Die Gartenlaube (1884)/Heft 25

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 25.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)


5.

„Kind, liebe Milli, ich will Dich nicht kränken,“ sagte eine würdige, alte Dame, welche in der Ecke ihres kleinen Sophas saß. Und sanft die thränenfeuchten Wangen der vor ihr knieenden Frau von Werthern streichelnd, fuhr sie fort: „Ich weiß, daß sich viel zu Deiner Entschuldigung anführen läßt, und habe mich deswegen nie in Eure häuslichen Verhältnisse gemischt. Ja ich weiß, liebes Milchen, daß die Sitten immer lockerer werden, daß es wenige junge Frauen in Weimar giebt, welche nicht ihre ‚Geschichte‘ haben. Sie wollen ihren süßen Liebesrausch mehrmals genießen. Es giebt so viele böse Beispiele um Dich her, Du bist lebhaft, jung und hübsch“ – ein schwerer Seufzer entrang sich hier der alten Dame – „mein Sohn ist vielleicht nicht immer gegen Dich, wie er sein sollte: sieh Emilie, deshalb, aus allen diesen Gründen, welche mein armes Mutterherz beängstigen, nur deshalb rede ich jetzt so mit Dir.“

Das gekränkte junge Weib war wie geknickt mit gefalteten, vor die Augen gepreßten Händen auf das Kissen zu den Füßen der Mutter hingesunken.

Die alte Frau von Werthern hatte es bis jetzt schonend vermieden, mit ihrer Schwiegertochter deren eheliches Verhältniß zu besprechen. Sie fürchtete die festere Gestalt des Ausgesprochenen. Jetzt aber hielt sie eine Warnung für nothwendig, da man Emilien beschuldigte, sie trachte die junge Ehe ihres Fürsten zu stören, sie kokettire mit dem Herzoge, sie dränge sich in die Gesellschaft der Männer. Ihre Gegenwart bei dem Kalb’schen Herrendiner, ja, daß sie am Mittwoch Abend wieder zum Tanz dort gewesen und Karl August nicht von ihrer Seite gekommen sei, regten die alte Dame schmerzlich auf.

Es hatte immer ein inniges Verhältniß zwischen Emilien und ihrer Schwiegermutter bestanden; Alles wurde bisher zwischen ihnen besprochen, nie aber das Nächste, der Sohn und Gatte. Ob Frau von Werthern diesen Sohn liebte? Er stammte aus der ersten Ehe ihres Mannes und war von zu roher Art, als daß eine edle Frau an ihm hätte Gefallen finden können. Die Rücksichten, welche er auf seine Stiefmutter nahm, waren durch Eigennutz bedingt; das Vermögen seines Vaters reichte nicht aus, seine kostspieligen Neigungen zu befriedigen. Die Mutter war sehr wohlhabend, freigebig dazu, kein Wunder, daß er jetzt auf ihre Zuschüsse, später auf die reiche Erbschaft speculirte.

Nach dem Ausbruch verletzter Gefühle von Seiten der jungen Frau ließ die Matrone ruhig eine Zeit der Sammlung verstreichen; sie hatte besänftigend ihre Hand auf die dunklen Locken der vor ihr Knieenden gelegt und blickte mit unendlichem Mitleid auf sie herab.

Als Emilie das schmerzerfüllte Auge zur Mutter empor schlug, hätschelte diese sie wie ein Kind und sagte:

„Ich weiß ja, mein Milchen, daß er nicht gut mit Dir ist; ich weiß, daß er Schuld hat; aber wenn er auch fehlte, so möchte ich doch meinen Liebling davor bewahren.“

„Gute, gute Mutter!“ stammelte die junge Frau, sich an sie schmiegend.

„Laß uns ohne Heftigkeit die Verhältnisse besprechen,“ fuhr die alte Dame milde fort. „Ich sagte Dir schon, daß ich nichts von den groben Beschuldigungen glaube, die von Uebelwollenden ersonnen werden. Aber die Pflichten einer jungen Frau reichen weit und sind fein gesponnen; sie gleichen einem zarten, luftigen Schleier, in den ihr ganzes Wesen sich hüllen soll; entsteht nur ein kleiner Riß in dem kostbaren Gewebe, so zerrt die plumpe Hand der Menschen daran, und ohne daß die Trägerin es will oder weiß, ist ein Stückchen nach dem andern von dem feinen Stoff zerfetzt. Sie steht zuletzt da, bloß und schutzlos allen Angriffen ausgesetzt. Daher hülle Dich vorsichtig ein, mein Herzenskind, laß keine Seele ahnen, wie wenig Dein Gatte und Dein einsames Haus Dich befriedigen, und halte Deinen guten Namen unantastbar rein!“

„Und mein Glück, mein Lebensglück!“ jammerte das junge Weib leise.

Die Matrone hatte nur an das Sollen, nicht an das Wollen und Begehren eines glühenden jungen Herzens gedacht.

„Die Pflichterfüllung wird Dich glücklich machen!“ sprach sie zum ersten Male in einem strengeren Tone.

Emilie richtete sich auf. „O, mein Leben ist jammervoll öde!“ klagte sie. „Mutter, ich wollte, ich wäre todt!“

In der vorigen Weise fuhr die Greisin fort: „Du weißt, wie ich Dich liebe! Mein Herz hängt nur an Dir, aber ich möchte Dich zehnmal lieber im Sarge sehen, als Dich wirklich einer Pflichtverletzung schuldig wissen; das würde mich elend machen und schmerzbeladen in die Grube stürzen.“

Emilie schauderte. „Nie, nie will ich Ihnen den Kummer bereiten!“ rief sie leidenschaftlich. „Ich schwöre es bei meiner ewigen Seligkeit! Nie sollen Sie sich meiner schämen; eher sterben als das!“

[406] Eine lebhafte Umarmung folgte.

„Wohlan, mein Kind,“ sagte endlich die Mutter, „so will ich Alles versuchen, um auf meinen Sohn zu Deinen Gunsten zu wirken. Er soll in Dir meine alleinige Erbin respectiren und, was er von mir wünscht, nur durch Dich, erlangen, vielleicht wird das ihn zügeln.“

Nach und nach bewegte sich die Unterhaltung der beiden Frauen in ruhigeren Bahnen.

Die alte Dame ließ sich von Haus und Garten und einer neuen Einrichtung erzählen, welche vom Rittmeister getroffen war.

Er hatte Geld gebraucht und gefunden, daß in dem der Mama gehörigen und von ihr für das junge Paar hergerichteten Hause einige Zimmer entbehrlich wären. Die junge Frau hatte sich beschränken müssen, und ein Miether war in der Person des Bergraths Moritz von Einsiedel eingezogen.

Der neue Hausgenosse – Bruder des jungen Hofraths Hildebrand von Einsiedel – war ein Mann von sechsundzwanzjg Jahren, ruhig, verschlossen, solid in jeder Hinsicht. Seine Anstellung im Bergfache hielt ihn oft Monate lang von Weimar entfernt; der Rittmeister nannte ihn seinen Philister, oder auch gar seine Schlafmütze. Einsiedel ließ sich durch keine Neckerei stören; er lächelte melancholisch und schwieg. Eifrig mit chemischen und mineralogischen Studien beschäftigt, zeigte er sich selten in Gesellschaften, tanzte gar nicht und bekümmerte sich um das schöne Geschlecht, sehr wenig.

„War der Bergrath nicht bei Kalbs?“ fragte die Matrone. „Es ist sonderbar, daß man immer den jüngeren Bruder vorzieht.“

„Hildebrand ist einmal gut angeschrieben beim Herzoge. Ich glaube, Moritz ist ihm zu verständig, zu brav.“

„Man sagt, er sei steif und langweilig in Gesellschaften?“

„Er ist kein Geck, aber er hat mehr Geist in seinem Auge, als ein Dutzend anderer Männer zusammen.“

„Es ist schade, daß ich ihn so wenig kenne; da er bei Euch wohnt, interessire ich mich für ihn.“

„O, er verdient Ihr Interesse, theure Mama!“

„Ist er artig gegen Dich?“

„Nein, er beachtet mich gar nicht, er ist immer beschäftigt; wir wechseln selten ein Wort.“

Die alte Dame fühlte sich von dieser Seite nicht beunruhigt. „Eine kleine Verehrung aus der Ferne von ihr,“ dachte sie. „Er ist zu beschäftigt, zu hypochondrisch, um einer jungen Frau gefährlich zu werden. Wenn ich nur über den Herzog ruhig sein kann, ist alles Andere nebensächlich.“ Ruhiger trennten sich die beiden Frauen.

Am Nachmittage klirrten schwere Schritte im Vorzimmer der alten Frau von Werthern, sie kannte dieselben genau und erhob sich ein wenig, um den eintretenden Sohn zu begrüßen.

Der Rittmeister von Werthern war groß, breitschultrig und etwa vierzig Jahre alt. Seine rothen und aufgedunsenen Züge, die unstäten Augen, das plumpe, derbe Auftreten sprachen von zügellosem Leben. Er schüttelte die Hand der alten Dame so heftig, daß ihr Mund sich schmerzlich verzog, und fragte dabei, wie sich seine verehrte Mutter befinde?

„Gut, mein Sohn,“ entgegnete sie. Ich freue mich, Dich wieder zu sehen; habe die Güte, Dich zu mir zu setzen, und erzähle mir von Deiner Reise und wann Du zurück gekommen bist.“

Der Rittmeister warf sich auf einen Stuhl und stieß den Mops, der sich an ihn schmiegte, mit seinen gewaltigen Sporen plump zur Seite, daß er heulend entfloh. Dann sprach er, sorgsam seinen schwarzen Bart streichend:

„Diesen Morgen in einem Trabe von Rudolstadt; habe dann gegessen, und da bin ich. Möchte ’ne Geschäftssache mit Ihnen abreden, ist ein wenig eilig. Machte nur deshalb den scharfen Ritt und riskirte den Hector – denn, um kurz zu sein, Sie werden von einem Soldaten keine lange Vorrede erwarten, Frau Mutter – ich bedarf eines Darlehns von Ihnen, um einen ausgezeichneten Handel abzuschließen. Es steht da eine Fuchsstute in Rudolstadt, in die ich keineswegs verliebt bin. Ein kapitales Thier, ganz Pferd, knochig genug für einen Reiter wie ich, aber dabei elegant; süperbe Nachhand, ein Schweifträger erster Qualität, hoch von Hals und Widerrist, Sattellage und Nieren comme il faut, gute Zäumung, ganz rein und trocken von Knochen, sechs Jahre alt; der Preis ist mäßig, und ich könnte es mir nie vergeben, wenn ich diese Gelegenheit, ein brillantes Geschäft zu machen, ungenutzt vorübergehen ließe. Stein reflectirt für des Herzogs Stall auf den Gaul, doch hat er erst einen Boten herüber geschickt; währenddem habe ich den Fuchs vorläufig bis morgen früh für mich angebunden. Ich weiß, bei Ihnen werden gewiß zwanzig Louisd’or flott zu machen sein; sobald ich das Geld habe, sitze ich wieder auf.“

Die alte Dame hatte still und unbeweglich zugehört; sie fütterte ihren Mops mit etwas Zuckerbrod und wiegte jetzt nachdenklich den Kopf.

„Die Geldgeschäfte werden mir mehr und mehr lästig,“ sagte sie ruhig, „da habe ich denn an diesem Morgen mit Emilien ausgemacht, daß sie meine Casse führen, nachsehen, größere Ausgaben bestimmen, kurz, mein Finanzminister sein soll. Ich kann nicht gleich, da es kaum getroffen, gegen unser Abkommen handeln; es wird also ganz auf Deine Frau ankommen, ob wir die erwünschte Gefälligkeit für Dich haben können.“

Der Rittmeister starrte sie an; seine Stirnader schwoll und heftig rief er: „Das ist ein Weibercomplot gegen mich! Was soll das bedeuten? Emilie, diese kleine Putznärrin bei dem Gelde! Wollen Sie lauter Unterröcke dafür kaufen?“

„Ebenso gern wie Pferde,“ sagte die Matrone gelassen.

Werthern sprang auf. Stampfend und klirrend lief er im Zimmer umher. Dann blieb er vor der Mutter stehen und fragte, sich gewaltsam beherrschend:

„Dahinter steckt etwas. Sagen Sie’s kurz, woran ich bin. Wollen Sie mich zu irgend etwas zwingen? Oder wollen Sie mich nur demüthigen und beleidigen?“

„Du hast richtig errathen, daß ich etwas Besonderes bezwecke,“ erwiderte sie. „Ich kenne Deine Bedürfnisse, kenne Deine Schätzung des Geldes und hoffe Deiner Frau zu neuem Ansehen bei Dir zu verhelfen. Du wirst mir zu gleichgültig gegen Milli; Du kümmerst Dich gar nicht mehr um sie; meine Bitten haben Dich nicht zu ihr zurückgeführt, vielleicht thut es mein Geld. Du siehst, ich spiele mit offnen Karten und hoffe mein Spiel zu gewinnen.“

„Hat sie zu klagen gewagt, diese Thörin?“

„Man braucht mir Eure Verhältnisse weder zu erzählen noch zu klagen; ich kenne sie, die ganze Stadt kennt sie. Alle Welt sieht, daß jedes von Euch seinen eignen Weg einschlägt, und das ist keine Ehe, wie sie sein soll.“

„Was geht’s die Welt an, ob wir mit einander auskommen? Ich will Freiheit! Emilie scheint sich gut zu amüsiren; mir kann eine zimperliche Frau, welche sich an mich hängt und mir vorlamentirt, nichts helfen; lassen wir sie also!“

„Denkst Du nie an Deine Pflicht, diesem jungen, schönen, Dir anvertrauten Geschöpfe gegenüber?“

Der Rittmeister zuckte die Achseln. „Frau Mutter, ich bin eilig!“ rief er, „die Moral ein anderes Mal! Verlangen Sie, daß ich meine Frau auf offenem Markte küsse, oder was soll es sein? Handeln wir!“

„Gut,“ antwortete die alte Frau mit schmerzlichen Ernst, „ich sehe, daß ich heute den rechten Weg eingeschlagen habe, mit Dir zu verkehren. Die zwanzig Louisd’or sind zu Deiner Verfügung, wenn Du mir Dein Wort giebst, während der nächsten zwei Monate Deine Frau in jede Gesellschaft zu begleiten, in welche sie zu gehen wünscht – also während dieser Zeit Dich nie über einen Tag von ihr zu entfernen.“

„Sträflich langweilig! Aber wenn es nicht anders sein kann und mir damit das Geld geschenkt ist, so bin ich im Stande, der süperben Fuchsstute das Opfer zu bringen.“

Die Mutter stand auf und ging, an ihren glänzend ausgelegten Nußbaumschrank; nachdem sie ein paar Reihen ausgeschrieben und das Geld abgezählt hatte, legte sie den sonderbaren Contract ihrem Sohne vor; dieser Unterzeichnete ernsthaft und mit langen, schwerfälligen Buchstaben seinen Namen und strich das Geld vergnügt ein.

Spöttisch auflachend rief er: „Sie wird mich nicht von ihrer Kontusche los! Die ganze Stadt soll Wunder schreien über einen so verwandelten Ehemann!“

Sein Dank war kurz und gleichgültig; er hatte sich ja das Geld verdienen müssen.

Möglichst rasch empfahl er sich und polterte mit Säbel und Sporen klirrend zum Hause hinaus.

Die alte Dame sah ihm tief betrübt nach.


[407]
6.

Den nächsten Tag brachte Goethe größtentheils bei dem Herzoge im Fürstenhause zu; es drängte ihn, der Herzogin Luise seine Aufwartung zu machen, deren Bild ihm im Glanze idealer Reinheit und edelster Weiblichkeit vorschwebte.

In einem hübsch ausgestatteten Salon des ersten Stocks im Fürstenhause saß um die Mittagsstunde Luise von Hessen-Darmstadt mit ihren beiden Hofdamen Henriette von Wöllwarth und Adelaide von Waldner. Die Herzogin war eine schlanke, fast magere Gestalt und achtzehn Jahre alt; ihr ernstes blaues Auge, ihre matte Gesichtsfarbe, die stille Gleichmäßigkeit ihrer Züge und ihres Benehmens gaben ihr etwas knospenhaft Unentwickeltes. Sie trug nach dem Zeitgeschmacke ein weißes Battistkleid, einen goldenen Gürtel, lange Filethandschuhe ohne Finger und ein umgestecktes Spitzentuch, ihr hellbraunes Haar war mit einem goldenen Kamme aufgenommen.

Die blühende, lachende Adelaide von Waldner sah neben der Fürstin wie eine Rose neben einer Lilie aus. Henriette von Wöllwarth dagegen, die, mit einem Papagei tändelnd, am Fenster stand, wäre schwer mit einer Blume zu vergleichen gewesen; sie hatte etwas durchaus Reales in ihrer stattlich schönen Gestalt und dem gescheidten, kräftig geformten Gesichte; der Blick, welchen sie jetzt auf die beiden Jüngeren richtete, schien zu sagen: „Arme Kinder, Ihr langweilt Euch entsetzlich, wenn man Euch nur helfen könnte!“

In diesem Augenblicke meldete der Lakai:

„Seine Durchlaucht der Herr Herzog und Doctor Goethe!“

Luise winkte erröthend, und die beiden jungen Männer traten rasch ein. Der Herzog eilte auf seine Frau zu, küßte mit einer gewissen linkischen Befangenheit ihre Hand, und rief strahlenden Auges, den Freund überblickend: „Da hast Du unsern Gast, Luise!“

Die Herzogin verneigte sich, ein „Willkommen“ flüsternd, der Herzog stellte Goethe den Hofdamen vor, und die kleine Versammlung setzte sich.

Die vielleicht nicht ganz geschlossene Thür aufstoßend fuhr jetzt plötzlich ein großer, langhaariger Hühnerhund in’s Zimmer und auf seinen Herrn, den Herzog, zu. Adelaide kreischte leise und faßte ihr Kleid zusammen, an dem der Hund vorbei rannte; die Herzogin blickte erschrocken und mißbilligend; Goethe stand auf, um das Thier hinaus zu lassen; der Herzog aber rief:

„Laß doch die Diana hier! Kusch Dich Alte, hier zu mir!“

Der Hund, sich umsehend, legte aber freundlich seines großen Kopf auf den Schooß der jungen Herzogin, worauf diese mit allen Zeichen des Widerwillens den Hund von sich abwehrte.

Karl August rief ihn jetzt streng zu sich, das Thier gehorchte, der Friede schien hergestellt, aber eine gewisse Mißstimmung war durch dies Vorspiel in den kleinen Kreis gedrungen.

Luise besann sich so weit, Goethe nach seiner Reise zu fragen, und dieser berichtete, wie er in Begleitung des Kammerjunkers von Kalb recht angenehm gefahren sei. Der Herzog sagte inzwischen halblaut zu Adelaide von Waldner: ob sie die Einladung zu Kalbs, zum Abendtänzchen, angenommen habe? was die Kleine, rosig erglühend, mit strahlenden Augen bejahte. Henriette von Wöllwarth hatte für diesen Abend den Dienst bei der Herzogin, und man sah es ihr an, daß sie ungern dem lockenden Tanzvergnügen entsagte.

Luise schien das leise Hin und Her, das Geplauder der Drei nicht zu bemerken; es entspann sich zwischen ihr und Goethe ein Gespräch, aus dem heimische Erinnerungen heraus klangen, die freundliche Bande zwischen den beiden Süddeutschen knüpften. Endlich fragte sie, ob er heute bei Tafel sein werde? und schien angenehm von seinem Ja berührt.

Als die Herren wieder in des Herzogs Zimmer allein waren, konnte Goethe sich nicht enthalten, seinen Gefühlen der Verehrung für die Herzogin Worte zu leihen.

Er Nannte ihr Wesen, von Anmuth und Würde getragen, ganz fürstlich und meinte, es werde einem neben ihr wie in der Kirche.

