Die Gartenlaube (1884)/Heft 24

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 24.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)

Die Familie saß in zwangloser Weise beim Frühstück, und ein allgemeiner fluchtartiger Aufstand, durch des Bruders Meldung veranlaßt, brachte diesen in große Verlegenheit.

Der alte Kammerpräsident, aus dem Kanapee aufgescheucht, entfloh mit flatterndem Schlafrock um die Ecke in die Thür eines Nebenzimmers. Er zerbrach im Verschwinden seine Thonpfeife, die funkensprühend in das Zimmer zurückflog. Seine Gemahlin, ebenso nachlässig gekleidet und mit einer Filetarbeit an der Decke des Frühstückstisches beschäftigt, brachte ein bedenkliches Klirren und Schwanken des Geschirrs hervor, der Milchtopf fiel um und ergoß seinen Inhalt; ein wohlgenährter Mops saß zornig aufrecht und kläffte wüthend die Ruhestörer an. Gustchen hielt, was zu halten war, drückte dann die Mutter wieder in ihre Ecke und hüllte sie in eine Mantille. Zur Seite wurde eine zweite Frühstücksstunde gestört, die Frau Leonore Kalb ihrem Kindchen bereitete; die junge Mutter beschäftigte sich erröthend mit ihrem Anzuge, während das kleine Wesen schreiend und zappelnd die Fortsetzung des Mahls begehrte.

Fürst und Dichter traten lächelnd unter diese Gruppen. Nach und nach beruhigten sich Lärm und Aufstand.

Die Kammerpräsidentin empfing den Besuch mit rasch wiedergewonnenem Anstande; Frau Leonore entfloh mit ihrem Kleinen; der Mops leckte die Milch, und Gustchen sowie der Bruder unterstützten die Mutter in höflichen Formen und artigen Reden.

Nach einiger Zeit kam auch der Vater in gewählterem Anzuge, doch mit aufgeregtem Schwenken des Haarbeutels wieder zum Vorschein; er suchte mit einer Menge unterthäniger Floskeln den vorhergehenden Eindruck gut zu machen und die geehrten Gäste von ihrem Werth und der ebenso unwürdigen wie zerknirschten Persönlichkeit ihres submissest ersterbenden Wirths zu überzeugen. Karl August’s frische Natürlichkeit ertrug dergleichen nicht lange; er fuhr kurz dazwischen und sagte, was er von seinen „unterthänigsten Knechten“ wollte.

„Sie müssen mir den Doctor gut halten, Präsident!“ sprach er bestimmt. „Sie müssen ihm nach Kräften unser Weimar angenehm machen. Er muß sich frei bewegen, thun und lassen können, was er mag; geben Sie ihm einen Hausschlüssel und die Kost auf seinem Zimmer, wenn er es befiehlt. Wünscht er Ihre Gesellschaft, so wird er zu Ihnen kommen; größtentheils wird er wohl bei mir im Fürstenhause sein. Diesen Mittag essen wir bei Ihnen; – Ihr Sohn sagt, daß Sie eingerichtet sind,“ fügte er freundlich zur Hausfrau gewandt hinzu – „und die Damen werden sich hoffentlich nicht ausschließen! Wir werden dann auch Ihre Frau begrüßen, Kammerjunker, die wir diesen Morgen in den süßesten Pflichten störten, und wollen munter und guter Dinge zusammen sein. Einige Winke, wen ich gern hier sehen würde, habe ich schon fallen lassen.“

Mit diesen Worten stand er auf. Alles folgte seinem Beispiele; Goethe brach eine halblaute neckische Unterhaltung mit seiner reizenden Nachbarin ab, um gleichfalls dem Kammerpräsidenten und seiner Gemahlin einige Worte zu sagen, während der Herzog sich jetzt Augusten nahte:

„Ich glaube, Frau von Werthern geborene Münchhausen ist eine gute Freundin von Ihnen?“

Gustchen sah erstaunt zu ihm auf; er aber fuhr eilig fort:

„Es freut Sie gewiß, die schöne Frau einmal zu sich einzuladen, und es würde mir angenehm sein, Ihre Freundin am heutigen Mittage hier zu sehen; gehen Sie gleich selbst zu ihr, dann wird sie gewiß kommen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich rasch um und ging. – Karl August und Goethe verließen bald darauf das Haus, um sich nach dem Witthums-Palais zur Herzogin Anna Amalie zu begeben, welche der Herzog gern für den Freund gewinnen wollte.



3.

Der alte Oberkämmerer von Göchhausen galt für den wunderlichsten Sonderling in ganz Weimar. Unverheirathet, wohlhabend, in seiner Jugend kränklich, hatte er eine ängstliche Selbstpflege, einen Cultus der Gewohnheit und Regelmäßigkeit sich zur Lebensaufgabe gemacht. Was nicht in nächster Beziehung zu seiner Person stand, existirte für ihn nicht. Er besaß ein eignes Haus an der Breiten Gasse, wo er mit Ursula, seiner Wirthschafterin, und Rohrmann, seinem Bedienten, seit etwa zwanzig Jahren in immer gleicher Weise lebte, sich auch einbildete, nie anders leben zu können. Seine Geschäfte nahmen wenig Zeit in Anspruch. Die Acten wurden jeden Morgen Rohrmann überantwortet und jeden Abend wieder abgeholt; nur einmal in der Woche mußte er in die Kanzlei, um dem Herzoge Bericht abzustatten und seine Befehle entgegen zu nehmen. Wenn er zu Hofgesellschaften befohlen wurde, ging er hin, denn er hätte es der Würde eines [390] Barons Louis Wilhelm von Göchhausen durchaus unangemessen gefunden, nicht bei Hof zu erscheinen; dies waren aber auch die einzigen Gelegenheiten für ihn, mit Menschen zu verkehren.

Außerdem widmete er den ganzen Tag seinen beiden einzigen Leidenschaften: der Ordnungsliebe und der Reinlichkeit, Tugenden, welche in seiner Uebertreibung Untugenden wurden und neben einer großen Sparsamkeit ihn ganz beherrschten.

Es konnte keine Tageseintheilung regelmäßiger sein als die des Oberkämmerers. Rohrmann erschien im Winter und Sommer um sechs Uhr, trug auf einem Teller ein Glas Wasser und sagte: „Guten Morgen, Herr Baron, es ist Aufstehenszeit!“

Dann erhob sich Herr von Göchhausen, trat unbedingt mit dem rechten Fuße zuerst auf die Erde, hustete dreimal – er wäre lieber erstickt, als daß er es sich ein viertes Mal gestattet hätte – und nahm den Schlafrock. Nun wurde der ganze Mann in möglichst gründlicher Weise gewaschen, gebürstet, gebadet, gerieben und abgespült. Dann legte er silbergraue Beinkleider, feine Strümpfe und Schuhe an, eine graue langschößige Weste, folgte, wohlgefältelte breite Jabots, ein steifes weißes Halstuch bis dicht unter die Ohren reichend, sodaß sich der kleine Kopf kaum wenden konnte; ein gleichfalls silbergrauer Rock mit breiten Taschen und glänzenden Knöpfen vervollständigte den Anzug, welchen eine gepuderte Perrücke mit zierlichem Zopf und großen Seitenlocken, sowie ein betreßter dreieckiger Hut krönte. Dann nahm der Baron seinen hohen Stock mit silbernem Knopf und schritt der Hausthür zu, um Punkt acht Uhr auf die Breite Gasse hinaus zu treten und seine erste Morgenpromenade zu beginnen. Auch die Promenade hatte ihren gewiesenen Weg und ihr ganz bestimmtes Ziel, das war die kleine Schleuse am Schwansee, auf welche er dreimal mit dem Stocke schlug und, wie nahe Arbeiter gehört haben wollten, dazu sprach: „Baron Louis Wilhelm von Göchhausen ist dagewesen!“ Dann wandte er sich und kehrte nach seinem Hause zurück. Frau Ursula hatte jetzt eine Milchsuppe und einige Schnitte Weizenbrod bereit, die er mit besonderen Feierlichkeiten genoß.

War der Tag in strengster Gleichmäßigkeit hingebracht, so erschien Abends neun Uhr Rohrmann wieder mit einem Glase Wasser und sagte: „Gute Nacht, Herr Baron, es ist Schlafenszeit!“ – Worauf der Oberkämmerer sich sofort erhob und unter dem Beistande seines Dieners das Lager suchte.

In diese wohlgeordnete Häuslichkeit paßte ein fremdes Element sehr wenig, und doch war es dem alten Herrn beschieden, ein solches bei sich aufzunehmen.

Es war etwa etliche Tage vor Goethe’s Ankunft in Weimar, als der Baron Göchhausen ungewöhnlich erregt in seinem Arbeitsstübchen auf und ab schritt. Er hielt die Bewegung zu dieser Stunde für ungesund und zürnte sich selbst deshalb, noch mehr aber der Veranlassung seiner Unruhe.

„Es geht nicht! Es geht nicht, und es geht nicht!“ murmelte er auf- und abschreitend in verschiedener Betonung vor sich hin. „Seit ihr Brief da ist, Wallungen, Unruhe, Zerstreutheit; wie soll das werden? Es reibt mich auf! – Selbsterhaltung – Nothwehr! O ihr schrecklichen Weiber! Und in einer halben Stunde!“ seufzte er stehen bleibend, die Stirn trocknend und den Blick mit verzweifelndem Ausdruck auf eine dicke silberne Taschenuhr, welche an seinem Schreibtisch hing, richtend, die eben halb acht wies. Einen Augenblick nur zögerte er noch, dann setzte er sich an den Tisch, ergriff einen langen Gänsekiel und begann zu schreiben.

