ja selbst in unseren Museen ist sie fast noch gar nicht vertreten. Sie wird zu den Halbziegen gezählt, da ihr rundes kantenloses Gehörn sie den Antilopen nähert, aber ihr sonstiger Bau ist ganz ziegenartig. Auch in der Größe kommt sie unserer Hausziege gleich; doch ist die Behaarung anders, denn außer am Vorderkopfe und den Ohren ist das ganze Thier mit einem dichten und langen Pelze bedeckt. Die Färbung ist durchgehends gelblichweiß. Eigenthümlich ist eine vom Nacken bis zum Schwanzende gehende, sehr scharf abgegrenzte Mähne, die dem Thiere ein wildes Aussehen giebt und es auch viel größer erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit ist.

Die Schneeziegen bewohnen den nördlichen Theil des Felsengebirges und sind besonders häufig im Quellgebiete des Columbiaflusses. Hier hausen sie im Sommer in den höchsten Regionen dieser wilden Berge und weiden die spärlich vorkommenden Flechten, Moose und Alpenpflanzen, am liebsten an der Grenze des ewigen Schnees, ab, um bei drohender Gefahr sogleich in der mit ihrem Kleide so gleichfarbigen Schneewildniß zu verschwinden. In kühnen Sätzen geht es dann über Schluchten und Grate, in raschem Galopp oft an den Rändern schauerlich gähnender Abgründe vorbei, indem ein Thier hinter dem andern hergeht, geführt von einem alten Bocke. Sie klettern und springen mit außerordentlicher Gewandtheit und Sicherheit und scheinen dabei kaum den Boden zu berühren. Diese Behendigkeit, verbunden mit großer Vorsicht und sehr scharfen Sinnen, macht es dem Menschen äußerst schwierig, ihr beizukommen, und nur sehr leidenschaftliche Alpenjäger und dann und wann Indianer stellen ihr nach. Letztere auch nicht mehr so, wie früher, da selbst diesen wenig verwöhnten Naturkindern der starke Bockgeschmack des Fleisches nicht zusagt und das Pelzwerk, welches früher viel getragen wurde, aus der Mode gekommen ist und daher schlecht bezahlt wird.

Außer dem Menschen hat die Schneeziege noch Bär, Luchs und Wolf zu fürchten, auch macht ihr zuweilen das weit stärkere Berg- oder Dickhornschaf die Weideplätze streitig. Nur ungern und von der äußersten Noth des strengen Winters gezwungen, verlassen die Trupps ihre sicheren [339] Hochalpen, um sich in die tieferen und gefährlicheren Waldregionen herabzuziehen. Hier werden sie auch am ehesten erlegt, doch ist ihre Jagd auch da noch äußerst schwierig und nur von sehr geübten Jägern mit Erfolg zu betreiben. Gefährlicher als der Mensch werden ihnen hier hungrige Wölfe.

Oft hat ein Trupp Ziegen einen Wald betreten, nachdem die Wachen vorsichtig das Terrain ausgekundschaftet haben. Nichts Verdächtiges zeigt sich ihren Blicken. Weder Ohr noch Nase haben einen Ruhestörer wahrnehmen können. So begeben sich die Thiere an die Stellen, wo unter dichtem Nadeldache noch frei von Schnee das Moos hervorsieht. Immer halten einige Thiere Wache, und selbst die äsenden sehen von Zeit zu Zeit umher.

Doch ihr Feind, der beutehungrige Wolf, ist ebenso vorsichtig wie sie. Weit sind die Vorposten der Wolfsrudel umhergeschweift, viele sind zum Gros zurückgekehrt, ohne günstige Nachrichten bringen zu können, und sind heulend von der hungrigen Gesellschaft empfangen worden. Da wird plötzlich ein Genosse dieser Räuberbande sichtbar, der im eiligen Laufe mit Zeichen freudiger Erregung zurückkehrt. Er hatte auf seinen Streifereien Witterung von der Ziegenheerde bekommen und vorsichtig sich unter dem Winde angeschlichen, bis er durch ein Gebüsch hindurch die Heerde beobachten konnte. Am liebsten hätte er sich gleich auf eines der Thiere geworfen, allein die Ziegen vermeiden es sorgfältig, sich einem Gegenstande zu nähern, hinter welchem ein Feind lauern könnte. Da schien es dem Meister Isegrimm gerathener mit seinen Genossen die Heerde einzuschließen, um sie sicher einander in den Rachen zu jagen. Kaum hatten nun die Wölfe die triumphirenden Geberden ihres Genossen bemerkt, als sie auch alle auf ihn zueilten – und bald war man über den Jagdplan einig.

