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Die Gartenlaube (1884)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[425]

No. 26.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)
Christel von Laßberg’s Tagebuch.

Am 11. November Abends. Heute Morgen ist die ganze Hofgesellschaft auf dem Eise gewesen, ich sah die bunte lachende Schaar zurückkommen. Mir war, als seien sie Alle aus einer andern Welt. Er ging wieder neben Gustchen. Nachher kam diese und sagte mir, daß die Herzogin ein anderes Hoffräulein gewählt habe. Sie erzählte mir, daß ihr Bruder und Goethe Nachmittags zum Prinzen Constantin nach Tiefurt führen, und daß sie dann wichtige Dinge mit mir überlegen wolle.

Der Nachmittag kam und nie werde ich jene Stunde vergessen. Wir saßen, weil es trotz dem Froste sonnig war, wieder am Brunnen. Vater hatte ich den ganzen Tag nicht gesehen; ich kenne das, wenn er einen schweren Groll zu überwinden hat, schließt er sich ein; Tante Barbara hielt noch ihren Mittagsschlaf. Gustchen war sehr zärtlich; sie ließ meine Hand nicht los und sagte mir, daß sie glücklich sei eine Freundin zu haben, der sie Alles anvertrauen könne.

„Wie findest Du ihn?“ begann sie dann.

Ich erröthete so sehr, daß mir die Thränen in die Augen traten und meine Hände bebten.

„Ah!“ sagte sie, „Du antwortest beredt genug; wie hübsch Du bist, wenn Du roth wirst und etwas Leben in Deine Mienen kommt; sähe er Dich so, dann würde er Dich nicht fade nennen. Also Du findest ihn entzückend?“

Gefoltert wandte ich mich ab.

„Er ist sehr schön!“ stotterte ich.

„Wer denn? Wir haben noch keinen Namen genannt,“ spottete sie jetzt. „Aber laß nur, alle Mädchen in Weimar sagen heute: Er! und wissen, wen sie meinen. Ja, Wolfgang Goethe hat es gestern allen angethan; Jung und Alt hat er bezaubert, der himmlische Mensch. Und nun höre wohl zu, kleine Maus, er ist mein, mein, wenn ich ihn will – was sagst Du dazu?“

Ich glaubte, ich stammelte einen förmlichen Glückwunsch und fühlte dabei, daß ich sehr blaß und schwindlig wurde.

Auguste fuhr fort: „Du gratulirst mir schon, so weit sind wir noch nicht, denn ich bin noch im Ueberlegen, wie ich’s nehmen soll.“

Ich fragte, warum sie denn noch schwanke, da sie ihn doch so liebenswürdig finde?

Gustchen lachte: „Du bist ein Kind, ein pures Kind,“ sagte sie. „Wenn eine Liebelei Ernst wird und man an eine Heirath denkt, so braucht man dazu einige kleine Nebendinge außer dem entzückenden Epouseur. Ich bin nicht einmal im Klaren über sein Vermögen; in den vier bis fünf Tagen unserer Bekanntschaft hat er nichts darüber geäußert. Dann soll sein Großvater ein Schneider gewesen sein, und eine solche Verwandtschaft darf ich meiner Familie nicht bieten. Da er nicht von Adel ist, würde ich mein Recht auf die Hofgesellschaften verlieren. Die Gunst, in der er beim Herzoge steht, läßt sich verwerthen, aber darauf ist nicht zu rechnen. Fürstengunst kommt heute und geht morgen.“

Ich hatte stumm ihren Ueberlegungen, die mich eisig durchkälteten, gelauscht; endlich fragte ich: „Aber hat er denn schon ernstlich um Dich geworben?“

„Mit Hand und Mund hat er geworben, mein Zuckerpüppchen!“ lachte sie, „wenn auch nicht mit dürren Worten und Heirathsplänen. Aber ich darf es auch, will ich ihn abweisen, nicht dahin kommen lassen, denn wenn er uns zürnt, kann das meiner Familie Nachtheile bringen. Ich muß also jetzt meinen Entschluß fassen und klug sein.“

„Solche Sachen verstehe ich nicht,“ sagte ich kurz. „Ich kann Dir keinen Rath geben.“

Aber sie wollte auch keinen Rath; sie erzählte mir, was er ihr gesagt, es war viel Artiges – aber ich fand nicht die Herzenswärme darin, welche seine Augen ausstrahlten, nicht die Gluth und Leidenschaft seines Werther’s. Ich sprach es Augusten aus, sie aber spottete, meine eigenen Worte wiederholend: „Solche Sachen verstehst Du nicht! Ich kann es nicht leugnen, daß ich sehr in ihn verliebt bin,“ fuhr sie fort. „Er ist der schönste und bedeutendste Mann in ganz Weimar; es mag unverständig sein, aber ich will die Sache weiter gedeihen lassen; mag es auch zu einer Heirath kommen!“

Gustel hat mir ein Gedicht von ihm dagelassen, davon schreib ich mir hier den Schluß:

„Ach, aber ach! Der Jüngling kam
Und nicht in Acht das Veilchen nahm,
Zertrat das arme Veilchen.
Es sank und starb und freut sich noch:
‚Und sterb’ ich denn, so sterb ich doch
Durch ihn, durch ihn,
Zu seinen Füßen doch!‘“



[426]
8.

In dämmeriger Sonntagsfrühe brach der Herzog mit dem Freunde auf, um seiner Ungeduld genug zu thun und mit ihm nach Kochberg, dem Gute des Oberstallmeisters von Stein, hinaus zu reiten. Ein Reitknecht mit Frühstücksvorräthen in den Holstern folgte.

Der Thorwärter mußte seinen Morgenschlaf abschütteln und das streng geschlossene Gatterthor der Stadt öffnen, dann trabten sie draußen in den Morgennebel hinein. Sie ritten schon lange schweigend neben einander, als mit wundervoller Farbenpracht die ersten Sonnenstrahlen durch glitzernde Reif- und Nebelgebilde brachen. Das siegreiche Tagesgestirn warf leuchtende Blicke der Huld über die starre Fläche. Die feinen Eiskrystalle an Gräsern und Zweigen schimmerten in blendender Pracht, das geringste Gebüsch glich einem Märchenwalde, die hohen weitästigen Tannen wurden zu zauberischen Pyramiden. Während die Sonne höher stieg, den Nebel zertheilte, unterwarf und des Himmels zartes Blau durchglühte, blieb die Ferne noch in weichen Farbentöuen. Gerade stieg der Rauch aus den zur Seite liegenden Gehöften auf und gewann, gegen die klare Himmelsbläue gesehen, rosige Tinten.

Der Herzog nahm das Gespräch auf: „Wir haben in den nächsten Tagen noch einen Gast zu erwarten; ich glaube, ich erwähnte desselben nur flüchtig. Es ist auch so recht eigentlich kein Gast, denn ich habe ihn zum Kammerherrn ernannt. Noch vor meinem Regierungsantritt lernte ich in Bayreuth den etwa dreißigjährigen Siegmund von Seckendorf kennen, der früher in sardinischen Diensten stand. Er hat Deinen Werther in’s Italienische übersetzt, dichtet, componirt und schien mir in den Kreis zu passen, welchen ich mir zur richtigen Erfassung eines frohen, gesunden Lebensgenusses zu bilden trachte. Hoffentlich wird der gewandte, vielseitige Mann Dir gefallen. Möchte er sich mit uns einleben!“

„Ich bringe ihm eine reine Empfindung entgegen und hoffe alles Gute,“ sagte Goethe schlicht. „Mir thut es nur leid, wenn ich sehe, daß Du zwischen Dich und die Herzogin immer mehr Leute stellst.“

Das freudig belebte Gesicht des jungen Fürsten verfinsterte sich. „Ich kann mit ihr zu keinem Verständniß, keinem rechten Herzenston kommen. Mein Verlangen geht nach einem frischen, schönen, schnellkräftigen Wesen. Luise ist so verschlossen, so formvoll, so talentlos; eine Aureole der Langeweile umgiebt sie, ein Parfüm der Correctheit, das mir zuwider ist.“

„Ein Weib kann, um begehrenswerth zu erscheinen, in allen Zügen und Formen des Wesens weich sein. Besitzt sie auch nicht Deine rastlose, geistesdurchleuchtete Lebensfülle, so ist sie doch eine tief innerliche Natur, eine reizvolle Knospe, die für Dich zu erschließen Dir hohen Gewinn bringen wird. Du darfst nur nicht Nachlassen, Dich um sie zu mühen.“

„O Mentor!“ rief der Herzog mit leichtsinniger Fröhlichkeit. „Wenn die Kühle wüßte, welch ein Sachwalter sie vertritt! Dir schenkte sie vielleicht ein Lächeln, das heißt, wenn die Dehors und ihre langnasige Oberhofmeisterin, die Gianini, es allergnädigst gestatten möchten. Pah, mich fröstelt, laß uns den Gäulen die Sporen geben!“

Die Pferde griffen munter aus; gegen neun Uhr wurde in Berka gefrühstückt und gefuttert, dann ging es mit frischer Lust über Blankenhayn auf Kochberg zu.

Bald nach elf Uhr langte man vor dem überbauten Thorweg an, der auf den Gutshof führte.

Die Herren ritten ein.

Ein breiter mit einzelnen Ulmen besetzter und von Gebäuden umgebener Wirthschaftshof nahm sie auf. Geradeaus, vom Hof durch einen Graben getrennt, lag das schloßartige Herrenhaus; überschritt man die Grabenbrücke, so führte eine breite von zwei kleinen Thürmen flankirte Treppe auf einen inneren mit Steinplatten belegten Hof, den die von der Herrschaft bewohnten Baulichkeiten einschlossen.

Als die Reiter vor der Grabenbrücke hielten, waren sie bereits von dem Oberstallmeister von Stein bemerkt worden, der zu ihrer Begrüßung herbeieilte. Der Herzog stellte seinen Begleiter vor und erfuhr, daß auch Rittmeister von Werthern mit Gemahlin als Gäste anwesend seien. Man fand die Gesellschaft in einem behaglich erwärmten Salon, wo die Damen den Eintretenden von einem Frühstückstisch entgegen kamen. Der Herzog küßte beiden Damen die Hand, erwiderte den Gruß Werthern’s und führte der Hausfrau seinen Freund zu.

Dieser hatte sogleich die schlanke Frauengestalt vor sich mit prüfenden Blicken überflogen.

Ja, sie war es! Das waren die weichen, durchgeistigten Züge, die ihn in ihren unvollkommnen Umrissen schon so wunderbar gefesselt hatten und ihn nun doch, anmuthbelebt, wie ein ganz Neues, Unerwartetes überraschten. Da war weder Fülle noch Farbenreiz, weder Jugend noch Regelmäßigkeit der Züge, aber mehr als alle vollkommene Schönheit, eine seelische Innigkeit des Ausdrucks, die unwiderstehlich – den, der solche Sprache verstand – zu diesem Weibe hin zwang.

Der Hausherr hatte auf dem Frühstückstische Couverts für die Neuhinzukommenden bereit legen lassen. Der Herzog setzte sich zu Milli von Werthern, Goethe gewann einen Platz an der Hausfrau Seite und konnte nun ihr zartes Profil, das so lange schon in seinen Gedanken lebte, genau studiren.

„Und was verschafft uns denn das Vergnügen dieses charmanten Zusammentreffens?“ fragte Karl August, den Madeira an die Lippen führend, mit schelmischem Augenzwinkern seine Nachbarin.

„Die neue Fuchsstute!“ lachte Frau von Werthern, indem sie ihren Gatten ansah.

„In der That, Durchlaucht,“ erklärte Herr von Stein beflissen, „ist jener capitale Gaul wohl nicht ganz unschuldig an der Ehre dieses Besuchs.“

„Natürlich hätte ich den Fuchs lieber geritten,“ sagte Werthern, „da sie aber mit wollte und ich ja gerade des Gauls halber ein brillanter Ehemann bin – das Nähere erlassen mir wohl die Herrschaften – blieb mir nichts anderes übrig, als die Mähre einzuspannen, denn ich mußte Stein neidisch machen und sie nochmal vorreiten. Und da sind wir!“

Emilie hatte erröthend und mit gesenkten Blicken die unzarten Anspielungen ihres Gatten hingenommen. Dem jungen Fürsten schwoll das Herz, er erbarmte sich ihrer und lenkte rasch das Gespräch auf andere Dinge.

Dann kamen die drei Stein’schen Knaben in den Salon, um dem Herzoge ihren Diener zu machen; man scherzte mit ihnen und besonders Goethe wußte die Kinder bald an sich zu fesseln.

Nach dem Frühstück brannte den Pferdeliebhabern der Boden unter den Füßen. Werthern war glücklich, seine neue Errungenschaft, die er eigentlich dem Herzoge und Stein weggeschnappt hatte, jetzt in vortheilhafter Weise vorführen zu können; er witterte etwas von der Möglichkeit eines guten Geschäfts und stürmte hinaus, um rasch satteln zu lassen.

Der Herzog fragte Milli, ob sie nicht von der Passion ihres Mannes angesteckt sei, und bat sie mit auf den Hof zu kommen. Sie war einverstanden und schlüpfte in eine purpurrothe Sammetjacke mit schwarzem Pelzbesatz, die ihr vortrefflich stand; so schloß sie sich den hinausgehenden Männern an.

Goethe aber bat Frau von Stein, ihm zu gestatten, daß er bei ihr im Zimmer bleibe, da seine Liebhaberei für Pferde nicht sonderlich groß sei. Sie bewilligte freundlich seine Bitte und führte ihn in ein kleines nach dem Garten gelegenes Wohngemach. Hier saßen sie zusammen in der tiefen Fensternische und plauderten bald lebhaft.

Während draußen der vielbesprochene Fuchs und nach ihm die bevorzugten Insassen des Stein’schen Stalls in allen Gangarten vorgeführt, kritisirt oder bewundert wurden, schlang sich drinnen wie aus feinen, goldenen Fäden ein Band, das zwei edle, nach Verständniß ringende Menschenseelen dauernd verknüpfen sollte. Da die beiden älteren Knaben zu ihrem Hofmeister zurückgekehrt waren, spielte der kleine dreijährige Fritz, gleich einem Symbol jenes Bandes, von einem zum andern. Sein kindliches Geschwätz, seine Ansprüche füllten harmlos eine gedankenvolle Pause oder gaben mit einem drolligen Einfall der Unterhaltung eine andere Wendung. Was hatte Goethe dieser Frau alles zu sagen! Nie war er sich so innerlich reich erschienen wie in ihrer Nähe.

Dann traten die Fragen des praktischen Lebens an die Hausfrau heran; ein Diener kam und wollte wissen, welches Gedeck, welches Silber, welchen Wein sie heute dem Herzog zu Ehren bestimme?