„Ich werde ihr sagen,“ murmelte er, „daß meine Gesundheit mir verbietet, Besuch zu empfangen, daß sie Mitleid haben soll mit einem leidenden Greise, daß ich sie anflehe, mir den Embarras nicht aufzuladen; mit diesem Briefe schicke ich Rohrmann zur Post.“

Das Billet war gefaltet, der alte Herr klingelte und Rohrmann’s große knochige Gestalt erschien in der Thür; der Versuch eines Lächelns erhellte das pergamentartige Gesicht, als sein Herr voll überredender Güte zu ihm sprach:

„Seh Er diesen Brief, Rohrmann, derselbe muß in die Hand eines jungen Frauenzimmers gelangen, das um acht Uhr mit der Gothaischen Post ankommt. Sie will uns besuchen, heißt Luise von Göchhausen, und Er weiß selbst, Rohrmann,“ fügte er, seine, schwimmenden Aeuglein mit kläglichem Ausdruck nach oben kehrend, hinzu, „daß ich zu leidend bin, um Damenbesuch anzunehmen; wende Er also diese Incommodität von Seinem armen Herrn, und sag Er der Person mündlich, daß sie partout wieder abreisen müsse!“

Rohrmann verschwand und der Baron athmete erleichtert auf. Er begann wieder ruhig und behaglich zu werden, konnte still sitzen, schob die Feder hinter das Ohr und studirte jetzt, da er die Gefahr als beseitigt ansah, mit Muße zwei vor ihm liegende Papiere. Der Anmeldebrief seiner Nichte lautete:

„Karlsruhe, den 15. Oktober 1775.

      Theurer Oheim, Vormund und Gevatter!

Es hat sich in dieser mit Gott hinschleichenden Zeit begeben, daß Ihrer submissest Unterzeichneten Nichte – wie Einliegendes ausweist – der Stuhl vor die Thür gesetzt worden. Selbige schaut sich um in der weiten Welt und gewahrt, daß ihr verehrter Oheim in Weimar der Einzige ist, welcher gegründete Ansprüche, an ihre Person zu erheben hat. In edlem Gerechtigkeitseifer und nach dem Spruch: gebt Jedem das Seine! ist sie entschlossen, ihr Dasein dem Wohl und Penchant des ihr unbekannten, aber verehrten Herrn zu widmen.

Morgen verlasse ich Karlsruhe – das keine Ruhe mehr für mich bietet – am zweiten November mit der Gothaischen Post in Weimar anzukommen! – Bis dahin Geduld, o Sehnsucht!

Ergebenst und gehorsamst, cher oncle, Ihre devoteste

Luise von Göchhausen.“

„Das muß ein übermüthiger Satan sein,“ murmelte der alte Herr, nachdem er den Brief wieder gelesen hatte, dann nahm er das zweite Schreiben vor; es war ein großes mit markgräflichem Siegel versehenes Document und enthielt die Entlassung der Hofdame Luise von Göchhausen aus dem Dienste Ihrer Durchlaucht der Frau Markgräfin von Baden.

„Was mag sie nur für kniffliche Sachen angezettelt haben?“ fragte sich der alte Herr kopfschüttelnd. „Eine solche Hexe sich in’s Haus nehmen, brrr!“

In diesem Augenblicke ging unten die Glocke der Hausthür; „Rohrmann schon wieder da?“ dachte der Baron erstaunt und lauschte. Leichte Schritte eilten die Treppe herauf; der Oberkämmerer erbleichte, ein Zittern befiel ihn, ängstlich blickte er auf die Thür – sie wurde geöffnet und herein trat ein rasches kleines Frauenzimmer.

Sie war es! Die unabwendbare, gefürchtete Nichte, Luise von Göchhausen stand vor ihm. Und wie! Spöttischen Ernst in den geistreichen Augen, ein ironisches Lächeln um den großen Mund auf dem leichtgepuderten Haare einen weißen Musselinhut und über den braunen Reiserock ein grasgrünes Mäntelchen geworfen. Die ganze kleine Gestalt, etwas verwachsen, schien zu sagen: ja, sieh mich nur an! übersehen sollst Du mich nicht!

„Da bin ich, cher oncle!“ rief sie munter und griff nach seiner Hand, um sie zu küssen.

„Hast Du meinen Brief nicht bekommen?“ stotterte er.

„Gewiß, mein theurer Oheim!“ entgegnete das junge Mädchen, „und sein Inhalt beflügelte meine Schritte; den Leidenden zu pflegen, zu unterhalten, wird meine künftige Lebensaufgabe sein!“

Ein Schauder überlief den Oberkämmerer. „Ich kann das nicht acceptiren,“ sagte er nach Festigkeit ringend.

Luise trat zurück. „Warum nicht?“ fragte sie.

„Weil, weil –“ stammelte er, „weil ich Dich nicht kenne – und –“

„Nicht kenne?“ betonte sie scharf; ein tiefer, trauriger Ernst sank wie ein Schleier über das lustige Gesicht „Der einzige Bruder meines Vaters, mein Vormund, mein Pathe kennt mich nicht? Großer Gott, wer kennt mich denn? Dann bin ich ganz allein und verlassen auf der Welt!“

Eine augenblickliche Pause trat ein; dem alten Baron brach der Schweiß aus, es erschreckte ihn furchtbar, daß er für ein Wesen außer sich sorgen solle, ja vielleicht Theilnahme dafür gewinnen könne. Er wollte diesen ersten selbstlosen Anwandlungen entfliehen und polterte heraus:

„Warum macht Sie unnütze Streiche? Warum wird Sie fortgejagt?“

Wie Sonnenschein flog es bei diesen Worten über die Züge des Mädchens.

„Es war ein sehr guter Spaß, cher oncle,“ sagte sie, ein Auflachen kaum unterdrückend. „Um Vieles möchte ich den nicht ungeschehen machen!“

„So trag’ die. Folgen!“

[391] „Ich muß wohl.“

„Ich weiß nicht, was Du beginnen willst, denn in meinem Hause ist kein convenabler Aufenthalt für Dich. Du kannst ja nach Frankreich zu den Verwandten Deiner Mutter gehen.“ Aufathmend nach diesem Auskunftsmittel ließ er sich wieder in seinen Sessel vor dem Schreibtische gleiten.

Luise hockte zu seinen Füßen, auf einem Actenkasten und sagte: „Wie ist es möglich, daß mein Oheim von dem Ableben aller jener Verwandten nichts weiß?“

„Ein Sachwalter hat Dein kleines Vermögen unter Händen – an ihn schickte ich Alles, was von Dir einlief, nur Deinen letzten Brief bekam ich von ihm zurück,“ stotterte er.

Sie sah ihn verächtlich an. „Gut!“ sprach sie endlich ernsthaft, „kann ich nicht bei Ihnen bleiben, so, muß ich mich allein durchschlagen. Die Straße, in welcher Sie wohnen, hat mir gefallen, es wird irgendwo, etwa gegenüber, ein Zimmerchen zu vermiethen sein; dahin ziehe ich und arbeite, weil ich sonst kein Brod habe; ich werde Putzmacherin und schaffe mir ein Schild an, auf dem mit großen Buchstaben zu lesen ist: Luise von Göchhausen, Nichte, Mündel und Pathe des Herrn Barons Oberkämmerer von Göchhausen, bittet um gütigen Zuspruch als – Putzmacherin!“

Empfindlicher hätte sie ihn nicht treffen können; seinen Namen preisgeben, das vertrug er nicht! Er putzte das Licht und wandte es, um ihr Gesicht anzusehen: ob sie ihren Vorschlag ernstlich gemeint habe. Er saß da in seinem abendlichen grauen Ueberwurfe, mit den dicken Locken, den hervortretenden Augen und der langen Schreibfeder hinter dem Ohre, wie ein grau bestaubter Käfer, der prüfend sein Fühlhorn ausstreckt.

Sie dagegen glich mit ihrer kleinen, kecken Gestalt und in ihrem grünen Mäntelchen einer lustig zirpenden Grille.

„Oder,“ fuhr sie unbekümmert fort, „wenn es hier einen Hofbäcker giebt, könnte ich in seinem Laden verkaufen; vielleicht würde das seine Kundschaft vergrößern!“

Dem Baron Und Oberkämmerer schauderte es. Er rieb sich die Stirn und rang seine wohlgepflegten Hände. Sie ließ ihn, mit lachenden Seitenblicken, in selbstgeschaffenen Leiden zappeln.

Endlich sagte er: „Mir geht ein Licht auf; eine wahre Inspiration! Ihre Durchlaucht die Frau Herzogin Wittwe hat die bisherigen Hofdamen der jungen Herzogin Luise abgetreten und sieht sich nach einem Gesellschaftsfräulein um. Wenn ich meinen Einfluß aufbiete, hoffe ich Dir die Préférence zu verschaffen!“

Luisen gefiel dieser Vorschlag. Der Ruf der Herzogin Anna Amalia, als einer muntern und geistvollen Dame, war nach Karlsruhe gedrungen, und die Verhältnisse des weimarischen Hofes waren in den dortigen Kreisen oft besprochen; ja, sie hatte die jungen Herrschaften, Karl August und Luise, schon im Herbste dort gesehen. Eine Stellung bei der Herzogin sagte ihr allerdings besser zu, als der Aufenthalt im Hause des ungastlichen Oheims.

„Sie denken, daß es möglich wäre, Onkel?“ fragte sie rasch.