„Du hast Recht,“ sagte Karl August seufzend, „eine dumpfe, kühle Atmosphäre umgiebt sie, in der einem fröstelt!“


Der andere Gast in den Mauern Weimars, Luise von Göchhausen, hatte inzwischen das heißerwünschte Ziel in nicht allzulanger Zeit erreicht. Der Herr Oberkämmerer Baron von Göchhausen hatte seinen wichtigen Leibes- und Amtssorgen eine Stunde abgewonnen, um der Herzogin-Wittwe Amalie seine Aufwartung zu machen und ihr das junge Fräulein vorzustellen. Er wurde mit seiner Nichte gnädig empfangen, und die hohe Frau hörte sein Lob des Mädchens, die gefühlvoll vorgebrachten Versicherungen seiner „Tendresse“ für das einzige Kind des verstorbenen Bruders mit Theilnahme an.

Auf seine Bitte, die junge Dame als Gesellschaftsfräulein anstellen zu wollen, antwortete die hohe Frau mit dem Wunsche, das junge Mädchen öfter und allein zu sehen – ein sehr natürliches Begehren, da Luise bei diesem ersten Besuch fast nur durch ihr beredtes Mienenspiel sprechen konnte.

Man kam überein, daß Fräulein von Göchhausen am Donnerstag Nachmittag allein zur Herzogin kommen solle. Dieselbe hatte sehr wohl das helle Licht in den lebhaften Augen, die kaum verhaltene Heiterkeit um den Mund bemerkt und war einigermaßen gespannt, zu erfahren, was hinter den wenig harmonischen Zügen, diesem halb drolligen, halb ernsten Ausdruck versteckt liegen möge. So wartete sie mit Ungeduld auf den Tag, der ihr vielleicht eine passende Gefährtin bringen sollte. –

Der Donnerstag Nachmittag kam, die Herzogin saß in ihrem Wohnzimmer an der Staffelei; sie führte nicht ohne Geschick den Pinsel und beschäftigte sich gern mit der Kunst.

Anna Amalie, erst sechsunddreißig Jahre alt, war noch immer eine schöne Frau. Ihr lebhaft sprechendes Gesicht mit den großen dunklen Augen zeigte noch viel jugendliche Frische, und der Puder deckte kaum das glänzende Braun ihres reichen Haars, dessen zahllose Löckchen von einem goldenen Reif zusammen gehalten wurden.

Nachdem sie eine Weile eifrig gemalt hatte, hielt sie inne; der zu erwartende Besuch beschäftigte ihre Gedanken und zog sie von der Arbeit ab. Sie hatte einen Brief der Markgräfin von Baden erhalten, welche Luise warm empfahl, aber zugleich andeutete, daß sie „ensilirter“ Possen halber Karlsruhe habe verlassen müssen.

Endlich wurde das Fräulein von Göchhausen angemeldet.

Anna Amalie begrüßte die Eintretende gütig, sie beschloß jedoch die Wahrheitsliebe der ihr so warm Empfohlenen auf die Probe zu stellen und fragte zuerst: ob sie sich wohl bei ihrem Oheim fühle?

Mit einem Lächeln verhaltener Spottlust entgegnete Luise daß man alten Leuten Absonderlichkeiten zu gut halten und für jegliche Art von Gastfreundschaft dankbar sein müsse.

„Haben Sie die Markgräfin ungern verlassen?“

„O, außerordentlich ungern! Die Frau Markgräfin war stets die Huld selbst gegen mich. Hätte es nicht sein müssen, nimmer würde ich ihren Dienst aufgegeben haben.“

„Aber Sie folgten den Wünschen Ihres Oheims? Man muß das an Ihnen loben!“

„Eure Durchlaucht dürfen sich nicht in mir täuschen, so schwer es mir wird, den Oheim Lügen zu strafen; ich war gezwungen, Karlsruhe zu verlassen.“

„Wie das? Erzählen Sie, ich bin begierig, mehr zu hören. Was ließen Sie sich zu Schulden kommen?“

Luise berichtete nun des Näheren, wie sie in Karlsruhe, von den Zudringlichkeiten eines alten Prinzen und Verwandten der Herrschaften verfolgt, sich habe hinreißen lassen, demselben unter Beihülfe ihrer treuen Kammerfrau – der Schulzin – Possen zu spielen, und wie ihre Entlassung eine der Lage angemessene Nothwendigkeit gewesen sei.

„Als die Zeit meines Scheidens herankam,“ schloß sie ihren Bericht, „nahm ich bewegten Abschied von den hochverehrten Herrschaften und fuhr mit meiner Getreuen den schönen Rheinstrom hinunter. Ich machte einen Strich durch alle Weinerlichkeit, die ebenso wenig für mich, paßt wie ein verliebtes Abenteuer, und gewann die Ueberzeugung, daß die Welt allerorten schön ist, und in dieser Ueberzeugung empfehle ich mich der Gewogenheit Eurer Durchlaucht.“

Mit diesem offenen Geständniß hatte der ehrliche kecke Geist des Mädchens gesiegt: das Vertrauen der Herzogin war gewonnen.


[408]
7.
Christel von Laßberg’s Tagebuch.

Am 7. November 1775 Abends. Um mich ist Alles still, aber in mir wogt es; die Gedanken drängen und pochen und möchten hinaus; ich sehne mich, an das Herz einer Mutter zu flüchten, der ich mein ganzes, volles Vertrauen geben könnte. Aber ich habe Niemanden so nah, so lieb, und die Gedanken müssen doch fort von meinem Herzen, das sie erdrücken. So will ich versuchen zu schreiben, was mich bewegt; Werther schrieb ja auch!

Da steht es, ich sehe es an; – ist denn eine Aehnlichkeit zwischen Werther und mir? Ich bin ein thörichtes Kind; mein Vater sagte mir es heute, als ich nach jenem Besuche nicht von der Brunnenstufe weichen wollte. – Welche Stunden süßer Träumerei! Ich hatte keinen größeren Wunsch als: Wolfgang Goethe kennen zu lernen! – O, wie mein Herz schlug, als die Hoffnung lebendige Gewißheit wurde! – Um Mittag liehen Kalbs von Tante Barbara silberne Löffel, und wir hörten, daß sie eine Gasterei hätten, daß sogar der Herzog bei ihnen esse. Vater wurde ärgerlich und sagte: wenn sie nicht einmal ausreichend Löffel besäßen, wäre es Unsinn und Uebermuth, einen Fürsten zu Tisch zu bitten. Ich schaute in Kalbs Garten; da kam plötzlich Gustchen in großem Putz gelaufen, und ihr folgte ein Mann. Das war „Er“, ich wußte es gleich! Er trug sich wie Werther; frei wallendes Haar und schlanke Glieder; war es Werther? Nein! Eher ein Götz, so männlich und stark, ein Götz im Wertherkleide; oder lieber ein König in geringer Tracht, den man meint schon mit Krone und Scepter im Goldmantel auf dem Thron gesehen zu haben. Gustchen hatte den Muth, ihn zu necken, mit ihm zu schäkern, fort zu laufen; es ist häßlich, wenn Gustchen läuft, und er beeilte sich vielleicht deshalb, sie einzuholen. Bald waren sie nahe unter meinem Fenster, bald hier, bald dort, zwischen den Bäumen mit goldnen und rothen Blättern. Sie kamen zu mir in die Laube, und da präsentirte Gustchen ihn mir mit vielen komischen, förmlichen Reden; er lachte dazu; aber als sie ihn pries und ihm viele hochtönende Titel gab, unterbrach er sie und sagte: „Welch’ üble Meinung geben Sie dem Fräulein von meiner Eigenliebe, wenn Sie ihr einreden, ich lasse mir all den Ruhm gefallen!“ – Dann wandte er sich zu mir und bat sehr artig um Vergebung, daß sie in unsern Garten eingedrungen wären.

Von Dem, was er sprach, weiß ich nicht viel mehr; ich fühlte seinen Flammenblick bis in mein verwirrtes, bebendes Herz hinein. Ich saß ihm fast zu Füßen und hätte ewig so sitzen mögen. Dann und wann, wenn er mit Auguste sprach, wagte ich es, ihn anzusehen; o, wie brannte sein Bild sich in meine Seele! Plötzlich ertönte aus Kalbs Garten ein Ruf. „Das ist der Herzog!“ sagte er und stand auf; sie grüßten mich, ich war schwindelnd wie im Traume, hätte ihn halten mögen und konnte weder ein Glied noch die Lippen bewegen; Gustchen schüttelte und küßte mich, „Kind, schlafe nicht ein!“ rief sie und sprang fort, dem Herrlichen nach. Ich aber saß da, bis Vater kam und mich ein thörichtes Ding nannte, weil ich am kalten Novemberabend am plätschernden Brunnen saß.

Am 8. November. Auch heute habe ich ihn gesehen; wieder war er mit Gustchen am Nachmittage im Garten; sie sang ein Lied und lachte dann überlaut; wie häßlich das klang! Ich nähte an meinem Kleide zum Balle und dachte, ob es möglich wäre, daß ich schön sei? Die Frage verfolgte mich peinlich; ich mußte mir Auskunft suchen. Als Barbara, wie es ihre Gewohnheit ist, mich auskleidete, fragte ich sie:

„Sage aufrichtig, Tante Barbara, bin ich schön oder häßlich?“

Sie blickte mich erstaunt an, nahm meinen Kopf in ihre lieben alten Hände, küßte mich auf Stirn und Mund und flüsterte:

„Schön wie ein Engel, mein Herzenskind!“

Ein Schauer der Freude überlief mich. – Schön wie ein Engel! – Warum soll ich mich nicht darüber freuen? Wird „Er“ mich häßlich finden? – Still, still! Der Ball kommt, und dann will ich versuchen, mit ihm zu plaudern wie Gustchen; nein! so wie sie kann ich nie sein!

Am 10. November Morgens. Heute ist der Tag! Heute! Ich kann nichts weiter sagen.

Mittags. Der Friseur ist eben dagewesen, mein Kopf ist fertig; aber wie schwer er ist, wie er schwankt! Der Puder stäubt umher, sowie ich mich bewege; ich müsse mich ruhig halten, sagte der Mann, sonst verderbe ich alles. Wie bleich ich aussehe! Tante wollte mir Schminke auflegen, aber ich litt es nicht; das Schminken ist eine Lüge, und damit gehe ich nicht vor sein Auge. Gustchen war derselben Meinung; sie freilich ist roth genug!

Nachts. Da bin ich wieder! Gottlob! Es ist vorbei! Für immer! Ich gehöre nicht unter die Menschen, ich bin verloren, hülflos, allein, wie ein Tropfen im Meere. – O, die elende, unbehülfliche Scheu! Ich habe mich meines Daseins geschämt und mich gesehnt, weit, weit weg zu sein. Und dann wieder das Glück, ihn ungehindert aus verborgener Ecke zu sehen, zu bewundern! Wie er stürmt und fliegt im Tanze, wie fest er den Arm um die Tänzerin schlingt, wie sein Auge leuchtet und seine Brust sich hebt in der Lust des Lebens und der Freude; o, wer so mit ihm genießen könnte!

Die Herzoginnen redeten mich gütig an, aber ich wußte nichts zu entgegnen; er stand in der Nähe, und ich wagte nicht, das Auge aufzuschlagen. So ließen sie mich stehen, und ich ging mit Tante Barbara in einen Winkel. Ich sollte tanzen, aber mein Vater hat vergessen, mich es lehren zu lassen, so konnte ich es nicht. Gustchen lachte, und mein Vater brummte in den Bart, nur Barbara nahm sich meiner an.

Rasch gingen die Stunden vorüber; ich sah nur ihn, ich suchte ihn mir wieder und fand seine herrliche Gestalt bald unter der Menge. Es kam eine Lust des Schauens über mich, die mich ganz vergessen ließ, wo ich sei; wie ein Geist fühlte ich mich um ihn schweben, leicht, frei, ohne Bangigkeit. Da trat mein Vater mit gerunzelter Stirn auf mich zu, er war zornroth im Gesicht, und seine Augen funkelten; ich erschrak, denn ich wußte, was das bedeute.

„Mir scheint, Du bist hier überflüssig,“ stieß er hervor. „Man mag und will Dich nicht; der alte Laßberg braucht dergleichen nicht zweimal zu hören. Er geht, er geht mit Kind und Kegel, für immer; er hat ausgespielt, er ist weggeworfen!“

So redend zog er mich heftig durch den Saal dem Ausgange zu; Tante Barbara hielt sich mit gefalteten Händen neben mir; meine Kniee bebten vor Schreck, die Lichter tanzten vor meinen Augen, ich konnte nicht mehr, ich stand still und war zum Umsinken. Da stürmte und wirbelte ein lustiges Paar heran; ich fühlte einen Anstoß der Tänzer und lag plötzlich auf dem Boden. Meine Augen waren geschlossen, mein Körper war schlaff, aber ich konnte hören und begreifen, was um mich her vorging. Seine Stimme war es, die ich hörte, sein Arm war es, der mich hielt, ich fühlte, ich wußte das.

„Schade!“ sagte er. „Das arme Kind! Wie eine geknickte weiße Rose.“

Dann riß mein Vater mich an sich, der Tanzmeister rief: „fortfahren!“, die Musik begann kräftig auf’s Neue, und weiter rauschte das wilde Leben des Balles, aus dem ich verschwunden, für das ich verloren war. Mein Vater hatte mich hinausgetragen, er wartete keine Sänfte ab, sondern hieß mich mitgehen. Er schlug seinen Mantel um mich, legte den Arm um meine Schulter und führte mich so nach unserm Hause. Keines sprach, aber im Vater tobte der Zorn, das fühlte ich. Tante Barbara hat mich wie immer ausgekleidet; sie hat mich geküßt und zärtlich getröstet, dann ist sie fortgegangen, ich aber mußte mein belastetes Gemüth diesen Blättern anvertrauen.

Was wird es weiter geben? Daß ich nicht zur Herzogin komme, ist klar, ich fühle es selbst, daß ich nicht dazu passe; aber er, er! Werde ich ihn Wiedersehen? wo? wann? werde ich je den Muth finden, mit ihm zu sprechen? Ach, und ohne ihn wie öde, wie traurig ist das Leben! Ja er ist meine Sonne; alles Nacht, kalte schwarze Nacht ohne den Strahlenden, Herrlichen! Aber da dämmert schon der Tag; o, der graue, einsame Novembertag meines ganzen künftigen Lebens!

(Fortsetzung folgt.)

[409]

Das Concert.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Ziebland.

[410]

Die Kindheit eines Riesen.

Von Johannes Scherr.
I.

Das falbe Frühlicht vom 9. November des Jahres 1620 beschien die flache Küste von Neu-England da, wo das Kap Cod in die See vorspringt. Es war ein rauher Spätherbsttag, Vorbote eines zeitig eintretenden Winters. Der kräftige Hauch des Morgenwindes regte die Gewässer der Bai zu rauschendem Wellengang auf und jagte die Nebelschwaden durch das dichte Gezweige der Tannen, Fichten und Wachholderbäume, aus welchen der jungfräuliche Urwald bestand, der das Gestade weithin bedeckte. Ueber der Oede von Land und Meer lastete ein bleigrauer Himmel, und Himmel und Erde, Luft und Wasser vereinigten sich zu einem trostlosen Bilde von Verlassenheit und Unwirthlichkeit.

Da regte sich draußen auf der Wassersteppe etwas wie der Flügelschlag einer großen Möve. Dann näherte sich das weiße Geflatter mehr und mehr, und so jemand am Ufer gestanden, hätte er bald den aus dem Gewoge auftauchenden schwarzen Rumpf eines Barkschiffes gewahren können, welches unter vollem Segelwerk vom Osten daherkam, um hierauf, in die Bai eingelaufen, vorsichtig die Segel zu reffen und zu laviren, wie ungewiß, wo es einen guten Ankerplatz finden könnte.

Das Schiff hieß die „Mayflower“ (Maiblume), welche am 6. September aus dem Hafen von Plymouth in England ausgelaufen und jetzt nach einer langen und mühsäligen Fahrt über den Ocean an der Küste von Neu-England angelangt war. Sie hatte an ihrem Bord 120 Auswanderer, Männer, Frauen und Kinder zusammengezählt, und die Männer waren jene „Puritaner“, welche im Verein mit ihren Spuren folgenden Glaubens- und Schicksalsgenossen die Neu-Englandstaaten, also den eigentlichen Kern der Vereinigten Staaten von Nordamerika, gegründet und denen ihre Nachfahren den patriarchalisch-pietätvollen Ehrennamen der „Pilger-Väter“ (pilgrim fathers) gegeben haben.

Und mit Fug und Recht durften sie so heißen. Denn sie „pilgerten“ ja, in ihrer Sprache zu reden, aus dem „Gosen der Unterdrückung“, wozu ihnen ihre Heimath England geworden war, nach dem „Lande der Verheißung“, in die pfadlose Fremde, voll von Mühsalen, Entbehrungen und Gefahren, aber für sie eine Stätte, allwo sie hoffen durften, frei zu sein von prälatischer Unterdrückung und königlicher Verfolgung. Im Kopfe die Bibel, deren Inhalt ihnen göttliche Offenbarung war, in der einen Hand Axt und Spaten, in der andern Büchse und Schwert, so gingen diese Männer, geschnitzt aus demselben angelsächsischen Eichenholz, aus welchem ein Cromwell und seine „Eisenseiten“ gehauen waren, an ihre Gründerarbeit, vielleicht die glorreichste, welche jemals gethan worden ist auf Erden. Denn – so hat die deutsche Geschichtschreiberin der Kolonisation von Neu-England[1] wahr und treffend bemerkt – „kein Staat in der Welt kann sich einer so rein moralischen Basis rühmen wie diejenigen der nordamerikanischen Freistaaten, die jetzt unter dem gemeinsamen Namen von Neu-England begriffen werden[2]. Ruhmsucht, Herrschbegierde und der edle Drang nach Unabhängigkeit haben Reiche gestiftet, Ehrgeiz und Golddurst haben neue Regionen entdeckt und erobert; aber keines dieser Motive, wie Großes sie auch sonst immer hervorgebracht, hatte Antheil an dem Entschluß des Häufleins heldenmuthiger Männer, die das Vaterland mit einer Wildniß vertauschten, um Gott einen Tempel zu bauen, in welchem allein sie ihn nach ihrem Gewissen anbeten zu können glaubten, und in Formen, die sie allein dem Höchsten wohlgefällig glaubten.“

Wer waren diese überzeugungstreuen Idealisten, diese kühnen Sektirer, diese „Puritaner“, in deren Gedanken und Gefühlen das Diesseits und Jenseits des christlichen Glaubens eng sich verwob und welche darum ihren Tempel auch zu ihrem Staat, ihr religiöses Vorstellen zugleich zur höchsten Norm ihrer politischen und socialen Existenz zu machen suchten und wußten? Es waren Männer und Frauen, die, zumeist aus dem Mittelstande Englands hervorgegangen, an der Gestaltung, welche die Reformation in ihrem Lande gewonnen, also an der anglikanischen Hof- und Staatskirche („high church“) keinen Gefallen und kein Genüge gefunden und deßhalb von dieser Kirche sich getrennt hatten. Die Entstehung des Puritanismus ist fraglos den wichtigsten weltgeschichtlichen Thatsachen beizuzählen. Nicht allein, weil der Puritanismus die große englische Revolution durchkämpfte, welche mit der Hinrichtung Karls des Ersten, des meineidigen Stuarts, ihre Höhepunkt erreichte, sondern auch und noch mehr darum, weil der Puritanismus es war, welcher die politischen Konsequenzen der Reformation zog, indem er die transatlantische Demokratie stiftete.