Der Entdecker voran eilt das Corps der Rache lautlos, aber rasch der Fährte des ersteren nach. Sobald sie Wind von der Heerde bekommen haben, schleichen sie langsamer und entsenden zwei lange Flügel, um die Beute zu umgehen, immer weiter Abstand von derselben haltend, je mehr sie ihr in den Wind kommen könnte. So schleichen sie, stets Deckung suchend, sich lautlos um den Trupp herum, während die zuerst Zurückgebliebenen, hinter Buschwerk ungeduldig die arglos weidenden Thiere beobachten. Nun nähern sich auch die beiden Flügel immer mehr, und kaum erblicken sich die vordersten Räuber, so stürzen sie in rasendem Lauf, in schiefer Linie sich einander nähernd, auf die Heerde zu. Jetzt hat auch diese das verdächtige Geräusch und Wind von ihren Feinden wahrgenommen. Durch die Zeichen ihrer Wachen aufgeschreckt, flieht sie nach der entgegengesetzten Seite, doch hier stürzen ihnen schon die aus ihrer Ungeduld erlösten Räuber entgegen, die ersten Thiere bereits niederreißend. Entsetzt prallen die Ziegen zurück, doch nach welcher Seite hin sie sich auch wenden, überall eilt ihnen das Verderben entgegen. In wilder Verwirrung rennt die Heerde durcheinander, nirgends ist eine Felsspalte oder ein steiler Felsen, über die ihnen die Wölfe nicht folgen könnten, und nur wenigen gelingt es die furchtbare Treiberkette zu durchbrechen. Bald ist auch das letzte Thier geschlagen und dann bezeichnen nur noch Wolle, Blut und Knochenreste den Schauplatz dieser grausamen Schlächterei. M.     


Sonntagmorgen. (Mit Illustration S. 332.) Ehedem war es nicht blos auf dem Lande, sondern auch in den Städten oder wenigstens den kleineren städtischen Ortschaften schöne Sitte, daß Frauen und Mädchen sich an Sonn- und Festtagen für den Gang zur Kirche einen gewöhnlich nur aus wenigen Blumen bestehenden Strauß pflückten, der gleichsam als Schmuck des Gesangbuchs getragen wurde. Auf dem Lande hat diese Sitte sich in vielen Gegenden Deutschlands erhalten. Die Blumen wählt man, wie die Jahreszeit sie bietet. Hauptsächlich pflegt man dazu die kleinen Blumengärten vor vielen Bauernhäusern, und wo der Garten fehlt, stehen sicherlich auf einem Blumenbrett die Töpfe voll sorglich gehüteter Blüthen- und Blattpflanzen für den Kirchgang zu Gebote. Das fromme und heitere Landmädchen, das unser Künstler uns vorführt, lebt für uns in der wonnigen Maienzeit, ein Maiglockensträußchen ist der Schmuck ihres Gesangbuchs. Frühling und Jugend grüßen uns so anmuthend aus diesem Bilde, daß wir’s nicht ansehen können, ohne eine Sonntagsregung, vielleicht sogar eine mit Wehmuth gemischte, wenn die Jugend gar zu weit hinter dem Beschauer liegt, im Herzen zu spüren.


Vermißte.

Ehe wir mit dem Abdruck der Vermißten-Liste fortfahren, haben wir eine Bemerkung mitzutheilen, um deren Beachtung wir bitten.