„Ja, ja!“ versetzte er, sein Haupt schüttelnd, soweit die hohe Cravatte dies zuließ. „Wenn nur nicht – dieser Abschied – Deine Bêtisen! Davon darfst Du nicht sprechen. Der Herzogin werde ich sagen, ich habe Dich aus väterlicher Attention aus dem badenschen Dienstverhältnisse enlevirt; so giebt es für uns Beide mehr Lüstre.“

Das junge Mädchen lächelte fein. In diesem Augenblicke schlug es von der Stadtkirche neun Uhr, und gleich darauf trat Rohrmann mit dem Glase Wasser und der allabendlichen Rede: „Gute Nacht, Herr Baron, es ist Schlafenszeit!“ in das Zimmer.

Der kleine Oberkämmerer fuhr wie von einer Wespe gestochen empor; hatte er kurze Zeit seiner Nichte einige Theilnahme zugewandt, so war er jetzt wieder der alte pedantische Egoist.

„Gute Nacht! Gute Nacht!“ rief er forteilend seiner Nichte zu.


4.

Das Gastmahl im Hause des Kammerpräsidenten von Kalb nahm einen sehr befriedigenden Verlauf.

Mit dem Aufwande aller zu Gebote stehenden Mittel war im besten Zimmer die Tafel hergerichtet. Die Kammerpräsidentin hatte mit ihrer Schwiegertochter die nöthigen Küchenanweisungen gegeben und die Dienerschaft angeleitet, während Gustchen für eine gefällige Außenseite und den Schmuck des Ganzen sorgte. Jeder grüne Zweig, den der November noch im Garten gelassen hatte, fiel unter ihrer Scheere, ja sie entäußerte sich sogar einiger Blüthen ihres dunkelrothen Geraniums, um zierliche Sträuße für den Herzog und Goethe zu binden, und gab sich dabei der Hoffnung hin, einen, vielleicht beide Sträuße zu sich zurückkehren zu sehen.

Die gewünschten Gäste waren alle erschienen. Der Herzog hatte seinen Platz neben der Frau vom Hause und der jungen und reizenden Frau von Werthern, die, auf seinen Wunsch von Augusten eingeladen, mit Freuden gekommen war.

Emilie von Werthern, gewöhnlich Milli genannt, war mittelgroß und zart gebaut, ihr lebhaftes, blitzendes Auge, die dunkle, feingezeichnete Braue, die kleine gebogene Nase, der zarte, leidenschaftlich zuckende Mund, das rasch wechselnde Farben- und Mienenspiel machten ein höchst anziehendes Ganze. Man nannte sie kokett und tadelte ihr Suchen und Haschen nach jedem Vergnügen; doch ließ sich zu ihrer Entschuldigung anführen, daß sie mit einem viel älteren, rohen Manne verheirathet und kinderlos war. Ihrer ganzen Anlage nach eine echte Enthusiastin, schien sie zu Allem fähig, wenn ihr Gefühl angeregt wurde. Für und wider Partei nehmend, auflodernd, bebend und jubelnd, liebeselig sich, anschmiegend, war sie zugleich schwankend in ihren Neigungen, zaghaft und zusammensinkend wie ein verlöschendes Strohfeuer. Eine solche Frau übte eine große Anziehungskraft auf den jungen, lebhaften Herzog. Auch dem heutigen Mittage brach die Unterhaltung zwischen den Beiden selten ab.

Dem Herzoge gegenüber saß Goethe zwischen Gustchen Kalb und Wieland. Auguste hatte sich glänzende Erfolge von dem heutigen Mittage versprochen, es blieb aber bei einigen flüchtigen Artigkeiten von Goethe’s Seite, und sie war genöthigt, sich mit den ihr verehrten rothen Geranien zu begnügen oder ihrem andern Nachbar, dem Oberforstmeister von Wedel, ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Goethe’s Theilnahme wurde durch die Bekanntschaft mit Wieland in Anspruch genommen. Obgleich beide Männer im Alter, in der äußeren Erscheinung, im Denken und Leben durchaus verschieden waren, auch schon auf dem literarischen Kriegsfuß gestanden hatten – so fanden sie Beide bei diesem ersten persönlichen Zusammentreffen doch, so viele gleiche Interessen, daß sie sich eifrig mit einander beschäftigten.

Der Hofrath Wieland zählte damals zweiundvierzig Jahre, seine zarte Gestalt, das Saubere, Wohlgepflegte der ganzen Erscheinung hatte ihm den Beinamen „die zierliche Jungfrau“ erworben, ein Titel, auf den er einigen Werth legte. Seit drei Jahren von der Herzogin Mutter nach Weimar berufen, hatte er unter Aufsicht des Grafen Görtz die Erziehung Karl August’s geleitet. Er galt wegen seiner heiteren Milde, seiner freundlichen Herzensgüte und auch als achtbarer Vater einer zahlreichen Familie bei seinem Zöglinge und besonders bei der Herzogin Anna Amalie außerordentlich viel. Man schätzte ihn als Menschen und Dichter gleich hoch und hatte den gegen ihn gerichteten Angriff Goethe’s dem jüngeren Manne übel genommen.

Wieland gegenüber, an der andern Seite der Frau von Werthern, saß der junge Hildebrand von Einsiedel, im Pageninstitute zu Weimar erzogen, seit vier Wochen aber vom Herzoge zum Hofrath ernannt. Welch ein feines, träumerisches Gesicht! welch ein Ausdruck poetischer Versunkenheit in den tiefen, dunklen Augen! Welch zierlich anmuthige Gestalt mit nachlässiger Haltung! Zerstreut spielten seine Finger mit einigen Brodkrumen oder bogen die herabhängenden Enden seiner weißen, spitzenbesetzten Cravatte in kleine Falten. Seine künstlerische Begabung war nicht unbedeutend; er liebte leidenschaftlich die Musik, spielte Violoncell mit Meisterschaft, componirte und sang, auch versuchte er sich in der Poesie, fertigte Gelegenheitsgedichte und dramatische Sachen. Die Bekanntschaft mit dem vielbesprochenen Goethe interessirte ihn, und er folgte mit großer Aufmerksamkeit der Unterhaltung ihm gegenüber.

Neben Einsiedel auf der andern Seite saß der Pagenhofmeister Musäus, jetzt Professor am Gymnasium. Ein vierzigjähriger, heiterer, harmloser Mann, aller Uebertreibung und Gefühlsschwelgerei abgeneigt; er hatte Mancherlei geschrieben und beschäftigte sich jetzt damit, die Volksmärchen der Deutschen zu sammeln und auf seine Art zu überarbeiten. Lebhaft betheiligte er sich an den literarischen Streitfragen und polemisirte eifrig gegen Lavater, dessen Lehren damals die Gemüther beherrschten und auch in Weimar enthusiastische Anhänger fanden.

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Der 6. October 1789.0Nach dem Oelgemälde von J. E. Squindo.
Photographie im Verlage von Arnold und Zettler (M. Heis) in München.

[393] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [394] Endlich wurde das Mahl aufgehoben Und darauf die Unterhaltung in Gruppen vertraulich weiter geführt.

Der Herzog sprach noch, an einem Fenster stehend, mit Frau von Werthern, als Wieland mit gerötheten Wangen und begeistert blitzenden Augen zu ihnen herantrat.

„Welch ein Mensch!“ rief er lebhaft. „O mein theurer gnädiger Herr! Was soll ich Ihnen sagen? Wie ganz dieser Wolfgang beim ersten Anblick nach meinem Herzen war! Wie verliebt ich in ihn bin, seit ich mit diesem herrlichen Jünglinge geredet habe! Ja, meine Seele ist seit dem heutigen Mittage so voll von Goethe, wie ein Thautropfen von der Morgensonne!“

Karl August lächelte vergnügt.

„So ist es recht, mein alter Mentor,“ entgegnete er. „Liebt Euch, vertragt Euch und laßt mich mit in Eurer Liebe froh sein!“

Goethe trat in den Garten hinaus; es wurde ihm – umringt von dem jubelnden, aufgeregten Kreise, als dessen Mittelpunkt er sich fühlen mußte – zu eng und warm im Saal.

Gustchen Kalb huschte mit einem Gluthblick an ihm vorüber. Draußen schien es den beiden Erhitzten milder geworden zu sein.

Einladend lag der Garten da, beglänzt von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne. Das Bosquet war durchsichtig kahl; rothe und gelbe Blätter flatterten an den Zweigen oder tanzten im Luftzuge auf dem Rasen.

Goethe fühlte, daß er seine hübsche Nachbarin während des Mittagsessens vernachlässigt habe, und deshalb folgte er ihr rasch.

Nach wenigen Schritten hatte er sie eingeholt und fragte jetzt geschickt das Blatt wendend: warum sie ihn fliehe?

Das junge Mädchen entgegnete schmollend: „O, um Ihnen nicht lästig zu werden!“

Sie sah recht frisch und anziehend aus in diesem Augenblicke, mit dem verdrießlich schelmischen Zug um den vollen Mund und dem unter gesenkten Wimpern hervorblitzenden Auge.

Goethe lachte und antwortete: „Soll man Ihnen glauben, daß Sie sich dieses zutrauen? Ich will Ihnen zum Trost sagen, daß dem nicht so ist. Sie sind reizend, Gustchen, und wenn Sie sich mir entziehen, so laufe ich Ihnen nach durch die halbe Welt und hole Sie ein.“

„Versuchen Sie’s!“ rief sie neckisch und flog durch die blätterbestreuten, raschelnden Gartenwege. Er folgte ihr, und obgleich sie nicht schnell und gewandt lief, so dauerte es doch einige Minuten – vielleicht wollte er es so – bis er sie einholte.