Es gibt bekanntlich wenige Dinge, die schmutziger wären als Ursprung und Verlauf der Reformation in England. Ein wüster Tyrann, der Weibermörder Heinrich der Achte, vollzog aus Wüstlingsmotiven den Bruch mit dem päpstlichen Stuhl, welchen er noch kurz zuvor gegen Luther vertheidigt hatte. Das ganze Reformwerk beschränkte sich vorerst darauf, daß der dicke Heinz sich zum englischen Papste machte. Denn im übrigen wurde so ziemlich der ganze römisch-katholische Apparat noch beibehalten: Fegfeuer, Anrufung der Heiligen, Abendmahl in einer Gestalt, Bilderverehrung, Ohrenbeichte, Todtenmessen, Priestercölibat. Erst unter Heinrichs Nachfolger Edward dem Sechsten wurde das Reformwerk weiter geführt. Dann kam der große katholische Rückschlag unter der Regierung der „blutigen“ Mary und diesem folgte wiederum der reformistische Vorschritt unter der Königin Elisabeth. Im ganzen und großen macht die englische Reformation einen sehr unerquicklichen Eindruck. Sofern sie in Gestalt der Umbildung des Katholicismus zum Anglikanerthum, d. h. zur Hochkirche, zur englischen Hof- und Staatskirche, sich darstellt, war sie in dogmatischer Beziehung eine Halbheit, in socialer geradezu eine Gemeinheit. Denn die sklavenhafte Ergebung, die kriechende Schmeichelei, die lumpige Heuchelei, womit wir in dieser Periode die ungeheure Mehrheit der Engländer, vorweg aber die englische Aristokratie, die Aussprüche und Ansprüche ihrer jeweiligen Könige und Königinnen als unfehlbar anerkennen und religiöse Grundsätze oder wenigstens Bekenntnisse wechseln sehen wie Handschuhe, haben in der ganzen Geschichte des Christenthums an Schmach kaum ihres Gleichen. Es war den Puritanern vorbehalten, ihre Landsleute jenes Heldenthum des Glaubens und der Ueberzeugung zu lehren, welches nicht allein, so es sein muß, freudig in den Tod geht, sondern auch alle Kräfte des Lebens aufbietet, um über entgegenstehende Meinungen und Mächte den Sieg zu erlangen.

Der Puritanismus hatte übrigens nicht England zur Geburtsstätte. Sein Ursprung war vielmehr ein festländischer. Unter dem Schreckensregiment der blutigen Maria waren mehrere Hunderte von Engländern, welche sich nicht zum römischen Papismus zurückbekehren lassen wollten, nach dem Festland entwichen und diese Flüchtlinge, worunter sich Männer von hoher Bildung, von Rang und Reichthum befanden, hatten in Frankfurt a. M., in Straßburg, Basel, Zürich und Genf die Anschauungen und Lehren Luthers, Zwingli’s und Kalvins kennen gelernt. Demzufolge waren sie einer tieferen und strengeren Auffassung der Reform in Lehre und Kult zugeneigt worden, als der Anglikanismus sie bekannte und wollte. Unter der Regierung Elisabeths wieder heimgekehrt, fanden sie sich demzufolge bald im Widerspruch zur Hochkirche. Sie ihrerseits forderten eine kirchliche Genossenschaft, welche, wie sie sich ausdrückten, „pur und simpel“, nach den Vorschriften des Urchristenthums, des apostolischen Christethums eingerichtet und geleitet werden sollte. Heißsporne unter ihnen standen auch nicht an, die Hof- und Staatskirche als antichristlichen Papismus zu bezeichnen und dieselbe ein „prälatisches Mastschwein“ zu schelten. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Ausschlachter dieses „Mastschweins“, die anglikanischen Erzbischöfe, Bischöfe und Dechanten, unter sothanen Umständen gegen die Puritaner gesinnt sein mußten. Denn also nannte man die Sektirer, vonwegen [411] ihres „pur und simpel“, oder auch hieß man sie Non-Konformisten, weil sie mit der Hochkirche nicht übereinstimmend, nicht konform waren.

In demselben Maße nun, in welchem der Puritanismus in den bürgerlichen Mittelklassen der Städte und unter den bäuerlichen Freisassen auf dem Lande größeren Anhang fand, ging die High-Church, welche ja an Unduldsamkeit keiner der übrigen christlichen Kirchen nachstand, alsbald mit Verfolgungen gegen ihn vor. Die Päpstin der Hof- und Staatskirche aber, die „jungfräuliche“ Königin Elisabeth, ließ diese Verfolgungen um so lieber und um so nachdrücklicher betreiben, als der Puritanismus von Anfang an große Neigung verrieth, wie das Verhältniß des Menschen zu Gott, so auch das Verhältniß der Völker zu den Königen näher zu untersuchen und in einem Sinn aufzufassen und zu bestimmen, welcher von dem herkömmlichen, gläubig-kritiklosen bedeutend abwich. Um es kurz zu sagen: im Puritanismus lagen starke Keime des Republikanismus, und Elisabeth, die richtige Tochter ihres Vaters, d. h. Despotin durch und durch, hatte das bald herausgewittert. Sie fuhr daher auf’s schärfste gegen die puritanische Sekte vor und bestellte, um die Konformität in Glaubenssachen zu erzwingen, einen sogenannten „Geistlichen Hohen Gerichtshof“, welcher mit gränzenloser Willkür, die Landesgesetze gänzlich mißachtend, amtete und geradezu ein protestantisches Inquisitionstribunal war. Der Druck, unter welchem die Puritaner demzufolge schmachteten, währte auch unter Jakob dem Ersten fort. Dieser Jämmerling von König, an dessen Hof ein solches Lotter- und Lasterleben im Schwange ging, daß nicht nur die Hofherren, sondern auch die Hofdamen am hellen Tage betrunken in Whitehall herumtaumelten, betrieb die Verfolgung der Nichtkonformisten, die Peinigung des „Puritaner-Gesindels“, so recht wie eine persönliche Liebhaberei. Sein Sohn Karl zahlte dann am 30. Januar von 1649 auf dem vor den Fenstern des Bankettsaals von Whitehall errichteten Schaffot die Buße dafür, wie für die eigenen Sünden. Doch für den Puritanismus

„War Verfolgung nur die Kelter,
In die das Schicksal alles Große presst“ –

und das Produkt dieser Kelterung ist die transatlantische Demokratie gewesen, obzwar erst nach einem langen und schweren Gährungsproceß gewonnen. Zunächst war dieser trüb genug. Denn wenn allerdings die Verfolgung den Puritanismus stärkte und härtete, so verdunkelte sie ihn auch, indem sie ihm eine düster-fanatische Färbung gab, ihn mit einer einseitigen Vorliebe für alttestamentliche Anschauungen und mit einer blinden Feindseligkeit gegen das Freudige und Schöne im Leben wie in der Kunst erfüllte.

Aber die finstere Grübelei, in welcher die Puritaner sich gefielen, beraubte sie keineswegs der Thatkraft. Das bewiesen sie, sobald mit der Thronbesteigung Karls des Ersten (1625) der große Kampf zwischen Königswillkür und Volksrecht in England zum Ausbruch kam. Puritanische Thatkraft war es, welche dann auf dem Marstonmoor und bei Naseby den falschen Stuart und dessen „Kavaliere“ zu Boden schlug. Noch früher war die Energie der Puritaner zu einem Entschluß gelangt, dessen Ausführung von weltgeschichtlicher Bedeutung werden sollte, zu dem Entschluß der Auswanderung nach der Neuen Welt. Diese Absicht zu verwirklichen war aber nicht so leicht. Denn, seltsam zu sagen, auf die Verweigerung der „Konformität“ war zwar die Strafe der Verbannung gesetzt, allein die Selbstverbannung, die freiwillige Auswanderung der Nichtkonformisten wurde für höchst strafbar angesehen und demzufolge mit allen Mitteln zu verhindern gesucht. Die Tyrannei, ob von oben- oder von untenher geübt, hat sich zu keiner Zeit um die Logik gekümmert. Die Puritaner mußten also ihre Vorkehrungen zur Auswanderung mit größter Heimlichkeit treffen, sie mußten sich unter mancherlei Gefahren geradezu fortstehlen aus ihrem Heimatland. Hierbei war ihnen die Nähe der Küsten von Holland sehr von Nutzen. Dort suchten und fanden viele Puritaner eine Zufluchtstätte; auch solche, welche keinen bleibenden Aufenthalt daselbst beabsichtigten, sondern nur auf sicherem Boden ihre letzten Vorbereitungen zur Uebersiedelung nach Amerika ins Werk richten wollten.

Und auf welchen Landstrich jenseits des Oceans zielten die Wünsche und Pläne dieser Heimatflüchtigen? Auf die nördlicheren Gegenden des nördlichen Kontinents von Amerika. Dort war der erste von engländischer Seite gemachte Versuch, eine Ansiedelung zu gründen, mißlungen und infolge dieses Mißlingens hatten die Engländer jene weiten Küstenstriche dem Unternehmungseifer anderer Völker, namentlich der Franzosen und Holländer, überlassen. Erst zur Zeit der Königin Elisabeth geschah es, daß in England die transatlantischen Besitzergreifungsabsichten und Besiedelungspläne wieder ernstlich aufgenommen und vor allen durch die beiden energischen Brüder Gilbert und Walter Raleigh theilweise zur Ausführung gebracht wurden. Nachdem Gilbert 1583 Neufundland im Namen der Königin Elisabeth in Besitz genommen hatte, that Walter im folgenden Jahre das Gleiche inbetreff des gewaltigen Landstrichs, welcher jetzt einen großen und wohl den schönsten Theil der Vereinigten Staaten ausmacht. Diesem ganzen ungeheuer ausgedehnten, zwischen dem 34. und 45. Grad nördlicher Breite gelegenen Gebiete gab die Königin Elisabeth in selbstgefälliger Eitelkeit ihrer „Jungfräulichkeit“ zu Ehren den Namen Virginia. Vorerst blieb es bei dieser Besitzergreifung und Benamsung und erst unter der Regierung Jakobs des Ersten bildete sich i. J. 1606 in London eine aus Edelleuten und Kaufleuten bestehende Aktiengesellschaft behufs der Kolonisirung von Virginien. Das Unternehmen, schlecht geleitet, mißlang und es blieb den Puritanern vorbehalten, in jenen Gegenden nicht nur die Flagge Englands, sondern auch das Banner der Civilisation aufzupflanzen und aufrechtzuhalten.

Die Grundleger aber dieser in die Neue Welt verpflanzten angelsächsisch-germanischen Civilisation, die Pfadfinder der puritanischen Emigration waren die Insassen der „Maiblume“, welche am 9. November von 1620 in der Bai vom Kap Cod vor Anker ging oder, genauer gesprochen, lavirte, um einen sichern Ankergrund zu finden, was erst zwei Tage später gelang.



Dieser 11. November von 1620 war ein Sonnabend und er ist Zeuge eines höchst unscheinbaren und dennoch weltgeschichtlichen Vorgangs gewesen.

Nachdem nämlich die „Maiblume“ endgiltig Anker geworfen hatte, hielten die Puritaner am Bord vor allem einen Gottesdienst ab. Natürlich in ihrer schlichten Weise. Sie versammelten sich mit ihren Frauen und Kindern auf dem Deck des Schiffes, stimmten einen Psalm an, knieten dann nieder, um in inbrünstigem Gebet Gott für ihre glücklich vollbrachte Ueberfahrt in die Neue Welt zu danken, und beschlossen die Feier wiederum mit einem Psalm. Hierauf verschritten sie zur Erledigung eines großen weltlichen Geschäfts. Denn das ja war das Auszeichnende dieser Idealgläubigen oder, wenn man will, dieser Fanatiker, daß sie mit ihrer religiösen Begeisterung einen offenen Sinn für das Reale, einen scharfen Blick und eine praktische Hand für das Nothwendige und Zweckdienliche verbanden.

Das Nothwendige und Zweckdienliche war nun zuvörderst die Feststellung der Grundsätze und Normen, welche bei der beabsichtigten Gründung einer Ansiedelung ihnen zur Wegleitung dienen sollten. Es mußte hierüber eine feste Vereinbarung getroffen werden, um so mehr, als während der langen Meerfahrt allerlei Verstimmungen und Uneinigkeiten in die kleine Schar sich hatten einschleichen wollen. Die Führer, welche solche nur waren infolge vorragender Eigenschaften wie infolge stillschweigender Anerkennung vonseiten ihrer Gefährten, sie hatten erkannt, daß vor allem für die Kolonisten eine feste Ordnung aufgerichtet werden müsse. Diese Gründer der amerikallischen Demokratie waren keine unreifen Lotterbuben, wie sie in unseren Tagen unter demokratischer Maske massenhaft grassiren, sondern vielmehr ernste Männer, welche gar wohl wußten, daß nicht in der Anarchie, sondern nur in der Ordnung die Freiheit zu suchen und zu finden wäre.

Die 41 Männer traten in der Kajüte zusammen und verfassten und beriethen einen Verfassungsentwurf, welcher schließlich einstimmig angenommen und von allen unterzeichnet wurde in dieser Form: – „Im Namen Gottes, Amen. Wir, deren Namen unterschrieben sind, die loyalen Unterthanen unseres furchtbaren (dread) Königs Jakob, die wir zur Ehre Gottes, zur Verbreitung des Christenglaubens, zum Ruhm auch unseres Königs und unseres Landes eine Fahrt unternommen haben, um die erste Ansiedelung in den nördlichen Theilen von Virginia zu gründen, wir vereinigen und verbinden uns kraft dieser Urkunde in Gegenwart Gottes und eines jeden von uns vor dem andern feierlich zu einem [412] bürgerlichen Gemeinwesen, um die Ordnung zu erhalten und alle Mittel aufzubringen, welche zur Förderung der oben angegebenen Absichten dienlich sind. Zu diesem Zwecke werden wir nach Erforderniß der Zeit und Umstände solche gerechte und billige Gesetze, Beschlüsse, Verfügungen und Aemter aufstellen; ergehen lassen, festsetzen und einrichten, welche für das allgemeine Beste der Kolonie werden für nöthig und passend erachtet werden und denen wir hiermit allen gebührenden Gehorsam und alle pflichtmäßige Unterwerfung geloben.“

Prüfen wir das Aktenstück genau, so werden wir finden, daß wir es in dieser „ersten demokratischen Verfassungsurkunde der Neuen Welt“, wie man ja wohl dasselbe genannt hat, nicht mit hochklingenden Phrasen zu thun haben, sondern mit der schlichten Herzensmeinung praktischer Männer, welche das, was sie dachten und sagten, auch zu thun entschlossen waren. Ebenso, daß der berühmte Geschichtschreiber der Vereinigten Staaten berechtigt war, über das Geschehniß vom 11. November 1620 zu bemerken: „Dies war die Geburt der volksthümlichen Freiheit. Das Mittelalter hatte auch Charten und Verfassungen gekannt, allein das waren bloße Verträge über Steuerbefreiungen, besondere Freiheiten oder Bevorzugungen, Adelspatente, Gewährungen städtischer Vorrechte oder Einschränkungen der fürstlichen Gewalt zu Gunsten von feudalen Instituten gewesen. In der Kajüte der ‚Maiblume‘ dagegen gewann die Menschheit ihre Rechte wieder und wurde eine Gesellschaftsordnung aufgerichtet, welche auf gleiche Rechte und Pflichten aller gegründet war und das ‚allgemeine Beste‘ zum Zwecke hatte.“[3] Zum erstenmal in der Weltgeschichte erschien hier als Staatsbasis die absolute Rechtsgleichheit und als Staatszweck das allgemeine Wohl. Im übrigen betrachteten sich die Pilgrime der „Maiblume“ noch als Unterthanen der englischen Krone und war das in dem Dokument auch ausdrücklich erwähnt. Allein es war, wie die Sachen lagen, eine Naturnothwendigkeit, daß dieses Verhältniß nur eine theoretische Bedeutung haben konnte und daß in der Praxis die neue Ansiedelung von Jahr zu Jahr mehr im demokratisch-republikanischen Sinne sich entwickeln mußte. Von diesem Sinn und Geist lieferten die Einundvierzig der „Maiblume“ sofort einen thatsächlichen Beweis, indem sie einen aus ihrer Mitte, den John Carver, zu ihrem Oberhaupt wählten und zum „Governor“ der zu gründenden Kolonie auf Jahresdauer bestellten. Den Rest des Tages verbrachten sie damit, ihre Waffen in Stand zu setzen, ihr Gepäck zu lüften und überhaupt alles zur Landung vorzubereiten. Doch hatte diese am nächstfolgenden Tage noch nicht statt, wie sehr sich auch alle aus der Enge des Schiffes an’s Land sehnen mochten. Denn dieser Tag war ein Sonntag oder, wie die Puritaner lieber sagten, ein Sabbath, dessen strenge und stille Feier die gewissenhaften Sektirer unter allen Umständen zu halten für eine unumgängliche religiöse Pflicht ansahen[4].

Am Montag machte sich nun zunächst eine Schar entschlossener Männer auf, an’s Land zu gehen und dasselbe auszukundschaften. Sie thaten dies unter der Führung von Miles Standish, der früher Officier gewesen, ein erfahrener Kriegsmann war und in seinem kleinen unansehnlichen Körper, welcher ihm den Spitznamen Hauptmann Knirps (eigentlich Schrumpf, captain Shrimp) eintrug, doch Raum hatte für eine heldische Seele. Man hat ihn mit Fug den Ritter der ersten neuenglischen Kolonie genannt, denn überall, wo es Gefahren zu bestehen galt, war er voran und Führer, ebenso entschlossen und tapfer, als kaltblütig und umsichtig. Die Kundschafter streiften etliche Tage lang an den Küsten hin und landeinwärts durch die Wälder. Auf diesen Streifzügen gelangten sie auch, wie einer gemeldet hat, in „ein tiefes Thal, wo wir nur mühsam durch das hohe Gras und das dichte Buschwerk dringen konnten. Ein Reh sprang auf und eine schöne Wasserquelle sprudelte empor. Das machte uns herzliche Freude. Wir setzten uns nieder, tranken das erste Wasser aus dem Boden von Neu-England und niemals hatte uns ein Wassertrunk also geschmeckt.“ Im übrigen war es ein schwieriges Wandern in der winterlichen Wildniß, die schneebedeckten Hügel auf und ab oder durch pfadlosen Urwald. Mehr als einer der muthigen Männer hat sich bei diesen mehrere Wochen lang fortgesetzten Erkundungen nach zur Ansiedelung geeigneten Oertlichkeiten den Keim zu frühzeitigem Tode geholt. Einmal hatten sie auch den mit einem Pfeilhagel eröffneten Angriff eines schweifenden Indianerhaufens abzuweisen, welchen aber eine einzige Salve aus den Feuergewehren in die Flucht sprengte.

Das Gesammtergebniß der Auskundschaftungen war nicht gerade sehr ermuthigend, doch auch nicht gerade abschreckend. Viel Wald überall. Auch Anzeichen, daß der Boden nicht eben gar fruchtbar. In den Gewässern der Bai jedoch eine Fülle von Fischen und in den Wäldern am Gestade eine Fülle von Jagdwild. Spärliche Spuren von indianischer Bevölkerung, welche früher hier zahlreicher gewesen sein mußte, wie verschiedene Begräbnißplätze anzeigten. Jetzt nur da und dort ein indianischer Wigwam sichtbar und in der Nähe dieser Hütten mit Mais bepflanzte Felder. Endlich allenthalben vortreffliches Quellwasser, worauf die nüchternen Puritaner großen Werth legten. Da nun die rauhe Jahreszeit längeres Forschen, Besinnen und Zaudern verbot, beschloß die Gemeinde, die endgiltige Landung zu bewerkstelligen und auf einer erhöhten Bodenfläche am Ufer die erste neuenglische Kolonie zu gründen.