[427] Frau von Stein erhob sich, um mit einer Entschuldigung den Gast zu verlassen; er bat, sie begleiten, ein bischen mit hausvatern zu dürfen; mütterlich gütig willigte sie ein; lief doch auch Fritzchen durch Küche und Keller mit, warum sollte sie dem neuen jungen Freunde nicht willfahren? Es war Alles so zweifellos sicher, was sie und wie sie’s that! Wie gern fügte er sich dem Zauberbanne dieser Natur ein!

Jetzt ging es von den fächerreichen, geschnitzten Leinenschränken mit der hochgeschichteten Haushaltswäsche zum Speisezimmer mit seinen Silber-, Glas- und Porcellanvorräthen, von da zur Wirthschafterin in die Küche, und sogar mit einem Laternchen in den Weinkeller, wo sie ihm die Sorten wies, Werth und Verwendung erklärte, und von wo er ihr die Flaschen für den Mittagsbedarf herauf tragen durfte. Wie freute ihn die geordnete Fülle des lange bestehenden Hauses!

Dann schlug sie vor, ihm den Park zu zeigen. Sie hüllte sich in einen Shawl und führte ihn von dem quadernbelegten Hofe durch einen Gang über eine gedeckte Brücke, auf der sie den Schloßgraben überschritten. Ein freier Platz, jetzt weißbestäubt von Reif und Schnee, lag vor ihnen, zur Seite ein schöner Gartenpavillon mit breiter, vasenbesetzter Treppe, hinter dessen Säulen man Glasthüren schimmern sah; rechts lag eine Grotte mit mächtiger Epheuwand, deren dunkles Grün noch nicht ganz vom Schnee bedeckt war. Weiter hin ging es zu einem Karpfenteiche, auf dem eben Herr Kästner, der Hauslehrer, mit Karl und Ernst das Eis versuchte. Von hier aus zogen sich zahlreiche kleine Gräben durch die Anlagen, von weißen Brücken überwölbt; hügelig dehnte sich der Park, mit alten Bäumen bestanden, weit hinaus, sodaß es bald mehr ein Wald als Garten schien, in dem man lustwandelte.

Sie kehrten nun in’s Haus zurück, und bald darauf rief eine kräftig geschwungene Glocke die ganze Gesellschaft zur Tafel.

Nach Tisch fand der Herzog Gelegenheit, den Freund zur Seite zu nehmen und zu fragen: ob seine Erwartungen erfüllt wären.

„Uebertroffen, hundertmal übertroffen, mein lieber gnädiger Herr!“ rief dieser warm. „Ein solches Weib kann Einen aus allen Strudeln empor halten. O, ich möchte in dreifachem Feuer geläutert werden, um ihrer Liebe werth zu sein!“

„Nimm Dich in Acht!“ lachte Karl August, „die Liebe zu einer Frau ohne Schönheit soll die dauerhafteste sein! Uebrigens wird es Dir nach dem, was Du mir eben gestanden hast, nicht unerwünscht kommen, daß wir noch ein paar Tage bleiben; ich habe zu morgen mit Stein eine Jagdpartie verabredet; Wertherns wollen in der Frühe zurück, da er Dienst hat.“

Es war Goethen, als solle er dem Herzoge um den Hals fallen, solch ein Gnadengeschenk war ihm diese Hoffnung, solches Glücksgefühl gab ihm die Aussicht auf die nächsten Tage.

Glückseliges Drängen und Verlangen des glühenden jungen Dichterherzens, dem sich mit einer neuen Liebe eine neue Welt aufthat!


9.

Es war Anfang Februar und das Treiben der Wintervergnügungen flott im Gange, als der Rittmeister von Werthern eines Abends, mit Emilie aus einer Gesellschaft vor seinem Hause ankommend, in ironischem Tone sagte:

„So, meine heißgeliebte Gemahlin, da wären wir!“ Er schloß die Hausthür auf, ließ sie eintreten und fuhr fort: „Eben elf Uhr; solch ein angebrochener Abend ist schändlich langweilig; ich gehe noch in den ‚Erbprinzen‘, mit Dero Permiß, meine Gnädige!“

Eine Entgegnung nicht abwartend, schloß er hinter seiner Frau das Haus zu, steckte den Schlüssel in die Tasche und stampfte pfeifend durch den Schnee dem erwähnten Wirthshause zu.

Emilie ging im Flure an einen Tisch, auf welchem ein kleines Oellämpchen brannte, um ihr daneben stehendes Licht an demselben zu entzünden und damit ihr Schlafzimmer aufzusuchen. Sie hatte sich in der Gesellschaft sehr gut amüsirt; vom Herzoge war sie wie immer ausgezeichnet, die anderen Männer folgten denn hohen Beispiele, sie war, das fühlte sie, die gefeiertste Dame ihres Kreises, und doch kam sie leer, verwirrt, tief innerlich unbefriedigt zurück. Jetzt wieder, als sie daran dachte, daß Werthern nichts für sie gehabt habe, als Ironie und Kälte, durchschauerte sie’s so schmerzlich, daß ihre Hand bebte, als sie den Docht ihres Lichts dem des Lämpchens näherte, und siehe da, der starre Docht des Lichts verlöschte die schwache Flamme der Lampe!

Das war damals, wo es keine Zündhölzer gab, eine große Unannehmlichkeit.

Ein leiser Angstruf entfuhr ihr, sie fürchtete sich im Dunkeln und dachte zugleich mit Schreck an das Gezänk ihres Mannes, wenn er, spät nach Hause kommend, das gewohnte brennende Lämpchen nicht an seinem Platze finden würde. Was beginnen? Ihr Mädchen schlief auf dem Boden, des Dieners Quartier lag am Pferdestall auf dem Hofe. Hier unten gab es nur ihren Miether, den Bergrath von Einsiedel, und allerdings, durch die Fugen seiner Stubenthür schimmerte noch Licht; sie wußte, daß der fleißige Forscher bis spät in die Nacht hinein arbeitete, aber um die Welt hätte sie nicht an sein Zimmer klopfen und ein Fünkchen Licht erbitten mögen.

Sie entschloß sich also im Dunkeln die Treppe hinauf zu tappen und den Zorn ihres Mannes über sich ergehen zu lassen, und so schritt sie in der Richtung vor, in welcher auf dem dunklen Flure ihrer Meinung nach die Treppe liegen mußte.

Die Richtung war aber verfehlt; sie stieß an den Korb mit Holz, der neben einem Kamin stand, und klappernd fiel der überhäufte Korb um. Bebend vor Schreck lehnte sie daneben an der Wand, als die Thür ihres Hausgenossen sich öffnete und der Bergrath von Einsiedel mit dem Lichte in der Hand heraustrat. Er sah sich mit seinem ruhigen Blicke suchend um.

„Ach, Sie sind es, Frau von Werthern,“ sagte er in artigem Tone. „Ihnen ist das Licht verlöscht; warum haben Sie mich nicht gerufen, ich bin ja so gern zu Ihren Diensten.“

Nach diesen Worten zündete er ihr Licht und auch das Lämpchen an. Sie war an den Tisch herangetreten, ihr Mantel lag neben dem Holzkorbe, ein Spitzentuch, das sie um den Kopf getragen hatte, war zurückgefallen, ihre Wangen brannten und ihre schönen Augen erhoben sich mit demüthig innigem Ausdrucke zu den seinen. Er sah sie mit bewegten Mienen an; sie las in seinen Blicken, daß er sie reizend finde. In Gesellschaften wurde sie weniger tief von diesem Tribut männlichen Wohlgefallens berührt, weil sie daran gewöhnt und dies die übliche Münze im Kleinhandel der Koketterie war. Hier aber, in nächtlicher Stille und Einsamkeit, diesem ernsten Gelehrten gegenüber, der ihr bisher scheinbar gar keine Beachtung gegönnt hatte, berührte sie dieser Ausdruck seiner Züge bis in’s tiefste Herz hinein. So standen sie ein paar Sekunden, ohne daß es Beide recht wußten, im stummen Anschauen neben einander.

Endlich sagte er mit unsicherer Stimme:

„Darf ich Ihnen eine gute Nacht wünschen?“ verneigte sich und ging.

Sie hauchte: „Ich danke Ihnen!“ nahm ihren Mantel über den Arm und stieg die Treppe hinan.

Er folgte ihr – die Thürklinke in der Hand – mit seinen Blicken.

Da – fast war sie oben angekommen – fiel ihr das Licht vom Leuchter, rollte ein paar Stufen hinunter und erlosch. Sie schrie laut auf, und er stürzte vor, es aufzuraffen und ihr noch einmal anzuzünden.

Der Treppe gegenüber lag ihre Zimmerthür; er öffnete sie, und Beide standen jetzt neben dem runden Tisch vor ihrem kleinen Kanapee. Er setzte ihr Licht auf den Tisch und sagte lächelnd:

„Jetzt sind Sie in Sicherheit. Sind Sie recht froh gewesen heute Abend? Ich glaube, man ist jetzt lustig in Weimar.“

„Ein tolles Treiben, von Einem zum Andern,“ entgegnete sie mit dem Tone der Abneigung, die sie in der That in diesem Augenblicke und diesem Manne gegenüber für die rauschende Geselligkeit empfand.

„Was haben Sie in der nächsten Zeit vor?“ fragte er weiter.

„Morgen, am Sonntage, Schlittenfahrt nach Tiefurt zum Kaffee, Abends wahrscheinlich noch Tanz. Montag am Morgen bei Steins Theaterprobe; Abends Gesellschaft bei Oberhofmarschall von Witzleben. Und am Dienstage ist ja die große Maskerade.“

[428] „Ich möchte auch einmal vergnügt sein und mit Ihnen tanzen, obgleich ich´s kaum noch kann –“ sagte er, verloren in ihren Anblick, und fast wie zu sich selbst sprechend. „Verrathen Sie mir Ihr Costüm auf der Redoute, und verschmähen Sie mich nicht, wenn ich komme, um eine Tour zu bitten.“

Sie sagte ihm, daß sie als maurische Fürstin erscheinen werde, und versprach mit strahlendem Lächeln, soviel mit ihm zu tanzen, wie er möge.

„Gut denn!“ rief er, indem er rasch ihre Hand an seine Lippen zog, „so will auch ich einmal froh sein und in derselben Weise glücklich, wie es Andere sind!“ Mit diesen Worten stürmte er fort.

Seltsam bewegt ja mit laut klopfenden Pulsen ging Emilie zur Ruhe und suchte vergebens, der Bewegung Herr zu werden, welche diese unerwartete Begegnung verursacht hatte.

(Fortsetzung folgt.)




Der letzte Piratenzug der Korsaren von Tunis.

Das Meer lag in tiefem Blau vor uns, Siciliens schöngeformte, schroffe Berge, unter der Sommersonne sengenden Strahlen rothbraun gefärbt, grüßten zum Abschied herüber und die Luft war dabei heiß und feucht, wie in einem Treibhause. Wieder einmal hatte ich das Mittelmeer zu durchschiffen, um von kurzem Sommerausfluge nach der „Rose des Westens“, nach Tunis, zurückzukehren. Die Gesellschaft an Bord des stattlichen Dampfschiffes bestand aus den verschiedenartigsten Elementen. Auch Deutsche fehlten nicht darunter.

Zwischen dem Diner, welches auf Deck unter dem gegen Abendsonne und Schornsteinrauch schützenden Zeltdache eingenommen wurde, und dem Thee entwickelte sich nach erfolgter Erlaubniß des Capitains ein munteres Treiben auf Deck: auf einer „Kunstreise“ begriffene ambulante Musikanten ließen ihre Tanzmelodien erklingen, und wacker drehten sich im Tacte das gerade unbeschäftigte Schiffsvolk und Passagiere der dritte Classe, meist arme italienische Arbeiter, welche auf Afrikas Küste lohnenden Verdienst zu finden hofften. Nur einige beturbante und malerisch gekleidete tunesische Juden saßen abseits und ließen sich durch Nichts in ihren eifrigen Rechnungen über Gewinn und Verlust stören.

Noch zu später Stunde hatte Niemand Lust, die Schlafstätte aufzusuchen, und als erst der Vollmond die Fluthen mit seinem Silberglanze übergoß, rückte die Gesellschaft näher zusammen, und in allgemeinem Gespräche verlieh Mancher seinen Gefühlen mehr oder weniger glücklichen Ausdruck.

Schließlich rief eine romantisch angehauchte Seele Erinnerungen an die Vergangenheit wach und gedachte der gefürchteten Korsaren, welche einst in diesen Gewässern ihr Wesen trieben; damals drohten zur See Gefahren, von welchen wir uns heute nicht träumen lassen, da wir uns auf dem Salondampfer wie zu Hause fühlen und noch raisonniren, wenn er etwa um eine Stunde verspätet am Bestimmungsorte eintrifft. Jenes Thema erregte lebhaftes Interesse, und ich konnte nicht umhin, die Romantiker damit zu trösten, daß ein, wenn auch bescheideneres, doch ebenso gefährliches Abenteuer, wie ein Ueberfall durch Seeräuber, durchaus nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit liege. Zur Bekräftigung dessen erzählte ich einen der vielen Fälle, die sich an der nur ganz unzureichend mit Leuchtthürmen und Seezeichen versehenen Nordküste Tunesiens in den letzten Jahren zugetragen. Das französische Dampfschiff „Auvergne“ scheiterte in der Nähe der kleine Insel Tabarca; fast sämmtliche an Bord befindliche Personen konnten sich retten, doch nur, um den rohen Gebirgsbewohnern jener unwirthlichen Felsküste in die Hände zu fallen. Die niemals gebändigten Kabylen stiegen alsbald von ihren Bergen herab, plünderten das Wrack der „Auvergne“ rein aus und nahmen den bedauernswerthen Gestrandeten ihre Kleider und die wenigen geretteten Habseligkeiten. Sie behandelten ihre Gefangenen unmenschlich und unterwarfen Weiber, Männer und Kinder den schimpflichsten und wahrhaft barbarischen Mißhandlungen. Ein Bootsmann rettete sich durch Flucht und trug die Nachricht von dem Geschehenen nach Tunis. Eilig begaben sich ein zufällig anwesendes amerikanisches Kriegsschiff und eine französische Corvette an die Stätte des Unglücks, während der 1882 verstorbene Bey Mohammed Essadok Pascha, der Gerechte, 350 Mann seiner Truppen in die Berge zur Befreiung der Gefangenen sandte; er mußte für den Schaden aufkommen, und hielt sich später an den räuberischen Tribus schadlos, deren Chefs von seinen Soldaten mehr durch List, als Gewalt zu Gefangenen gemacht und bis nach erfolgter Befreiung der Schiffbrüchigen und geleistetem Schadenersatz als Geiseln zurückbehalten worden waren.

Durch diese streng der Wahrheit entsprechende Erzählung war erst recht in unserem Kreise Stimmung gemacht für abenteuerliche und gruselige Seeräubergeschichten. Manche Anwesende wußten kaum, daß noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die maurischen Piraten in diesen Gewässern frech ihr schändliches Gewerbe trieben, und waren erfreut, daß ich ihrem Wunsche, mehr darüber zu erzählen, nachkommen konnte, da ich erst kürzlich die leider nur spärlichen darauf bezügliche Nachrichten gesammelt hatte. Ich berichtete also über den letzten Korsarenzug der Tunesen gegen

[429] 

Am Hafen von Goletta.
Originalzeichnung von Ch. Speier.