Es muß nämlich wiederholt darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Namen aller in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Vermißten nicht unter „Blätter und Blüthen“ der „Gartenlaube“ veröffentlicht, sondern auf den Umschlägen der für Nordamerika bestimmten Heftausgabe unseres Blattes abgedruckt werden. Bei der großen Auflage derselben finden sie dort eine weite Verbreitung. Außerdem ist die Zahl der in Nordamerika vermißten Deutschen so groß, wie die in der gesammten übrigen Welt. Die Ursache ist eine doppelte: 1) die starke deutsche Bevölkerung der Union und der unaufhörliche Einwanderungsstrom aus Deutschland; 2) aber vor Allem der unausrottbare Leichtsinn in der Behandlung der Briefadressen. Die Mehrzahl unserer Auswanderer ist des Englischen unkundig und bringt in glücklichem Fall die deutsche Volksschulbildung mit hinüber. Schreiben kann wohl Jedes, wenn aber an der ersten festen Heimstätte der Brief an die Verwandten in der alten Heimath geschrieben wird, leiden’s Bequemlichkeit oder Scheu nicht, sich nach der geographischen Bezeichnung des betreffenden Orts genau zu erkundigen, sondern man schreibt den Namen so, wie man ihn aussprechen hört. Daß kein anderes Land der Welt so viele in allen Staaten gleichlautende Ortsnamen hat, weiß man auch nicht, man nennt höchstens den Staat, vergißt aber County und Township anzugeben, und so kommt der Brief nach Deutschland. Die Verwandten, ziemlich auf gleicher Bildungsstufe, malen die wildfremden Namen auf ihren Antwortadressen getreu nach – und schicken nach Amerika einen Brief, der dort so wenig bestellbar ist, als wenn Einer aus Amerika nach Deutschland adressirte: „An Herrn Müller in Neustadt.“ – Der Amerikaner wartet vergeblich auf Antwort und schreibt nicht mehr, und für die Deutschen ist – ein Vermißter fertig. Wir reden aus Erfahrung, uns kommen solche haarsträubende Adressen zu Hunderten in den Bittbriefen wegen amerikanischer Vermißten vor: über die Hälfte der letzteren entsteht auf die angegebene Weise. Wenn unsere Landsleute in Amerika sich bemühen, die Adressen ihrer Briefe richtig zu schreiben, wird die Zahl der Vermißten bedeutend abnehmen.

Fortsetzung der Vermißten von Nr. 14:

20) Wilhelm Friedrich Wegner verließ im Sommer 1857 Riga als Matrose am Bord des Schiffes „Elisabeth von Riga“. Später soll er sich nach Australien eingeschifft haben, und zwar 1858. Indessen haben die Seinen nie wieder etwas von ihm gehört. Seine Mutter lebt noch.

21) Gottfried Franz Krieg aus Hettstädt, Kreis Mansfeld, ist vor vier Jahren auf die Wanderschaft gegangen, und sein Vater hat bis jetzt keine Nachricht von ihm. Derselbe ist sehr betrübt und hofft, daß sein Sohn noch lebt.

22) Ein armer Vater, beinahe 70 Jahre alt, sucht noch immer seinen seit 20 Jahren verschollenen Sohn. Cornelius Rövenstrunk war 19 Jahre alt, als er ging, und ist seitdem spurlos verschwunden. Wenn er noch lebt, soll er seinen Vater, welcher mit Sehnsucht Nachricht erwartet, nicht länger warten lassen.

23) Ferdinand Heinrich Ludwig Mosch, geboren 1835 zu Magdeburg, Maschinenbauer, diente im Jahre 1862 als Pionnier in Mainz. Er war im September desselben Jahres nach Konitz zu seinen Eltern beurlaubt und kehrte nicht wieder in seine Garnison Mainz zurück. Die Nachforschungen der Militärbehörde blieben erfolglos. Vielleicht lebt der Vermißte noch und giebt seiner Mutter baldigst ein Lebenszeichen.

24) Eine Tochter sucht ihren im Jahre 1857 von Ostrowo, Provinz Posen, nach Brasilien ausgewanderten Vater, Ernst Traugott Fiscal. Derselbe schrieb im Jahre 1860, daß er in Bahia in Brasilien in einer Fabrik arbeite. Er war krank, wurde wieder hergestellt, doch fehlt seit dieser Zeit jedes Lebenszeichen von ihm.