Am 11. December alten oder am 21. neuen Stils wurde gethan, wie beschlossen. Dieser Decembertag, ein Montag, heißt in Neu-England und in der ganzen Union der „Pilgerväter- oder Vorvätertag“ und gilt für einen Feiertag. Der Felsvorsprung, auf welchen die Pilgrime zuerst die Füße setzten, galt und gilt noch jetzt für heiligen Boden und heißt der „Vorväterfels“. Nach einem Dankgottesdienst für glücklich vollbrachte Landung begannen sofort die Besiedelungsarbeiten, welche sich vor allem auf die Erbauung eines gemeinsamen Vorraths- und Versammlungshauses richteten. Die Umgränzung und Ausmessung der Ansiedelung wurde vollzogen. Sie sollte den Namen Neu-Plymouth tragen in dankbarer Erinnerung an die Hafenstadt Plymouth daheim, von welcher die Pilgrime ausgesegelt waren. Ein Hügel, an der Peripherie des besetzten Stück Landes gelegen, wurde zur Anlage eines Fort bestimmt. Die ganze Genossenschaft theilte der Governor und seine Aldermen in 19 Familien, denen sich „zur Wahrung guter Sitte“ auch die einzelnen Ledigen anzuschließen hatten. Jeder Familie wurde sodann ein der Zahl ihrer Mitglieder entsprechender Bauplatz sammt dazu gehörigem Grund und Boden angewiesen und zwar durch das Loos. Auf der ihr durch dieses zugetheilten Stätte mußte jede ihr Haus bauen, d. h. aufblocken; denn nur von primitiven Blockhäusern konnte ja zunächst die Rede sein.

So hob, an der Schwelle des Jahres 1621, die Gründung von Neu-Plymouth an. Das von einem der vorragendsten der Pilgerväter, William Bradford, geführte Tagebuch gewährt uns einen deutlichen Einblick in die furchtbaren Mühsale, Anstrengungen und Leiden, welche über die kleine Schar muthiger Männer und wackerer Frauen hereinbrachen, die es unternahmen, der Wildniß eine neue Heimat abzuringen. Ihre schwerste Prüfungszeit waren die drei erste Monate des neuen Jahres. Viele erkrankten, manche starben. Mitunter waren die Ueberlebenden und Gesunden so schwach, daß sie kaum Kraft genug besaßen, die Todten zu begraben. Aber sie hielten aus. Sie setzten all der Sorge, Noth und Erschöpfung einen Heldenmuth entgegen, dessen unerschöpfliche Quelle ihre religiöse Ueberzeugung war. Hier, wenn irgendwo und irgendwann wurde die Wahrheit offenbar, daß zur Schaffung von Großem immer ein Stück Fanatismus erforderlich ist. Nur Puritaner des 17. Jahrhunderts vermochten mit so kärglichen Mitteln die ersten Kolonien von Neu-England zu gründen. Ohne die kräftige Seelenspeise, welche ihm sein felsenfester Glaube gab, hätte der nachmalige Riese der transatlantischen Republik seine drangsälige Kindheit nicht durchzukämpfen und durchzuleiden vermocht. Alles angesehen, war die puritanische Gründung der Pflanzstaaten von Neu-England ein Triumph des Idealismus, wie es einen zweite kaum gibt.

(Schluß folgt.)




[413]

Der Lünersee.0 Originalzeichnung von R. Püttner.


Scesaplana und Lünersee.

Die malerische Darstellung der Hochgebirgslandschaft mit Gletschereis und Wettertannen ist – gerade so wie der Bergsteigesport – ein ausschließliches Kind des 19. Jahrhunderts; zur Zeit der beschnittenen Ziergärten und der atlassenen Staatsfräcke, und noch am Ende des 18. Jahrhunderts, wäre beides ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Nach der – nicht blos auf politischem Gebiete fruchtbaren – großen Umwälzung traten die Kunst und der Geschmack des Publicums wieder der Natur und ihrer einfachen, ungekünstelten Schöne näher. Da lockten auch die Bergriesen der Alpen die jüngere Generation an sich heran. Der Pinsel unserer Landschafter wie der Mannesmuth und das poetische Gemüth der Jugend wandten sich dem hehren Linienschwunge, der Farbenpracht und dem dichterischen Hauche zu, der in unseren einsamen Hochgebirgsthälern und um die stolzen Gipfel unserer Alpenkette weht. Aber nur langsam vollzog sich dieser Umschwung; das Hochgebirge mußte förmlich erschlossen werden. Noch in den vierziger Jahren – also so recht im berüchtigten österreichischen Vormärz – wanderte kaum ein „Gebildeter“ ins Gebirge, Fremde schon gar nicht. Ich erinnere mich noch mit Vergnügen des bedenklichen Wackelns alter Gubernialzöpfe und der drohenden Warnungsfinger zimperlicher Großmütter, als wir einst, eine jubelnde Schaar studentischer Lockenköpfe, in eisenbeschlagenen Schuhen und mit nackten Knieen, almrosenbekränzt und sonnenverbrannt nach mehrtägigem Gletscherwandern auf früher nie versuchten Steigen in die Landeshauptstadt Innsbruck einmarschirten. Das war damals gerade so ein Ereigniß, wie jetzt eine Nordpolfahrt, und: „was gebildet sein wollende Studenten wohl da droben und da drinnen in den ‚schiechen Oertern‘ zu suchen hätten?“ so frugen die städtischen Philister.

Glücklicher Weise ist dies jetzt anders geworden; zahlreiche Alpenvereine machten in ihren Jahrbüchern die Lesewelt mit den bis dahin verborgenen Zauberreizen des Hochgebirges bekannt, ihnen folgten Touristen aller Nationen, und dann namentlich die Maler, sodaß schon beinahe in keinem Salon mehr ein paar auf Leinwand gehauchte Hochgebirgsgipfel fehlen dürfen.

Zu den am spätesten erschlossenen Regionen der österreichischen Bergwelt gehört, ungeachtet der unmittelbaren Nachbarschaft der Schweiz, das Hochgebirge Vorarlbergs, – jenes kleinen Ländchens, das man nicht mit Unrecht die österreichische Rheinprovinz genannt hat, da es allein von allen andern habsburgischen Ländern seine Gewässer dem „deutschen Strome“ zuführt. Unter diesem Hochgebirge verstehe ich den mit mehrfachen Querthälern durchfurchtenn, im Mittel gegen 2600 Meter hohen, theilweise vergletscherten Gebirgskamm, der, an dem jetzt vielgenannten Arlbergpasse beginnend und Tirol, Vorarlberg und Graubünden scheidend, als Silvretta- und Rhätikonmassiv etwa 40 Kilometer lang gen Westen verläuft und mit dem kühnen Abschwung der Falkniß, gegenüber von Ragaz, ins Rheinthal steil abfällt. Dort drinnen, im Montafon und auf Vermunt, im Gannera-, Gargella-, im Rellser und Brandtner Thale war es selbst um die Mitte der sechsziger Jahre noch so still und einsam, daß ich auf meinen häufigen Wanderungen durch jenes Gelände mich fast ausnahmslos als den einzigen Gast der niedrigen, aber, im Gegensatze zum nachbarlichen Tirol, stets musterhaft reinlichen Bauernwirthshäuser fand, wo es noch trefflichen „Tiroler“ und wohlfeile Gebirgsforellen in Fülle gab, – oder auch in den hochgelegenen Almhütten ein Object scheuen Anstaunens für die Ochsenhirten und die schwarzäugigen Montafoner Sennerinnen abgeben mußte. Verschiedene aus diesen Wanderungen hervorgegangene Aufsätze in den Jahrbüchern des damaligen österreichischen Alpenvereines („Im Rhätikon“, „Auf Vermunt“), dann die Eröffnung der [414] Vorarlbergerbahn, endlich das Erscheinen der liebenswürdigen Monographie „Montafun“ von O. von Pfister in Lindau haben aber dort oben Alles gründlich verändert. Bludenz, das ehedem etwas obscure Bergstädtlein, ist ein Touristennest geworden, wo es von Bergsteigern und englischen „Misses“ wimmelt, – an der Stelle der niedrigen Bauernwirthshäuser haben sich Hôtels und Pensionen aufgethan, in welchen sogar schon preußische Minister Sommerfrische gehalten haben, und wo einst der Schreiber dieser Zeilen auf schlechtem Heu schlechte Nächte verbrachte, am Lünersee und auf Tilisuna, da stehen jetzt stattliche, vom D. & Oe. A. V. (Deutschen und Oesterreichischen Alpen-Verein) errichtete comfortable Clubhütten mit Federmatrazen und „Wienerschnitzeln“.

Daß alles Dieses aber – und noch vor gar nicht so langer Zeit – einmal anders war, daran denkt das heutige Geschlecht nicht mehr, und darum ist es gut, daß man es ihm wieder in’s Gedächtniß ruft.

Meister Püttner’s Stift hat nun für die „Gartenlaube“ aus dem vorarlbergischen Rhätikon zwei wahre Juwelen festgehalten, das Brandtner Thal mit der Scesaplana und den Lünersee. Auf dem einen Bilde (vergl. S. 417) sind wir schon zwei Stunden lang aus dem Illthale bei Bludenz schweißtriefend herabgestiegen und befinden uns bei der einsamen Capelle auf Collafera, wo auf einem Steinblocke eine kleine eiserne Madonna steht, die der Sage nach sich in die Capelle absolut nicht hinübertragen lassen mag. Auf dieser Thalstufe öffnet sich unser Blick südwärts auf die Bergidylle des Brandtner Kirchleins inmitten zerstreuter, wetterbrauner Häuschen; links vor uns stürzt die Steilwand der „Wasenspitz“ hinab in die ahornumrauschte Schlucht, in welcher der Alvierbach schäumt; gerade vor uns steht als harmonischer Abschluß das Rhätikonmassiv, darauf der Brandtnerferner als ebene Fläche (sasso plano) ruht, auch fast allenthalben vom Bodensee aus wie eine weiße Sommerwolke im Himmelsblau sichtbar. Die zwei dunkeln Felsenköpfe in der Mitte sind der Muttersberg und der Mittelspitz, rechts davon heißt’s der Panüeler Schrofen oder auch „auf Zalim“, eine Felswand, die wohl bei 1000 Meter hoch fast senkrecht in’s benachbarte Almthal Gamperton (camp rotond) abfällt, und an deren Abstürzen man den Spousagang zeigt, so genannt, weil zur Zeit der Reformationskriege eine katholische Braut (spousa) aus Brandt, der Verfolgung ihrer Verwandten entrinnend, mit ihrem Bräutigam, einem reformirten Prättigäuer, den schwindelnden Steig als einzigen Ausweg glücklich überwand. Die eigentliche Spitze der Scesaplana (2968 Meter über dem Meer) aber steht firngekrönt links im Bilde, scheinbar niedriger als die andern, in Wirklichkeit aber alle Nachbarerhebungen weit überragend, und auf den Brandtnerferner mit einer senkrechten Wand von mehreren hundert Metern abfallend.

Sind wir auf guten Sträßchen durch’s Dorf gewandert, dann wenden wir uns, weit hinter der Wasenspitz, nach links und steigen über die Alm Schattelagant auf steilem, der böse Tritt genanntem, aber jetzt ungefährlichem Pfade aufwärts. Wir gehen an einem Wasserfalle vorüber, der, aus der senkrechten Felswand brechend, als der unterirdische Abfluß des Lünersees gilt, und betreten nach dreistündigem Marsch das Seebord, den Wall jener voll hohen Gipfeln eingeschlossenen Mulde, in welcher der eine Stunde im Umfange haltende Lünersee eingebettet liegt, halten also gerade vor Meister Püttner’s anderem Bilde.

Einsam, still, fast melancholisch liegt er da, dieser größte See auf solcher Höhe (2500 Meter über dem Meeresspiegel), ein fragendes Riesenauge, dem Himmel zugekehrt, der von Zeit zu Zeit seine blauen und grünen Lichter darüber streut; steile Firnhänge spiegeln sich in seinen Tiefen, und das großblumige Almveilchen umkränzt sein Gestade. Außer einigen düstergrünen Latschenzweigen kein Strauch und kein Baum, denn wir sind hoch über der Grenze des Holzwuchses, dafür aber in der eigentlichen Region der Gemsen, deren wir manche Truppe längs der Abhänge hinklettern sehen können, lautlos und stille, tönte nicht das Klingen der von den festeinsetzenden Klauen herabgeschleuderten Steine zu uns herüber – das sogenannte „Steinlen“ der Gemsenjäger. An die drei Viertheile des Jahres liegt eine dicke Eisfläche auf dem See und dennoch lebt ein Fisch in ihm, die dickköpfige „Groppe“ (Kaulquappe). Der See hat keinen sichtbaren Abfluß, ist aber auch von anderen Seiten durch die Thäler zugänglich, die bis an seinen Steilwall mit ihrem Scheitel heranreichen, so durch’s Rells- und Gauerthal aus dem Montafun, während ein hochgelegener Paß, das Schweizerthor, in’s graubündnerische Prättigäu hinüberleitet.

In vorzüglich gewählter, geschützter Lage steht am Südwestende des Sees die hohe bequem eingerichtete Unterkunftshütte des deutschen und österreichischen Alpen-Vereins, nach dem im vorarlbergischen Hochgebirge verunglückten, um dieses Bergland verdienten Vorstande der Section Vorarlberg des deutschen und österreichischen Alpen-Vereins, die Douglas-Hütte genannt. Von ihr führt ein dreistündiges Steigen über die „Todtenalpe“ – ein großartiges Trümmerfeld, an das sich, wie so oft in den Alpen, eine Sage von Sennerübermuth knüpft – dann über steile, aber gefahrlose Firnfelder zur Spitze der Scesaplana.

Diese, ein Grenzpunkt zwischen der Schweiz und Vorarlberg, ist im letzten Jahrzehnt wegen ihrer Prachtaussicht und der relativ mühelosen Besteigung ein wahrer Wallfahrtsort der Touristen geworden. Wer aber auch nur bei einer, wie ich selbst bei sechsmaliger Besteigung, so sehr von den Göttern begünstigt ist, daß er wolkenlosen Himmel da droben findet, der kann dort ein tüchtiges Stück Erde mit einem Blick umspannen – von der baierischen Hochebene bis zum lombardischen Adamello und vom Monte Rosa bis zum Großglockner – und in seligem Schauen schwelgen, losgelöst von all dem Qualm und all der Qual der Tiefen da drunten – ein König auf höchstem Throne. C. S.     




Salvatore.

Napoletanisches Sittenbild.0 Von Ernst Eckstein.
(Schluß.)


Kaum war die Thür ins Schloß gefallen, als Maria wie eine Beterin auf die Kniee sank und, das Antlitz zu Boden gesenkt, die beiden Arme flehentlich zu Alberto emporhob. Das lange, nachtschwarze Haar wallte ihr trauerflor-ähnlich über Stirn und Angesicht.

Alberto wollte sie aufrichten, aber sie wehrte ihm.

„Nur so kann ich Dir meine Sünde bekennen,“ schluchzte sie unter strömenden Thränen. „Ach, Du ahnst nicht, Alberto, wie grausam ich war und wie lieblos – um seinetwillen! Alles, Alles war erbärmliche Lüge! Keine Secunde lang hab’ ich aufgehört, Salvatore zu lieben; ich wußte um seinen Plan; die Lossagung war Komödie! Er verlangte es so – ich gehorchte! Ja, grausam war ich und lieblos, daß ich den Freund meiner Jugend, den treuen Alberto, nicht aufklärte, da ich gewahrte, wie er aufs Neue ... Aber ich konnte ja nicht! Ich mußte schweigen, und die Angst der Entdeckung ...“

Alberto war blaß geworden.

„Steh’ auf!“ sagte er mit unheimlicher Gelassenheit. „Ich verlange es! Hörst Du, Maria?“

Sie erhob sich. Die Ruhe, die er bekundete, flößte ihr Muth ein. Sie erzählte ihm Alles vom Anbeginn. Dann fragte sie leise:

„Kannst Du mir vergeben, Alberto? Du mußt, Du mußt! Nur wenn Du ihn rettest, hab’ ich noch Hoffnung auf eine glückliche Zukunft! Denk’ es aus, was ich jetzt sagen werde: Salvatore soll acht endlose Jahre im Bagno büßen! Acht Jahre, Alberto! Es ist zum Wahnsinnigwerden!“

Sprachlos blickte Alberto in ihr bleiches, verzerrtes Gesicht.

„Du hast’s gehört!“ fuhr sie fort. „Salvatore, der lichtverlangende Adler, der nicht hoch genug aufsteigen konnte, immer der Sonne des Glücks entgegen – Salvatore acht Jahre hindurch im Kerker! Das ist sein Tod – und der meine!“

Die letzten Worte klangen wie ein herzzerreißender Aufschrei.

„Ich beklage Dich,“ sagte Alberto nach langem Schweigen – „aber was frommt’s? Wenn ich um Deinetwillen selbst meinen Haß bezwänge: wie kann ich ungeschehen machen, was das Schicksal Euch auflädt? Du mußt’s ertragen, Maria! Bete zur Mutter Gottes, daß sie Dir Kraft verleiht!“

[415] „Nein, nein, nein!“ rief sie verzweiflungsvoll. „Du kannst mir helfen, wenn Du nur willst – und weigerst Du Dich, wohl, so mach’ ich ein Ende! Sterben ist Wonne im Vergleich zu dem, was ich dulde!“

„Ich sollte im Stande sein ...?“

„Ja! Nur von Dir hängt es ab! Allein bin ich machtlos, und keinen Menschen habe ich auf Erden, als Dich! Die Andern – o, die sind zu feige, zu selbstsüchtig! Aber Du, wenn Du Dir’s einmal gelobt hast – Du führst es durch, und gälte es den Tod! Willst Du, Alberto?“

„Was?“

„Ihn befreien!“ rief sie, die Hände ringend. „Alberto, ich lasse nicht ab, bis Du einwilligst! Räche Dich nicht an einer Verzweifelten! Gedenke Du der Worte des Heilandes, der uns befiehlt, Denen wohl zu thun, die uns hassen! Und ich hasse Dich nicht! Gott ist mein Zeuge: wenn Salvatore nicht wäre, ich würde Dich lieben – von Grund meiner Seele aus! Kann ich denn für dieses Verhängniß?“

Alberto trat einen Schritt zurück.

„Ich? Ich soll den Apulier befreien? Maria, Du rasest!“

„Sag’ Ja, – und mein letztes Gebet in der Todesstunde ...“

Er unterbrach sie heftig.

„Du willst mich entwürdigen,“ sagte er, schwer athmend. „Wär’ er mir gleichgültig, – ja, wär’ er mein Freund: ich würde mich weigern, um seinetwillen das Gesetz zu verletzen! Und nun so, da ich ihn hasse als meinen Todfeind ...“

„Bezwing’ diesen Haß, ich beschwöre Dich! O, ich weiß, was Du sagen willst – aber Cesari selber hat mir’s bestätigt – und in alle Ewigkeit will ich verloren sein, wenn ich jetzt lüge! Ob Du’s nun glaubst oder nicht: die Strafe, die der Gerichtshof über Salvatore verhängt hat, widerspricht dem Gesetz, und wer die Ketten des Verurtheilten sprengt, der stellt das Gesetz wieder her! Ein Gewaltact liegt vor, eine Handlung des Zornes, und das Recht ist geschändet worden! Acht Jahre im Bagno – für die That, die Salvatore in gutem Glauben beging! Das ist Wahnsinn! Das ist ein offenbares Verbrechen!“

„Hat Dein Verlobter nicht den Avvocato Cesari? Der wird sich so schnell nicht besiegt geben!“

„O, wohl! Cesari will es dem König an’s Herz legen – aber es ist so gut wie gewiß, daß alle Mühe vergeblich bleibt.“

„Weshalb?“

„Mein Gott, Du hörst und siehst also nicht das Geringste von Dem, was alle Welt jetzt beschäftigt! Seit jenem entsetzlichen Tage, da die Gräfin Ghiccioli früh morgens nach dem königlichen Palast fuhr, ist der Monsignore De Fabris unermüdlich im Verfolgen der Freiheitsfreunde; er fürchtet, Antonio Cesari möchte Einfluß gewinnen, und da sucht er ihm entgegen zu wirken.“

„Was kann er ihm anhaben?“

„Ihn verdächtigen, ihn bei der Gräfin verhaßt machen! Die Polizei sogar hat er dem Avvocato in’s Haus geschickt, und das Unglück hat es gewollt, daß der Commissarius bei Cesari allerlei Schriften entdeckt hat, die der Monsignore für rebellisch erklärt. Glaube mir, Alberto, das Alles habe ich bedacht! Es ist keine Hoffnung! Cesari selber hat’s eingeräumt ...“

„Aber Du könntest doch abwarten . . .“

„Allmächtiger Himmel, das ist es ja! Anfang der nächsten Woche, wenn die Verurtheilung gültig geworden, bringen sie ihn aus dem Arresthaus des Municipio nach Gaëta hinüber. Dann ist Alles zu Ende; aus den Höhlen des Bagno giebt’s kein Entrinnen mehr! Jetzt aber, so lange er noch im Stadtgefängniß verbleibt, läßt die Sache sich ausführen. Alles ist vorbereitet. Gestern spät erst bin ich von Neapel zurückgekehrt. Mit unsäglicher Mühe habe ich ihm Nachricht gegeben. Er wartet nur auf das Zeichen. Aber ohne Dich sind wir machtlos. Vorn, in dem Hofe, den er durchschreiten muß – aber so rede doch, beim Tode des Heilands! Du siehst, ich vergehe vor Angst, – und Du schweigst!“

Sie schlug die Hände vor’s Antlitz.