[430] europäisches Land in größerem Stile, und was ich dort in lauer Sommernacht auf den Fluthen des Mittelmeeres und sozusagen am Orte der Handlung und in der richtigen Stimmung erzählte, dürfte vielleicht auch die fernen Leser der „Gartenlaube“ bei grellem Tageslichte oder der traulichen Lampe ein wenig unterhalten. Das Tieftraurige und Beschämende in meiner Erzählung wird gemildert durch den Gedanken: jene Zeiten sind vorüber und werden niemals wiederkehren.

Im Jahre 1814 ging die Regierung des alten Hamuda Pascha zu Ende, welcher nach der fatalen Tasse Kaffee plötzlich starb, nachdem er lange regiert und mit wechselndem Glücke gegen den übermüthigen Nachbar, den Dey von Algier, zu Wasser und zu Lande Krieg geführt hatte. Bei seinem Barte hatte er einst geschworen, Jenem nicht mehr Tribut zu zahlen und willfährig zu sein, sondern sich von der erniedrigenden Abhängigkeit zu befreien, was ihm auch in der That gelungen war. Den Bruder Hamuda’s, Sidi Otman, den rechtmäßigen Thronerben, dessen sämmtliche Verwandte und andere Rivalen ließ der Husseinide Sidi Mahmud durch Dolch und Gift beseitigen und regierte alsdann das Land, wie ein italienischer Chronist sagt: „ohne Anstand und ohne Nebenbuhler“ nach seiner Weise. Diese war nicht gerade die sanfteste; bald hatten auch wieder die europäische Seefahrer mehr als früher von den tunesischen Piraten zu leiden, welche auf Beute und Menschenraub ausgingen. Sidi Mahmud begünstigte dieses vortheilhafte Gewerbe nach Kräften und strich schmunzelnd seine Procente vom Raube ein. Auch hatte er seiner Meinung nach noch Revanche zu nehmen für die vor nicht langer Zeit seinem Staate durch die „Christenhunde“ zugefügte Schmach: hatten doch die Venetianer eine der bedeutendsten Städte Tunesiens, das reichbevölkerte Ssaks, welches freilich ein wahres Seeräubernest gewesen war, gründlich zusammengeschossen. Der Bey träumte gern von früheren Tagen, als zum Beispiel zu Haireddin’s Zeit allein in der Kasbah (Burg) der Stadt Tunis 20,000 Christensclaven eingeschlossen waren und auf dem alten Sclavenmarkte das Gewerbe des Menschenhandels blühte.[1]

Nun, Mahmud Bey that, wie gesagt, Alles, um den Seeraub, das althergebrachte Privileg der Barbaresken, wieder in Schwung zu bringen. Da lag z. B. auf der Rhede von La Goletta[2] eine ganz stattliche Flotte von Kriegsschiffen, darunter eine Gabarre von vierzig Kanonen, zwei Schebecken jede von sechsunddreißig Kanonen, zwei solche von sechszehn Kanonen, acht oder zehn andere Schiffe und etliche Kanonenboote. Noch vom algerischen Kriege her waren die Schiffe ziemlich gut ausgerüstet und seetüchtig. Im Kriege freilich hatten sie keine sehr glänzende Rolle gespielt, sondern sich vor der feindlichen Flotte unter die schützenden Kanonen der Forts zurückgezogen, ohne sich den auf offener See wartenden Algeriern zum Kampfe zu stellen. Die Braven hatten dort eben eine andere Aufgabe gewittert, als das zur lieben Gewohnheit gewordene Ueberfallen und Ausplündern wehrloser Kauffahrer; den Schwachen gegenüber hatte immer „auch der Mameluck Muth gezeigt“. Der biedere Landesvater hörte nun eines Tages von einem gelehrten Mollah den nationalökonomischen Grundsatz aussprechen, es sei verwerflich, die Hülfskräfte eines Landes nicht zu dessen Nutzen und Wohlfahrt zu verwenden. Darüber dachte er bei der Pfeife nach und, o Wunder, statt nach genommenem Kaffee zu den Freuden des Harems zu eilen, befahl er dem Sclaven, den dienstthuenden Adjutanten herbeizurufen, während der „Pfeifenbewahrer“ neue Tschibuks mit köstlichem Latakiatabak stopfte. Der Sclave holte den Adjutanten, der Adjutant den ersten Minister. Diesem, welcher erst vor Kurzem an die Stelle des unbequem gewordenen und deshalb „beseitigten“ Mariano Stinca gesetzt worden war, theilte der Bey seine Idee mit und weidete sich nicht wenig an der pflichtgemäßen grenzenlosen Bewunderung, womit sein Getreuer die Weisheit des Herrn anhörte. Plante dieser doch nichts Anderes, als einen munteren Korsarenzug aus dem „ff“, wobei die Kriegsschiffe von La Goletta die herrlichste Verwendung finden konnten. Es war dabei auf Landung, womöglich Ueberrumpelung einer ganzen Stadt und Gewinn unermeßlicher Beute abgesehen. Nach längerem Ueberlegen, wer unter den höheren Officieren und Capitainen seiner Mordgesellen am geeignetsten zur Leitung des Unternehmens sei, fiel die Wahl auf den berüchtigten Mustapha Raïs. Dann ging es schnell vorwärts mit den noch erforderlichen Rüstungen, und noch im September 1815 konnte das Geschwader, bestehend aus acht Fahrzeugen, in See stechen, um seinem unheimlichen Zweck nachzugehen.

Einen bestimmten Plan hatte der Admiral nicht entworfen, auch waren ihm in dieser Beziehung weiter keine Befehle ertheilt worden. Nach echter Seeräubermanier gedachte er, auf gut Glück zu operiren und jede günstige Gelegenheit beim Schopfe zu erfassen. Freilich bot sich letztere nicht mehr so leicht, wie früher. Durch die vorhergegangenen langjährigen europäischen Kriegswirren hatten Handel und Schifffahrt auch auf dem Mittelmeere arg gelitten und wenige Kauffahrer durchkreuzten das Meer, obenein in größerer Gesellschaft und unter englischer, von den Piraten respectirter Flagge segelnd. Englische Kriegsschiffe lagen bei Minorca und Malta, vorläufig noch in Ruhe; und was den Hauptzweck des gegenwärtigen Unternehmens anlangte, so war dieser, eine Landung an europäischer Küste, erst recht erschwert. Die Küstenbewohner waren auf ihrer Hut; schon längst hatte man an besonders bedrohten Stellen feste Wacht- und Schutzthürme errichtet, welche noch jetzt großentheils erhalten sind und sich an der italienischen Küste bis an den Meerbusen von Genua hinauf vorfinden. Nach erlangter Gewißheit vom Herumschwärmen der Korsaren und bei zu befürchtendem Angriff derselben wurde die Wachsamkeit verdoppelt, und durch Signale mittelst Kanonenschüssen und Leuchtfeuern warnte man sich gegenseitig vor dem Herannahen des schrecklichen Feindes.

Mustapha Raïs war entschieden vom Glücke nicht begünstigt. Er kreuzte an der italienischen Küste hin und her, machte auch mehrere Landungsversuche, doch fruchtlos, und einige gelegentlich in seine Hände gefallene gute Prisen, Barken von geringem Gehalt, konnten nicht für den erhofften Hauptschlag entschädigen. Der Admiral befand sich in Folge dessen in schlechtester Stimmung; die Befehlshaber seiner Schiffe konnten ihm nicht helfen, machten ihm im Gegentheil heimlich Vorwürfe, und die Besatzung grollte und murrte bedenklich, als bereits mehrere Wochen verstrichen waren und ihrer Raublust noch immer nicht Genüge geschehen. Sie verlangten heimwärts. Das war für den Admiral ein Gedanke, den er weit von sich wies. Mit leeren Händen zurückkehren, hieß das Schicksal herausfordern; er wußte wohl, was ihm in diesem Falle von Seiten des grimmen Mahmud Bey blühte, weil er allein oder doch hauptsächlich für das Mißlingen des so hoffnungsvoll begonnenen Unternehmens verantwortlich gemacht werden würde. – So saß er grübelnd eines Abends allein in seiner geräumigen und mit kostbaren Teppichen prachtvoll ausgeschmückten Kajüte an Bord des „El Essed“, seines Admiralschiffes; eine Pfeife um die andere, ein Glas Grog nach dem anderen wurde geleert. Mustapha war kein scrupulöser Muselmann, ließ sich vielmehr Wein und geistige Getränke trotz Allah und dem Propheten trefflich munden und wußte sie, wie eben jetzt, als Sorgenbrecher zu schätzen. – Das Geschwader befand sich auf der Höhe von Terracina und kam, südlichen Curs haltend, bei schwachem Winde kaum merklich vorwärts. Da ließ sich zu später Stunde der Capitain der zweitgrößten Schebecke, Sidi Abdallah, beim Admiral melden und wurde alsbald ziemlich griesgrämig von demselben empfangen. Nach den hergebrachten Begrüßungen ließ sich Abdallah nieder und sprach folgendermaßen:

„Was Dich betrübt o Mustapha, ist Keinem von uns ein Geheimniß: lastet doch auf Allen schwer die Unthätigkeit und Erfolglosigkeit. Du grübelst nun darüber nach, ob Du uns nach Westen an die spanischen Küsten, oder östlich in’s Adriatische Meer führen sollst. Wenn Du aber eine guten Rath hören willst, so kann ich ihn Dir vielleicht geben und Deiner Thatkraft eine ersprießliche Bahn zeigen.“ [431] „Sprich, Abdallah,“ entgegnete Mustapha, „und gesegnet seien Deine Worte, falls sie meine tief gesunkene Hoffnung wieder beleben.“

Und nun erzählte Abdallah von den reichen und blühenden Eilanden, welche nahe der Südwestküste Sardiniens gelegen sind und mit ihren kleinen Schiffen nach dem Festlande, Sardinien und den balearischen Inseln eifrig Handel treiben. Wenig Getreide, doch Wein und Früchte von vorzüglicher Güte und in großer Menge werden daselbst gebaut, die Berge sind wildreich, das Meer wimmelt von Fischen und der Thunfischfang vor Allem ist eine ergiebige Quelle der Wohlhabenheit. - Vor vierzig Jahren hatten tunesische Korsaren eine jener Inseln, San Pietro, gänzlich ausgeplündert, vor sieben Jahren Algerier fast die ganze Bevölkerung derselben in die Sclaverei geführt. Einzelnen kecken Seeräubern waren noch kürzlich Handstreiche gelungen: so war z. B. letzthin der toscanische Premierminister Seratti in jenen Gewässern von einem tunesischen Korsaren gefangen und zum Sclaven gemacht worden, gerade der Mann, welcher als Gouverneur von Livorno beim Großherzog die Freilassung der daselbst im Bagno unter hartem Joche seufzenden tunesischen Gefangenen durchgesetzt hatte. Die Bevölkerung jener Inseln ist sanften Charakters, eingeschüchtert durch die früher erlittenen Gewalttaten der Piraten, und militärische Besatzung kaum vorhanden. Also könne ein dorthin gerichteter Ueberfall kaum fehlschlagen und würde sicher reiche Frucht tragen.

Mustapha Raïs war der lebhaften Schilderung des Capitains mit Interesse gefolgt. Die Idee leuchtete ihm ein und war jedenfalls besser, als langwierige Fahrten weiter in’s Ungewisse zu unternehmen. Er dankte Sidi Abdallah, als dieser sich verabschiedete, und versprach, den Vorschlag zu überlegen. In der That war er am nächsten Morgen zum Entschluß gekommen. Der Curs wurde nach Südwesten auf das sardische Cap Spartivento gerichtet.

Dem Seefahrer bietet sich ein entzückendes Bild, sobald er von Osten kommend jenes Cap umschifft hat und dann nordwärts steuert: eine vor Winden geschützte weite Bucht, die Bai von Palmas, liegt vor ihm, zur Rechten und geradeaus von den einsamen und wilden, doch an kostbaren Erzen reichen Waldgebirgen Sardiniens, zur Linken von den schöngeformten Bergen der Insel Sant’ Antioco umkränzt. Ewiger Frühling herrscht auf dieser glücklichen Insel, und wo das Land urbar gemacht und angebaut ist, trägt es hundertfältige Frucht; auch wird sie nicht von den gefürchteten Fiebern heimgesucht, welche Sardinien gefährlich machen, da die Seeluft dieselben vertreibt. Die Bewohner sind ein arbeitsames Völkchen und ihr Hauptort, ebenfalls St. Antioco genannt und im Hintergrund der Bai gelegen, ist seit langem ein wohlhabendes und blühendes Städtchen. Ueber demselben thront seitwärts nach der Seeseite zu auf stolzer Höhe eine alte Burg aus früheren Jahrhunderten, bisher mehr als ein Schmuck der pittoresken Gegend, als für ernstliche Vertheidigungszwecke geschätzt, doch immerhin in leidlichem Zustande erhalten, schon weil sie einer freilich recht unbedeutenden Besatzung von ein paar Dutzend Soldaten als Behausung dient. Zur Zeit unserer Erzählung befahl dort oben ein jugendlicher Commandant, der wackere Don Luigi Altamare, welcher erst kürzlich diesen Posten übernommen und für sich und seine Schwester, die fünfzehnjährige schöne Donna Maria, ein paar Thurmzimmer wohnlich und behaglich eingerichtet, auch die Vertheidigungswerke mit Hülfe der achtundzwanzig Mann, welche unter seinen Befehlen standen, einigermaßen in Stand gesetzt hatte.