In einem kleinen Tannendickicht fing er sie, hielt sie mit beiden Armen fest, und versicherte, er werde sie nicht eher loslassen, als bis sie zur Strafe für ihren Zweifel und den Gedanken an die Möglichkeit, ihm lästig zu werden, sich mit einem Kuß ausgelöst habe.

Gustchen wand und wehrte sich freilich, aber ein Blick in seine Augen machte sie gefügig, und sie erwiderte den Kuß des schönen Jünglings mit warmer Hingabe. Dann begann sie auf’s Neue zu fliehen, und wer weiß wie oft sich das lohnende Spiel mit Haschen und Pfandgeben noch wiederholt hätte, wäre nicht plötzlich Christel Laßberg am Fenster des Nachbarhauses erschienen. Auguste war einen Augenblick erschrocken, trat aber dann mit Goethe unter das Fenster der unerwünschtem Lauscherin; hinauf nickend und winkend rief sie, in einer Anwandlung gutmüthiger Rücksicht für die Freundin, Christel möge in den Garten kommen. Gustchen führte den Genossen durch die Stachelbeerhecke.

„Was soll ich mit andern Mädchen?“ rief er halb zürnend, „genug, wenn ich Sie habe, liebes Gustchen; das blasse Mondscheingesicht am Fenster gefiel mir nicht.“

„Wir machen ihr ein Vergnügen,“ versetzte sie ihres Vortheils wohlbewußt; „das arme Ding lebt da wie im Käfig und ist so träumerisch und harmlos, daß wir plaudern können, was wir wollen, wenn wir bei ihr sind.“

Am Brunnen vor der Gartenstube traf man sich. Auguste hatte die Freundin nicht falsch beschuldigt; Christel erschien wortkarger und in sich versunkener denn je. Sie saß theilnahmlos und mit niedergeschlagenen Augen auf einer Stufe zur Seite.

Die Blicke des erregten jungen Mannes kehrten unbefriedigt von dieser farblosen Knospe zu der strahlenden Blüthe an seiner Seite zurück. Nach wenigen Versuchen, Christel mit in die Unterhaltung zu ziehen – welche alle an ihrer scheuen Einsilbigkeit scheiterten – vergaß man ihrer Nähe und gab sich einem Geplauder hin, das durch den gewährten Kuß an Wärme und Ungezwungenheit gewann und beide Theile gleich gut unterhielt.

Endlich, als es bereits anfing zu dämmern, hörte man im Nachbargarten verschiedene Stimmen, dann den Herzog laut nach Goethe rufen, worauf das junge Paar zur Gesellschaft zurück eilte.

(Fortsetzung folgt.)




Der Sitz des deutschen Reichstags.
Sonst und Jetzt.

Eine historisch-politische Plauderei von Karl Braun-Wiesbaden.
(Schluß.)
Zweites und letztes Capitel.

Wenn wir einen Rückblick werfen auf das am Schlusse des ersten Capitels befindliche Verzeichniß der Städte, welche sich der Ehre erfreuten, während des Bestands des alten heiligen römischen Reiches deutscher Nation den „Reichsconvent“ in ihren Mauern beherbergen zu dürfen, so finden wir: es sind vorzugsweise Reichsstädte des mittleren, des südlichen und des westlichen Deutschland. Nur im Zeitalter der sächsischen Herrscher bewegen wir uns vorzugsweise auf niedersächsischem Boden. Später finden wir fränkische, schwäbische und baierische Städte. Eger und Metz, welche auch ihre Reichstage hatten, gingen später Deutschland verloren. Metz wurde 1871, wie Berthold Auerbach sagte, „wieder unser“. Die weiland freie Reichsstadt Eger ist jetzt böhmisch.

Daß wir in der Zeit vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert Berlin noch nicht unter, jenen Städten finden, ist sehr begreiflich. Im zehnten Jahrhundert war Berlin ein Fischerdorf, und vielleicht Das kaum; im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert herrschte dort noch die nicht allzu culturfreundliche Zeit der Herren von Quitzow, die uns der alte Herr von Klöden in seinem höchst lesenswerthen Buche „Die Mark Brandenburg unter Kaiser Karl IV. bis zu ihrem ersten hohenzollernschen Regenten oder Die Quitzow’s und ihre Zeit“ (Berlin 1846, vier Bände) so anschaulich geschildert.

Dagegen ist es auffallend, in dem Verzeichnisse der Sitze des alten „Reichsconventes“ Wien durch gänzliche Abwesenheit glänzen zu sehen. Dasselbe ist ja doch eine bis in die Römerzeit hinaufreichende alte Culturstätte. Es hatte schon im elften Jahrhundert unter den Babenbergern eine gewisse Blüthe erreicht. Um das Jahr 1440 macht uns Enea Silvio de’ Piccolomini eine glänzende Schilderung des damaligen Wien, seiner Pracht und seines Luxus; und zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts schreibt Antonio de Confinis (Confinii „rerum Ungaricarum“ Decad. IV. Lib. V., 593, 599): „Wien gehört unter die schönsten Städte der Barbaren“. In der That betrachtete sich Wien nicht so recht als zum „Reiche“ im engeren Sinne gehörig. Man sprach dort von „Denen da draußen im Reich“; und lange Zeit hindurch waren die Beherrscher von Oesterreich, Böhmen und Ungarn darauf aus, ihre Lande mehr aus Deutschland heraus, als in dasselbe hinein wachsen zu machen. Die antihabsburgischen Schriftsteller, wie z. B. Hippolytus a Lapide (Philipp von Chemnitz), erheben laut den Vorwurf, das Haus Oesterreich denke überhaupt nur dann an das deutsche Reich und den Reichstag, wenn es Geld von dem Letzteren verlange, um den Krieg wider die Türken zu führen, was doch im Grunde genommen nicht als deutsche, sondern als ungarische Angelegenheit zu beträchten.

Unter den ältesten niedersächsischen Reichstagssitzen finden wir vor Allem die alte vielthürmige monumentale Harz- und Hansastadt Goslar, wo 1884 der hansische Geschichtsverein seine Wanderversammlung abhielt. Neunhundert Jahre früher, 984, [395] tagte dort die deutsche Reichsversammlung; sie ist überhaupt nicht weniger als dreiundzwanzigmal in der Kaiserpfalz zu Goslar versammelt gewesen. In der Mitte des elften Jahrhunderts wurde dort der Palast der salischen Kaiser erbaut, in welchem von da ab bis gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts die Reichstage abgehalten wurden. In dieser „Pfalz“ residirten auch häufig die Kaiser. Die Capelle, welche sie an den „Palas“ anbauen ließen, ist eine zweistöckige Doppelkirche. Wir haben in Deutschland ältere Kirchen, aber keinen älteren Profanbau, als diese Kaiserpfalz. Als ich vor dreiundvierzig Jahren zum ersten Mal in Goslar war, befand sich dieses prachtvolle Denkmal ältester weltlicher frühromanischer Baukunst in Deutschland im traurigsten Zustande äußerster Verwahrlosung. Es war Vieles durch Brand zerstört und Anderes drangebaut, was besser weggeblieben wäre. Mehr als hundert Jahre lang war dieses durch seine Architektur so interessante und durch seine Geschichte so ehrwürdige Gebäude als Getreidespeicher und als Holzstall benutzt worden. Kaum aber war das neue deutsche Reich aufgerichtet, da erinnerte man sich auch wieder der Verpflichtungen gegen die gemeinsame Vorzeit, während vorher vorzugsweise nur diejenigen Monumente gepflegt wurden, an welche sich dynastische und territoriale Erinnerungen knüpften. Am 15. August 1875 haben der Kaiser Wilhelm und der Kronprinz die alte Kaiserpfalz in Augenschein genommen, und seitdem schreitet deren stilgerechte Restauration in erfreulicher Weise vorwärts. Bereits jetzt steht der Bau äußerlich vollendet da und macht einen mächtigen Eindruck. Demnächst wird wohl der jetzige deutsche Reichstag einmal einen Ausflug nach Goslar machen, um zu sehen, wie und wo seine Vorfahren vor fast tausend Jahren getagt haben. Goslar war auch ein Hauptsitz des Bergbaues auf dem oberen Harze. Kaiser Otto I. soll damit begonnen haben, nachdem das Pferd seines Jägers durch Zufall eine massive Silbererzstufe mit dem Huf aus der Erde geschlagen. Er ließ Bergleute aus dem Frankenlande kommen. Daher rührt es, daß in dem eigenthümlichen Dialekt, den man hier spricht, noch das Fränkische vorwiegt. Goslar war bis 1802 freie Reichsstadt. Seitdem ist es abwechselnd preußisch, dann „westfälisch“, nämlich unter „Jérôme roi de Westphalie“, hierauf hannöverisch und endlich wieder preußisch geworden. Früher eine der reichsten Städte in Deutschland – „Ditissima Saxoniae urbs“ heißt sie in der lateinischen Chronik – ist es seit dem Dreißigjährigen Krieg eine der ärmsten geworden. Jetzt beginnt sie sich wieder zu heben. Eine Curiosität verdient noch erwähnt zu werden: die „Kräuter“-Anstalt des „Naturarztes“ Lampe, wo die Menschen „durch Kunst und Kräuter“ curirt wurden. König Georg von Hannover schwärmte für dieselbe. Jetzt steht die Heilaustalt unter wissenschaftlich gebildeten Aerzten.