25) Der Bau-Unternehmer W. Diebow, aus Trentow in Vorpommern, verheirathet, begab sich im Jahre 1879, angeblich um sein Glück zu versuchen, nach Süddeutschland. Von Regensburg und Passau aus erhielt seine Gattin noch zwei Briefe von ihm, doch nach diesen nichts mehr. Der Vermißte machte im Jahre 1870 und 1871 den Feldzug mit. Die Gattin, welche unterdessen in eine traurige Lage gekommen ist, bittet um Nachricht.

26) August Lehmann, Strumpfwirker aus Belgern bei Torgau, hat sich am zweiten Pfingsttage 1882 aus Delitzsch entfernt, ohne daß seine Frau bis jetzt eine Spur von ihm finden konnte.

27) Bernhard Stephan Klose, geboren zu Oberlogau in Schlesien, Maler, verheirathet, ist seit dem Jahre 1876 verschollen. Seine Geschwister suchen ihn.

28) Jacob Beker aus Heldenbergen, Schneidergeselle, geboren 23. December 1855, ist spurlos verschwunden seit dem 14. Mai 1879.

29) Der Korbmacher Friedrich Wilhelm Gierth, geboren 1837 zu Großnaundorf bei Radeberg, wanderte 1864 nach Amsterdam, 1870 nach London, woselbst er ein Korbgeschäft errichtete. Später wollte er sich nach Brüssel wenden – von da an fehlt aber jede Nachricht über ihn.

30) Franz Theodor Teich aus Nehmitz in Sachsen, der im Jahre 1855 nach Australien reiste und glücklich in Hobarttown landete, wird von seinem Bruder in Leipzig um ein Lebenszeichen gebeten.

31) A. E. Otto Jahn, Mühlen- und Maschinenbautechniker, geboren zu Altenburg, wird wegen Erbtheilung aufgefordert, seinen Aufenthaltsort anzugeben.

32) Wilhelm Kauder hat sich am 8. Juli 1883 aus Glogau und aus dem Elternhause entfernt, ohne daß ein Grund vorliegt, der sein Verschwinden rechtfertigen könnte. Alle Nachforschungen waren bis jetzt erfolglos, seine Eltern bitten um Nachricht.

33) Wilhelm Mais aus Beienheim (Wetterau) ging vor 12 Jahren auf Reisen und hat seitdem nichts von sich hören lassen. Seine Eltern sind indessen gestorben und seine Brüder bitten um ein Zeichen von ihm.

34) Ernst Friedrich Gustav Mühlner, geboren am 27. Februar 1847 in Eutritzsch bei Leipzig, ging im Jahre 1868 unter dem Namen Gustav Weis über Frankreich nach Ostindien, von da zurück nach England, und wollte sich später in Amerika dauernd niederlassen. Seine besorgte Mutter sucht ihn.

35) Otto Böttger, geboren am 23. Juni 1861 zu Schöna bei Schandau, Kaufmannslehrling, verschwand im Jahre 1877 aus Bärenstein bei Annaberg. Im Jahre 1878 schrieb er noch aus Lüneburg, scheint sich wahrscheinlich nach Paris, dem Ziel seiner Sehnsucht, gewendet zu haben. Die Seinen bitten dringend um ein Lebenszeichen.

36) Christian Rump aus Stettin, 1843 geboren, ging im Jahre 1872 von Hamburg als Schiffszimmermann nach Buenos Ayres und hat von da aus nicht wieder geschrieben. Sein Bruder sucht ihn.

37) Franz Schuhmann aus Magdeburg, Schlosser, hat im Jahre 1882, im Juli, Weib und Kind verlassen und seitdem keine Nachricht von sich gegeben. Die Seinen hoffen sehnlichst auf ein Lebenszeichen von dem Gatten und Vater.

38) Stanislas Rosbisbal reiste im Winter 1880 nach Brasilien. In seinem letzten Briefe aus diesem Jahre gab er seine Adresse an. Alle Briefe aber, unter der angegebenen Adresse an ihn gesandt, sind unbeantwortet zurückgekommen.