An einem herrlichen Frühmorgen, wie er unter jenem Himmelsstriche dem Herbste eigen ist, war die Ruhe und Glückseligkeit, welche sonst über der Bai von Palmas und ihren Gestaden lagerte, in Schrecken und Angst verwandelt worden. Es war zwei Tage nach dem Abend, an welchem Abdallah die Aufmerksamkeit des tunesischen Piratenadmirals auf diese Gegenden gelenkt hatte. Nachts und in der Morgendämmerung hatten Warnfeuer und unaufhörliche Kanonenschüsse, erst aus der Ferne, dann immer näher, endlich von der im sardischen Küstenlande gelegenen Stadt Palmas herüber, die Bewohner von St. Antioco von der herannahenden entsetzlichen Gefahr in Kenntniß gesetzt. Die Kirchenglocken gaben das Alarmsignal. Die Städter wurden aus friedlicher Nachtruhe aufgeschreckt. Allgemeine Bestürzung herrschte: war doch der unerbittliche Korsar im Anzug! Die Männer versammelten sich in Eile auf der Piazza, sonst der Stätte gemütlicher Plauderei zum Austausch der Neuigkeiteu, und der Rath tagte im Municipalgebäude bei flackerndem Kerzenschein. Die Weiber wehklagten und jammerten, und Vorsichtige waren bereits auf’s Fortschaffen ihrer Kinder und der Habe bedacht. Die Zeit drängte, denn jeden Augenblick konnte sich das Unwetter über den Häuptern der Armen entladen, und schnell mußte ein Entschluß gefaßt werden. Rath und Bürgerschaft sahen ein, daß zum Retten ihres Eigenthums wahrscheinlich nicht mehr genügend Zeit sein würde. Und sollte man die Früchte sauren Schweißes und langjähriger Arbeit ohne Weiteres preisgeben, um nur das nackte Leben und die Freiheit zu retten? Dies widerstrebte den wackeren Männern um so mehr, als sie an ihre Angehörigen und deren Zukunft dachten. Nichts würden die Seeräuber schonen und lieber vernichten, was sie nicht fortschleppen könnten; eine rauchgeschwärzte Brandstätte aus der Heimath machen. Man beschloß also, sich zu vertheidigen, so gut es ging, wozu besonders der vom Commandanten der Burg gesandte Bote in dessen Auftrag dringend gerathen hatte. Wohl war die Stadt ummauert doch gerade nach der Seeseite zu die Ringmauer arg vernachlässigt; wohl schützte die Burg den westlichen Stadtteil, doch immerhin blieb das Unternehmen gegenüber einer größeren Macht ein verzweifeltes.

Einmal der Entschluß gefaßt, ging es schnell an die Ausführung desselben. Weiber, Kinder und Greise begaben sich auf die Flucht, theils in’s Innere der Insel, theils auf die Burg, deren Thore sich den Hülflosen öffneten. Ein langer Zug von Flüchtenden, die mühsam ihre kostbarste Habe fortschleppten, bewegte sich nach der Höhe. Die wehrhaften Männer indeß bewaffneten sich, um sich alsbald an der Seeseite zu sammeln und dem Feinde mit dem Muthe der Verzweiflung entgegenzutreten, willig sich den in Eile erkorenen Führern unterordnend.

Der letzte Hoffnungsschimmer, daß vielleicht das Unwetter vorüberziehen möchte, verschwand, als bald nach Tagesanbruch im Süden die Segel der Barbaresken auftauchten, direct in die Bai auf St. Antioco lossteuernd. Lauter wurde das Wehklagen der Flüchtenden, welche sich nun alle nach der Landseite begaben; die Thore der Burg schlossen sich und wurden verrammelt. Die Vertheidiger der Stadt unter Oberleitung des Podestà hatten sich kaum auf ihre Posten verfügt, als schon zu ihrem Schrecken mit acht Schlffen, die Piraten in nächster Nähe vor Anker gingen. Noch immer drängten sich in den Gassen die Fliehenden, deren viele erst spät zur Flucht bereit geworden waren. Mit finsterem Ernste und zum Aeußersten entschlossen harrten die Männer des Angriffs der wüsten Schaar, welche sich nun tobend auf ihre friedliche Insel ergoß; konnten sie doch das Ausschiffen derselben nicht verhindern und mußten sich bei ihrer geringen Zahl dem übermächtigen Feinde gegenüber auf die Defensive hinter der Mauer beschränken. Ihr Loos schien im Voraus entschieden, doch furchtlos sahen sie dem Tode entgegen.

In ungeregelten Haufen sammelten sich einige hundert Schritte westlich von Burg und Stadt die Mauren. Mustapha Raïs war noch an Bord geblieben. Vom Admiralschiffe aus beobachtete er im Kreise seiner Officiere die Situation und glaubte, den Widerstand leicht besiegen zu können. Die Reihen der Vertheidiger beobachtend, lächelte er höhnisch im Hinblick auf ihre geringe Anzahl und den schlechten Zustand der Stadtmauer. Auch die Burg schien ihm kein ernstliches Hinderniß zu sein, im Gegentheil, ein leicht zu überwindendes Object des Angriffs: wohl hatte er schon während der Fahrt den Zug der Flüchtlinge dorthin bemerkt. Doch hielt er einen Versuch, sich ohne Verluste durch List und Treulosigkeit der Stadt und Burg zu bemächtigen für angebracht und sandte demgemäß Befehle an die unter Sidi Abdallah’s Führung gelandeten Trnppen. Alsbald trennten sich zehn Mann von denselben und schlugen, mit grünen Zweigen in der Hand als Zeichen friedlicher Botschaft, die Richtung auf die Burg und Stadt ein. Dort, wo der Bergabhang bis nahe an’s Meer herantritt, theilten sie sich; vier der Parlamentaire gingen auf die Stadtmauer zu, die Uebrigen klimmten den Berg hinan. Erstere waren bis auf 200 Schritte der Mauer nahe gekommen, als ein über sie hingefeuerter Schuß sie zum Stillstehen bewog. Doch erschien von der Stadtseite nicht der erwartete Unterhändler. Von Neuem avancirten sie. Von Neuem ertönten Schüsse und über der Mauer legten die Vertheidiger auf die Tunesen an. So zogen sich diese resultatlos zurück. Nicht besser ging es den sechs Andern. Zwei oder drei derselben hatten sich zu keck der Burg genähert, schweiften [432] herum und suchten in die Stadt einen Einblick zu gewinnen. Man schoß auf sie und Einer stürzte tödtlich getroffen nieder. Mit lautem Rachegeschrei eilten Alle zurück. Dann gab ein Kanonenschuß des „El Essed“ das Signal zum Angriff.

Wie sehr bedauerte der Commandant der Burg jetzt, wie schon beim Herannahen der Piratenschiffe, nicht im Besitze von ein paar brauchbaren Kanonen zu sein; die Rohre, welche unter Schlinggewächsen verborgen lagerten, waren gänzlich werthlos, ebenso die kleine Lärmkanone. Nun, mit Gottes Hülfe hoffte er, auch so zu widerstehen, jedenfalls aber sein Leben theuer zu verkaufen.

Abdallah stürmte an der Spitze von etwa 700 Mann am Burgberg vorüber gegen die Stadt; denn zunächst gedachte er den Feind aus der unteren Stadt hinauszuwerfen, dann erst die Burg, wo er die reichste Beute vermuthete, zu nehmen. Die Angreifer fanden einen heroischen Widerstand. Wohlgezielte Salven fügten ihnen beträchtlichen Schaden zu, und als sie trotzdem bis zu den Mauern vorgedrungen waren, vermochte ihr grimmiger Angriff nicht, das Hinderniß zu überwältigen. Nach kurzem, erbitterten, doch vergeblichem Ringen gingen sie zurück. Abdallah schäumte vor Wuth! Von Neuem ordnete er seine Schaaren, jetzt einen einzigen, den schwächsten Punkt zum Ansturm Aller ausersehend. Mit wüstem Geschrei drangen sie vor. Wiederum streckte das Blei der Vertheidiger so Manchen nieder, ehe es zum Kampfe mit blanker Waffe kam. Wiederum kämpften jene als wahre Helden, dieses Mal unter schwierigeren Umständen und ebenfalls schwere Verluste erleidend. Mit Mühe gelang es ihnen, sich zu halten – abermals wichen die wilden Horden zurück. Mustapha Raïs hatte mit Ingrimm den Verlauf des Angriffs verfolgt. Unerhört, unglaublich schien ihm, was seine Augen sahen. Er ließ frische Truppen landen, setzte sich selbst an die Spitze derselben und feuerte sie in einer kurzen Ansprache durch Verheißung reicher Beute zum nochmaligen Angriff an. Zum dritten Male und in fast verdoppelter Anzahl drangen die Barbaresken vor. Es war unmöglich, ihrer erdrückenden Uebermacht Stand zu halten. Die tapferen Vertheidiger leisteten verzweifelten Widerstand, doch bald ging die vom Podestá ausgegebene Losung durch ihre Reihen, sich kämpfend bis zur Piazza zurückzuziehen. Keiner wandte sich zur Flucht, sondern jeden Fußbreit den nachdringenden Feinden streitig machend, gingen sie bis zum Hauptplatz zurück und setzten sich hier von Neuem fest. Zunächst begann nun ein wüstes Plündern des gewonnenen Stadttheiles seitens der schon kampfesmüden und mehr beutegierigen Tunesen. Während dessen athmeten die Bürger ein wenig auf und benutzten die Zeit bis zum voraussichtlich letzten Kampfe, um sich in Eile so gut als möglich zu verbarrikadiren.

Am ehemaligen Sclavenmarkt zu Tunis.
Nach einer Originalskizze von P. R. Martini.

Doch Mustapha Raïs hatte anders beschlossen und bemühte sich, den größten Theil seiner Leute vom Plündern abzurufen, was ihm freilich erst gelang, als alle noch vorgefundenen Werthgegenstände fortgeschleppt, der Rest aber zertrümmert und vernichtet war; die Burg sollte nunmehr gestürmt werden; dies geschehen, schien es ein Leichtes, den letzten Widerstand der Städter zu besiegen.

Schier unglaublich klingt es, wenn berichtet wird, die Burg von St. Antioco sei erst nach fünfstündigem Kampfe den unzähligen Angreifern erlegen! Weiber, Kinder und Greise nahmen die Muskete zur Hand, um Leben und Freiheit zu vertheidigen! Doch nicht die übermenschliche Anstrengung, die verzweifelte Abwehr der Christen vermochte das Ende, den Fall der Burg, abzuwenden: alle 28 Krieger starben den Heldentod, als letzter der brave Commandant Don Luigi Altamare, von Wunden bedeckt und durch Blutverlust geschwächt, getödtet von der Hand des Mustapha Raïs selbst. Als kostbare Beute ließ dieser die schöne Schwester des Commandanten bewußtlos für sich an Bord bringen.

Die Städter waren indeß wenig belästigt worden; aus dem Innern der Insel kamen zahlreiche Trupps wohlbewaffneter Bauern herbei und allmählich konnte man gegen die Tunesen vorgehen, ja, sie schließlich über die Mauer hinausdrängen. Die frischen Kräfte der Vertheidiger, die harten Anstrengungen, die Ermattung und Unlust seiner Truppen ließen den Korsarenadmiral auf einen nochmaligen Angriff gegen die Stadt verzichten, und nachdem er sich mit den Seinen, den Gefangenen und der Beute eingeschifft hatte, lichtete er sofort die Anker, froh, seinen Zweck erreicht zu [433] haben: nicht ohne große Opfer war dies geschehen, denn gegen 200 Gefallene beklagten die Piraten. Ihnen folgte der Fluch der Bedauernswerthen, welchen theuere Angehörige und Freunde entrissen waren entweder durch den Tod oder – und diese waren noch bemitleidenswerther – als Gefangene, deren das harte Loos der Sclaven auf Afrikas Küste wartete.

Am 20. October des Jahres 1815 ging Mustapha Raïs auf der heimischen Rhede von La Goletta vor Anker und konnte seinem Herrn im Triumphe 158 neue Sclaven, worunter acht Familienmütter, und eine beträchtliche Beute vorführen: das war das traurige Ergebniß des letzten Piratenzuges der tunesischen Korsaren.

Wenig später donnerten die Kanonen des Admirals Exmouth vor Algier; auch Tunis und Tripolis wurden gedemüthigt, und durch den Vertrag vom 8. August 1830 wurde in Tunis durch Sidi Hussein Bey die Sclaverei der Weißen formell aufgehoben; die endgültige Beseitigung der Sclaverei durch Achmed Bey wird seit 1846 datirt. Martini.     


Der Entdecker des Cholerapilzes.

Von einem Manne, dessen Name gegenwärtig in aller Munde ist, dessen Verdienst die einmüthigste, großartigste Anerkennung gefunden, dessen wissenschaftliche Leistung nur von Kennern voll verstanden, aber von vielen Nichtärzten in ihrer Bedeutung gewürdigt ist, von Robert Koch, dem gefeierten Bakteriologen, eine trockene, actenmäßige Lebensbeschreibung zu geben, kann nicht die Aufgabe unserer Zeitschrift sein. Auch eine sachkundige Darlegung seiner Leistungen würde, wenn sie genau sein sollte, nur einem sehr kleinen Kreise unter den Hunderttausenden der Leser dieses Blattes wirklich verständlich sein. Beides kann und soll ein Volksblatt von solchem Umfang nicht.

Wenn aber jetzt, nachdem der Lärm der Ovationen verrauscht ist, die „Gartenlaube“ die festen, energischen Züge Koch’s vorführt, so kann sie diesem ausdrucksvollen Kopfe, dem das consequente, zielbewußte Streben von den Göttern „auf die Stirne gedrückt“ zu sein scheint, keine andere literarische Umrahmung geben, als indem sie das Charakteristische dieses deutschen Gelehrten möglichst klar und scharf hinzustellen versucht.

Dr. Robert Koch.

Der Mann, welcher jetzt, in seinem 41. Lebensjahre, schon seinen Ruf in der gelehrten Welt fest begründet hat, ist ein schlichter Sohn des Harzes. Im Jahre des Sechsundsechsziger Krieges war er Doctor geworden. Dann mußte er sich als Assistent und Arzt mannigfach an Krankenhäusern, in kleinen, entlegenen Orten mühsam emporringen. Das Geschick hat ihm die Wege nicht geebnet. Er mußte es sich recht sauer werden lassen, und als er im Jahre 1872 als Physikus nach Wollstein kam, war ihm dort in siebenjähriger Stellung nichts von dem Ringen um die Existenz erspart.

Aber hier, in diesen doch für wissenschaftliche, bahnbrechende Untersuchungen wenig geeigneten Verhältnissen, mit Scharfblick das Rechte erkannt, mit Zähigkeit und erstaunlichem Fleiß es ausgebaut zu haben, das kennzeichnet ihn nicht nur als self made man, sondern ist auch der Beweis, daß er in seinem Specialfache ein Genie ist. Mit einem Schlage war er durch seine in stiller Arbeit gewonnenen Ergebnisse über die künstlichen Färbemethoden mikroskopischer Objecte, besonders der Bakterien, ein vielgenannter und vielbewunderter Mann geworden. Wer die Bedeutung dieser Forschungen für die Grundlage aller Bakterienkunde verstand, der erkannte es auch, daß damit eine neue Epoche für diese Wissenschaft anbrechen mußte.

Und dies haben die letzten fünf Jahre, von 1879 bis jetzt, in so glänzender Weise bestätigt, daß seine Forschungen über die Entwickelung der Milzbrand-Bakterien und seine Entdeckungen der Krankheitserreger von Tuberkulose und Cholera nicht etwa zufällige Errungenschaften und Glücksfunde sind, sondern die Früchte einer von ihm bis ins Kleinste erfundenen und festgestellten Methode der Untersuchung.