Wie Goslar die alten sächsischen Zeiten repräsentirt, so ist Nürnberg die Stadt der Franken, Augsburg die Stadt der Schwaben oder Alemannen, Regensburg die Stadt der Baiern oder Bajuwaren.

Nürnberg repräsentirt die Kunst und das Gewerbe; Augsburg, namentlich im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, den Sitz der großen Bank- und Kaufleute, den Handel mit Waaren, mit Geld und mit Credit.

Regensburg, wo heute noch der Bischof Bier braut und noch vor Kurzem Fürst von Thurn und Taxis das ausgedehnteste private Land-Transportgewerbe betrieb, das jemals auf dem Kontinente bestanden, ist die Stadt der Grandseigneurs und der Ritter, der Priester und der Monsignori. Sie war zum ständigen Sitze der Reichsversammlung geworden, jedoch erst in der Zeit des Untergangs und der bereits weit vorgeschrittenen „rückschreitenden Metamorphose des Alters“ des heiligen römischen Reiches. Die Reichsversammlung wurde nämlich seit dem Jahre 1663 in Regensburg gehalten, und da ist sie auch zugleich mit dem römischen Reiche im Sommer 1806 gestorben. Gerade sechszig Jahre später starb in dem benachbarten Augsburg der deutsche Bundestag, dessen Rudera sich in das daselbst gelegene, dürch seine reiche Weincollection berühmte „Gasthaus zu den drei Mohren“ zurückgezogen hatten, um daselbst in Ruhe und Frieden zu tagen, oder – was auch sehr häufig geschah – Ferien zu halten. Leider ist dies gut gewählte Asyl vor dem Richterstuhle der Weltgeschichte nicht anerkannt worden, und der Bundestag ist dort verschieden, ohne ein Testament oder irgend welche Aufzeichnungen über seine letzten Tage und Stunden hinterlassen zu haben.

Diese drei illustren Reichsconventssitze – Augsburg, Nürnberg und Regensburg – haben bekanntlich aufgehört, Reichsstädte zu sein. Sie sind baierisch geworden, ohne jedoch ihre glorreichen Erinnerungen zu vergessen.

Während der letzten Industrie- und Kunstausstellung zu Nürnberg, die allerdings recht imposant und zugleich schön war, hörte ich einen patriotischen Nürnberger mit einem Seitenblick auf die politische Hauptstadt München sagen: „Die moralische Hauptstadt ist und bleibt doch Nürnberg.“ Daß indessen die politische Hauptstadt doch eine große Anziehungskraft ausübt, beweist unter Anderem, daß auch die „Allgemeine (die Alemannische) Zeitung“ Augsburg mit München vertauscht hat. Augsburg prätendirt, das Pulver erfunden zu haben. Gewiß ist, daß man in Nürnberg die Glasmalerei gleichsam wieder exhumirt hat. In der von Clemens Jäger in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts verfaßten „Chronik der Stadt Augsburg“ finden wir die Behauptung, im Jahre 1353 habe in Augsburg ein griechischer Jude, des Namens Typsiles, das Pulver erfunden, und von Augsburg aus habe die Pulverbereitung, die Verwendung desselben zu militärischen Zwecken und die Anfertigung von Geschützen ihren Weg durch Deutschland und das übrige Europa genommen. Ich habe das Für und Wider dieser zweifelhaften Nachricht in „Nord und Süd“ (XXV. 75. Seite 376. u. s. f.) erörtert.

Der Anspruch Nürnbergs, die Glasmalerei, die während der jämmerlichen und unglückseligen Zeiten im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert verschollen, verkommen und vergessen worden war, zum zweite Mal erfunden oder aus ihrem Grabe aufgeweckt und wieder hervorgerufen zu haben, ist dagegen vollkommen begründet.

Im Jahre 1770 wurde in Nürnberg, dem glorreichen alten Sitze deutscher Architektur, Malerei und Plastik, Sigismund Frank geboren, und dieser hat „nach vielen vergeblichen Versuchen endlich im Jahre 1805 jene Schmelzfarben wieder entdeckt, die sich beim Brennen mit dem Glas unlösbar verbinden, ohne dessen Durchsichtigkeit allzusehr zu beschränken.“

Diese culturgeschichtlichen Notizen vorausgeschickt, wende ich mich nun insbesondere zu Nürnberg.

Der alte Sebastian Münster sagt, Nürnberg liege zwar in einer sandigen und ziemlich unfruchtbaren Gegend, aber, fügt er hinzu, „gerade darum hätten die Nürnberger ihre spitze Vernunft desto fleißiger auf subtile Werke und Künste geworfen, und das Bauernvolk um die Stadt herum genieße desto fleißiger die sterile Natur des ungeschlachten Erdreichs durch Arbeit.“

Schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts aber schreibt Enea Silvio de' Piccolomini, der hochgebildete und anspruchsvolle Italiener, später als Papst Pius II. geheißen, dessen ich oben bei Wien schon gedachte, die Stadt habe etwa 80,000 Einwohner, von welchen ein Jeder „besser wohne und lebe, als die Könige Schottlands“. Aeneas kannte Schottland aus eigner Anschauung.

Nürnberg im Süden und Bremen, Lübeck und Danzig im Norden, sind heute noch die monumentalsten Städte in Deutschland. Obgleich in Nürnberg Manches zerstört und Anderes zwar wiederhergestellt ist, aber, wie mir scheint, nicht immer ganz richtig, zeigt uns dennoch auch noch sein heutiger Anblick, wie imposant es gewesen sein muß, als die deutschen Kaiser auf der „Burg der Noriker“ residirten und in der Stadt die Reichsversammlung berathschlagte.

Die prachtvolle gothische Kirche mit ihren architektonischen, plastischen und malerischen Kunstwerken, mit ihrem Helldunkel im Innern, mit ihren prachtvollen Glasmalereien die uns die Wappen jener Patricier zeigen, welche eine so ehrenvolle Rolle gespielt haben und von welchen heute noch einige Familien existiren und an den großen Ueberlieferungen ihrer Vorfahren festhalten; – die interessanten alten Häuser, mit festungsartigem Erdgeschosse und Pechnasen über den Eingangsthüren, wie bei den florentinischen Palazzi, mit vielfachen Freskomalereien auf den äußeren Wänden und jenen malerischen und zierlichen Erkern, welche hier „Chörlein“ genannt werden; – die stattliche Burg auf dem höchsten der Hügel (Nürnberg behauptet nämlich, und ich will es weder bestätigen noch bestreiten, es liege auf zwölf Hügeln, also noch fünf mehr, als das alte Rom!) mit ihrem runden Thurme, ihrem fünfeckigen Thurme und dem „Lueg in’s Land“; – die zahlreiche Thürme im Innern der Stadt (es sollen deren vormals [396] so viele gewesen sein, als Tage im Jahre); die rotchen Stadtmauern mit den runden riesigen Thürmen an den Thoren: alles Das zeigt uns die Größe und den Glanz der Stadt, die eine so große Stelle in der Reichsgeschichte einnimmt, an welche uns namentlich auch der schöne Brunnen erinnert, – eine stolz emporsteigende steinerne Pyramide, welche unter einer Menge Figuren – Propheten, Helden, Heiligen etc. – in erster Linie die sieben Kurfürsten aufweist.

Nennen wir noch die Namen: Dürer, Pirkheimer, Behaim und Hans Sachs, und fügen wir hinzu, daß es Nürnberger waren, welche die wichtigsten Erfindungen machten: die Taschenuhren, auch „Nürnberger Eier“ genannt; die Windbüchse; das Flintenschloß, das die Lunte ersetzt; das Messing; den Holzschnitt, – und am Ende wohl auch gar den „Nürnberger Trichter“.

Wohl keine deutsche Stadt ist von den Dichtern so gepriesen worden, wie Nürnberg.

Max von Schenkendorf singt von ihr:

„Wenn Einer Deutschland kennen
Und Dentschland lieben soll,
Wird man ihm Nürnberg nennen,
Der edeln Künste voll,
Dich, nimmer noch veraltet,
Du treue fleiß’ge Stadt,
Wo Dürer’s Kraft gewaltet
Und Sachs gesungen hat.“

Augsburg hat nicht die Reize von Nürnberg, aber auch eine ruhmvolle Geschichte. Es ist unzweifelhaft römischen Ursprungs und hat daher den Namen „Augusta“, auf welchen Bentivoglio Bezug nimmt, wenn er im Jahre 1616 schreibt: „Diese Stadt Augusta hat in der That einen augusteische Charakter in ihren Gebäuden, ihren Straßen und ihren Einwohnern.“ Die höchste Blüthe war damals schon vorüber.

Ihre großen Erinnerungen stammen aus der Zeit der Fugger. Sogar in dem „Don Quixote“ von Cervantes finden wir die damals in Spanien landläufige Redensart „Reich wie ein Fugger“, womit man den höchsten Grad damaligen Reichthums bezeichnete. Der Chef des Hauses, der Graf Anton, soll, als er 1535 Kaiser Karl V. beherbergte, dessen Kamin mit dem damals noch sehr raren und theuren Zimmetholz geheizt und dann auf diesem kostbaren Scheiterhaufen eine Schuldverschreibung des Kaisers, lautend auf viele Tausende, verbrannt und auf diese Forderung verzichtet haben.