„O, wie bist Du anders geworden!“ rief sie in dumpfem Weh. „Freilich, die Zingarella hat es verdient! Da wir noch Kinder waren – weißt Du, Alberto – wie Dir keine Felswand zu steil und keine Klippe zu schroff war, wenn es galt, mir eine Blume zu pflücken? Manchmal hast Du Dein Leben gewagt, nur um meiner kindischen Laune zu dienen, nur um der Zingarella zu zeigen, daß Du für sie keine Gefahr scheutest! Und jetzt – jetzt schreie ich aus meiner Noth zu Dir auf und verlange Geringeres als damals – ja, Geringeres, denn es kann nicht mißglücken – und nun muß ich hülflos vergehen und jenes Kind beneiden, dem Du die Blumen brachst!“

Sie schluchzte laut auf. Alberto kämpfte einen gewaltigen Kampf. Alles Andere hätte er ihr freudig bewilligt – und wär’s der Ansturm gewesen wider die Macht der Hölle. Diese Selbstverleugnung jedoch, dieses Wagniß zu Gunsten des einzigen Menschen, den er tödtlich verabscheute – das war zu viel!

„Ich kann’s nicht,“ stöhnte er wild, „ich kann’s nicht!“

Sie sah zu ihm auf, – stieren, glanzlosen Blickes; ihr Athem ging hastig, aber sie rührte sich nicht.

Dann sagte sie tonlos :

„Ich darf Dir nicht zürnen. Ja! Du hast Recht: es war zu viel gefordert – selbst von der Großmuth eines Heiligen! Leb’ wohl, Alberto! Willst Du mir eine letzte Bitte erfüllen, so trag’ mir Sorge, daß der Zettel hier in die Hände Cesari’s gelangt. Gott erbarme sich meiner!“

So sprechend schritt sie hinaus.

Alberto nahm das Blatt und entfaltete es. Er las:

„An Signore Antonio Cesari, Strada del Molo, Neapel. Ich bitte Euch herzlich, sagt ihm, daß ich bis zum letzten Augenblicke seiner gedacht habe! Was wir hofften, sei unmöglich gewesen. Ich danke Euch, Herr, für Alles, was Ihr an Salvatore gethan habt. Er soll mir verzeihen und meinen Entschluß nicht feige nennen. Was hülfe es mir, wenn Ihr selbst das Unmögliche wirklich machtet? Auch die Hälfte, auch nur ein Viertel dieser entsetzlichen Zeit der Trennung brächte mich unfehlbar zum Wahnsinn! Ich sterbe freudig, denn ich glaube an ein Wiedersehn! Maria.“ 

Alberto’s Augen umdunkelten sich. Der Gedanke, daß sie, deren Beschützer er einst gewesen, an seiner Weigerung zu Grunde gehn, daß sie sterben sollte um seines Hasses willen, raubte ihm fast die Besinnung.

Er stürzte ihr nach.

Rechts von der großen Klippe, zwischen den Sträuchern, schimmerte noch ihr helles Gewand.

„Maria! Ich komme!“ rief er den steinigen Pfad hinab. „Ich thue, was Du verlangst! Maria!“

Ein straffer Nordostwind hatte sich aufgemacht, der, in den Klüften der Felsenwände sich fangend, ein seltsames Pfeifen hervorrief und so die Stimme Alberto’s für die Enteilende übertäuben mochte. Jetzt sah er noch einmal ihr dunkles Haupt vor dem sonnbeglänzten Gestein – und nun verschwand sie hinter den Zacken.

Von unsäglicher Angst ergriffen rannte er vorwärts. Näher und näher klang das Rauschen der Brandung. Er betrat die sandige Uferstelle, wo die Barke am Pflock lag. Spähend sah er nach allen Seiten. Umsonst. Da erhob er den Blick. Droben auf der steil abfallenden Felswand gewahrte er, die er suchte – so dicht am Rande, daß es dem jungen Manne schwarz vor den Augen ward. Sie hatte das Antlitz in die Hände gepreßt, als schaudere sie zurück vor dem brausenden Abgrund. Ihr aufgelöstes Haar flatterte weit hinaus ...

Noch taumelnd trat er auf das Brett seiner Barke.

„Maria!“ rief er, so laut er konnte.

Sie zuckte zusammen. Mit der Rechten ergriff sie den Stengel einer Agave, die aus dem nächsten Felsspalt emporwuchs. Sie schaute hinab, – und wenn der Wind auch seine Worte hinweg trug, die Geberden, mit denen er sie begleitete, waren nicht mißzuverstehen. Ihr schwindelte – nicht nur im Grausen vor der gähnenden Tiefe, sondern noch mehr im wilden Rausch ihres Entzückens! Es war wie ein Traum, daß ihr da, wo sie den Tod gesucht, so im letzten Augenblicke das leuchtende Leben die Verheißung einer glücklichen Zukunft entgegenrief.

Sie trat ein paar Schritte zurück und brach dann vor innerlicher Erschöpfung zusammen. Das Haupt wider den Felsen gelehnt, wartete sie auf Alberto, der jetzt athemlos den steilen Fußpfad heraufkam und sie mit beiden Armen umschloß, wie eine Mutter, die ihr gerettetes Kind wiederfindet.

„Alles, Alles thue ich, was Du verlangst,“ betheuerte er unaufhörlich. Er hielt ihre Hand, er strich ihr das verworrene [416] Haar aus der Stirn. „Alles, Alles! Bist Du nicht die kleine Maria von einst, die Zingarella, die mit mir hinaufgeklettert nach den Höhen von Anacapri, – die Freundin, die ich beschirmte, das Schwesterchen, das ich auf den Armen getragen habe? Und ich sollte Dich sterben sehn? Ich sollt’ es ertragen, daß Du da drunten zerschellt wärest an den gräßlichen Klippen? Dieses Haupt, das so oft an meiner Schulter geruht – weißt Du noch, wie Du einschliefst – droben auf der Höhe des Salto – wie dann der Regen kam und der Sturm –! Ach Maria, waren das glückselige Zeiten, sonnig und rein, wie sie niemals wiederkehren, niemals, niemals! Nein, fürchte nichts, Zingarella! Ich werde nicht wieder anderen Sinnes werden! Ich weiß jetzt, daß der Groll und der Haß kein Balsam sind für die kranke, blutende Brust, – und seit ich’s erkannt habe, ist mir leichter und freier. Ich will Dich lieben, trotz alledem, – bis in den Tod – ich will auch ihm verzeihen, was er mir angethan, – um Deinetwillen, Maria, um Deinetwillen!“

Der Schreck, der immer noch in ihm nachzitterte, verlieh dem sonst so Wortkargen eine rührende, wundersame Beredsamkeit. Das stürmische Herz Maria’s ward ruhiger und stiller bei dem Klang seiner Stimme. Sie träumte sich zurück in die Zeit ihrer Kindheit. Es war nicht anders als damals, wie er sie in Sturm und Gewitter hinunter getragen vom Salto, und sein eignes Gewand um ihre Schultern gelegt, unbekümmert darum, daß er bis auf die Haut durchnäßt wurde. Wie gut war er damals gewesen, wie treu und aufopfernd! Ach, wenn er jetzt mit halb soviel Geschicklichkeit und Eifer wie damals den Weg durch die Nacht suchte, wenn er aushielt in seiner milden Gesinnung – dann war Salvatore Padovanino gerettet! Und nun fühlte sie auch: jetzt erst war sie fähig, das Glück, das die Zukunft ihr bringen konnte, voll zu genießen! So lang’ Alberto dem Mann ihrer Wahl feindselig gegenüber stand, so lange hing es wie eine bängliche Wolke über dem Frieden ihres Gemüths . . .

Eine Weile saßen sie so – schweigend, Jedes mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann schritten sie Hand in Hand nach der Hütte zurück.

Der Plan der Zingarella war bald entwickelt. Es handelte sich um die Bewältigung einer Schildwache, die gepackt und geknebelt sein mußte, eh’ sie im Stande war, einen Laut von sich zu geben. Alle Einzelheiten hatte Maria erkundet, alle Möglichkeiten geprüft: gelang dieser Angriff, so war das Spiel so gut wie gewonnen.

Nachdem sich Alberto einmal entschlossen hatte, war er, ganz wie Maria, blind gegen das Bedenkliche des Unternehmens. Er sah nur die Lichtseiten; er war Feuer und Flamme.

So faßten sie den Beschluß, heute noch aufzubrechen – und zwar von der großen Marina aus, dafern sich dort eine Fahrgelegenheit böte, sonst in der Barke Alberto's vom Strand der Marina Piccola.

Es war jetzt vier Uhr Nachmittags. Alberto machte sich reisefertig. Da Maria noch allerlei zu besorgen hatte, was mit den Scheingründen für ihre Fahrt nach Neapel zusammenhing – sie glaubte so jeden Verdacht im Keim zu ersticken –, so war keine Zeit zu verlieren.

Sie traten die Wanderung über den Bergrücken an. Der Fußpfad war vereinsamt wie immer. Unter dem Steigen sprachen sie kaum eine Silbe, so sehr nahm ihr Vorhaben Beide in Anspruch. Alberto befand sich in einer Stimmung, die er vor einer Stunde noch für unmöglich gehalten. Es war das Bewußtsein des Sieges über sich selbst, was ihn so freudig hinaus hob über das alte, grausam wühlende Weh ...

Sie näherten sich dem Städtchen. Rechts vom Wege lag die Osteria Romana, gegen Abend ein Sammelpunkt Derer, die Interesse hatten für die Ereignisse in Gesellschaft und Politik; denn der Wirth, ein ehemaliger Barbier aus Pozzuoli, hielt zwei Journale, die er eifrig studirte, und wenn die Osteria gefüllt war, gab er zum Besten, was er so des Tags über in seinen kahlen, viereckigen Schädel hineingelesen. Er wußte genau, wie viel Gefangene und Todte der Heiden-Sultan im letzten Gefechte wider die Griechen verloren hatte, ob in Frankreich ein neuer Skandal in Sicht war von wegen Veruntreuungen der Staatsgelder, was England für Geschäfte gemacht mit den Waffenlieferungen an die griechischen Patrioten und wie viel Wachteln der König beim letzten Jagdausfluge nach Puglia geschossen.

Jetzt, gegen halb fünf, war es noch bei weitem zu früh für diese Erörterungen, gleichwohl stand vor den Thüren der Osteria eine lebhaft erregte Gruppe von sechs oder acht Personen, und der Wirth mit der phänomenalen Glatze mitten dazwischen, gesticulirend, wie ein begeisterter Fastenprediger.

„Bei San Gennaro, so schwatzt doch nicht alle auf einmal!“ rief ein stämmiger Graukopf, der etwas schwerhörig war. „Also was hat Euch der Signor Gustavo erzählt ...?“

„Daß es aus ist mit der Herrlichkeit des Monsignore De Fabris! Bei Nacht und Nebel hat er die Flucht ergriffen – nach Gozzo – Ihr wißt doch, die Insel, die den Briten gehört – und wenn der Polizei-General nur gewollt hätte – aber des Heiligen Vaters wegen hat man den Hochverräther entkommen lassen . . .“

„Was? Unsinn! Das glaub’ Euch ein Andrer! Der Monsignore . . . Ihr seid betrunken, Giuseppe!“

„Und Ihr ein Laffe und ein rechter Haus-Narr! Wenn Ihr’s nicht glaubt, – weshalb fragt Ihr denn? Zudem – der Signor Gustavo muß jeden Augenblick ’rüber kommen. Er hat kolossalen Durst mitgebracht von der Fahrt. Wißt Ihr, die Aufregung! Ganz Neapel wie auf den Kopf gestellt! Die Welt umgewandt, als wär’ sie ein Zwillchrock! Da, seht Ihr, ich sagt’ es ja! Nur die Kleider hat er gewechselt, und nun verlangt’s ihn schon, sein Müthchen zu kühlen. Grüß’ Gott, Signore! Freut mich, daß Ihr dem armen Giuseppe ein Bischen zu Hülfe kommt. Der Piccolo schilt mich von Sinnen, da ich doch nur erzähle, was ich glaubhaft aus Eurem eignen Munde vernommen!“

Der dänische Maler war fast gleichzeitig mit Alberto und Maria zu der Gruppe herangetreten.

„Ja, Leute!“ begann er mit seiner gutmüthig dröhnenden Baßstimme – „das hilft nun Nichts! Ihr müßt Euch mit dem Gedanken vertraut machen, daß die glorreiche Herrschaft des Cardinals gründlich zu Ende ist. Vielleicht verwindet Ihr’s, wenn ich Euch sage, daß Monsignore De Fabris der geschworne Feind seines Königs und des napoletanischen Reiches war ...“

„Oho!“ riefen drei Stimmen zugleich.

„Es ist, wie ich Euch sage! Ich weiß es aus zuverlässigster Quelle, denn mein Freund Antonio Cesari – von jetzt ab der erste Rathgeber Eures Monarchen, hat den Monsignore entlarvt.“

„Cesari? Der Freiheitsfreund?“

„Derselbe! Seit lange schon war er den Intriguen Seiner Eminenz auf der Spur; erst gestern jedoch gelang es ihm, die vollgültigen Beweise zu bieten. Monsignore De Fabris war von dem französischen Hofe erkauft: Nichts Geringeres hat der Landesverräther erstrebt, als die Vernichtung Eurer Selbstständigkeit, als die Auslieferung Neapels an das übermächtige Frankreich!“

„Und Cesari hat das entdeckt?“

„Cesari.“

„Der Avvocato soll leben! Die ‚Freiheitsfreunde‘ sind also doch nicht so üble Gesellen, wie die ‚Gazzetta‘ uns einreden möchte!“

„Das hat auch der König gesagt,“ fuhr Gustav Nyborg mit einem Blick auf Maria fort; „schon damals, wie er vernahm, daß Antonio Cesari die selbstlose Thätigkeit für Salvatore Padovanino auch dann mit dem nämlichen Eifer fortsetzte, als die wahre Gesinnung des Apuliers bekannt geworden. Nicht nur Salvatore, den vermeintlichen ‚Freiheitsfreund‘, den Parteigenossen, nein auch Salvatore, den fanatischen Anhänger der Gegenpartei, auch ihn hat Cesari wie einen Bruder beschirmt und beschützt – weit über die Grenzen seines Vertheidiger-Amtes hinaus, mit Aufbietung aller Kräfte, mit unsäglicher Hartnäckigkeit – und nur so gelang es ihm, den Unglücklichen vom Tode zu retten. Da hat der Monarch denn zu Monsignore De Fabris geäußert: ‚Cardinal, ich glaube, Ihr malt mir die Freiheitsfreunde zu schwarz!‘ Das war natürlich ein Todesschreck für den Monsignore, und von diesem Tage an standen die Zwei sich gegenüber, wie altrömische Fechter, bis dann Cesari dem geistlichen Herrn den Schild von der Brust riß und den zermalmenden Streich führte. Das Königreich ist gerettet, – und Cesari steht künftighin an der Spitze Eures Governo’s!“

„Evviva!“ schrie’n die Capresen. Sie bedurften nochmals eines stürmischen Ausbruchs, um ihrer Verblüfftheit Meister zu werden.

„Und Ihr –“ wandte sich Gustav Nyborg zu der staunenden Zingarella – „Ihr vor Allen habt Ursache, diese Wendung zu

[417]

Das Brandtner Thal und die Scesaplana.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[418] preisen! Morgen bringt die ‚Gazzetta‘ – neben der Ernennung Cesari’s zum ersten Minister – ein königliches Decret, das Ihr an’s Herz drücken mögt, wie den zärtlichsten Liebesbrief. Allen Verurtheilten, deren That nicht aus Ehrlosigkeit der Gesinnung hervorgegangen, schenkt der König Verzeihung; – eh’ zweimal vierundzwanzig Stunden vergehn, ist Salvatore Padovanino in Freiheit!“

Ein leichter Auschrei der Wonne, des namenlosen Entzückens – und Maria lag ohnmächtig in den Armen Alberto Petagna’s.

„Laßt sie nur!“ wehrte Gustav den Umstehenden, die erschreckt auf sie zueilten. „Das wird vorübergehen ... Ich sah es voraus, und deshalb bezwang ich die Ungeduld, die mich drängte, ihr’s gleich beim ersten Anblick entgegenzurufen. Nach und nach sollte sie’s ahnen, – und nun hat’s doch ihr armes Herz übermannt, wie ein Sturm.“

Langsam schlug Maria die Augen auf. Ihr erstes Wort galt dem Freund ihrer Jugend, dem getreuen Alberto.

„Ich vergesse Dir’s nicht,“ raunte sie fast unhörbar. „Daß wir nun das Alles nicht nöthig haben, daß Du Dein theures Leben nicht zu gefährden brauchst – o wie gut, wie gut! Aber ich danke Dir’s dennoch, und nicht anders ist mir’s zu Sinne, als hättest Du allein ihn befreit, Du, Alberto, Du bester und edelster aller Menschen!“

Das Glück, die heilige Dankbarkeit, die Erlösung von dem Druck ihrer Herzenslast goß einen verklärenden Schimmer über das herrliche Mädchenantlitz, das so viele Monate lang der Spiegel quälender Unrast gewesen und mühsamer Selbstbeherrschung. Gustav Nyborg beobachtete diese Wandlung, trotz der herzlichen Theilnahme, die er für Maria empfand, mit dem Auge des Künstlers. War sie bis dahin schön gewesen – jetzt erschien sie berückend; die Harmonie ihres Wesens war endlich zurückgekehrt – und Gustav Nyborg erblickte eine neue Maria, deren zaubrischer Liebreiz ihm die alte Wahrheit verkündete: daß die höchste Schönheit aus der Tiefe eines reingestimmten Gemüths quillt.

Sie stammelte ihren Dank für die Freudenbotschaft – sie sprach von Cesari, von Salvatore, vom König – alles in holder Verwirrung, wie taumelnd von dem Rausch ihrer Seligkeit.

Der Maler erzählte noch, bis es zu dunkeln anfing. Der Platz vor der Osteria hatte sich allmählich gefüllt. Ganz Capri wußte jetzt, was sich ereignet hatte. Die Zingarella jedoch war längst in ihr Stübchen geeilt und hatte sich niedergeworfen vor dem Bildniß der Gottesmutter. Während Alberto, das Weh der Entsagung im Herzen, und dennoch ruhig und friedvoll, nach der abgelegenen Hütte zurückschritt, stieg von den Lippen Maria’s ein heißes Gebet auf, unerschöpflich in der Fülle seiner dankbaren, leidenschaftlichen Andacht. Auch Alberto’s gedachte sie in dieser heiligen Stunde, und da sie bewegt seinen Namen murmelte, rollten ihr zwei brennende Thränen unter den Wimpern hervor.