Welche Bedeutung und Tragweite diese Ergebnisse haben, das fühlt selbst Derjenige, welcher keine Kenntnisse von der Heilkunde besitzt. Dem Gelehrten liegt zunächst mehr an den Aufschlüssen über Wesen, Form, Lebensbedingungen jener Infectionskeime, die sich als den erwähnten Krankheiten eigenthümlich erwiesen haben und zur Zeit als die specifischen Ursachen ihrer Entstehung und Uebertragung gelten müssen. Der Laie allerdings fragt gewöhnlich in erster Linie nach dem Nutzen, der aus solchen bakteriologischen Forschungen für seine persönliche, sowie für die allgemeine Gesundheitspflege zu erwarten ist. Beides, die wissenschaftliche und praktische Anforderung, gleichzeitig zu erfüllen, ist nicht möglich; die letztere ist eine später reifende Frucht weiterer Versuche, gezeitigt an dem Baume der neuen Hygiene. Daß diese in erster Linie die Ursachen bisher unheilbarer Krankheiten feststellen mußte, ehe sie an die Frage ihrer Beseitigung gehen konnte, liegt auf der Hand. Diese wird gelöst werden; es ist dies nunmehr viel sicherer als früher zu hoffen. Drei der schwersten Seuchen, welche in ihrer räthselhaft schnellen Verbreitung, in ihrer verheerenden Wirkung, in ihrer Ueberwindung aller Vorbeugungs- und Heilversuche einen Schrecken der Menschheit bildeten, sind durch unser deutsches Reichsgesundheilsamt, speciell durch Koch, in ihrem Wesen erkannt, und dadurch ist man ihrer Einschränkung, ihrer Bekämpfung um einen bedeutenden Schritt näher getreten. Man kennt nunmehr bereits die Bedingungen, welche die Existenz und Vermehrung der Mikro-Organismen begünstigen; und die, welche ihr Fortleben erschweren, ja ihr Leben tödten. Impfversuche mit dem Krankheitsgifte, Desinfectionsversuche im Laboratorium, Versuche im Großen bei auftauchenden Epidemien, das sind nur Glieder einer Kette, die in einander greifen. Das Endglied, die Vernichtung der Krankheitskeime, ist nunmehr erreichbarer, greifbarer.

Und wodurch? Koch’s Arbeiten geben die beste Antwort. Neben der offenbar genialen Begabung eine feste, jahrelange Concentrirung in dem Streben nach der Lösung bestimmter Fragen, eiserner Fleiß, streng gewissenhaftes, logisches Vorgehen, größte Strenge gegen sich selbst, das waren die Waffen, die so Bedeutendes erfochten. Koch ging in seinen Forschungen und Schlüssen nie einen Schritt weiter, ehe er nicht festen Boden unter den Füßen fühlte. Diese gewissenhafte Art, zu arbeiten, gab ihm eine Sicherheit, welche alles einmal Erreichte als feststehende, unzweifelhafte Thatsache erkennen ließ und alle weiter gehenden „Vermuthungen“ ausschloß. Er war zu rechter Zeit der rechte Mann und, fügen wir dies gleich hinzu, am rechten Platze. Die Reichsregierung hat dem Reichsgesundheits-Amt nicht nur mit vollen Händen, sondern auch mit verständnißreichem Erfassen der Situation, die vollkommensten Hülfsmittel dargeboten, alle Arbeitskräfte richtig gewählt und die exacte Methode sicheren Händen anvertraut. Durch dies Musterinstitut hat sich Deutschland ein hohes Verdienst erworben.

Ehren auf Ehren sind dem Bakterienforscher Koch und seinen Gefährten, als sie aus der Brutstätte der Cholera, Ostindien, wieder heimkehrten und auch von dieser Expedition mit dem Siegesruf: „Heureka! Gefunden!“ die Trophäe in Gestalt des bisher unbekannten Cholerakeims mitbringen konnten, zu Theil geworden. Titel und Orden, denen der Kaiser noch – in Würdigung der persönlichen Gefahr der Entdeckungsreise – besondere sonst für das Schlachtfeld bestimmte Auszeichnungen beifügte, wurden den Betreffenden verliehen. In Adressen, auf Banketten haben die Fachgenossen sie gefeiert; wie es heißt, wird die neue Professur und Lehrkanzel der Hygiene in Berlin Koch übertragen werden – kurz, an äußeren Anerkennungen hat es dem bescheidenen, ernsten Forscher nicht gefehlt.

Eine Huldigung von Seiten dieses Blattes kann dem Nichts hinzufügen, als daß sie den weitesten, auch nichtärztlichen Kreisen die Züge und die Bedeutung dieses Mannes vorführt. Wenn wir Deutsche ihn mit Stolz den Unseren nennen, so ist doch, was er geleistet, universell – er verdient im vollen Sinne des Wortes den schönen Ehrentitel: „Wohlthäter der Menschheit“. Dr. F.     


[434]
Die Kindheit eines Riesen.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)
II.

Zwischen der Art und Weise, wie Mittel- und Südamerika durch Eroberer und Ansiedler von romanischer Rasse und Nordamerika durch Einwanderer und Ansiedler von germanischer Rasse kolonisirt worden sind, bestand ein schroffer Gegensatz. Man hat denselben auf die bündige Formel gebracht: Gold und Weizen – und ich erweitere diese Formel um etwas, indem ich ihren drei Worten drei andere anfüge: Abenteuer und Arbeit.

Bei den Spaniern und Portugiesen – theilweise auch bei den Franzosen, wenigstens in Westindien – war alles auf waghalsige Abenteuer und auf rasche, glänzende Erfolge gestellt, welche hinwiederum die Erraffung von möglichst viel Gold als höchstes Ziel verfolgten. Die germanischen Kolonisten dagegen steckten sich von Anfang an Ziele, welche nur mittels dauerhafter Arbeit erreicht werden können. Sie gingen auf die Gründung von Ackerbaustaaten aus, und weil der Ackerbau allzeit und überall die solideste Basis von Staatsgebilden war und ist, so überholten die in ihren Anfängen so ärmlichen germanischen Kolonieen im Verlaufe der Zeit an wirklich großen und bleibenden Erfolgen ihre romanischen Mitbewerber weit. Man sehe nur, was die Spanier aus Mittel- und Südamerika gemacht haben und was die Angelsachsen aus Nordamerika zu machen verstanden. Die Losung: Arbeit und Weizen! mußte es über die Losung: Abenteuer und Gold! davontragen. Es konnte gar nicht anders kommen.

In der Zeit von 1621 bis 1627 war die Kolonie Plymouth in langsamem, aber stätigem Vorschritt begriffen. An mancherlei Drang- und Trübsalen fehlte es freilich nicht, und im ganzen war die Existenz der Ansiedler ein unausgesetztes und hartes Ringen um des Lebens Nothdurft. Die Tag- und Jahrbücher dieser und der anderen ältesten Ansiedelungen überhaupt haben etwas Rührendes und Herzgewinnendes, wenn sie die täglichen Geschehnisse in diesem schweren Kampf ums Dasein erzählen. Das Wollen und Thun, alle die schlichten Erlebnisse und Erfahrungen der Pilgrime, dieser trefflichen, aufrichtig und wahrhaft, wenn auch einseitig und fanatisch frommen Männer und Frauen, treten uns menschlich viel näher als alle die farbenprunkenden Abenteuer der spanischen „Conquistadoren“ in Mexiko und Peru. Mitunter spricht uns in den Aufzeichnungen der Pilgerväter auch ein idyllisch-schalkhafter Zug wohlthuend an. So, wenn der tapfere Standish, nachdem er seine Gattin Rose durch den Tod verloren, sich nach einem Ersatz umsieht und als seinen Brautwerber den stattlichen jungen John Alden zur schönen Jungfrau Priscilla Mullins schickt. John entledigt sich gewissenhaft seines Auftrags und spricht warm für seinen Freund, den Captain Shrimp. Priscilla nimmt in Gegenwart ihres Vaters den ehrenden Antrag entgegen, blickt zu Boden und schweigt eine Weile. Dann hebt sie die Augen, sieht den Freiwerber lächelnd an und sagt: „Aber, John, warum sprecht Ihr denn nicht lieber für Euch selbst?“ Der glückliche John schreibt sich das hinter die Ohren, überbringt den abschlägigen Bescheid des Mädchens seinem Auftraggeber und verheiratet sich unlange darauf mit Priscilla. Captain Shrimp speit Feuer und Flamme, ergibt sich aber in die vollendete Thatsache, findet unter den neuen Ankömmlingen aus dem Mutterland ebenfalls eine passende Gattin und später haben er und John Alden ihre Kinder einander zur Ehe gegeben. Auch an komischen Zügen fehlte es nicht, obgleich dieselben nur uns Nachgeborenen komisch vorkommen mögen. So waren z. B. die Hergänge, als die Puritaner von Plymouth mit dem Sachem (Häuptling) des ihnen zunächst wohnenden Indianerstannnes in Verbindung traten, wobei ein Indianer, Squanto geheißen, den Dolmetscher machte. (Er war nämlich durch die Mannschaft eines englischen Schiffes, welches früher diese Küsten angelaufen, entführt worden, hatte in England englisch gelernt und war mit den Pilgrimen in sein Heimatland zurückgekehrt.) Der gemeinte Sachem, Massasoit benamset, stand dem Stamme der Wampanogen vor, einem Zweige der Pokanoketen. Eines Tages, im Frühling von 1621, erschien er mit einem Gefolge von 20 „Kriegern“ in der jungen Ansiedlung. Sein An- und Aufzug hatte nicht die geringste Aehnlichkeit mit der prunkvollen Erscheinungsweise der Herrscher von Mexiko und Peru, wie diese dem Cortez und dem Pizarro entgegentraten. Massasoits Erscheinung entsprach ganz dem Unterschiede zwischen den indianischen Völkerstämmen von Nordamerika und den indianischen Kulturstaaten der Azteken und der Inkas. Dem bettelhaften Auftreten des Sachems durchaus analog waren die ärmlichen Veranstaltungen der Pilgerväter, dem „rothen Heidenkönig“, wie sie ihn betitelten, einen „imponirenden“ Empfang zu bereiten. Die feierliche Aufnahme des mit rothem Ocker bemalten und in ein Büffelfell gehüllten „Königs“ in einer Blockhütte, wo ein verschossener grauer Teppich und vier mangelhafte Kissen zurechtgelegt waren, als der Governor der Kolonie mit seinem Gaste eintrat, während draußen etliche puritanische Jünglinge sich abmühten, mittels einiger alten Trompeten und Trommeln einen erschrecklichen Lärm zu machen – diese Haupt- und Staatsaktion hatte etwas Hochkomisches. Um so mehr, als der rothe Heidenkönig vor Verwunderung und Verblüffung am ganzen Leibe zitterte und, als ihm ein Glas „Feuerwasser“ (Branntwein) kredenzt wurde, einen so herzhaften Schluck that, daß ihm die Schweißtropfen über das rothbemalte Gesicht rollten und er sich vor Angst nicht zu fassen und zu lassen wußte. Im übrigen war diese Zusammenkunft sehr ernst zu nehmen; denn während derselben kam ein Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen den Kolonisten von Plymouth und dem Sachem zustande, dessen Wohnsitz, d. i. Standlager Montaup auf einer Landzunge sich befand, welche weit in eine Nebenbucht der Narragansettbai hineinreicht.

Die Urwälder und Prairieen von Neu-England – und weiterhin von Nordamerika überhaupt – waren von größeren und kleineren Völkerschaften der rothen Rasse bewohnt, deren Vorschreiten in der Kultur und deren Bestand sogar gehemmt und selbst in Frage gestellt wurde durch die unaufhörlichen Fehden, welche sie unter einander führten. Ihre Hauptnahrung lieferten Jagd und Fischerei, doch verbanden sie damit einen dürftigen Ackerbau, Maisbau, welchen jedoch die Frauen ausschließlich besorgten. Denn der rechte rothe Mann kümmerte sich ja bloß um Jagd und Krieg. Ihre religiösen Anschauungen waren sehr unbestimmt, doch hatten sie die Vorstellung von einem guten Geist („Manitu“) und von einem bösen („Machinito“), der, wie jener, auch andere Namen führte. Ihr Gottesdienst erhob sich nicht über die Stufe läppischer Zauberei. Ihre politische Verfassung konnte mehr eine aristokratisch-republikanische als eine despotisch-monarchische heißen. Denn die Macht der Sachems oder Sagamors war durch den aus Unterhäuptlingen bestehenden Rath sehr beschränkt. Die sogenannten indianischen „Nationen“, von welchen in der Geschichte Nordamerikas häufig die Rede ist, waren Bündnisse, zu welchen mehrere verwandte Stämme sich zusammenthaten, Eidgenossenschaften, deren es bei der Ankunft der Puritaner in Neu-England daselbst fünf gab: die Pokanoketen, unter denen der Stamm der Wampanogen die Führung hatte, die Narragansetter, die Connecticuter (Pequoden und Mohikaner), die Massachusetter und die Pawtuketter. Mit allen diesen „Nationen“ hatten die Kolonisten während der ersten fünfzig Jahre des Bestehens der Neu-Englandstaaten zu thun, in Freundschaft und Feindschaft. Aber vornehmlich waren es die Wampanogen, die Pequoden und die Narragansetter, welche in die Geschicke dieser angelsächsischen Gemeinwesen eingegriffen haben.

Neu-Englandstaaten? Ja wohl. Denn bald gab es solche. Mit dem Wachsthum der Kolonie Neu-Plymouth verbreitete sich auch ihr Ruf. Drüben im Mutterlande ließ die verschönernde Ferne den bescheidenen jungen Pflanzstaat im Lichte eines „neuen Kanaans“ erscheinen und demzufolge machten sich Scharen von Puritanern, gegen welche ja unter der Regierung Karls des Ersten die Verfolgung nicht rastete, nach dem „Lande der Verheißung“ jenseits des Weltmeers auf die Wanderfahrt. Schon i. J. 1630 wurde von solchen puritanischen Auswanderern mit verhältnißmäßig nicht unbedeutenden Mitteln die Kolonie Massachusetts gegründet, welche ihre ältere Schwester Plymouth bald überflügelte und ihren Hauptort Boston rasch zu einer mächtigen Hafen- und Handelsstadt aufblühen sah. Von dieser epochemachenden [435] Gründung an war die Einwanderung stets im Wachsen. In der Zeit von 1633 bis 1640 liefen jährlich durchschnittlich 20 mit Ansiedlern beladene Schiffe die Küsten von Neu-England an. Im Sommer von 1635 allein stiegen dort 3000 neue Einwanderer an’s Land. Im folgenden Jahre kamen nahezu 4000. In den Sommer von 1635 fiel eine der bedeutsamsten Gründungen, die von Rhode-Island mit dem Hauptort Providence an der Narragansettbai durch Roger Williams. Das war einer der hellsten Geister und, edelherzigsten Menschen seines Jahrhunderts, in Wahrheit eine der Grundsäulen, auf welchen die religiösen und politischen Einrichtungen der großen transatlantischen Republik ruhen. Mit nur 13 Gefährten that der Treffliche, den die starr-orthodoxen Puritaner von Massachusetts verfolgt und vertrieben hatten, unter Hunger und Kummer Providence auf als eine Zufluchtsstätte der Glaubens- und Denkfreiheit, der religiösen Duldsamkeit, fünfzig Jahre früher, als William Penn seine Kolonie Pennsylvanien ebenfalls zu einem Asyl der Toleranz machte[3]. Weiterhin wurden die Ansiedlerstaaten Connecticut, New-Hampshire und Maine gestiftet. Und mehr und mehr erstarkten diese sämmtlichen Gemeinwesen in ihrem Innern, mehr und mehr erweiterten sie ihre Gebiete nach außen, mehr und mehr wuchs in ihnen das Gefühl der Kraft und Selbstständigkeit. In diesen der Wildniß abgerungenen, auf religiöse Begeisterung, harte Arbeit und strenge, ja herbe Sittlichkeit begründeten Pflanzstaaten entwickelte sich immer zuversichtlicher der demokratische Geist und bildeten sich die Formen des Selfgovernments immer entschiedener und kräftiger aus.