Auf dem Augsburger Reichstage 1530 war es, wo zuerst die confessionellen Parteien in einen heftigen Hader geriethen. Karl V. kam geflissentlich am Abend vor dem Frohnleichnamsfeste an und wollte die versammelten Fürsten zwingen, am anderen Tage die Procession mitzumachen. Allein der Markgraf von Brandenburg erklärte ihm, lieber lasse er sich den Kopf abschlagen. Karl, der Spanisch und Vlämisch und nur ein mangelhaftes Hochdeutsch sprach, suchte ihn zu beruhigen mit den Worten: „Min löw First, nit Kopp ab, nit Kopp ab.“ Andere protestantische Fürsten gingen zwar mit, weigerten sich aber, bei den feierlichen Acten niederzuknieen.

Mehr noch als Augsburg hat Regensburg seinen alterthümlichen Charakter bewahrt. Die Häuser sind zum Theil Festungen; eine jede flankirt von einem mächtigen Bergfried oder Donjon. In einem dieser Häuser, dem Gasthofe zum „Goldnen Kreuz“, ist der berühmte, zu Wasser und zu Land siegreiche Feldherr Don Juan d'Austria geboren. Er ist der Sohn des Kaisers Karl und des Töchterleins der Wirthin im Kreuze. Es lohnt der Mühe, sich die Localitäten zu betrachten, in welchen die Reichsversammlung von 1663 bis 1806 hier getagt hat. Es sind jämmerliche alte kleine ärmlich ausgestattete Rumpelkammern, in welchen es halb dunkel ist. Die kleinen, in dickes Blei eingefaßten runden Fensterscheiben sind nicht geeignet, viel Licht durchzulassen, und breit machen kann man sich in diesen Gemächern auch nicht. Die Kaiser, die früher durch persönliche Gegenwart den Reichstagen Glanz und Bedeutung verliehen, kamen nicht mehr. Das Jahr 1663 ist das letzte, in welchem der Kaiser – es war Leopold I. – dem Reichstage beiwohnte. In der That lohnte es auch kaum noch der Mühe. Der Reichstag vertrödelte seine Zeit in der Regel mit eiteln Rang- und Etikettestreitigkeiten, über die Reihenfolge beim Aufmarschiren und beim Sitzen, über rothe und grüne Sessel. Die ersteren galte für vornehmer, und deshalb wollte Jeder auf ihnen sitzen.

Einst schleppte sich der Hofnarr des Kaisers Matthias mit einem großen Folianten.

„Was hast Du da?“ fragte der Kaiser, „laß einmal sehen.“

„Ich habe in dieses Buch die Thaten des Regensburger Reichstages eingeschrieben,“ sagte der Narr, indem er dem Kaiser das Buch überreichte. Der Kaiser schlug es auf und fand darin nichts, als unbeschriebene Blätter.

Als Kaiser Joseph II. das baufällige Reichsgebäude in Regensburg sich beschaute, sagte er lächelnd:

„Nun, wenn das Ding einstürzt, dann ist der letzte Reichsabschied wohl endlich fertig.“

Der knapp bemessene Raum zwingt mich, meine Charakteristik auf wenige Städte zu beschränken, so gern ich auch noch solcher Orte, wie Mainz und Frankfurt, in verdienten Ehren gedacht hätte. Nur die schöne, auf einer Insel des Bodensees, Angesichts der Alpen, gelegene vormals freie Reichsstadt Lindau will ich noch erwähnen.

Kaiser Maximilian I. hat hier im Jahre 1499 einen Reichstag abgehalten, welcher die Aufgabe hatte, die Reichsjustizgesetze, und namentlich die Kammergerichtsordnung zu Stande zu bringen. Aus Anlaß dieser Gesetze entbrannte der sogenannte „Schwabenkrieg“ zwischen den nördlichen Schweizercantonen und dem deutschen Reiche, oder richtiger gesagt: dem schwäbischen Bunde. Denn das übrige Deutschland ließ den Kaiser im Stiche, und der Krieg nahm einen kläglichen Ausgang.

Ich eile zum Schluß: Das alte heilige römische Reich war keine Monarchie, sondern eine Art Republik, an deren Spitze ein gewähltes Oberhaupt stand, das in seinen Functionen theils gesetzlich, theils thatsächlich immer mehr beschränkt wurde zu Gunsten jener fürstlichen Aristokratie, aus welcher sich nach und nach eine namentlich auch durch Karl V. begünstigte Oligarchie, die der Kurfürsten, emporhob.

Selbst der Kaiser hatte ursprüuglich keine feste Residenz, sondern zog von einer kaiserlichen Pfalz zu der andern. Natürlich wanderte da auch der Reichstag.

In dem heutigen Deutschland steht, obgleich es ja noch lange kein einheitliches Reich, sondern ein zusammengesetzter Staat ist, eine Erbmonarchie an der Spitze. Wir kennen keine Kurfürsten mehr. Die an der Spitze stehende preußische Erbmonarchie hat ihre feste Residenz schon seit Jahrhunderten. Das ist Berlin, eine Stadt, mit welcher das Haus Hohenzollern durch hundert Beziehungen und Bande auf das Engste verknüpft ist, – eine Stadt, die, durch ihre Wasserstraßen mit der Ost- und Nordsee gleichmäßig verbunden, eine solche Anziehungskraft entwickelt und so wenig exclusiv ist, daß ein geübtes Ohr in der Berliner Stadtverordnetenversammlung alle Dialekte Deutschlands zu erkennen und zu unterscheiden im Stand ist.

Unter diesen Umständen ist es natürlich, daß die centralen Reichsbehörden, der Bundesrath und der Reichstag, ihren Sitz in der Residenz der Hohenzollern haben, von wo auch der Zollverein und der Norddeutsche Bund ihren Ausgang genommen, die in der That die Vorläufer des deutschen Reichs sind.

Die Zollconferenzen waren anfangs auch noch Wanderversammlungen. Der Zollbundesrath und das Zollparlament aber hatten schon einen festen Sitz in Berlin. Jetzt sind beide in dem Bundesrathe und dem Reichstage aufgegangen.

Auch der Reichstag des neunzehnten Jahrhunderts versuchte im Anfange zu wandern. Aber er sah, daß das nicht gut that. Das Werk der Paulskirche – 1848 und 1849 in Frankfurt – mißrieth, weil die Regierungen nicht mitwirkten. Das Werk der Union – 1850 in Erfurt – mißrieth, weil das Volk nicht mitwirkte. Das Werk von Berlin, 1867 bis 1871, gerieth, weil die Regierungen und das Volk Hand in Hand gingen bei dem Klange der siegreichen deutschen Waffen. Das Parlament ist von Frankfurt und Erfurt nach Berlin gegangen, und da wird es bleiben.

Wenn der Meistersinger des alten Reichstagssitzes Nürnberg das Alles erlebt hätte, so würde er ein Lobgedicht auf Berlin, den neuen Reichstagssitz, gemacht und es geschlossen haben mit den Reimen:

„Daß Nutz und Frommen draus erwachs,
Das wünscht aus Nürenberg Hans Sachs.“




[397]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Zwei Veteranen der Marine.

Allmählich verschwinden aus der Reihe unserer Panzerkolosse die alten aus Holz gezimmerten Kriegsschiffe, die noch Zeugen waren der ersten Regungen deutscher. Kraft und deutschen Unternehmungsgeistes zur See. Sie werden verdrängt durch die gewaltigeren Schöpfungen der modernen nur noch in Stahl und Eisen arbeitenden Schiffsbaukunst – ihres Schmuckes entkleidet, abgetakelt, werden sie aufs Trockene gesetzt, um zumeist Opfer zerstörender Experimente zu bilden. So war im Sommer 1881 der alte „Barbarossa“ auf der Kieler Bucht das Ziel eines vernichtenden Torpedoschusses bei einem feierlichen Gepränge, mit welchem die Ostseestation die Taufe des Panzerschiffes „Baden“ beging. Im Sommer 1882 folgte ihm aus einem gleichen Anlaß die „Elbe“, und im vergangenen Jahre wurde die Trophäe des 5. April 1849, die den Dänen im Gefecht bei Eckernförde abgenommene Fregatte „Gefion“, zum Werftprahm degradirt. Und nun scheint auch der alten kürzlich aus der Liste der Kriegsschiffe gestrichenen Corvette „Arkona“ das Sterbeglöcklein schlagen zu wollen, während ihr Schwesterschiff „Hertha“ in nicht mehr langer Zeit wohl dem gleichen Schicksal entgegenzusehen haben wird.

„Hertha“ und „Arkona“.

Die „Arkona“ ist gegenwärtig das älteste Schiff unserer Flotte: sie wurde als eine hölzerne Dampfcorvette 1855 in Danzig auf Stapel gesetzt und begann ihre Laufbahn als Flaggschiff eines aus den Schiffen „Thetis“, „Frauenlob“ und „Elbe“ bestehenden Geschwaders, welches den Grafen zu Eulenburg, den späteren preußischen Minister des Inneren, nach Japan an den Hof von Jeddo, nach Peking und nach Siam zum Abschluß eines Handels- und Schifffahrtsvertrags mit dem deutschen Zollverein führte. Nach der Rückkehr von dieser ersten großen Expedition preußischer Kriegsschiffe unterzog sich die Corvette auf der Danziger Werst einer Reparatur und nahm im Kriege 1864 rühmlichen Antheil an den Erfolgen der preußischen Waffen gegen den Danebrog. Unter dem Commando des späteren Admirals Jachmann war sie das Flaggschiff eines kleinen aus der Glattdeckscorvette „Nymphe“ und dem Aviso „Loreley“ bestehenden Geschwaders, das im Gefecht bei Jasmund am 17. Mai 1849, gegen eine große dänische Uebermacht kämpfend, die ersten Lorbeern um die Flagge der jungen Marine wand. Nach dem Kriege unternahm sie eine zweite Reise nach den transoceanischen Gewässern, um hierauf zu den Eröffnungsfeierlichkeiten des Suezcanals mit der „Hertha“ und der „Elisabeth“, auf welcher sich der Kronprinz eingeschifft hatte, nach dem Mittelmeer zu gehen und dann von neuem auf großer Fahrt den Atlantischen Ocean zu kreuzen.