„Ja, ja, ihr Leute!“ so schloß der begeisterte Nyborg seinen Bericht, – „Ihr werdet’s nun aus eigner Anschauung kennen lernen, ob so ein ‚Freiheitsfreund‘ den Staat aus den Fugen bringt oder nicht! Was gestern noch halb wie Verrath klang, ist heute Regierungsweisheit – und ich wette darauf, Ihr sollt noch einsehn, daß Ihr nicht die Klügsten gewesen, da Ihr Euch vor den Liberalen bekreuzigt habt. Excellenz Cesari wird Euch die Augen öffnen.“

„Aber nun sagt, Signore!“ fragte ein junger Bursche, der ihm athemlos zugehört hatte, „was wird denn nun aus den beiden Canaillen, dem verruchten Nacosta und dem Henkersgehülfen Marsucci? Sind die auch miteinbegriffen in der Amnestie, oder wie Ihr’s genannt habt?“

„Wo denkt Ihr hin, Piccolo! Vergeßt Ihr, was ich von der Ehrlosigkeit der Gesinnung sagte? Für solche Spitzbuben sind die Früchte der königlichen Gnade nicht reif geworden; die marschiren zum Bagno, mitsammt der Hexe Crispina . . . Ja so, das wißt Ihr noch nicht, daß die Frau des Nacosta bei der Sache betheiligt war?“

„Doch, doch!“

„Betheiligt, wie die Schlange beim Sündenfall! Ein diabolisches Weib! Vielleicht, wenn die nicht gewesen wäre ...“

„Eins noch!“ rief der Osteria-Besitzer, da Gustav Miene machte sich zu entfernen. „Die Giulietta – wenn die doch so zu sagen die Ursache war, daß Alles herauskam – denn ohne die hätte der Avvocato ja keine Zeugen gehabt wider Emmanuele Nacosta – die Giulietta müßte doch auch ein Schön-Dank bekommen vom neuen Minister . . .“

„Seid ohne Sorge, Giuseppe! In all’ dem Aufruhr der letzten Tage hat Antonio Cesari seine freundliche Wirthin vom vorigen Herbst durchaus nicht vergessen. Er sprach mir sogar ausdrücklich von einem Plan, den er hätte . . . Sie soll nicht fürder genöthigt sein, um ihres Bruders willen im Gasthaus die Cameriera zu spielen; sie taugt zu was Besserm.“

„Das nenn’ ich einen brillanten Minister!“ sagte Giuseppe. „Seht Ihr, ich hab’s Euch immer geweissagt! Es kommt ein Umschwung, habe ich gesagt, und es ist noch nicht aller Tage Abend!“

„Evviva il Governo! Evviva Cesari!“ erklang es nun hundertstimmig. Die eine Mittheilung über Giulietta hatte tiefer gewirkt, als Alles zuvor; nun griff man’s mit Händen: der neue Lenker des Staatsschiffs war nicht nur ein „Freund der Freiheit“, wie er sich nannte, sondern auch ein Freund der Geringen, ein Beschirmer der Schwachen, kurz: ein Minister nach dem Herzen des Volkes.

Am folgenden Tage in aller Frühe verließ der Apulier das Gefängniß des Municipio’s. Die Zeit der Buße und der verzweiflungsvollen Kämpfe war nun vorüber, die Lehren aber, die er aus diesen Kämpfen geschöpft, nahm er dankerfüllt mit hinüber in eine Zukunft ernster und redlicher Arbeit. Sein großherziger Beschützer bot ihm nach wie vor die hülfreiche Hand; einmal in die rechten Bahnen geleitet, bewältigte Salvatore spielend die unglaublichsten Schwierigkeiten, – und ehe ein Jahr verstrich, war der verworrene, haltlose Schwärmer von ehedem einer der tüchtigsten Beamten des Königreichs, der getreue Mitarbeiter Antonio Cesari’s, eine wahrhaft schöpferische Kraft, die allerdings noch immer einer gewissen Controle bedurfte, um sich mit ihren großartigen Ideen nicht in’s Schrankenlose und Traumhafte zu verlieren. Zu Anfang hatte man’s dem Premier-Minister verdacht, daß er sich so hinwegsetzte über Salvatore’s Vergangenheit; der Erfolg jedoch gab ihm Recht, und so verzieh man dem Apulier um so bereitwilliger, als die frühere Schroffheit des Ungestümen sich in ruhige Anspruchslosigkeit und Schlichtheit verwandelt hatte. Das Glück macht edle Naturen, unbeschabet eines kraftvollen Selbstgefühls, demüthig; himmelstürmend geberdet sich nur die Sehnsucht. Für Salvatore jedoch, seit die angebetete Zingarella sein Weib geworden, gab’s keine Sehnsucht mehr: sein ganzes Dasein war ewig leuchtende Gegenwart.




Aus Pompeji.


„Sieh’, nun liegt im Staube Pompeji, zerbrochen, verschüttet,
Wie ein Gefäß, das spielend vom Sockel ein Knabe hinabwarf.
Larven bewohnen sie nun, und es schlüpft durch stille Paläste
Ekles Gewürm, auf GOld sich bettend und tyrische Seide.
Aber die ewige Nacht deckt köstliche Wunder der Schönheit.
Also rollet die Zeit gleich Kieseln des Feldes beständig
Werke und Werke der menschen, Prometheus’ Kinder verhöhnend,
Die aus Staube den Staub, armselige Schöpfer gestalten.
Schutt nur erben die Enkel, es sammelt die trauernde Nachwelt
Selbst die erhabenste That als splitternde Scherbe vom Schutt auf.“


Und diese Scherben setzten wir uns, wie Kinder im mühsamen Geduldspiel, Stück für Stück zusammen zu einem Spiegel, in dem sich einst die kleine römisch-griechische Welt Pompeji’s gespiegelt. Manches Stück fehlt, das Bild wird kein Ganzes, wer aber gute Augen und einen geübten Forschergeist hat, wer mit dem Auge des Künstlers, des Dichters schaut, der ergänzt das Fehlende, und aus den Trümmern leuchtet ihm das Gesicht einer zweitausend Jahre alten Vergangenheit entgegen, das uns wie eine Traumvision anmuthet.

Wir schauen in den Spiegel einer Cultur, die aus dem Verkehr der Stadt mit schönheitsfrommen Nationen des ganzen Erdkreises, aus der Herrscherkraft Roms, hellenischer Kunsttüchtigkeit, aus der Verbindung der Tugenden verschiedenster Völker nach und nach erwachsen war.

Ja, schön war sie, diese „Colonia Venerea Cornelia Pompeji“, die blühende Stadt der Venus, und beglückt waren ihre Tage. Sie badete ihren Fuß in den Wellen des friedlichsten [419] Meeres, ihr Haupt war gekrönt von bacchischem Laub und den silbernen Olivenzweigen Minervas. Hier athmete Alles Heiterkeit, Frieden und goldene Ruhe. Ueber den Marmortempeln der Venus, des Jupiter, des Hercules, der Isis und aller heiligen Götter, über den von frohen Menschen wimmelnden Plätzen, die von langen Säulenhallen gegürtet waren, über den zierlichen kleinen und den großen hochgeschwungenen Theatern spannte ein Himmel sich aus, der den Winter mild, den Sommer in sanfter Kühlung erhielt.

Aus Pompeji: Einzug der Braut in ihr künftiges Heim.0 Nach einer Skizze von Salvatore de Gregorio.

Auf den Straßen und Gassen aber lebte und webte ein Volk, das mit fleißigen und geschickten Händen die kostbaren Stoffe verarbeitete, welche die Kauffahrer, die im Hafen draußen an dem Seegestade dicht gedrängt, Mast bei Mast lagen, aus Aegypten, Afrika, Phönicien, Kyprus und von allen Küsten gebracht hatten. Reiche Kaufherren und Große, des Lebens in Rom müde, der Philosophie Epikur’s Ergebene kamen nach der Stadt am Vesuv, um sich prächtige Häuser und Villen zu bauen, sie zu schmücken mit allem, was das Leben verschönt und angenehm macht. Die Fußböden glänzten von zierlichen Mosaiken, die Wände in üppigen Farben und verführerischen Schildereien griechischer Künstler. Jeder Krug, jedwedes Gefäß, ein vollendetes Kunstwerk war’s, denn Jeder hatte sein Leben lang sich befleißigt, Schönes zum Schönen zu fügen. Hier wurde das kurze Leben in die vornehmsten Formen gegossen, und reizend flog es dahin, nicht schäumend, nicht traurigen Bodensatz zurücklassend.

Dies war die Stimmung in der Stadt vor der Katastrophe. Es kam der finstere Tag, die gluthflammende Nacht, wo der todtgewähnte Berg erwachte und in tollem Rasen seinen langverhaltenen Grimm austobte, wo Vulcan seine blühende Gattin Venus erwürgte und den häßlichen Todtenschleier über ihre holde Gestalt breitete ...

Fast siebenzehn Jahrhunderte waren seit jenem Schreckenstage vergangen, da kam die Auferstehung, da warf die Lebendigbegrabene die Grabtücher von den Schultern und schaute, eine Fremde, in die fremde Welt des achtzehnten Säculums. Fremd waren ihr die neugierig herbeidrängenden Menschen, Leute in Spitzhut mit Zopf und Perrücke, in seidenen Fracks und Bratenwesten, statt des Römerschwerts einen zierlichen Galanteriedegen an der Seite. Und sie wohnten nicht mehr in der Stadt, sondern kamen nur zu Besuch, wendeten die Steine um, lasen in den Albums der Alten und schleppten ihre zierlichen Geräthe und Statuen in die Museen und schrieben Bücher über das curiose Leben jener Zeiten.

Die Dichter besangen die Auferstandene, selbst Dichter aus dem Barbarenlande, dessen blonde Söhne einst Thürsteherdienste bei dem üppigen Römer verrichten mußten.

Und wie oft ist die Stadt „illustrirt“ worden, auf welch’ verschiedene Weisen, so aber, wie man sie jüngst illustrirte mit lebenden Menschen in echten „Scenen pompejanischen Lebens“, ist es noch nie dagewesen: ein vollkommenes Auferstehungsfest ward gefeiert. Die Schatten der Unterwelt kamen an’s Licht, gekleidet und ausgerüstet in Tuniken, Togen und Waffen wie vor achtzehnhundert Jahren, winkten einladend in alle Welt hinein und riefen: „Kommt und sehet! Das war Pompeji in jenen Zeiten!“

Es war in der That ein origineller Gedanke, ein Costümfest inmitten der ausgegrabenen Stadt abzuhalten, die alten Ruinen mit Masken aus altrömischer Zeit zu beleben. Drei Tage lang, 10., 11. und 13. Mai, dauerte der Festjubel.

Für den 10. Mai war zunächst ein Wagenkampf im Circus angesagt, an dem als Zuschauer auch Kaiser Vespasian theilnehmen sollte. Auch las man an den Straßenecken Anzeigen in altrömischen Schriftzügen:

Pro . Aenariae . Insulae . Oppidis
Terrae . Motu . Conlapsis
P. Januarii . Donati
Familia . Gladiatoria . Pugnabit
Pompejis . Sine . Ulla . Dilatione
III. Idus . Majas.

Deutsch würde die Ankündigung lauten:

„Für die durch Erdbeben geschädigten Ortschaften der Insel Aenaria[5]
wird die Gladiatorenschaar des P. Januarius Donatus ohne
irgend welchen Ausschub fechten, am 13. Mai.“

Das schaulustige aus aller Herren Ländern zusammengeströmte Publicum erwartete am ersten Festtage den Kaiser auf dem Forum, dem alten Markte von Pompeji. Da erschien er, der „göttliche Cäsar“, mit seinem Gefolge. Voran schritten die Priester der Isis, jener [420] orientalischen Göttin, die, als die heidnische Welt in Trümmer zerfiel, in Rom Anbeter gefunden. Die segenbringende Göttin der Ordnung war sie für die Einen, als Beschützerin der Ausgelassenheit von den Andern verehrt. Der altrömische Geist vertrieb sie mehr als einmal aus den Mauern der Stadt und verfolgte und kreuzigte ihre Priester, bis ihr Cultus vom Staate anerkannt wurde. Da sah man jetzt ihr Bild von Weihrauchwolken umgeben, von Priestern begleitet.

Aus Pompeji: Die Gräberstraße.0 Nach einer Skizze von Salvatore de Gregorio.

Mit glattrasirten Köpfen, den Oberkörper entblößt und eine Klapper in der Hand, so schritten sie anscheinend voller Würde dahin – gut getroffene Masken, zu denen die heutigen Zuschauer wohl ehrfurchtsvoller als die alten Römer hinaufblickten, denn in der Stadt auf sieben Hügeln standen einst die Isispriester in üblem Rufe, und man verachtete sie als Bettlergesindel. Aber die Cäsaren beschützten den Cultus der Isis, und so beugte sich das Volk vor ihrem Bild.

Dicht hinter dieser ersten Gruppe erscheint die kaiserliche Leibwache, Prätoriauer zu Fuß und zu Pferd, und ihnen folgt die Musikantenschaar mit Cithern, Cymbeln, Trompeten und Trommeln. Sie verkünden die Ankunft des Kaisers, der auf einer mit Elfenbein und Gold geschmückten Sänfte sich durch die Straßen von Pompeji tragen läßt. Senatoren, Ritter, Clienten, pompejanische Magistratspersonen beschließen den Zug, der in dem Eingange zum Circus verschwindet.

Der Wagenkampf ist beendet, lauter Jubel begrüßt die Sieger, und man freut sich, daß kein Unglück bei dem Wettrennen geschehen. Die Schauspieler und Zuschauer ruhen nunmehr aus, um am Abend das anmuthige Bild einer römischen Hochzeit zu spielen und zu schauen.

Schon wartet die Auserwählte im Hause ihrer Eltern auf den Hochzeitszug (pompa nuptialis), der sie zu ihrem Manne geleiten soll. Längst hat sie ihr Spielzeug den Göttern geopfert, längst ist der Ehecontract zwischen dem Vater der Braut und dem Bräutigam vereinbart und der eiserne Verlobungsring der zukünftigen Gemahlin übersandt worden. Nun steht sie da mit blumenbekranztem Haupt in den Schleier verhüllt, auf hohem Kothurn, daß sie stattlicher und größer erscheine. Es kommen die Freier, sie wird den Armen der Mutter entrissen, und der Zug setzt sich in Bewegung. Knaben eilen mit Hymensfackeln voran, Hochzeitslieder werden angestimmt, die Braut wird mit geheiligtem Wasser besprengt, daß sie gereinigt in das Haus ihres Mannes trete. Hinter ihr tragen die Freundinnen eine Spindel mit Wolle, das Symbol ihrer künftigen Pflichten. Vor dem Hause des Bürgers Cornelius hält der Zug, und man überreicht der künftigen Herrin Feuer und Wasser und fragt sie nach ihrem Namen. Demüthig erwidert sie ihrem Gemahl; „Wo Du Cajus sein wirst, werde ich Caja heißen.“ Nun wird sie mit kräftigen Armen über die Schwelle des Hauses gehoben und nimmt die Schlüssel in Empfang.

Aus Pompeji: Der Begräbnißzug.0 Nach einer Skizze von Salvatore de Gregorio.

[421] Hinter ihr verschwindet in dem Thor der bunte Zug, dessen Heiterkeit zu den grauen menschenleeren Ruinen, den Häusern ohne Dach nicht recht stimmen wollte. Lebhaft erinnerte diese pompa nuptialis an unsere Hochzeitsgebräuche, aber die hellen lebensfrohen „heidnischen“ Farben und die Musik der Tibien, der Cithern und des Tympanums führten unsere Sinne in’s Alterthum zurück, und dieses trug den Sieg der Schönheit davon. Von dem fackeltragenden Jüngling, den kerzentragenden Knaben, der ehrwürdigen Pronuba, welche den Hochzeitsfeierlichkeiten vorstand, den die Braut geleitenden Freunden des Bräutigams, den Mädchen, welche die Hochzeitsgeschenke, Rocken und Spindel nachtragen und Blumen auf den Weg streuen, von den Nüsse unter die Kinder werfenden Begleitern der Braut sind eine Menge Spuren zurückgeblieben in Ländern, welche, fern den Schienenwegen, noch nicht von moderner Cultur nivellirt worden sind. Nur die Sitte, die Pfosten des Bräutigamshauses, ehe die Braut naht, mit heiligem Oele oder Wolfsfett zu salben, die Braut mit kräftigen Armen über die Schwelle zu heben, damit ihr Fuß diese, ein böfss Omen, nicht berühre, ist wohl römische Sitte geblieben.

Wie die Hochzeit bei den Römern in der Regel am Abend abgehalten wurde, so pflegte man auch den Untergang des Tagesgestirns abzuwarten, bis man die Todten zur letzten Ruhestätte hinaustrug.[6]

Der Abend des zweiten Festtages, des 11. Mai, war dazu bestimmt, um ein echt römisches Begräbniß aufzuführen. Hier trat der Unterschied zwischen den Sitten der alten und neuen Welt deutlicher zum Vorschein. Die Leiche wurde im alten Rom bei angesehenen Leuten auf einer Sänfte aufgebahrt, Geringere trug man in schlichten Särgen hinaus; diese begleiteten alsdann vier Leute, die das Begräbniß besorgten und die man Vespillones nannte. Die Leiche des Kaisers trugen Senatoren, die eines Feldherrn dagegen seine Soldaten. Dem Trauerzuge fehlte nicht die Grabmusik. Trompeter und Flötenspieler schritten voran, umringt von Fackelträgern. Ihnen folgte der Archimime, ein Mann, der die Geberden und Handlungen anderer Menschen gut nachahmen konnte. Sein Gesicht bedeckte eine Wachsmaske, welche die Züge des Heimgegangenen wiedergab. Mit den Kleidern des Verstorbenen angethan, ging der Mime vor dem Sarge her und suchte in einem würdigen rhythmischen Tanze die wichtigsten Scenen aus dem Leben des Todten den Begleitern des Zuges in Erinnerung zurückzurufen

Aus Pompeji: Isispriester im Zuge des Kaisers.
Nach einer Skizze von Salvatore de Gregorio.

Bei Begräbnissen vornehmer Leute erschienen im Zuge mehrere Masken, welche die Ahnen derselben darzustellen hatten, oft auch für die Belustigung der Zuschauer sorgten. Auch Büsten der hervorragendsten Vorfahren wurden im Zuge manchmal getragen, niemals aber fehlten Klageweiber (praeficae), welche Todtenlieder (Naeniae) zu Ehren des Verstorbenen sangen. In ähnlicher Zusammensetzung bewegte sich auch der Trauerzug am 11. Mai in Pompeji nach der Gräberstraße vor die Thore der Stadt, um die Leiche des Militärtribunen Lucilius beizusetzen. Die Klageweiber erschienen in schwarzen langen ärmellosen Gewändern, mit aufgelösten Haaren, in schwarzen Togen und Tuniken auch die Verwandten, die Freigelassenen und Sclaven; die Mimen aber waren in die grellbuntesten Farben gekleidet und bildeten, wie die mailich-prangende, feurig-grüne Natur, schroffen Gegensatz zu dem Ernst der Handlung. Die jenen Vorgang abschließende Verbrennung (Crematio) des Todten war feierlich und menschlich schön, und darin waren die Römer uns, die wir durchaus etwas Anstößiges in dem Vergehen in Flammen finden wollen, ganz bedeutend voraus. Die fackeltragenden Vespillones („Todtengräber“ kann man sie füglich nicht nennen) erschienen, als sie die ernste, von Grabmalen eingefaßte Straße hinabschritten, den Genien des Todes ähnlich, wie die griechische Kunst sie darstellt.