Zur Zeit, als daheim im Mutterlande der große Streit zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus, zwischen König und Parlament durchgekämpft wurde und mit der Niederlage des Königthums endigte, waren die Kolonien von Neu-England bereits fähig, auf eigenen Füßen zu stehen, zu gehen und sogar tüchtig auszuschreiten. Trotzdem hat es zu ihrem weiteren Gedeihen natürlich mächtig mitgewirkt, daß der große Protector Oliver Cromwell, der gewaltigste Herrscher, den Großbritannien gehabt, die Kolonisten, seine puritanischen Glaubensgenossen, mit hohem Wohlwollen ansah und sich ihnen in jeder Beziehung huld- und hilfreich erwies.

Aber das Meiste und Beste für ihr Emporkommen haben die Kolonisten selber gethan und zwar unter der Leitung und Führung von so ausgezeichneten Männern, wie die Carver, Bradford, Winslow, Winthrop, Eaton, Endecott, Hooker und andere mehr gewesen sind. Man darf sie die Patriarchen des „neuen Kanaan“ nennen. Die Strenge, womit sie die puritanischen Anschauungen und Principien in religiöser und sittlicher Beziehung aufrechtgehalten, blieb dauernd bestehen, und wenn die Neu-Engländer in bürgerlichen Dingen vom Anfang an und unablässig die Ideen und Formen der Selbstregierung bekannten und handhabten, so war die Gesetzgebung dieses Selfgovernments eine so ernste und unnachsichtige, daß anarchische Gelüste in den Pflanzstaaten niemals auftauchen, geschweige platzgreifen konnten. Diese zähen Männer, welche der Civilisation eine neue Welt eroberten, hielten auf feste Zucht und waren sehr geneigt, die Strenge, welche sie gegen sich selber übten, auch gegen andere walten zu lassen. Es ist ja bekannt genug, daß die Puritaner von Neu-England, nachdem sie kaum aufgehört hatten, Verfolgte zu sein, schon angefangen haben, Verfolger von Andersdenkenden zu werden. Das traurigste Beispiel solcher Unduldsamkeit bot ihr schnödes Verfahren gegen Roger Williams. Freilich darf man nicht übersehen, daß der Puritanismus nur mittels seiner eisernen Folgerichtigkeit sein großes Gründungswerk durchzusetzen vermochte. Aber dieses Werk hatte eben wie alles Menschliche auch seine Schattenseite. Eine Kirchenzucht, welche, dem theokratischen Fanatismus der Puritaner entsprungen, weltliche Strafgewalt sich angeeignet hatte, regelte und controlirte das ganze Dasein. Sie drückte freilich der Lebensführung der Kolonisten den Stämpel der Eintönigkeit, der Entsagung, der finsteren Grübelei, der Schwermuth und Herbigkeit auf, aber sie erzog auch mittels ihrer harten Disciplin häusliche und öffentliche Tugenden und lehrte Männer und Frauen jene Selbstbeherrschung, Thatkraft, Beherztheit und Standhaftigkeit, kraft welcher sie vollbringen konnten, was sie vollbracht haben.

Von großer Wichtigkeit mußte vom Anfang an für die jungen Pflanzstaaten das Verhältniß zu den Eingeborenen sein. Der Verkehr mit denselben war, einzelne Zwischenfälle abgerechnet, lange Zeit ein friedlicher und freundlicher, obzwar in den Beziehungen zwischen „Blaßgesichtern“ und „Rothhäuten“ der natürliche Keim zu heftigen Zerwürfnissen lag. Man muß den Puritanern nachrühmen, daß sie im ganzen und großen ihr Verhalten gegen die Indianer auf die Vorschriften strenger Rechtlichkeit basirten und namentlich die Eigenthumsrechte der Eingeborenen gewissenhafter achteten, als andere Europäer zu thun pflegten. In den puritanischen Ansiedelungen galt der Grundsatz, daß der Grundbesitz der Indianer nur mittels Kaufes oder Tausches in die Hände der Weißen übergehen dürfe. Freilich hinderte das nicht, daß ungeheure Strecken indianischer Jagdgründe von ihren Eigenthümern häufig um kindisches Spielzeug an die Kolonisten verhandelt wurden. Aber hinwiederum möchte dabei doch auch zu beachten sein, daß diese so spottwohlfeil erworbenen Landstrecken aus Prairie und Urwald bestanden und demnach von dem weißen Erwerber zum zweitenmal mit Axt und Hacke, mit Pflug und Spaten erworben, mit der harten Arbeit seiner Hände und dem heißen Schweiß seines Angesichts bezahlt werden mußten. Der erste große feindliche Zusammenstoß zwischen den Weißen und den Rothen hatte im Jahre 1637 in der Kolonie Connecticut statt. Der kluge und beherzte Sachem der Pequoden, also der ursprünglichen Eigenthümer des Landes, Sassakus, erkannte deutlich, daß von dem immer weiteren Vordringen der Kolonisten seinem Volke der Untergang drohte. Ebenso, daß diesem Vordringen nur ein Damm gesetzt werden könnte mittels einer festen Eidgenossenschaft aller indianischen Stämme von Neu-England. Er bemühte sich, wie wir später den Wampanogen-Sachem Metakom thun sehen werden, eine solche Eidgenossenschaft zu stiften. Aber vergebens. In dem zwischen den Pequoden und den Kolonisten vom Connecticut losbrechenden Kampfe erhoben die Mohikaner unter Führung ihres Sachems Unkas den Tomahawk gegen ihre rothen Brüder und für die Weißen, zu deren Gunsten und Unterstützung auch der Sachem der Narragansetter, Miantonomo, zweihundert seiner Leute auf den Kriegspfad schickte. So wurden die Pequoden überwältigt, ja geradezu vernichtet.

Diese erste große Gefahr, welche vonseiten der „rothen Heiden“ die puritanischen Pflanzstaaten bedroht hatte, verursachte oder beschleunigte wenigstens die Verwirklichung eines Gedankens, dessen Naturgemäßheit, Räthlichkeit und Nothwendigkeit von den Häuptern der Kolonisten schon lange erkannt worden war. Nämlich die Zusammenfassung der Pflanzstaaten von Neu-England zu gegenseitigem Schutz und Trutz mittels freier Vereinbarung. Diese älteste nordamerikanische Konföderation wurde i. J. 1643 glücklich gestiftet und damit eine mächtige neue, Bürgschaft für die gedeihliche Weiterentwickelung der neuenglischen Gemeinwesen hergestellt.




Das Riesenkind war zum Knaben erstarkt, war zum Jüngling aufgewachsen, der sich bald schon als ein ganzer Mann erweisen sollte.

Es muß als geradezu erstaunlich bezeichnet werden, was bis gegen das Jahr 1660 hin die Puritaner aus der Wildniß von Neu-England gemacht hatten. Unter ihren rastlos schaffenden Händen hatte sich das Wald- und Prairieland in ein fruchtbares Ackerbauland verwandelt, welches, mit Städtchen, Dörfern, Weilern und Farmen besetzt, mittels seines ganzen Aussehens erfreuliches Zeugniß ablegte von dem Fleiß, der Ausdauer, der Intelligenz, der Sparsamkeit und dem Wohlstand seiner Bewohner. Hier war gezeigt, was eine nicht auf schwindelhaft-utopische Theorieen, sondern auf das praktische Evangelium der Arbeit begründete Demokratie zu unternehmen und zu vollbringen vermöge. Auch die gewerbliche Thätigkeit und der Handel hatten einen vielversprechenden Aufschwung genommen und trugen zur Erleichterung und zum Behagen des Daseins bei.

Nun aber kamen Zeiten schwerer Störungen und Prüfungen, welche zu überstehen und zu überwinden der Puritanismus seine junge Manneskraft einsetzen mußte und eingesetzt hat.

[436] Eine große Störung brachte in die rüstige Entwickelung der Pflanzstaaten von Neu-England die Wiederherstellung des Königthums in England in der Person Karls des Zweiten (1660). Eine schwere Prüfung für die Kolonieen sodann war der große Indianerkrieg, welcher in den Jahren 1675–76 währte und ihre ganze Existenz bedrohte.

Karl der Zweite, dieses abschreckende Beispiel von einem leichtsinnigen, lüderlichen und gewissenlosen König, konnte, soweit er überhaupt seinen Vergnügungen und Ausschweifungen dann und wann eine flüchtige Stunde der Beschäftigung mit ernsthaften Dingen abgewann, die puritanischen Pioniere von Neu-England nur mit Uebelwollen ansehen. Es gab auch in seiner Umgebung Leute genug, welche die über England hereingebrochene Reaktion aus selbstsüchtigen Absichten auf die transatlantischen Kolonieen auszudehnen strebten. Demzufolge hatten die Kolonisten jahrelange schwere und wechselvolle Kämpfe um ihren Besitz, ihre Rechte und Freiheiten mit der Regierung des Mutterlandes zu bestehen. In diese Kämpfe war gleich zum Anfang noch ein starkes Element der Verbitterung hineingekommen durch den Umstand, daß die Puritaner sich weigerten, dem König und seinen racheschnaubenden Höflingen einen Gefallen zu thun. Nämlich diesen, die beiden Obersten Whalley und Goffe, welche im Rathe Cromwells und in dem Hohen Gerichtshof gesessen, der Karl den Ersten verurtheilt hatte, und welche jetzt, für vogelfrei erklärt, nach Neu-England herübergeflohen waren, zu greifen und auszuliefern. Die beiden geächteten „Königsrichter“ haben unter dem Schutz ihrer religiösen und politischen Gesinnungsgenossen jahrelang erst in einem Versteck unweit von Neu-Haven und dann wieder jahrelang bis zu ihrem Tode im Predigerhause zu Hadley unweit vom Connecticutfluß eine Zuflucht gefunden. Noch bei ihren Lebzeiten hatte sich um ihre Personen her ein ganzer Sagenkreis gebildet, dessen Ueberlieferungen mehrfach novellistisch ausgenützt wurden[4]. Die Weiterungen und Zerwürfnisse mit dem Regimente der Stuarts machten einem besseren Verhältnisse erst dann wieder Platz, als diesem Regiment durch die zweite englische Revolution des 17. Jahrhunderts ein Ende bereitet ward (1688–89).

Eine „höhere“ Kinderstube.
Nach der Natur angenommen von Emil Schmidt.

Aber der vielfältige und mitunter nicht wenig gefährliche Hader mit dem Mutterlande war noch im Gang, als die schwere Heimsuchung durch den sogeheißenen „König-Philipps-Krieg“ über die Kolonieen erging.

Im Verlaufe der Jahre hatten sich in Neu-England zwischen den Ansiedlern und den Eingeborenen Verhältnisse herausgebildet, wie sie überall eintreten mußten oder müssen, wo eine gesunde, kräftige und verhältnißmäßig gebildete Menschenrasse mit einer barbarischen in Berührung kam oder kommt. Die Kultur ist in Verfolgung ihrer Zwecke ebenso erbarmungslos wie die Natur. Beide wissen nichts von Sentimenlalität. Beide ziehen mit unbeugsamer Logik die Schlußfolgerungen aus ihren Voraussetzungen. Es ist ein logisches Gesetz der Natur wie der Geschichte, daß Macht vor Recht gehe. Das ist sehr traurig, aber sehr wahr. Jede Seite im Buche der Natur- wie der Menschheitgeschichte bezeugt es. Hier wie dort fressen die großen Fische die kleinen. Grausam das, aber unabänderlich. Es ist eben der unerbittliche „Kampf ums Dasein“, dessen nimmer rastende Motive Hunger und Konkurrenz heißen.

„Der Rauch vom Herdfeuer der Blaßgesichter tödtet den rothen Mann.“ Dieses unter den Indianern von Neu-England umgehende Wort bezeichnete eine traurige Thatsache. Denn in demselben Verhältniß, in welchem die angelsächsischen Ansiedelungen sich vervielfältigten und an Ausdehnung und Volkszahl zunahmen, schwand die indianische Bevölkerung dahin. Die weiße Rasse zehrte so oder so die rothe auf, und was sie davon nicht aufzehrle, drängte sie mehr und mehr westwärts in die Wildnisse zurück. Büchse und Schwert trugen nicht wenig zur Vernichtung der Rothhäute bei, aber mehr noch thaten dies zwei aus Europa eingeschleppte Uebel: eine Seuche, die Blattern, und ein Laster, das Feuerwassertrinken. Als ein Halbjahrhundert vergangen seit dem Tage, wo die Pilgerväter ihre Füße auf die Felsplatte bei Plymouth gesetzt hatten, waren schon mehrere der indianischen Völkerschaften von Neu-England ganz verschwunden oder im Aussterben begriffen. Andere waren aus den Jagdgründen ihrer Väter und damit von ihren Nahrungsquellen verdrängt und wieder andere in naher Gefahr, daraus und davon verdrängt zu werden. Die Grundsätze strenger Rechtlichkeit, welche die Pilgerväter in

[437]

Kinderstube zu ebener Erde.
Nach dem Oelgemälde von T. Lobrichon.

[438] ihrem Verkehr mit den Rothhäuten zur Richtschnur genommen, hatten sich im Verlaufe der Zeit abgeschwächt, und es gab jetzt nicht wenige Kolonisten, welche gegenüber den Indianern viel, vielleicht alles für erlaubt hielten, weil es ja nur „blinde Heiden“ wären. Genug, unaufhaltsam rückten die Herdfeuer der Weißen den Rothen immer näher, und bald sahen sich diese in einer so gefährlichen und bedrängten Lage, daß die Gefühle, womit sie auf die Kolonisten blickten, naturnothwendig immer erbittertere und feindseligere werden mußten. Dieser Haß schwärte und gährte viele Jahre im Stillen fort und nahm zu an Tiefe und Glut. Es fehlte daher nur ein Mann, welcher das Zeug hätte, demselben die Ziele zu weisen und die Wege zu zeigen, und ein solcher Mann erstand den Rothen in dem Sohne des 1656 gestorbenen Sachems Massasoit, in dem Wampanogen Metakom oder Metakumet, dem Bundeshäuptling der Eidgenossenschaft der Pokanoketen, welchen die Kolonisten den König Philipp zu nennen pflegten.