39) August Prueß, geboren im Jahre 1848, ging im Jahre 1871 als Schiffszimmermann von Hamburg nach England, um dann nach Brasilien zu gehen. Von Lima aus hat er die letzten Nachrichten gegeben, und ist seitdem für seine Eltern und Geschwister verschollen.

(Fortsetzung folgt.)

[340] „Die Dummen werden nicht alle!“ An diesen von dem zu früh verstorbenen Dr. Bock bei seinem Ankämpfen gegen den Geheimmittelschwindel so oft angewandten Satz wurde ich jedesmal erinnert, wenn ich im Laufe der letzten Jahre folgende immer wieder auftauchende Annonce zu Gesicht bekam: „Wer sein Geld, circa 3- bis 10,000 Mark sicher anlegen will, kann sich im Stillen an einem soliden Geschäfte betheiligen. Genügende Sicherheit und ein monatlicher Gewinn von 30 Mark pro 1000 Mark schriftlich garantirt.“ Manchmal beginnt die Annonce auch mit „Stiller Theilhaber für ein lucratives Geschäft gesucht“ oder „Zur Vergrößerung meines lohnenden Geschäfts suche ich“ etc. Der Zweck, kleinere Capitalien von 3000 bis 15,000 Mark zu suchen, ist jedoch stets derselbe, wie auch die in Aussicht gestellten Zinsen sich auf mindestens 30 bis 36 Procent pro Jahr beziffern.

Jeder einigermaßen erfahrene Geschäftsmann weiß nun, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, bei solidem Geschäftsbetriebe einem sogenannten stillen Theilhaber derartige Zinsen zu zahlen, und es wird daher aus diesen Kreisen nicht leicht Jemand auf den Leim gehen. Für alleinstehende Personen, namentlich auch solche von dienstlicher Stellung mit bescheidenen Einnahmen, ist es dagegen oft zu verlockend, aus ihrem kleinen, meist durch jahrzehntelanges Sparen sauer erworbenen Vermögen eine so hohe Rente zu ziehen. Aus diesen Ständen, welche weniger Geschäftskenntniß besitzen und mit Rücksicht auf ihre amtliche und gesellschaftliche Stellung die Einmischung der Gerichte scheuen müssen, werden nun hauptsächlich die Opfer des Schwindels gesucht, der der Hauptsache nach in folgender Weise vor sich geht:

Auf die erste Anfrage, welche sich nach der Art des Geschäftes erkundigt, wird mitgetheilt, daß es sich um Erweiterung eines „Lombardgeschäftes“ handle. Daß dies in Wirklichkeit ein Privatpfandleihgeschäft bedeutet, das gegen hohe Zinsen Werthgegenstände belehnt und wohl auch verschiedene unsaubere Nebengeschäfte betreibt, ist dem verblendeten Opfer wohl in den seltensten Fällen bekannt. Etwaige Bedenken werden unterdrückt, zumal der Geldsuchende „Discretion als Ehrensache betrachtet“, also Niemand etwas davon erfährt.

Der eigentliche Geschäftsabschluß vollzieht sich weder am Sitze des Geldsuchenden, noch des Ausleihenden – beide haben ein Interesse daran, hierfür einen dritten Ort zu wählen. Hier empfängt nun das verblendete Opfer für sein gutes Geld Brillanten und Goldsachen, welche anscheinend den doppelten und dreifachen Werth der auszuleihenden Summe darstellen. In Wirklichkeit sind sie jedoch imitirt. Das biedere und sichere Auftreten des neuen Geschäftsfreundes hindert aber den zu Prellenden an der Echtheit auch nur leise zu zweifeln, und so kehrt er mit den vermeintlichen Schätzen und den besten Hoffnungen in die Heimath zurück, nachdem er vorher einen ausführlichen, wohlverklauselten Contract unterzeichnet hat.

Schon im zweiten, oder wohl gar gleich im ersten Monat bleibt der erhoffte Gewinn, von dem man sich eine Besserung der ganzen Lebenslage versprochen hatte, aus.