An den Festtagen gab es außerdem Gladiatorenkämpfe in dem Amphitheater, denen der Kaiser mit seinem großen Gefolge beiwohnte, das außer den Priestern der Stadt, die wie der gemeinste Mann eine große Freude an den blutigen Spielen zeigten, aus den Spitzen der Behörden und dem entarteten Volke des Kaiserreichs bestand, welchem Panis et circenses (Brod und Spiele) über Alles, auch über die Freiheit gingen. Der Schluß brachte eine Beleuchtung des Forums, an dem die Basilika, das Gebäude der Priesterin Eumachia, der Tempel des Quirinus, der Jupitertempel und das Pantheon llegen, mit bengalischem Licht.

Die schönste Beleuchtung aber übernahm der Vollmond, der romantische Freund der Ruinen. Groß und ernst kam er hinter dem Vesuv herauf und leuchtete in die Gassen hinein, die, eben noch vom lautesten Leben erfüllt, jetzt wieder still und einsam lagen, Behausungen von Schatten, die vor fast zwei Jahrtausenden hier zur Ruhe gekommen. Ein süßer Duft von reifendem Korn und blühenden Orangen wehte von der Campagna her, ein leises Rauschen wie Athmen eines Schlafenden tönte vom Meere herüber, und wie am Himmel die Sterne, zogen hier unten in glitzernder Pracht die vom Lenze geweckten Leuchtkäfer ihre stillen Bahnen.

Das ist das Pompeji des Dichters, der es, träumend, mit schöneren Gestalten bevölkert, als dies das beststudirte Theaterfestprogramm vermag.

 „Wie der lachende Amor,
Thanatos, scheinst du mir hier, in dem flimmernden Schutte Pompejis,
Spielend mit goldigem Staub und mit Scherben zerbrochener Vasen.
Und aus Lapis Lazur und verlorenem Schmucke der Mädchen
Stickst du die Grabmosaik phantastischer Märchengestalten.“




[422]

Erinnerungen an einen Millionenfürsten.

Von Hermann Heiberg.

Gegen Ende der Sechsziger Jahre folgte ich der Aufforderung eines meiner Verwandten, der mit Strousberg wegen der Bau-Ausführung einer großen Eisenbahn verhandelte, dem um diese Zeit vielbesprochenen Manne einen Besuch zu machen.

Alle Welt redete damals von dem Millionenfürsten, und die Zeitungen brachten fast wöchentlich fabelhaft klingende Mittheilungen über seine Person, seine Unternehmungen und seinen Besitz. Namentlich war auch viel von seinem neuerbauten Palais in der Wilhelmsstraße die Rede, und dieses einmal in Augenschein zu nehmen, reizte mich ganz besonders.

Strousberg hatte meinem auswärts wohnenden Verwandten schreiben lassen, daß er ihn zu sprechen wünsche, und ein genauer Termin war zwischen ihnen Beiden verabredet worden.

Als wir zur festgestellten Zeit die Treppen des edelgehaltenen Baues hinaufstiegen, hielt ein Viergespann vor der Thür, im Vestibul stand ein halb Dutzend livrirter Diener, und ringsum saßen Petenten, die des Augenblicks gewärtig waren, wo sie sich dem Gewaltigen nähern durften.

Während wir noch mit dem Diener sprachen, öffnete sich die Thür und laut redend erschien ein mittelgroßer, etwas corpulenter Mann mit scharf prononcirten Zügen, der rasch voranschritt und weder uns, noch die Uebrigen eines Blickes würdigte.

„Ah, Sie, Herr von B.?“ hub er an, als mein Verwandter sich näherte und mich gleichzeitig vorstellte. „Thut mir sehr leid! Jetzt muß ich fort. Morgen um diese Zeit, wenn es Ihnen gefällig ist.“ – Und zu mir gewandt: „Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben! Besuchen Sie mich einmal wieder. – Sie, – führen Sie die Herren durch die Zimmer.“

Nachdem er die letzten Worte einem der Diener zugerufen, eilte er rasch und ohne Gruß an uns vorüber und jagte im nächsten Augenblick bereits mit seinem offenen Gespann davon. Während wir die prächtigen, mit höchstem Geschmack und mit wahrhaft vornehmem Luxus ausgestatteten Räume durchschritten, äußerte ich mein Erstaunen über diese formlose Art, eine feste Abmachung zu ignoriren, und es mag hier gleich erwähnt werden, daß es ein charakteristischer Zug dieses Mannes war, mit einer von den Geschäfts- und Gewohnheitsüsancen mehr als abweichenden Nonchalance nur allzuhäufig derartige Verabredungen zu behandeln. Nachdem wir die sämmtlichen, namentlich durch vorzügliche Gemälde geschmückten Zimmer besichtigt und auch in einem Wintergarten eine künstliche Nachtigall hatten singen hören – („o bitte, warten Sie,“ sagte bezeichnend der Diener; „ich werde sie gleich aufziehen“), ließen wir das auch zur Vorbereitung für den morgigen Besuch nothwendige Trinkgeld in die Hand des Führers gleiten und empfahlen uns.

Strousberg stand damals auf der Höhe seiner Erfolge. Das Haus und die Bureaux waren umlagert von Antragstellern aus aller Herren Ländern, Vorschläge und Offerten gingen täglich zu Hunderten ein; bei Strousberg eingeladen zu werden, galt für eine der größten Auszeichnungen, und Capitalisten, Millionäre, Grafen und Fürsten antichambrirten stundenlang. Wenn er auf Reisen ging, folgte ihm ein Train, der dem Beherrscher eines Landes Ehre gemacht hätte; nicht selten wurde ein Extrazug für ihn geheizt, und fortwährend meldeten die Blätter von neuen Erwerbungen, bei denen es sich um Hunderttausende handelte. Als Strousberg seine silberne Hochzeit feierte, waren die Zeitungen spaltenlang gefüllt mit der Aufzählung von kostbaren Geschenken, die man ihm verehrt hatte, und kurz nach diesem Familienfeste feierte er, wenn ich mich nicht sehr irre, auch endlich den langersehnten Triumph, daß eine hochgestellte Persönlichkeit des Hofes seine Gemäldegallerie besichtigte.

Als wir am nächsten Tage uns in seinem Bureau in der Jägerstraße einfanden, wimmelte es von Menschen. Boten kamen, Depeschen wurden abgegeben; es war ein Hin und Her und ein Aus und Ein sondergleichen. Nun saß ich dem merkwürdigen Manne zum ersten Male gegenüber, hörte ihn reden und konnte ihn beobachten.

Es verbindet sich mit dieser Skizze nicht die Absicht, Strousberg erschöpfend als Geschäftsmann oder als Mensch in seinen privaten Verhältnissen zu schildern. Dies ist früher und neuerdings bei seinem soeben erfolgten Tode besser und ausreichender von anderen Seiten geschehen. Aber ich glaube, daß die Mittheilung einiger Begegnisse unter sehr von einander abweichenden Verhältnissen nicht ohne Interesse sein wird und, neben der Charakterisirung, mancherlei Vorurtheile über diesen seltsamen Mann zu zerstreuen im Stande ist. Ich meine, dies vorausgesandt, mein Urtheil dahin zusammenfassen zu können, daß Strousberg ein ganz außergewöhnlicher Mensch war. Seine Tugenden waren so groß, wie seine Fehler. An ihn mit der Moral der Kinderstube heranzutreten, hieße die geistigen Bedeutungsunterschiede der Menschen und die aus großen Zwecken nothwendig sich ergebenden Consequenzen verkennen. Auch ihm seine eminenten Verdienste um die Förderung des preußischen Eisenbahnwesens absprechen zu wollen, würde keine vorurtheilsfreie Kritik wagen dürfen.

In erster Linie aber war Strousberg – fast klingt es wie eine Paradoxie – kein Geschäftsmann; an dieser Thatsache scheiterte er. Er war weder ein Rechner noch ein Sparer. Seine Voraussetzungen erhob er ohne Weiteres zu fertigen Ergebnissen. Aus diesen Illusionen heraus disponirte er nicht nur über erst eingehende Geldgewinne, sondern er machte sich durch allerlei Passionen, die er betrieb, in leichtsinnigster Weise sogar ganz unnütze Verlegenheiten. Er war weder pünktlich noch zuverlässig, weder klug berechnend noch rücksichtsvoll um seines Vortheils willen, ja sogar unklug und unvorsichtig in seinen Reden, um einen augenblicklichen kleinlichen Erfolg der Bewunderung zu erzielen. Strousberg war mit sammt seinen Gaben ein gefährlicher Phantast, und nur seine gleichzeitige glänzende Verstandesdivination und das unerhörte Glück seiner Erfolge haben es ermöglicht, daß dieser Mann zeitweilig eine so große Rolle hat spielen können. Er erhob Thorheit zu Weisheit; die einfachsten Regeldetrisätze des Calcüls, die ewig unwandelbar und unverrückbar sind, schien er mit ihrer logischen Wahrheit über den Haufen zu werfen, die gewiegtesten und kaltbesonnensten Geschäftsmänner fesselte er an seine Fahne, dictirte mit fast unumschränkter Autorität seiner Umgebung, und stellte vorübergehend Menschen und Verhältnisse geradezu auf den Kopf. Und das Alles, das Gute und das Ueble – nicht aus Gewinnsucht, niemals, außer in höchster Bedrängniß – mit verwerflichen Mitteln, niemals mit kalter, egoistischer Berechnung, – aber immer aus einem mächtigen unbezwingbaren Schaffensdrange, und nicht zum wenigsten – aus Eitelkeit.

Wäre Strousberg ein ebenso fähiger Erhalter wie Förderer großer, zeitgemäßer Ideen gewesen, hätte er mit seinem Organisationstalente auch die Ruhe und die Gründlichkeit besessen, hätte er es verstanden, vermöge praktischer Menschenkenntniß, die ihm völlig abging, sich mit zuverlässigen und tüchtigen Personen zu umgeben, und hätte er erkannt, daß in der Beschränkung erst die wahre Meisterschaft beruhe, die Welt würde auf dem von ihm gepflegten Gebiete seines Gleichen kaum gehabt haben. Denn er war zugleich voll Idealismus, voll Menschenliebe, erfüllt von dem Drange, Gutes und Großes zu schaffen, zu nützen: – er war wahrhaft selbstlos für seine eigene Person, voll rührender Sorge für seine Familie, hatte keine Körper und Geist zerstörende Passionen; er war weder Spieler noch Trinker, er besaß im Gegentheil einen genügsamen Hang zur Häuslichkeit, der als Muster hätte dienen können.

Und seine edle Frau, von der einst eine Dame behauptete, wenn Engel zur Erde herabstiegen, müßte sie sich in deren Gefolge befinden, trug seine Launen, seine Grobheiten, ja häufig seine maßlosen Rohheiten mit einer beispiellosen Geduld; sie kannte seinen inneren Kern und übte deshalb sanftmüthige Nachsicht mit seinen Schwächen.

Das folgende Mal näherte ich mich Strousberg auf Bitten eines mir eng befreundeten Künstlers, des inzwischen verstorbenen, in seiner Art hochbedeutenden Thiermalers Eugen Krüger, der Werth darauf legte, daß Strousberg eines seiner Bilder kaufen möge, aber selbst ein Angebot natürlich nicht machen wollte. Ich erinnere mich der Scene, wie heute. – Strousberg ließ – es war Nachmittagszeit und das Bild war ihm bereits nach einer gesprächsweisen Vorbereitung von meiner Seite in’s Palais gebracht – heraussagen, er bäte mich, näher zu treten. Ich durchwanderte eine Reihe der hellerleuchteten, prunkvollen Zimmer und fand ihn – die Kleider geöffnet – auf einem kleinen Sopha ausgestreckt.

„Nun, Herr Doctor,“ hub ich an, „wie hat Ihnen das Bild – (es waren Wildschweine im Winterschnee –) gefallen?“

„Der Mann kann Sauen malen, aber keine Luft. Sagen Sie ihm das!“ –

Ich hörte, aber wartete auf Entscheidung. Endlich sagte ich: „Es ist also nichts?“

„Hm, hm! Wie viel fordert der Mann?“

Ich nannte einen angemessenen, nicht zu hohen Preis.

„Für die Luft viel zu viel, für die Schweine allerdings zu wenig. – Nein, nein, es ist nichts!“ – und er ging auf ein anderes Thema über.

Krüger war im ersten Augenblick sehr erregt, als ich ihm berichtete. Nach einigen Tagen aber sagte er mir: „Strousberg hat Recht. Reden wir nicht mehr davon.“

Auch dieser Zwischenfall war für Strousberg sehr charakteristisch. Er traf immer den Nagel auf den Kopf. Bei seiner Vielseitigkeit war er überall zu Hause, und als sachgemäßer, geistvoller Kritiker suchte er seines Gleichen.

Es möge noch ein Beispiel von der planlosen Unbesonnenheit hier Platz finden, mit der er bisweilen vorging, wenn ihn etwas interessirte oder der Vortragende ihn zu fesseln wußte.

Die Disconto-Gesellschaft hatte zur Gründungszeit die Absicht, eine der größten europäischen Zeitungen in ihren Besitz zu bringen. Man war auch auf eine große Kaufsumme gefaßt, aber selbstredend mußte es ein „Geschäft“ sein. Herr von Hansemann that, als er den Preis hörte, den denkwürdigen Ausspruch: „Da kaufe ich mir lieber preußische Consols und schlafe ruhig.“ –

Aus der Sache wurde nichts. Strousberg aber hatte von der Angelegenheit gehört und bat mich, ihn zu besuchen. „Wie viel?“ fragte er, ohne auch nur eine Ziffer zu kennen. Ich nannte die nach vielen Millionen Thalern zählende Forderung.

„Ich kaufe sie“ – resolvirte er kurz. „Ich kaufe sie für meine Kinder. – Sagen Sie in meinem Auftrage Hansemann, daß wir das Geschäft zusammen machen wollten; ich werde dann das Nähere mit ihm besprechen. Entschließt er sich, ist die Sache abgemacht.“

Als ich Herrn von Hansemann lediglich im Interesse eines endlichen Definitivums nochmals besuchte und Strousberg’s Auftrag ausrichtete, schüttelte er in einer Weise mit dem Kopfe, daß ich die Antwort meinem Auftraggeber gar nicht überbrachte. Aber Strousberg hatte auch jedenfalls die Sache schon nach vierundzwanzig Stunden vergessen, obgleich er sich mit mehreren Millionen Thalern engagiren wollte. –

Bald nach Beendigung des französischen Krieges ging ich im Auftrage der Familie eines mir nahestehenden, plötzlich gestorbenen Freundes nach Metz, um dort ein stark verwickeltes, sehr bedeutendes Geschäft zu reguliren. Es waren viele Partner, und auf die Wittwe des Verstorbenen kam nicht allzu viel. Es galt nun, mit einigen Gläubigern wegen auftauchender Forderungen zu verhandeln, und unter diesen befand sich auch Strousberg. Er saß, umgeben von einigen Herren, in einem der vorderen Gemächer. Ganz nach seiner unmanierlichen Gewohnheit, selbst Leute mit [423] Frack und Orden in Hemdärmeln zu empfangen, trug er auch heute nur einen dünnen, seidenen chinesischen Schlafrock, der soweit zurückgeschlagen war, daß er die Brust unter dem ungeknöpften Hemde frei ließ. Er stand nie auf, wenn man in’s Zimmer trat, sprach rücksichtslos in Gegenwart Anderer über die intimsten Gegenstände Dritter und war je nach Eitelkeit und Laune kurz oder gnädig.

Auch diesmal war es so.

„Was bringen Sie mir?“ fragte er herablassend und ohne mir einen Stuhl anzubieten.

Ich wartete und ließ meinen Blick umherschweifen.

„Ah so! – Entschuldigen Sie! – Bitte, nehmen Sie Platz!“

Es gefiel ihm, daß ich mich von ihm nicht behandeln ließ, wie die Meisten.

Ich erzählte nun, daß mein Freund gestorben und daß seine Wittwe wegen ihrer zahlreichen Familie gebeten habe, bei ihm um Tilgung der Schuld einzukommen. – Mit der größten und wärmsten Theilnahme hörte er mir zu, erkundigte sich nach den näheren Verhältnissen bis in’s Detail, erging sich in milden, aber gerechten und verständnißvollen Worten über den Verstorbenen, und schloß mit der Frage (sie war sehr bezeichnend): „Fünftausend Thaler erhalte ich, nicht so?“

„Nein, mindestens das Dreifache, Herr Doctor –“

„Na, könnte die Wittwe denn nicht etwas abzahlen?“ schob er ein. „Und wenn nicht jetzt, vielleicht später? Wie viel hat sie zu leben? Hm, hm! – Grüßen Sie sie von mir. Sagen Sie ihr, ich hätte ihren Mann lieb gehabt; ich wünschte ihr alles Gute. – Bleiben Sie noch in Berlin?“ etc. etc.

Endlich erhob ich mich und berührte nochmals den Gegenstand. „Darf ich also melden, Herr Doctor –“

„Nun ja, ich sagte es ja schon! Noch heute soll der Betrag als bezahlt verbucht werden. Adieu! Adieu!“

Als Strousberg als ruinirter Mann – die Ereignisse sind ja bekannt – aus Moskau zurückgekehrt war und sein Bureau in der Dorotheenstraße einrichtete – wir hatten uns in der Zwischenzeit mehrfach geschäftlich berührt – ließ er mich durch einen Freund abermals bitten, ihn zu besuchen.

„Lesen Sie und sagen Sie mir Ihr Urtheil!“ hub er an und schob mir ein Papier hinüber. Es war der Prospect über eine Commandit-Gesellschaft auf Actien in Höhe von fünf Millionen Mark.

„Nun? Was halten Sie davon? Ich bitte unumwunden um Ihre Ansicht!“

„Ich glaube, daß fünf Millionen Mark das Eingeständniß einer Schwäche sein würde, Herr Doctor. Ich fürchte, offen gesagt, Sie werden Fiasco machen. Lassen Sie es ganz, oder nehmen Sie eine viel größere Summe, meinetwegen fünfzig Millionen unter nachweisbaren Garantien und unter Darlegung Ihrer Pläne. Vielleicht täusche ich mich in der Voraussetzung, daß der alte Zauber Ihres Namens wirken wird – jedenfalls werden Sie mit dieser Summe und mit diesem Prospect nichts erreichen.“

Als mir Strousberg aber gar erklärte, er wolle die Banken und Börsen gänzlich umgehen und sich lediglich an’s Publicum wenden, glaubte ich ihm überhaupt abrathen zu sollen. Seltsamer Weise wurde doch ein Geringes gezeichnet und zwar, wie mir erzählt ward, von Leuten, die viel Geld bei ihm verloren hatten.

Es giebt eben ewige Räthsel. – – Einige Monate später waren Strousberg’s Verhältnisse schon wieder äußerst precäre. Die Möbel in der Keith-Straße wurden gerichtlich versiegelt, und die Familie – wahrscheinlich solchen Eindrücken entfliehend – verließ abermals Berlin. Ich besuchte ihn hier zwei Mal.

Bei erster Begegnung saß er nach seiner Gewohnheit mit gekreuzten Unterbeinen und liebäugelte mit seinen kleinen, in Lackstiefeln steckenden Füßen. Unser Gespräch war sehr merkwürdig und von seinem raschen und originellen Urtheil ward ich, wie immer, auf’s Höchste angezogen. Strousberg war in der That ein außerordentlich geistreicher Mensch, nicht bezüglich blitzender Redewendungen, aber durch die abweichende und ganz eigenartige Auffassung der Dinge. Endlich sagte er, ziemlich unvermittelt: „Geben Sie einmal ein Urtheil über mich ab.“

Ich zauderte, aber er drang in mich. Nachdem ich mich als jüngerer Mann seiner Nachsicht versichert hatte, sagte ich: „Ich halte Sie bezüglich Ihres weiten Blickes und Ihrer großartigen Veranlagung für einen ungewöhnlich genialen Mann. Sie sind aber kein Geschäftsmann, obgleich Sie diese Carrière wählten. Ich bezweifle, daß Sie jemals Ihre Menschenkenntniß praktisch verwerthet haben, und ich glaube, daß Sie in Ihrem Leben niemals solvent waren, obgleich Sie sich zeitweilig einbildeten, einer der reichsten Männer Europas zu sein.“

„Letzteres ist stark,“ erwiderte Strousberg und musterte mich mit eigenthümlichen Blicken. Aber er brach schnell ab und bot mir, auf ein anderes Thema übergehend, eine Prise aus seiner goldenen Dose an. Ich tauchte meine zwei Finger tief hinein und verschob dabei zufällig den Inhalt. Da traf mich abermals sein Blick, ein anderer. Ich werde diesen nie vergessen. Wir sahen Beide zu gleicher Zeit auf dem Boden der Tabatière den blauen Stempel des Gerichtsvollziehers. –

Zum letzten Mal sah ich Strousberg, wie er das „Kleine Journal“ begründet hatte und ihn die Sorgen fast erdrückten.