Wir wissen von ihm nur, was seine Feinde, die Kolonisten, über ihn berichtet haben. Aber auch diesen feindlichen Berichten zufolge muß er ein Mann von imposanter Erscheinnng und großen Gaben gewesen sein, ein Kenner der Rothen und der Weißen, ein rechter Fürst der Wildniß, Patriot, Krieger, Diplomat, so daß ich, alles erwogen, nicht anstehe, ihn als den bedeutendsten Schössling zu bezeichnen, welchen, die Azteken und Tolteken beiseite gelassen, das nordamerikanische Indianerthum hervorgetrieben hat.

Unter Metakoms „Skalp“ brütete zweifelsohne die Vorstellung, das einzige Mittel, sein Volk vor zunehmender Noth und voraussichtlichem Untergang zu wahren, sei nicht so fast die Einschränkung der Kolonieen auf ihren dermaligen Besitzstand, als vielmehr die Vertilgung oder Vertreibung der Blaßgesichter vom Boden der rothen Männer. Der Sagamor erkannte auch unschwer, was die Ueberlegenheit der Kolonisten ausmachte: ihr Zusammenhalten und ihre Bewaffnung. Beide Vorzüge suchte er darum seinen Volksgenossen anzueignen. Er nahm den Gedanken des unglücklichen Sassakus wieder auf, alle rothen Männer von Neu-England in einen großen Kriegsbund gegen die Weißen zusammenzufassen, in eine indianische Eidgenossenschaft, welche der von den Kolonisten 1643 gestifteten gewachsen wäre, und jahrelang hat er mit der ganzen Schlauheit und Geduld seiner Rasse an der Verwirklichung dieses Gedankens gearbeitet. Ebenso an der Aufgabe, seine Landsleute mit Feuergewehren zu versorgen und sie im Gebrauche derselben zu üben. Nach beiden Richtungen hin gewann seine geduldige und geschickte Arbeit Erfolge und um das Jahr 1670 begannen die Wirkungen von Metakoms patriotischer Thätigkeit die Aufmerksamkeit der Kolonialbehörben zu erregen. Ein bewegteres Thun und Treiben machte sich unter den Rothhäuten bemerkbar. Läufer eilten geschäftig von einem Stamm zum andern, Botschaften hin und her zu tragen. Man hörte auch von großen indianischen Rathsversammlungen, in welchen heftige Reden gegen die Blaßgesichter geführt wurden, und endlich mußte es für ein sehr bedrohliches Merkmal gelten, daß immer mehr Indianer in den Besitz von Feuerwaffen gelangten und mit denselben sehr geschickt zu handiren verstanden.

Schon 1671 drohte der Ausbruch der Krisis. Doch war Metakom mit seinen diplomatischen und kriegerischen Vorkehrungen noch nicht zu Rande und darum ließ er sich herbei, den Kolonisten wiederholt Freundschaft zu versprechen, was so wenig aufrichtig gemeint als geglaubt wurde. Der faule Friede zog sich bis zum Jahre 1674 hin, wo das Vorspiel zum „König-Philipps-Krieg“ in Scene ging. Sasamon, ein getaufter Indianer, suchte als Missionär unter seinen Stammesgenossen zu wirken. Auf einem seiner Bekehrungsgänge an der Gränze des Pokanoketenlandes mit dem Sagamor zusammengetroffen, errieth er aus diesem und jenem hingeworfenen Worte die feindseligen Absichten Metakoms gegen die Kolonisten und hielt es für seine Pflicht, diese zu warnen. Der Häuptling erfuhr durch seine Späher von diesem Verrath, als welchen er Sasamons Hinterbringung ansehen durfte, ließ durch drei seiner Leute dem Verräther auflauern, denselben überfallen und umbringen. Die Behörden von Plymouth aber, auf deren Gebiet der Mord geschehen, ließen die Mörder verfolgen, ergreifen, processiren und hängen.

Sowie nun Metakom das in Erfahrung gebracht hatte, brach er los. Er sah wohl ein, daß ihm keine andere Wahl mehr bleibe, als alles zu wagen und den Anfang zu machen. Er mochte die nicht grundlose Hoffnung hegen, daß seine Schilderhebung wenigstens die Mehrzahl seiner rothen Rassegenossen mit sich fortreißen würde. Er grub das Kriegsbeil aus und rief seine Mannschaften auf den Kriegspfad. Am 24. Juni von 1675 kam der Kampf zwischen den Rothen und Weißen zum hellen Ausbruch, ein langwieriger Entscheidungskampf, ein Kampf um Leben oder Tod. Ein Bewohner von Swanzey, einem an der Gränze der Ansiedelungen gelegenen Dorfe, hatte, gereizt durch die Drohungen und Raubversuche der Rothhäute, einen Wampanogen niedergeschossen. Unlange darauf, am genannten Junitag, einem Sabbath, als die ganze Bewohnerschaft im Bethause versammelt war, wurde Swanzey von den Wampanogen überfallen, die Bewohnerschaft niedergemetzelt oder gefangen weggeschleppt, das Dorf dem Feuer überliefert.

Das war ein erstes Muster der furchtbaren indianischen Kriegsweise, zusammengesetzt aus Hinterhalten, Ueberfällen, Mordbränden und schonungslosem Gemetzel. Wie gefährlich und verderblich diese Kriegsweise den Kolonisten werden mußte, namentlich unter der Leitung eines so ungewöhnlich beanlagten Führers, wie Metakom fraglos gewesen, ist klar. Noch viel höher stieg aber für die Kolonieen diese Indianergefahr, als es der Diplomatie König Philipps gelungen war, den großen Häuptling der Narragansetter, Canonchet, zur Erhebung des Kriegsbeils gegen die Blaßgesichter zu bewegen und zu seinem Bundesgenossen zu machen. Der Narragansett hatte eine schwere Blutschuld der Kolonisten zu rächen, welche seinen Vater Miantonomo schnöder Weise an dessen Todfeind, den Mohikaner-Sachem Unkas, zur Tödtung ausgeliefert hatten. Canonchet war, wie uns seine angelsächsischen Feinde bezeugt haben, von Gestalt „ein Apoll der Wildniß“, ein Mann „mit einer Römerseele“, ein wahrhaft reiner und großer Charakter, ein wirklicher Held, von Begeisterung für die Sache seines Volkes erfüllt. Vor dieser heldische Erscheinung ist dann auch Metakom etwas in den Hintergrund getreten.

Vierzehn volle Monate währte, wüthete und wüstete der mörderische Krieg. Nachdem schon zu Anfang Septembers von 1675 Sendboten der Kolonieen zur Berathung zusammengetreten waren und beschlossen hatten, den Kampf als eine gemeinsame Sache zu fassen und zu führen, stand es bis zur Mitte Decembers an, bis ihre Rüstung vollendet und eine ausreichende Streitmacht beisammen war. Dann ging es mit der ganzen Energie puritanischen Enthusiasmus’ los gegen die „rothen Heiden“, gegen welche die Kolonisten denselben wilden Grimm und Groll hegten, welchen vordem die Kinder Israel gegen die Völker von Moab und Amalek gehegt hatten. Es war ein zähes und blutiges Ringen zwischen den Weißen und den Rothen. Im März von 1676 lachte das Kriegsglück den Indianern unter Canonchets Führung am freundlichsten. Nun aber folgte ein jäher Umschlag. Bei den Fällen des Connecticut wurde ein Treffen geliefert, in welchem die Narragansetter vollständig unterlagen. Der Sachem wollte sich mit den Resten seiner Krieger südwärts gen Montaup zum Metakom durchschlagen. Allein beim Uebergang über den Nipmuk ward er von den Freiwilligen von Connecticut, mit welchen auch die Mohikaner unter ihrem Sachem Unkas zogen, umzingelt, angegriffen und gefangen. Den unglücklichen Mann traf das Loos seines Vaters und von derselben Hand. Die puritanischen Sieger forderten den Tod des höchst gefährlichen Feindes. Sie übergaben ihn dem Unkas, der ihn niederschießen und hierauf den Todten mit allen indianischen Ehren bestatten ließ. Es wird erzählt, die Puritaner hätten dem großen Sachem das Leben angeboten, unter der Bedingung, daß er sich den Kolonieen unterwürfe. Das verweigerte er aber stolz und standhaft. Es kennzeichnet die Rohheit der Zeit, daß dem todten Helden der Kopf abgeschnitten und derselbe als Siegestrophäe an die Behörde von Connecticut geschickt wurde.

Bis zum August hielt Metakom, obgleich von allen Seiten mehr und mehr eingeengt und bedrängt, den Kampf noch aufrecht und zwar von seinem Stammland in der Umgebung von Montaup aus. Es gelang ihm immer wieder, neue Streitgenossen zu werben und zu sammeln, bis ihn noch ein vernichtender Schlag traf. Dieser, daß der Hauptmann Church von Connecticut, der Besieger Canonchets, seine beste Mannschaft überfiel und niedermachte und bei dieser Gelegenheit die Squaw des Sachems und seinen neunjährigen Sohn fing. Jetzt irrte der von den Kolonialregierungen geächtete Häuptling unstät umher, auf den Jagdgründen seiner Väter wie ein Wildthier gejagt. Dann kam das Bitterste, der [439] Tod von der Hand eines Mannes seiner eigenen Farbe. Einer der wenigen Krieger, die ihm noch folgten, wagte es, dem Sachem von der Nothwendigkeit zu sprechen, mit den Blaßgesichtern Frieden zu machen. Metakom erschlug den Mahner. Aber ein Bruder desselben übte Blutrache, suchte und fand den Sachem in seinem letzten Versteck, einem auf der Landzunge von Montaup gelegenen Swamp (Sumpf), und erschoß ihn.

Mit König Philipps Tod war der Krieg zu Ende und hob das Rachewerk der Sieger an. Mit ganz alttestamcntlichem Furor gingen die Kolonisten gegen die Söhne Moabs und Amaleks, d. h. gegen die niedergeworfenen Indianer vor. Wehe allen Rothen, welchen es nicht gelang, zeitig genug gen Canada oder westwärts gegen die großen Seeen hin zu entweichen! Unter den Puritanern wurde alles Ernstes die Frage aufgeworfen und erörtert, ob es nicht rathsam und gottgefällig wäre, die ganze Brut der rothen Heiden mit Stumpf und Stiel auszurotten. In Plymouth und Boston fanden massenhafte Hinrichtungen rother Männer statt. Scharen von solchen wurden nach Westindien in die Sklaverei verkauft und dieses schreckliche Loos traf auch den armen gefangenen Knaben Metakoms. Die Rothhäüte, welche nach diesem Strafgerichte in Neu-England noch übriggeblieben, vegetirten unter hartem Druck in dumpfer Ergebung fort, bis sie allmälig ausstarben, was nicht sehr lange auf sich warten ließ.

Das Wort von der Tödtung des rothen Mannes durch den Rauch vom Herdfeuer der Blaßgesichter war also in Erfüllung gegangen. Der weltgeschichtliche Vorschritt hatte auch hier zertreten, was sich ihm auf seinem Wege entgegengestellt. Auf dem Kriegspfad gegen die Eingebornen hatte das transatlantische Riesenkind die Kinderschuhe ausgetreten und stand nun als ein Mann da, der seine Kraft sammelte, um gerade hundert Jahre später mit seinem Rufe die Welt zu erfüllen. Denn am 4. Juli von 1776 wurde jene Urkunde der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika ausgestellt und im Congreß zu Philadelphia unterzeichnet und besiegelt, jene Urkunde, welche an ihrer Spitze die „Erklärung der Menschenrechte“ trug, den Prolog zu einem neuen Akt des großen Drama’s der Menschheit.




Blätter und Blüthen.

Die Katze an der Kette. Vor Kurzem besuchte ich einen Bekannten, einen älteren pensionirten Militär, welcher ein hübsches Häuschen mitten in einem Garten besitzt, Dieser Garten ist seine Freude, sein Steckenpferd, eine Sehenswürdigkeit für Alle, welche ihn näher kennen. Wir wanderten denn auch darin und wollten über einen kleinen Nebenhof zum Hause zurückkehren: da stutzte ich über etwas nie Gesehenes. An der Stallecke stand eine kleine Hundehütte, und vor der Hundehütte balgten sich zwei spielende Katzen, welche mit feinen Kettchen an die Hütte gekettet waren. Aus der Hütte selber aber drang der wimmernde Ton junger Kätzchen. Ich lachte unwillkürlich laut auf, so komisch war mir die Vorstellung von einer Katze, welche gleich einem Hunde an der Kette liegt.

„Was ist das?“

„Das ist, was man ein geglücktes Experiment nennt,“ sagte mein Bekannter stolz. „Ich will Ihnen die Sache erklären. Ich liebe nicht nur meinen Garten, ich liebe es vor Allem auch, wenn ich meinen Pirol, meine Meise, mein Weißkehlchen und Consorten darin habe. Ehe ich die Katzen hielt, nisteten im Garten alljährlich einige dieser Vögel. Als ich der Mäuse halber die Katzen angeschafft, kamen sie anfangs noch, wie früher. Aber sie blieben nicht. Sobald im Frühjahr die Vögel eintrafen, ließen meine Katzen das Mausen und lagen Tag und Nacht im Garten auf der Lauer. Ich habe von ihren Thaten weiter nichts gesehen, außer wie die eine ein Rothschwänzchen erwischte und wie die zweite ein Amselnest ausleerte. Mein Garten aber wurde vogelleer und stumm, und ich war unglücklich. Ich sprach mit Gartenbesitzern über meine Erfahrung, und ich habe die Ueberzeugung gewonnen, daß der furchtbarste Feind unserer Singvögel unsere Hauskatze ist, und es ist mir völlig unbegreiflich, wie die Vogelschutzvereine diesen Punkt bisher haben stiefmütterlich behandeln können. Alle internationalen Verträge, alle Verbote des Vogelfangs, alle Nistkästen sind, was unsere Gärten betrifft, zusammen nicht soviel werth, wie es die Unschädlichmachung der Katzen für die Brutzeit der Vögel sein würde. In dieser Zeit verwildert ein Theil der Katzen zu echten Raubthieren, was bei den meisten so lange dauert, wie die Vögel singen, bei manchen Katzen, die in die Felder gehen – wo sie gewiß auch wohl Mäuse fangen mögen – bis zum Eintritte der kalten Jahreszeit.