Das Ende vom Liede ist traurig: es wird gemahnt, gebeten, gedroht, das Geld ist unwiederbringlich verloren. Der einzige Weg, der noch Aussicht auf Erfolg hätte, nämlich sofort die Hülfe der Gerichte anzurufen, wird in der Regel nicht eingeschlagen. Dem Gerupften wird von seinem Compagnon schließlich reiner Wein eingeschenkt, nämlich daß er sich an einem nicht ganz reinen Geschäft betheiligt habe, und er muß am Ende noch froh sein, wenn Niemand von der Angelegenheit erfährt, deren Veröffentlichung ihn um seinen bisherigen tadellosen Ruf oder wohl gar um Amt und Stellung bringen könnte.

Auf diese Weise wird Jahr für Jahr eine große Anzahl kleiner Capitalisten geprellt. In welchem Umfange das Geschäft betrieben wird, geht schon daraus hervor, daß Tausende allein für Annoncen ausgegeben werden.

Die Dummen scheinen eben absolut nicht alle werden zu wollen. Gewarnt sollen sie aber immerhin werden. L.     


Die kleinste politische Gemeinde des Reichs. In einem jener freundlichen thüringischen Winkel unseres starken deutschen Vaterlandes, in denen die Grenzen von drei, ja vier der kleineren Glieder desselben zuweilen so eng an einander fließen, daß, wie der Volksmund in trefflicher Bezeichnung sich ausdrückt, ein Scatspiel möglich ist, bei welchem jeder Spieler in einem andern Staate zwar in dem Lande sitzt, dem er als Staatsbürger angehört, dort liegt die wahrscheinlich kleinste politische Gemeinde des Reichs. Es ist dies die Gemeinde Poris, Herzogthum Sachsen-Altenburg, Amtsgerichtsbezirk Ronneburg. Alles in Allem genommen besteht dieselbe aus zwei Bauergütern mit 15 Bewohnern. Nur in Bezug auf Kirche und Schule steht diese kleinste Gemeinde Deutschlands in Verbindung mit den Nachbargemeinden, in allen weltlichen bez. politischen Angelegenheiten dagegen hat sie ihr eigenes Regiment. Dasselbe wird von dem einen der beiden Bürger der Gemeinde, dem Bürgermeister, ausgeübt. So hat die Gemeinde auch ihre eigene Polizeiverwaltung, die sie – ohne Pickelhaube und Schutzmannschaft – mit Strenge und – Klugheit pflegt. Auf das letzterwähnte Moment deutet wenigstens die Fassung des ortspolizeilichen Anschlags hin: „In der Gemeinde Poris wird Bettlern Nichts verabreicht.“ Wohlthuend berührt diese Art des Ausdruckes den Feind alles Vagabondenthums. Wie anders dagegen, wenn es heißt: „Das Betteln ist bei 5 Mark Strafe verboten.“ Als ob die übergroße Mehrzahl der Genossen jener Sippe, deren Wahrzeichen der abgezogene Hut und deren Wahlspruch das Wort ist „Verzeihen Sie, ein armer Reisender!“ je über 5 Mark zu verfügen hätte, um diese als Strafgeld in die Hände eines Organs der Polizei niederlegen zu können!

Einen Vorzug besitzt diese kleinste Gemeinde vor den meisten ihrer umfangreichen Schwestern: sie hat keine Schulden. Die Leistungen aber werden – und dies bedeutet gleichfalls einen nicht zu unterschätzenden Vorzug – ohne langwierige, sehr häufig vom Geiste politischer Parteistellnng dictirte Debatten im Schooße der Gemeindevertretung aufgebracht. Der Bürgermeister kommt eben zu seinem Bürger und dann werden die Beitragsquoten nach Maßgabe des beiderseitigen Grundbesitzes vertheilt. Ein weiterer Vorzug der kleinsten Gemeinde vor den allermeisten andern besteht ferner darin, daß sie niemals Anleihen aufnimmt. Schon das Aeußere des kleinen Ortes deutet auf gediegene Wohlhabenheit. So gewährt dies kleinste politische Gemeinwesen innerhalb der deutschen Grenzpfähle zugleich das erfreuliche Bild geordneter Selbstverwaltung. H. Meißner.     