Die Kriegserklärung 1870 traf die „Arkona“ in Nordamerika, gerade da ihr von den dortigen Deutschen ein großartiger Empfang bereitet wurde. Eine Ordre rief sie nach den europäischen Gewässern zurück. Als sie nach glücklich überstandenen schweren Stürmen die Azoren erreicht und Fayol angelaufen hatte, um einen Schaden an der Maschine auszubessern, wurde sie von dem französischen Panzer „Malcalur“ auf der Rhede blokirt. Sie durchbrach aber die Blokade und eilte nach den spanischen Gewässern, um hier einem erhaltenen Befehle gemäß auf französische Postschiffe zu fahnden. Neue Stürme in der gefährlichen Bai von Biscaya zwangen sie indessen, von Neuem einen Hafen anzulaufen, und so mußte sie sich leider dazu entschließen, in Lissabon vor Anker zu gehen. Französische Freunde setzten die Regierung in Paris natürlich sofort von der Ankunft des preußischen Kriegsschiffes per Telegraph in Kenntniß, was die augenblickliche Absendung eines Geschwaders nach Portugal und bis zum Waffenstillstand die Blokade unserer Corvette in dem neutralen Hafen zur Folge hatte. Nach dem Kriege entfaltete die „Arkona“ noch zweimal die deutsche Flagge im Auslande, um dann noch einige Jahre bis zum Beginne des gegenwärtigen, in dem eine kaiserliche Cabinetsordre ihre gänzliche Inactivität befahl, in der Ostseestation als Hafenwachtschiff zu dienen.

Das Schwesterschiff der „Arkona“, die „Hertha“, gleich jener eine hölzerne Dampfcorvette und auf der Danziger Werft erbaut, war nach der Eröffnung des Suezcanals als erstes deutsches Kriegsschiff durch denselben nach den chinesischen Gewässern abgegangen und hatte nach einer nachdrücklichen Regulirung der deutschen Interessen nach dem Gemetzel in Tientsin in dem chinesischen Kriegshafen Tschifu gemeinsam mit einem französischen Geschwader Anker geworfen, als plötzlich die Schiffe die Nachricht von dem Ausbruche des deutsch-französischen Krieges erreichte. Unsere „Hertha“ sah sich einer höchst bedenklichen Uebermacht gegenüber, zumal das einzige außer ihr in Ostasien stationirte deutsche Kriegsschiff, die kleine Corvette „Medusa“, in Yokohama gerade mit der Reinigung ihrer Kessel beschäftigt, also vorläufig nicht einmal seeklar war, andererseits aber die Franzosen noch über mehrere in Nachbarhäfen stationirte Schiffe verfügten. Darum beschloß auch der Commandant der „Hertha“ den Waffenstillstand unter dem Schutze der Neutralität in Tschifu abzuwarten. Nach der Campagne von 1870 und 1871 hat die „Hertha“ noch zweimal die überseeischen Gewässer und noch einmal das Mittelmecr aufgesucht und sich gleich der „Arkona“ Verdienste um eine werthvolle Bereicherung vieler Zweige maritimer Wissenschaften erworben.

Die „Arkona“ und „Hertha“ sind die ältesten Veteranen unserer Marine, und namentlich die erstere hat ein thatenreiches, verdienstvolles Leben hinter sich. Beide ruhen sie nun, wie unser Bild es zeigt, im Abrüstungsbassin der kaiserlichen Werft zu Kiel; vor ihnen breitet sich malerisch die See aus, der Schauplatz ihres vielbewegten Lebens; rings um sie herum aber entfaltet die moderne Zeit ihr geräuschvolles Treiben. F. S.     




[398]

Salvatore.

Napoletanisches Sittenbild.0 Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


In der Absicht, die unerklärlichen Widersprüche in den Aussagen und besonders in dem Gebahren Salvatore’s zu lösen, hatte Cesari einen mehrtägigen Aufenthalt auf Capri genommen. Er wollte Maria aufsuchen, sie beobachten, ihr einige Fragen vorlegen und so dem Räthsel allgemach auf die Spur kommen.

Bereits von der Mutter Giulietta’s, in deren Häuschen er abgestiegen, hatte er Manches erfahren, was ihm zu denken gab.

Klarer noch und präciser drückte sich Gustav Nyborg, der nordische Maler, aus.

Nyborg – wir wissen es – hatte sich gleich von Anfang lebhaft für Maria und den Apulier interessirt. Mit dem Instincte des Künstlers ahnte er das Ungewöhnliche, Fremdartige, Extravagante im Charakter des jungen Mannes, und das Hingebende, Willenlose im Wesen der Zingarella. Er fühlte, daß diese Willenlosigkeit nicht ursprünglich in ihrer Natur gelegen, daß der Apulier erst ihr ganzes Denken und Sein dermaßen verzaubert hatte. Der psychologische Reiz dieser seltsamen Unterjochung, verknüpft mit der unvergleichlichen Schönheit des jungen Paares, war für Nyborg ein unerschöpflicher Quell bewußter wie unbewußter Betrachtung.

Als nun die Nachricht von dem tollkühnen Attentat kam, ließ der Maler die Zingarella nicht aus den Augen. Zu dem brennenden Interesse des Künstlers kam die Theilnahme des gutherzigen Menschen. Ein paarmal hatte er das Mädchen in seiner wohlthuend freundlichen Weise angeredet und ihr noch mehr durch den Ton seiner Stimme, als durch den Inhalt der Worte zu verstehen gegeben, daß ihr Schicksal ihm nahe gehe. Je größer nun das Zartgefühl war, mit welchem er jede Berührung der vermeintlichen Wunde vermied, um so mehr überraschte ihn die nervöse Absichtlichkeit Maria’s, – nicht nur in den flüchtigen Gesprächen mit ihm, sondern auch sonst. Maria trug die Lösung ihrer Beziehungen zu Salvatore vor allen Leuten förmlich zur Schau. Unter normalen Verhältnissen hätte die Braut, wenn sie ob so blutiger Missethat von ihrem Geliebten sich lossagte, das Bedürfniß der Stille und der Zurückgezogenheit verspürt; ihrem Zorn wäre die Scham zur Seite gegangen. Maria dagegen schien von dem unwiderstehlichen Verlangen beherrscht, allenthalben über die Sache zu reden, ihrer Entrüstung Luft zu machen und gleichsam den Beifall herauszufordern für ihr würdiges und correctes Verhalten. Und nun kannte man doch die weichmüthige Zingarella und ihre leidenschaftliche Liebe! – Nein, die Sache war unnatürlich: das erkannten selbst die harmlosen Bewohner von Capri, geschweige denn ein Mann von dem geschulten Künstlerblicke des dänischen Malers. –

Cesari hatte sich das Alles von Gustav Nyborg bis in’s Kleinste erzählen und schildern lassen.

Als er am Tage darauf die Hütte der Zingarella betrat, empfing sie ihn mit beispielloser Erregung.

„Laßt mich, Signore, laßt mich!“ rief sie emporfahrend, – denn sie wußte bereits, es war der Vertheidiger Salvatore’s, der sie hier aufsuchte –. „Redet mir nicht von Dem, der todt für mich ist!“

Dann verließ sie unter einem nichtigen Vorwand das Haus – und begab sich zu Silvio, dem Vater Alberto’s. Silvio nämlich, sobald die Kunde von dem Verbrechen Salvatore’s nach Capri drang, hatte sich dem Mädchen mit väterlichem Wohlwollen wieder genähert, um sie in ihrem Unglück zu trösten, vielleicht auch, weil er von dieser Wendung der Dinge neues Heil für seinen wackren Alberto erhoffte. Maria, die bei diesen furchtbaren Aufregungen in der That das Bedürfniß einer Stütze verspürte, war auf die verwandtschaftliche Haltung Silvio’s eingegangen, und so traf es sich, daß auch Alberto wieder öfter mit ihr zusammenkam, von heimlicher Wonne erfüllt, daß er der angebeteten Zingarella in ihrer Trübsal beistehen durfte. Maria fühlte wohl, daß die begrabene Hoffnung im Herzen Alberto’s neu sich zu regen begann, sie machte sich Vorwürfe, aber sie fand keinen Ausweg. Ihm geradezu in’s Gesicht zu sagen: Du hoffst umsonst – das wäre ihr vorgekommen, wie ein halbes Geständniß, daß ihre Trennung von Salvatore nur Komödie sei, und wenn man das ahnte ... ach, sie hatte ja so wie so fortwährend die unbestimmte Empfindung, daß man ihr Gebahren durchschaue . . .

Cesari war seiner Sache nun so gut wie gewiß. Schon am folgenden Morgen begann er zu operiren. In aller Frühe schickte er an Maria ein Schreiben, das in kurzen, fast kategorischen Ausdrücken eine Besprechung unter vier Augen heischte, mit dem bedeutsamen Zusatz, nur bei genauester Beantwortung aller ihr vorzulegenden Fragen könne es ihr erspart bleiben, demnächst in Neapel vor dem königlichen Gerichtshof Zeugniß ablegen zu müssen.

Das wirkte.