Ein Jahr sah ich das noch mit an, um Beobachtungen anzustellen. Dann stand es bei mir fest: hier muß etwas geschehen. Anfangs ging ich mit dem Entschlusse um, die Katzen abzuschaffen. Aber eines Tages kam mir ein anderer Einfall. Ich schaffte mir diese Hütte und diese Ketten an, und als das nächste Frühjahr kam, wurden meine Katzen einfach hier festgeankert. Ich war selbst in Zweifel, ob die Sache gehen würde. Aber sie ging vortrefflich. Sobald sich meine Katzen über die ungewohnte Beschränkung erst klar geworden waren, fügten sie sich in dieselbe, und von Stund ab lebten sie an der Kette, als wären sie niemals frei gewesen. Sie haben sogar Junge bekommen in der Gefangenschaft, wie Sie bemerken. Vor Ende Juli gebe ich sie nicht frei. Ich kann nicht einsehen, was dabei Auffälliges ist, ausgenommen das Ungewöhnliche. Weshalb sperrt man Vögel ein, legt man Hunde an die Kette, hält man andere Hausthiere im Stalle (zum guten Theil doch auch nur, damit sie in Freiheit keinen Schaden anrichten) und nimmt nur für die Katzen das Privilegium absoluter Freiheit in Anspruch? Weil ihre Bestimmung das Mäusefangen ist, werden Sie sagen. Nun gut: in der Zeit, wo die Vögel brüten, fangen die Katzen aber fast gar keine Mäuse, sind die Mäuse überhaupt für das Haus am wenigsten lästig. Ich lege sie also an die Kette, und seitdem ich das thue, habe ich meine fröhlichen Musikanten wieder und den Garten voller Nester.

Wenn es nach meinem Willen ginge, würde das, was ich thue, durch ein Staatsgesetz oder durch communale Verfügungen zur allgemeinen Pflicht gemacht. Das wäre ein Gegenstand für eine Agitation seitens des Vogelschutzvereins! Jede Katze, welche in den Monaten März oder April bis Ende Juli in Gärten oder Feldern frei herumstreifend getroffen wird, kann getödtet werden: das wäre der einfachste Wortlaut für dies Gesetz. Ich sehe nicht das Mindeste, was gegen meine Idee in’s Feld geführt werden könnte. Oder haben Sie etwas Stichhaltiges dagegen?“

So mein Freund. Ich überlegte; ich bedachte, daß ich einst in vollem Zorn eine Katze erschoß, welche im Begriff stand, zu einem Pirolnest voll schreiender Junger hinaufzusteigen, daß ich einmal aus dem Fenster in den Garten gesprungen war, um einer Katze eine Bachstelze abzujagen; ich bedachte, wie ich meine eigne junge Katze beobachtet hatte, als sie auf der Finkenjagd war – ein Dutzend und mehr Fälle von durch Katzen geleerten Nestern fielen mir ein, die ich sicher constatirt – – ich betrachtete mir diese vergnügt spielenden, wohlgepflegten Katzen da an ihren Kettchen, und ich sagte:

„Nein. Sie haben Recht. Es ist wahr, man wird etwas Fütterung für die Katzen mehr brauchen. Aber wer Hunde halten will, muß sie füttern, und wer Katzen halten will, mag sich’s ein paar Groschen im Jahre mehr kosten lassen als bisher. Und ich werde sorgen, daß Ihre Idee und Ihre Katzen möglichst weit in der Welt bekannt werden. Ich werde der ‚Gartenlaube‘ von ihnen schreiben.“

Freienwalde a. O. Victor Blüthgen. 



Zwei seltsame Kinderstuben. (Mit Illustrationen auf S. 436 und 437.) Lose Vögel hier und dort, verschieden jedoch durch die örtliche Lage ihrer dermaligen Aufenthaltsorte. Eine „höhere“ Kinderstube nennen wir die Räumlichkeit, in welcher das Elternpaar der kecken und findigen Kohlmeisen ihre gedeihliche Nachkommenschaft untergebracht, weil sie dazu nicht etwa den Knauf des Kirchthurms gewählt, sondern nur den eines Gartenhauses, und darum ist unsere Bezeichnung die richtige, denn man versteigt sich mit allem nur „Höheren“ nicht zum Höchsten. Wie behaglich muß in dem sicheren Bauch dieses Knaufes die junge Gesellschaft sich fühlen, wenn sie satt ist und die Köpfchen unter die Flügel steckt! Jetzt aber ist sie hungrig, und da freut es uns ganz besonders, daß das Loch des Knaufes gerade groß genug ist, um alle Köpfchen und Kröpfchen den elterlichen Fütterschnäbeln zugänglich zu machen. Wie sie nur das große Loch fertig gebracht haben? Halt! das ist eine andere Geschichte. Da kommt einmal ein lustiger Waidmann des Wegs daher. Er hat noch eine Kugel im Lauf seiner Büchse. Um sich des Schusses zu entledigen, zielte er nach diesem Knauf, und da gähnte ein rundes Loch, welches dann durch neugierige Buben, die nach der Kugel suchten, erweitert wurde. Durch die gehörig erweiterte Oeffnung hielt im nächsten Frühjahr das kluge Meisenpaar seinen feierlichen Einzug.

Auch die andere Kinderstube, die zu ebner Erde, haben ihre Insassen sich nicht selber gebaut. Der alte Tragkorb stand schon lange in dem Schuppen beim Kellerloch, dem Lieblingsspielplatz der Kinder des Hauses, ehe offenbar der lustige Junge, dessen Barfüßigkeit durch den Korbriß sichtbar wird, von seinen Spielcameraden eins um’s andere in den Korb hob und dann selbst nachkletterte. Nur das kleinste Brüderchen hatte keinen Platz gefunden, brauchte auch keinen, denn es war auf dem Boden schon fröhlich genug. Und wenn dann endlich die Thür wieder aufgeht und die Blicke der Kinder auf die mit den großen Butterbroden beladenen Hände fallen, so werden auch hier alle ihre Schnäbelchen aufsperren und ein Geschrei wird beginnen, gerade so wie drüben, dann werden wir links und rechts nur lose Vögel vor Augen und an beiden Kinderstuben unsere Freude haben.




„Bei brennender Kerze“. (Mit Illustration S. 440.) Jeden Freitag Nachmittag um halb vier Uhr pflegt in Bremen der Sitzungssaal des Landgerichts zur Stätte einiger Verkäufe „bei brennender Kerze“ zu werden. Grundstücke und Häuser, die zum Zwangsverkauf kommen, werden dort dem Meistbietenden in dem Augenblicke zugeschlagen, wo das Lichtstümpfchen erlischt, das ihretwegen angezündet worden ist. Warum das? Offenbar, um alle die wirkliche oder auch blos vermuthete Willkür auszuschließen, welche in dem Zuschlage durch den dreimal hinter einander das Gebot wiederholenden Auctionator liegt. Dieser kann zögern, wenn er dem Bietenden nicht gönnt, daß er den Sieg davontrage, – oder eilen, falls der Bieter bei ihm in Gunst steht. Wo das Aufrufverfahren gilt, sind Verdacht und Vorwurf in dieser Richtung gar nicht so selten. Ein Straßburger Correspondent der „Weserzeitung“ schrieb derselben am [440] 12. August 1883, um die Bremer Leser derselben gleichsam darüber zu trösten, daß ein Blatt den Gebrauch veraltet und sinnlos gescholten hatte:

„Ich war einmal im Badischen Zeuge davon, daß der Vorwurf allzu raschen Zuschlags für ein Gebot, das wohl noch hätte überstiegen werden können, von den Brüdern und andern Verwandten des Gepfändeten gegen den Auctionator erhoben, zu einer schweren Prügelei führte, in welcher der parteiische Beamte seine wohlverdienten Hiebe empfing.“

Die brennende Kerze, deren Erlöschen die Versteigerung beendet und entscheidet, ist nicht die, welche auf unserem Bilde im Leuchter steht, sondern das Lichtstümpfchen in der daneben aufgestellten Laterne. Das Leuchterlicht hilft nur dem Gerichtsschreiber lesen in dem etwas dunklen Raume, und daß alle Gegenwärtigen die wirklich wichtige Kerze auch klar sehen. Der Mann mit dem Barett auf dem Kopfe ist der vorsitzende Richter; diesseits des grünen Tisches sehen wir Kaufliebhaber oder andere Interessenten des auf die Rolle des Tages gebrachten Verkaufs.

Auction bei brennender Kerze in Bremen.0 Nach einer Originalskizze von C. C. Junghans.

Der Brauch beschränkt sich weder auf Bremen, noch kann er als veraltet gelten. Im Gebiete des französischen Rechts wird gerade so verfahren, nur daß da nach der Civilproceßordnung Art. 706 drei Kerzchen hinter einander angezündet werden und erlöschen müssen. Ist dies schon eine leidlich moderne Gesetzgebung, so enthält auch das neue elsässisch-lothringische Gesetz über die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen vom 30. Mai 1880 folgende Bestimmung: „Die Versteigerung geschieht bei brennenden Kerzen in der Art, daß der Zuschlag ertheilt wird, sobald nach einem Gebot drei Kerzen, von denen jede wenigstens eine Minute gebrannt hat, erloschen sind, ohne daß ein Mehrgebot erfolgt ist.“


In Bremen hat der alte, aber hiernach immerhin auch heute noch als zeitgemäß anzuerkennende Brauch neuerdings eine bedeutungsvolle Veränderung erlitten. Unter der Wucht der Massen von Zwangsverkäufen, welche aus einer heftigen und langandauernden Häuserbaukrise hervorgingen, mußte man es aufgeben, ohne Weiteres die Kerze anzuzünden, sobald ein Haus oder Grundstück zur Versteigerung kam; vielmehr wartete man ein erfolgendes Gebot ab, und zündete dann das Laternenstümpfchen erst an. Sonst hätte man, da oft Hunderte von Häusern auf einmal zum Verkaufe gelangen sollten, den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein Kerzen nutzlos brennen und verloschen sehen können, der Kosten zu geschweigen. Die große Menge der feilgehaltenen Gebäude blieb damals stets ohne Liebhaber, und man schritt über diese zur Tagesordnung, ohne ihnen die Ehre eines Lichtleins zu erweisen. Hierbei hat man es auch dann bewenden lassen, als nicht mehr zwei- oder dreihundert, sondern nur noch zwei bis drei Immobilienverkäufe am Freitagnachmittag stattfanden, wie es seit einiger Zeit glücklicher Weise wieder der Fall ist. An dem Verfahren selbst zu rütteln, ist deshalb Niemandem eingefallen. A. Lammers.     


Billige Ferienreisen. Nach dem Vorgange schweizerischer, italienischer und anderer Bahnen hat der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen für das deutsch-österreichische, rumänische und niederländische Bahnnetz einem fühlbaren Mangel mit einem Schlage abgeholfen, indem er vom 20. Mai dieses Jahres ab für sein ganzes Verkehrsgebiet die Einführung sogenannter combinirbarer Rundreisebillets zur Thatsache gemacht hat. Das gesammte deutsch-österreichische, rumänische und niederländische Bahnnetz ist zu diesem Behufe nach Anleitung eines für den Preis von 25 Pfennig zu habenden Büchleins nebst Uebersichtskarte in 1220 Routen zerlegt. Jede Route, welche je eine Ordnungsnummer erhalten, bildet ein für sich abgeschlossenes Ganzes und wird für jede der drei ersten Classen verkauft; durch Zusammensetzung der einzelnen Routen zu einer Rundreise in beliebiger Richtung und Ausdehnung ist daher nunmehr jeder Reisende in der Lage, sich selbst von der kleinsten Station aus einen Reiseplan nach seinen Intentionen zurechtzulegen und den dafür aufzuwendenden Fahrpreis genau zu ermitteln.

Als Minimum der zu durchfahrenden Reisestrecke sind 600 Kilometer und als Gültigkeitsdauer der Billete ist ein Zeitraum von 35 Tagen (5 Wochen) festgesetzt; auch wird, um den Charakter derselben als dem Vergnügungsverkehr dienend zu wahren, die Ausgabe auf die Sommermonate Mai bis September beschränkt und Freigepäck nicht gewährt. Die Fahrpreise sind unter Benutzung der jeweils bestehenden Personentarife derart aufgebaut, daß im Durchschnitt für eine Rundreise von 600 Kilometern und zwar für die erste Classe ein Preis von 41 Mark, für die zweite von 30 Mark und für die dritte Wagenclasse von 19 Mark zu zahlen ist. .....d     


Kleiner Briefkasten.

„Hoffnung und Täuschung“, N. M. in München. W. in B., R. B. in G., E. B. in Königsberg, H. Z. in Wien, F. K. in Tilsit. M. W. in Pr., G. L. in München, Julius Tr. in Wien: Nicht geeignet.

G. B. Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.


Inhalt: Brausejahre. Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe (Fortsetzung). S. 425. – Der letzte Piratenzug der Korsaren von Tunis. Von Martini. S. 428. Mit Illustrationen S. 428, 429 und 432. – Der Entdecker des Cholerapilzes. Von Dr. F. S. 433. Mit Portrait S. 433. – Die Kindheit eines Riesen. Von Johannes Scherr. (Schluß.) II. S. 434. – Blätter und Blüthen: Die Katze an der Kette. Von Victor Blüthgen. S. 439. – Zwei seltsame Kinderstuben. S. 439. Mit Illustrationen S. 436 und 437. – „Bei brennender Kerze“. Von A. Lammers. S. 439. Mit Illustration S. 440. – Billige Ferinreisen. – Kleiner Briefkasten. S. 440.




Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite (Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, welche abermals eine Erhöhung der Abonnentenzahl (Auflage jetzt 260,000) erfahren hat. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


In der ersten Nummer des nächsten Quartals beginnt die Erzählung:

„Die Herrin von Arholt“.
Von Levin Schücking.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung. 



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Der Markt heißt jetzt El Serradschine (Sattlerquartier). Im Hintergrunde ragt auf unserem Bilde (S. 432) das schöne Minaret der Kasbah-Moschee über die Mauern der Burg empor.
  2. Die Hafenstadt von Tunis und der wichtigste Hafen Tunesiens überhaupt. Das bunte Treiben, dem hier das Auge des Beschauers begegnet, ist durchaus originell, denn die meisten Völker des Orients scheinen sich in La Goletta ein Rendez-vous gegeben zu haben. Da erscheinen die Wüstensöhne mit ihren Kameelen, die Beduinen hoch zu Roß, türkische, griechische und italienische Kaufleute und mit den jüdischen Händlern oder Wechslern auch deren Frauen und Töchter in der originellen Tracht tunesischer Jüdinnen, in eng anliegenden bunten Hosen mit einer Kappe von Goldstoff auf dem Kopf. Ch. Speier’s treffliche Illustration (S. 429) gewährt uns einen charakteristischen Einblick in dieses Treiben.
  3. Ueber Roger Williams vgl. meinen Essay „Ein Prophet“, Menschl. Tragikomödie, 3. Aufl. Bd. 4, S. 64 fg. Dieser Mann ist schon darum eine weltgeschichtliche Gestalt, weil er es gewesen, welcher zuerst den großen Grundsatz einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche nicht nur theoretisch lehrte, sondern auch praktisch durchführte.
  4. Auch vom Verfasser dieses Essay in seiner historischen Novelle „Die Pilger der Wildniß“, 2. Aufl. „Novellenbuch“, Bd. 7–8, 1875.