Nochmals das deutsche Forstwaisenhaus. Die gute Sache nimmt einen guten Fortgang. Bei der Nebensammelstelle in Gr. Schönebeck, Rgbz. Potsdam (dem Sitz des zu gründenden Waisenhauses) sind des weiteren folgende Gaben eingelaufen: Strafgelder bei einer Treibjagd, gesammelt durch Herrn Oberförster Schräge zu Astrawischkey 37 M.; durch Herrn Oberforstmeister Borggrewe in Münden gesammelt 34 M.; durch die „Gartenlaube“ gesammelt 538 M. 80 Pf.


Allerlei Kurzweil.


Schach.

SCHWARZ

WEISS

Problem Nr. 5.

Von Dr. S. Gold

in Wien.


Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Ketten-Räthsel.

An die STelle der Kreuzchen sind folgende Buchstaben: 6 a, 2 b, 3 d, 5 e, 2 g, 1 h, 3 i, 1 k, 3 l, 2 m, 1 n, 2 o, 1 p, 5 r, 3 s, 2 u, 1 x so zu vertheilen, daß in der Reihenfolge der Zahlen 1 bis 8 zu lesen ist als:

1. Ring: eine Bezeichnung für Wappenkunde,
2. Ring: ein berühmter Spartaner,
3. Ring: eine Königin von Spanien,
4. Ring: eine in der Geschichte Karl’s d. G. genannte Burg,
5. Ring: eine der größten, schönsten und reichsten Städte Frankreichs,
6. Ring: der Name für eine Art kurzes Gedicht.

Die an die Verknotungspunkte der Ringe, in die kleinen Kreise kommenden fünf Buchstaben ergeben die gewöhnlichste Ursache zur Verkettung der Menschenherzen. F. M.     


Kleiner Briefkasten.

J. H. in Berlin. Annahme eines Knaben betreffend. Bitte um genaue Angabe der Adresse.

W. N. in Rotterdam. Leider ist’s wahr, in Ihren Gesetzen findet ein deutscher Dichter und Componist gegen Ausbeutung durch Presse oder Bühne keinen Schutz. Aber Niemand darf vergessen, daß da, wo ein staatlicher Rechtsschutz fehlt, die Mannesehre dafür eintritt, welche auch ihre Gesetze hat, die man nicht ungestraft verletzt.

C. Sch. in M., W. R. in V., „Die drei Zeichen“, M. A. in München, E. W. in D. Nicht geeignet.

A. N. in Hamburg. Beruht auf Schwindel.

W. W. in O. S.Aus deutschen Gerichtssälen“: Jahrg. 1867, 1870, 1872, 1874. „In sengender Gluth“: Jahrg. 1868.

M. A. in B.Die zweite Frau“: Jahrg. 1874.

V. St. Die Angabe der „Gartenlaube“ bezüglich der Zeit des Pyramidenbaues ist richtig, die von Ihnen erwähnte falsch.

A. S. in L. Wenden Sie sich an einen Rechtsanwalt.


Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 325. – Verlassen. Illustration von Ferdinand Pacher. S. 329. – Die Ansteckungswege der Kinderkrankheiten. Von Dr. L. Fürst (Leipzig). 1. Das Wesen der Ansteckung. S. 330. – Die Repser Burg in Siebenbürgen. Von Friedrich Hofmann. Mit Illustration S. 333. – Das neue deutsche Bühnendrama. Von Rudolf von Gottschall. III. S. 334. – Volksirrungen in der Sprache. Von Dr. Söhns. S. 336. – Blätter und Blüthen: Die Schneeziege. S. 338. Mit Abbildung S. 337. – Sonntagmorgen. S. 339. Mit Illustration S. 332. – Vermißte. S. 339. – „Die Dummen werden nicht alle!“ – Die kleinste politische Gemeinde des Reichs. Von H. Meißner. – Nochmals das deutsche Forstwaisenhaus. – Allerlei Kurzweil: Schach, Ketten-Räthsel. – Kleiner Briefkasten. S. 340.



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Vergl. Nr. 3 und 12 dieses Jahrgangs.
  2. Vergl. Jahrg. 1883, S. 639.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gottschall meint hier: Johann Baptist von Schweitzer (1833–1875).