„Schaffen Sie mir Geld! Wenn’s auch nur ein paar hundert Mark sind! Eilen Sie – darf ich Sie in einer halben Stunde erwarten? Ich brauche es dringend nothwendig – geben Sie mir Nachricht –?“

So drängte er.

Als ich mich zur Thür wandte, machte er mich mit einem gerade eintretenden Herrn bekannt, der sich soeben im Nebenzimmer über einige seiner neuen Unternehmungen informirt hatte und sein Geld bei ihm anlegen wollte. Es war ein neues Opfer seiner ruhelosen Pläne. –

Selbst im Sterben faßte dieser merkwürdige Mann immer von Neuem Muth. Man wußte nicht, sollte man mehr den Leichtsinn beklagen, oder die Energie anstaunen! Vielleicht Beides?

Fürst Bismarck las das „Kleine Journal“ um der von Strousberg geschriebenen Leitartikel willen seiner Zeit mit Vorliebe. Häufig ward dem neu Emporstrebenden dies mitgetheilt, und es machte ihn so glücklich, daß er, als ich ihm am nächsten Tage eine gute Botschaft von einem ihm wohlwollenden Freunde bringen konnte, und er dadurch neue Hoffnungen schöpfte, ausrief:

„Wenn Bismarck mich nur als Journalisten für seine Ideen verwenden wollte! Ich brauche wenig für meine Bedürfnisse. Schreiben ist mein eigentlicher Beruf, mein Element. Ich würde ihm und seiner Sache unendlich dienen können – freilich, es würde anders gemacht werden, als bisher. Und ihm zu nützen, würde einer der höchsten Wünsche meines Lebens sein.“

Er dankte mir für meine Bemühungen und bot mir Vortheile. Ich erklärte ihm, daß sein hochherziges Benehmen gegen die Wittwe meines Freundes seiner Zeit mich ihm dauernd verpflichtet habe. Dies und meine Bewunderung für seine vielen, großen und guten Eigenschaften sei das alleinige Motiv wiederholter Annäherungen gewesen. So schieden wir.

Bei seiner diesmaligen Rückkehr habe ich ihn nicht wieder gesehen. Ich erfuhr nur von Bekannten, daß er sich mit neuen Plänen und keineswegs aussichtslosen trage, und ein ganz unverwüstliches Selbstvertrauen an den Tag lege. Auch eine wörtliche Aeußerung ward mir mitgetheilt, und ich glaube, daß man sie unterschreiben kann:

„Ich habe schwere Fehler in meinem Leben begangen, aber stets wollte ich das Gute. Selten ist Jemand so tief von einer Höhe herabgesunken wie ich, selten ward Jemandem mit so wenig Dank gelohnt, wie mir. Fast alle meine Unternehmungen prosperiren heute, nachdem ihnen die Zeit gegeben, sich zu entwickeln, und wo ich eine scheinbare Ruine zurückließ, entstand doch kräftiges Leben.“

Nun hat dieser seltsame Mann plötzlich sein Dasein vollendet († am 31. Mai d. J. in Berlin). Sein ganzes Leben war ein einziger, ruheloser Kampf. Selbst unter den langandauernden Wahnbildern von Macht, Größe und Reichthum verzehrte ihn ein brennendes Fieber. War’s früher Sorge um die Lebensexistenz, so war’s damals – der Ehrgeiz, und zuletzt war’s die Bitterkeit, daß er, der so Vielen geholfen, der einst Hunderttausende mit mitleidigem Herzen verschenkt, der Arme speiste und geschehenes Unrecht stets bereitwillig gut zu machen suchte, der rastlos arbeitete, plante und sann, um Großes zu schaffen, der endlich in einem kleinen Stübchen in der Taubenstraße in Berlin, bei seiner früheren Köchin, das einzige freiwillig angebotene Unterkommen fand, um ein Dach über seinem Haupte, ein Lager unter seinem Körper zu haben. Solon’s Worte an Krösus: „nemo ante mortem beatus“ (Niemand ist vor seinem Tode glücklich), bewahrheitet sich an ihm, wie an Wenigen. – Keine Vertheidigung seiner Fehler, wohl aber der Wunsch einer gerechten Würdigung seiner vielen guten menschlichen Seiten veranlaßte mich, an dieser Stelle meine Erinnerungen an Strousberg wiederzugeben.


Blätter und Blüthen.

Das Concert. (Mit Illustration S. 409.) Weshalb die Resi beim Vogelnazi vorgesprochen ist, das weiß ich nicht. Ob sie nach Händln fragt, ob nach Küchenzeug aus dem Pflanzenreiche – die Radi liegen da nur so herum – kann ich nicht sagen. Bier hat sie geholt, das ist gewiß, und weshalb sie da steht und horcht und vergnügt ist, das ist auch zu sehen. Der Vogelnazi hat sie nicht ausgelassen, sie muß dem Dompfaffen sein Neuestes hören.

Und da pfeifen sie alle Beide, der Vogelnazi mit seiner Querpfeife und der Dompfaff mit seinem Schnabel. Was? Irgend ein G’sangl, aber ein langsames. Denn der Dompfaff ist ein langsamer Herr und muß schon jeden Ton ordentlich hören, ehe er ihn pfeifen kann.

Merkwürdiges Volk sind sie Beide, so ein Vogelnarr und so ein Dompfaff mit dem aschgrauen Röckl und schwarzen Käppi und rothen Brustlatz. Ich weiß es von Einem, der mich sehr nahe angeht und der zwar jetzt nur Canarienvögel züchtet, aber vordem auch Dompfaffen lehrte, übrigens selber nur ein Vogelzüchter, aber kein Vogelnarr ist.

Ein richtiger Vogelnarr schläft am liebsten dicht bei seinen Vögeln, und früh zieht er sich kaum das Nothdürftigste an, dann geht er erst einmal an die Käfige und pfeift. Er braucht weder Frau noch Kind, und hat er sie, so kommen sie in seinem Herzen erst nach den Vögeln. Dabei können sie immer noch gut versorgt sein, denn die Vögel sind sehr gut versorgt. Er braucht keine Unterhaltung, denn er hat nie Langeweile. Er ist anspruchslos, denn die Vögel geben ihm soviel Glück und Vergnügen, als er wünscht. Und wenn ein Engel vom Himmel käme, der Vogelnazi würde kein so verklärtes Gesicht machen, wie wenn der Dompfaff ein neues G’sangl ausgepfiffen hat, ohne einen Fehler zu machen.

Und so ein Dompfaff!

Er hängt vorm Fenster und der Vogelnazi kommt nach Hause. Er ist noch zwanzig Schritt von der Thür mit seinem Karren, aber der Dompfaff sieht ihn. „Däk – däk – däk“ – lang und schmelzend zieht er den Willkomm, und dazu macht er gravitätisch tiefe Reverenzen, erst rechts, dann links hinüber. Und dann um die Mittagsstunde, wenn der Nazi ihn auf den Tisch gestellt hat und sein Schläfchen machen will und Alles so still ist, dann hebt er an zu zwitschern, ganz leise, aber reizend. Er hat etwas Sentimentales, Zartes, Altjüngferliches an sich, so behäbig er aussieht und so funkelnd die kleinen schwarzen Aeuglein sind.

Aber so sind alle Dompfaffen, das ist noch nichts Besonderes. Pfeifen lernt noch lange nicht jeder Dompfaff: nur der Künstler, der geborene. Man kann ein Nest junger Dompfaffen nach Hause nehmen, und man ist nicht sicher, daß auch nur einer davon ein Künstler ist und pfeifen [424] lernt. Aber wie pfeift er dann auch! Mit einer Süßigkeit des Pfiffs, wie kein andrer Vogel. Selbst die Querpfeife des Vogelnazi kreischt dagegen. Und wie er die Tonhöhe festhält! Wenn er für sich allein pfeift, fängt er nicht etwa das eine Mal mit c, das andere Mal mit d an. Zuerst wird der richtige Anfangston ausprobirt; sagen wir c. „Tüht“ – das war a; falsch. „Tüht“ – d, wieder falsch. „Tüht“ – cis, das paßt schon besser. „Tüht“ c, richtig. Nun kann’s angehen.

Zarte Geschöpfe sind sie, diese Dompfaffenkünstler, die allerzartesten ihres Geschlechts. Sie haben Nerven, ganz unglaublich empfindsame Nerven. Ein unerwarteter Donnerschlag – und sie hören auf zu leben. Ich sehe ihn noch: ein wunderbarer Pfeifer war es, und er hing vor dem Fenster des Mannes, der mich, wie ich sagte, nahe angeht. Es war an einem sonnigen Frühlingsvormittag. Da flattert es im Käfig – noch ein paar Zuckungen in Krämpfen, ein paar matte Flügelschläge, und aus war es mit ihm.

Warum?

In der blauen Luft droben schwebte ein Bussard.
Victor Blüthgen.     


Volkssanatorien für Lungenkranke. Die Entdeckung des Schwindsuchtspilzes durch Koch hat die Tuberkulosenfrage seit zwei Jahren in den Vordergrund des ärztlichen Interesses gerückt. Es ist aber nicht allein die Aetiologie, das heißt die Frage nach dem Entstehen der Schwindsucht, welche dadurch der Lösung bedeutend näher gerückt und in ganz neue Bahnen gelenkt ist, sondern der Arzt forscht mit noch mehr Recht als früher nach Ergründung der Fragen: Wie ist die Tuberkulose zu verhüten, wie ist sie zu heilen? Während nun die Frage nach der Verhütung (Prophylaxe) der Schwindsucht noch größtentheils der Lösung harrt – man ist in dieser Beziehung noch nicht über allgemeine, respective undurchführbare Rathschläge hinaus gekommen – steht es mit der Heilung dieser Krankheit nicht mehr ganz so schlimm.

Tausendfältige Erfahrung lehrt, daß ein langandauernder Aufenthalt im Höhenklima unter sachverständiger ärztlicher Leitung, in möglichst frühzeitigem Stadium begonnen, oft erstaunliche Heilresultate aufzuweisen hat. Aber ein solcher Aufenthalt ist durch seine lange Dauer kostspielig und daher nur relativ Wohlhabenden zugängig, während Unbemittelte, die ja bekanntlich gerade der Schwindsucht viel mehr ausgesetzt sind, unrettbar dem Tode entgegensiechen. Wer, wie Schreiber dieses, jahraus jahrein das grenzenlose Elend vor Augen hat, welches die Schwindsucht in den Familien anzurichten im Stande ist, dem blutet das Herz angesichts der Thatsache, daß so vielen mit den größten Vorzügen des Geistes und Gemüthes ausgestatteten Schwindsüchtigen der ärmeren Classe die Rettung versagt ist einfach des schnöden Geldmangels wegen.

Schon vor zwei Jahren trat ich in einem Artikel der Nr. 34, 1882 der „Gartenlaube“ für Errichtung von Volkssanatorien für unbemittelte Lungenkranke ein. Mein Aufsatz hatte den Erfolg, daß außer einem Legate von etwa 25,000 Mark, welches aber gewisse Vorzugsberechtigte stipulirt, etwa 800 Mark gesammelt worden sind. Aber was will das sagen gegenüber der großen Noth! Im großen Ganzen fiel meine Anregung auf sterilen Boden. Um so größer ist meine Freude zu sehen, wie doch allmählich sich berufene Kreise meiner Idee bemächtigen. In Wien hat Professor Schnitzler in einer Versammlung der dortigen Aerzte warm die Errichtung von Heilanstalten für Lungenkranke außerhalb der großen Städte empfohlen, und in Deutschland greift Dr. Ladendorf in St. Andreasberg den Plan wieder auf in einem beredten Artikel der Nr. 22 der „Deutschen Medicinal-Zeitung“, dessen Lectüre ich sehr empfehle.[7]

Sollte sich in Deutschland nicht eine Vereinigung von bekannten und allgemein geachteten Männern finden, welche die Sache etwa nach dem Muster der Reichsfechtschulen oder des Vereins für Kinderheilstätten in die Hand nähme und zu gutem Ende führte? Sollte sich nicht ein bemitteltes Elternpaar, dem der einzige hoffnungsvolle Sohn oder die blühende Tochter der Schwindsucht zum Opfer fiel, veranlaßt finden, durch eine namhafte Spende den Grundstein zu legen zu dem ersten Volkssanatorium für Schwindsüchtige, um so andern Leidenden die Heilung zu ermöglichen, welche ihrem Kinde versagt war? Wenn durch freiwillige Beiträge, Lotterie etc. auch nur erst ein einziges Sanatorium für arme Lungenkranke gegründet ist, wird der Erfolg bald jede Provinz zur Nachahmung anspornen und der Segen ein großer sein. Darum auf, wer ein Herz hat für’s Volk und die Milderung seines Elendes!
Dr. Driver-Reiboldsgrün.     
  1. Therese Adolfine Robinson, geb. Jakob aus Leipzig, genannt Talvj: „Geschichte der Kolonisation von Neu-England“ 1847.
  2. Massachusetts, New-Hampshire, Vermont, Maine, Rhode-Island, Connecticut.
  3. G. Bancroft, History of the United States, I, 310.
  4. Wir sind bis in alle Einzelheiten hinein über die Erlebnisse der „Pilgerväter“ unterrichtet durch die Tagebücher und anderen Aufzeichnungen, welche mehrere derselben hinterlassen haben. Diese höchst werthvollen Quellenschriften sind gesammelt und gedruckt in den „Chronicles of the Pilgrim Fathers“, Boston 1841.
  5. So nannten die Römer Ischia.
  6. Die Begräbnisstätten hatten gesetzlicher Bestimmung gemäß außerhalb der Stadt zu liegen, nur besonders verdienten Personen konnte durch Volksbeschluß ein Begräbniß auf dem Forum zuerkannt werden. Die Gräber zogen sich demgemäß vor den Thoren der Stadt in Straßen (Gräberstraßen) weit hin, wie z. B. bei Rom an der Via Appia.
  7. „Ueber die Gründung von Volkssanatorien für Phthisiker“. Preis 20 Pfg. Verlag von Eugen Grosser, Berlin.

Ein vermißtes Kind! Ein Knabe von dreizehn Jahren, Eduard Schäfer, hat am 30. April seine Eltern in Hörde (Westfalen) verlassen und ist seitdem nicht wieder aufzufinden gewesen. Er hat ein schmächtiges Aussehen, blondes Haar, längliches Gesicht, an der linken Hand eine Narbe. Die öffentliche Theilnahme wird sicherlich den sorgenerfüllten Eltern gern beistehen.


Quittung. Auf die in Nr. 18 der „Gartenlaube“ ausgesprochene „Bitte“ für einen verdienten und dennoch bedrängten Schriftsteller sind eingegangen:

Von der Verlagshandlung der „Gartenlaube“ Mark 50; aus Cönnern a. d. S. 2; Ungenannt 1; Heinrich Scheel in Stralsund 10; aus Mingolsheim Ungenannt 10; E. B. von einer langjährigen Abonnentin 30; H. G. in Lobenstein 10; M. F. in Luckau i. d. L. 10; M. in Dortmund 10; von „Einem Zufriedenen“ in Auerbach i. V. 5; Frau M. Wessel in Pirna 5; Dinckelberg in Sondershausen 5; H. in Berlin 3; Ein dankbares Herz in Dresden 20; C. H. in Pforzheim 3; Z. in Naumburg 1; F. R. in Berlin, 16 Thierg. 8; Dr. H. in Würzburg 5; C. M. R. in Pegnitz 0,50; Sara Maier in Karlsruhe: „Wenig aber von Herzen“ 10; A. B. in Regensburg 8; von Einem, der auch fast sein Lebelang mit seiner Feder sich und die Seinen hat ernähren müssen 5; Kosmopolit 5; ein alter Freund und Verehrer der „Gartenlaube“ in Sonoma (5 Dollar) 20,75.

Wir haben in diesem Falle den Opferstock aufgestellt für eine wenig in die Augen springende Bedrängniß, die doch der Beachtung so werth ist und der Abhülfe so sehr bedarf, daß wir die Theilnahme unserer Leser nochmals auf sie hinlenken möchten.



Allerlei Kurzweil.


Magisches Tableau: Das Gespenst.


Zahlen-Räthsel.

1 2  
2 3
 
Anstatt der Ziffern 1, 2 und 3 sind entsprechende Buchstaben zu setzen. Liest man alsdann die Zeilen in wagerechter und senkrechter Richtung, so ergeben die Ziffern 1 und 2, sowie 2 und 3 je den Namen eines Flusses.


Kleiner Briefkasten.

H. C. in Mannheim. Die Beantwortung Ihrer ersten Frage hängt wesentlich von der körperlichen Constitution des jungen Mannes ab; richten Sie Ihre Anfrage deshalb an einen dortigen Arzt. – Durch die verschiedenen Buchstaben auf den Münzen (Münzbuchstaben) werden die Münzstätten bezeichnet. So bedeutet auf deutschen Münzen A: Berlin, B: Hannover, C: Frankfurt, D: München, E: Dresden, F: Stuttgart, G: Karlsruhe, H: Darmstadt, I: Hamburg.

S. in B. Die allgemeine deutsche Pensionsanstalt für Lehrerinnen und Erzieherinnen steht unter dem Protectorate der deutschen Kronprinzessin. Die Zahl der Mitglieder beträgt gegenwärtig über 1100; im Genuß einer Pension stehen 39 Mitglieder. Alles Nähere erfahren Sie aus dem Jahresberichte für 1883, den wir Ihnen zur Durchsicht empfehlen.

E. Sch. in Budapest. Nicht geeignet.

Herrn Revierförster B. Vielleicht kann ein tüchtiger Taubstummenlehrer Ihrem Sohne Hülfe bringen. In der Provinz Posen finden sich Taubstummenanstalten in Schneidemühl, Bromberg und Posen.

K. E. 100. Wir empfehlen Ihnen Albrecht, „Lehrbuch der Gabelsberger’schen Stenographie“. 37. Aufl. Hamburg 1881.

H. Sch. in Wien, J. Tr. in Wiesbaden, Dr. B. in Berlin, K. H. in K. Nicht geeignet.

Zwei ausgediente Soldaten. Die Erhebung des Grafen von Wrangel zum Generalfeldmarschall erfolgte am 15. August 1856 gelegentlich seines sechszigjährigen Dienstjubiläums.

B. J. Anonyme Anfragen können wir nicht berücksichtigen.




Inhalt: Brausejahre. Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe (Fortsetzung). S. 405. – Die Kindheit eines Riesen. Von Johannes Scherr. I. S. 410. – Scesaplana und Lünersee. Von C. S. S. 413. Mit Illustrationen S. 413 und 417. – Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstsin (Schluß). S. 414. – Aus Pompeji. S 418. Mit Illustrationen S. 419, 420 und 421. – Erinnerungen an einen Millionenfürsten. Von Hermann Heiberg. S. 422. – Blätter und Blüthen: Das Concert. Von Victor Blüthgen. S. 423. Mit Illustration S. 409. – Volkssanatorien für Lungenkranke. Von Dr. Driver-Reiboldsgrün. – Ein vermißtes Kind! – Quittung. S. 424. – Allerlei Kurzweil: Magisches Tableau: Das Gespenst. – Zahlen-Räthsel. – Kleiner Briefkasten. S. 424.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung. 


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.