Maria, auf’s Höchste erschreckt, ließ ihm sagen, sie stehe zu seiner Verfügung; er möge so um die Messe – der Tag war ein Sonntag – wenn ihre Muhme nach der Kirche gegangen sei, in den Hausgarten kommen.

Mit bangem Herzklopfen harrte sie auf das Erscheinen des Mannes, dessen Blick schon ausreichte, sie zu beunruhigen. Sie sammelte sich; sie nahm sich vor, absolut Nichts zu gestehen. Cesari jedoch, mit frostigem Lächeln auf sie zueilend, sagte ihr nach kurzer Begrüßung geradezu ins Gesicht, ihr Verhalten betreffs des Apuliers sei ein abgekartetes Spiel; sie solle bekennen oder das Schlimmste befürchten.

Er wußte ja selbst nicht, in welcher Richtung sie ihn aufklären würde; daß aber Entscheidendes zu erwarten stand, dafür sprach die tödtliche Blässe, die alsbald ihr verstörtes Antlitz bedeckte. Mit dieser Wahrnehmung hatte Cesari gewonnen. Er sprach ihr Muth zu; sie solle ihm ganz vertrauen; er sei ja nicht der Ankläger des Verhafteten, auch nicht der ihrige, sondern gewillt zu fördern, zu helfen und zu beschützen, wo dies irgend vereinbar sei mit der Achtung, die er sich selbst schulde.

Hatte die vornehme Ruhe und Ueberlegenheit seines Unglaubens ihr die Fassung geraubt, so flößte ihr dieser warmherzige Ton die lebendigste Sympathie ein. Zaghaft stammelnd gab sie ihm zu, daß nicht Alles so sei, wie es scheine, und nun fragte er mit logischer Unwiderstehlichkeit Eins nach dem Anderen aus ihr heraus, bis sie zuletzt Generalbeichte ablegte.

Auch ohne ihre Ausführlichkeit würde er nicht länger gezweifelt haben, daß Salvatore das leichtgläubige Opfer einer maßlosen Schurkerei war, selber nur schuldig insofern, als ihm die traurigste Begriffsverwirrung bezüglich dessen zur Last fiel, was der Staatsbürger im Interesse einer Partei-Regierung zu unternehmen befugt ist.

Cesari theilte der Zingarella diese Auffassung mit. Sie hörte gar nicht auf seine Gründe. So vollständig hatte er ihr Vertrauen erobert, daß die bloße Meinung ihr als Beweis galt. Die unverhoffte Aufklärung aber warf sie zu Boden. Sie zerraufte ihr Haar; sie umklammerte seine Kniee; sie wollte sich tödten.

Die Frist zu einer Gegen-Operation war allerdings kurz anberaumt. Noch am nämlichen Tage fuhr Antonio in Begleitung der Zingarella, von Alberto gerudert, nach Sorrento hinüber. Dem „Einsiedler“ ward – mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit – angedeutet, Maria solle jetzt nachträglich im Proceß des Apuliers vernommen werden.

Von Sorrent ging die Reise mit dem schnellsten Corricolo, das man auftreiben konnte, über Castellamare und Portici nach der Hauptstadt – direct in’s Albergo zum „Goldnen Kreuz“.

Der Wirth und die Camerieri wußte sich jenes „Herrn aus Calabrien“ nicht zu erinnern; – auch des Mannes nicht, der für den Calabresen das Zimmer bestellt hatte. Den Portier von damals hatte man am ersten Januar entlassen. Giulietta war abwesend.

So beschloß Antonio zu warten. Um zehn Uhr Abends kehrte Giulietta in Begleitung eines halbwüchsigen Knaben von ihrem Ausflug zurück. Es war ihr Bruder, dem die Lateinschule von Salerno zwei Tage Urlaub gegeben. Strahlend vor Freude kam das Mädchen mit ihrem Alessandro die Treppe herauf – um plötzlich wie verwandelt stehen zu bleiben, da sie auf dem Freiplatze den Advocaten Cesari mit der unglücklichen Zingarella erblickte.

[399] Man ließ ihr nicht lange Zeit, – weder zum Staunen, noch zur Bekundung ihrer weichherzigen Theilnahme. Cesari erklärte ihr mit kurzen Worten, um was es sich handle. Der Knabe ward alsbald in sein Stübchen geschickt, und nun begann von Seiten des Rechtsanwalts eine förmliche Katechisation.

O, Giulietta entsann sich genau! Der Mensch, der den „Signore aus Calabrien“ angemeldet, war eine mittelgroße Gestalt, schwarz und so auffallend hager, daß man die Erinnerung an das knöcherne, blasse Gesicht gar nicht mehr los wurde! Ja, ja, die Schilderung, wie sie Cesari von dem Polizisten Emmanuele entwarf, der den Apulier ergriffen hatte, paßte auf’s Haar; – die silberne Brille, und die starre, häßliche Nase . . .: es war kein Zweifel! Sie wollte ihn wieder erkennen, und träfe sie ihn Gott weiß wo in Afrika oder in Asien! Daß sich die Zingarella nicht so deutlich entsinnen könne, das erkläre sich leicht; die habe nur Acht gehabt auf ihren Verlobten und den vermeintlichen Cardinal; auch sei das Zimmer auffallend düster. Sie, Giulietta, sei zugegen gewesen, als der Hagere zum Portier in die Loge kam. Auch der „Signore aus dem Calabrischen“ sei ihr noch ziemlich erinnerlich, wenn sein Gesicht auch nicht gerade so scharf sich einpräge, wie das des Hageren.

Einstweilen schien das genug. Cesari empfahl den Mädchen das unverbrüchlichste Schweigen, bat sie, für den folgenden Morgen sich zum Ausgang bereit zu halten, besprach sich dann mit dem Wirth, dem er für die Beurlaubung Giulietta’s eine Entschädigung bot, und entfernte sich, um sofort die Gräfin Ghiccioli aufzusuchen, mit der er von mütterlicher Seite verwandt war.

Vorher schon hatte er diese Dame mit dem Fall seines Clienten beschäftigt und ihre Verwendung nachgesucht im Interesse einer Begnadigung. Die Gräfin, deren Einfluß bei Hofe ein unbestrittener war, hatte den König zweimal über die Angelegenheit unterhalten, ohne ein Resultat zu erzielen, da der allgewaltige Monsignore De Fabris die Gegenpartie hielt und energisch darauf bestand, man müsse dem Gesetz freien Lauf lassen.

Jetzt hatte die Sachlage sich verändert. Die Gräfin versprach einen erneuten Angriff, und zwar für den folgenden Morgen; denn übermorgen in aller Frühe sollte bereits die Execution stattfinden.

Auch dieser erneute Angriff blieb resultatlos.

Am Tage darauf begab sich Cesari wieder nach dem Albergo. Er hatte inzwischen die Wohnung des Polizisten Nacosta in Erfahrung gebracht. Nun galt es die Beschaffung einer Gelegenheit für die beiden Mädchen, den Mitverschworenen des Pseudo-Cardinals zu recognosciren. Mit Rücksicht auf seine politische Situation mußte Cesari die ängstlichste Sorgfalt aufwenden. Ein Irrthum war ja noch immerhin möglich; die Polizei jedoch hätte, falls die Identität Nacosta’s mit dem hageren Herrn im Albergo zum „Goldnen Kreuz“ demnächst unerweislich blieb, die Denunciation von Seiten Cesari’s für einen verwerflichen Schachzug gehalten, der sich ausbeutebll ließ, um den Politiker wie Vertheidiger ernstlich zu compromittiren.

Unweit des Hauses, dessen Erdgeschoß Emmanuele Nacosta seit Kurzem bewohnte, befand sich eine etwas heruntergekommene Trattorie mit halb erblindeten Fenstern und verräucherten Vorhängen.

Im Eckzimmer dieses Locals faßte Cesari mit seinen Begleiterinnen Posto.

Von hier aus konnte man, ohne sich anzustrengen, die niedrige Hausthür, durch welche Nacosta aus- und eingehen mußte, im Auge behalten. Der Padrone der Trattorie, der seit Wochen nicht so gut gekleidete Gäste bei sich gesehen, spielte nach allen Richtungen den Charmanten und gab auf die gleichgültig hingeworfene Frage Cesari’s die erschöpfendste Auskunft.

So erfuhr man, daß Nacosta zur Zeit noch daheim sei, gegen halb elf jedoch voraussichtlich seine gewohnte Wanderung in die Stadt antreten werde. Aus den Reden des Wirths ging hervor, daß Nacosta als der Erretter des Cardinals ein gewisses Ansehen genoß; daß man sich in der Nachbarschaft für sein Thun und Lassen interessirte, während er selber mit den Bewohnern der Straße keinen Verkehr pflog, überhaupt in der größten Zurückgezogenheit lebte, und nur ab und zu von einem Signore besucht wurde, den selbst die alte Jungfer in der Mansarde, diese lebendige Chronik Neapels, nicht kannte.

Als es dreiviertel auf elf schlug, trat Emmanuele auf die Straße, sah sich ein paarmal um und schlug dann die Richtung nach der Via Toledo ein.

„Er ist’s!“ riefen Giulietta und Maria einstimmig.

„Ihr könnt das beeidigen?“ wandte sich der Advocat zu Giulietta.

„Ich nehme die Hostie darauf! So giebt’s nur einen Menschen in ganz Italien! Freilich, er wird’s bestreiten, aber ich wette, auch der Portier muß ihn wiedererkennen, und der Cameriere, der ihm das Zimmer wies.“

Nun hatte Cesari eine genügende Basis.

Er schickte die beiden Mädchen zurück nach dem Albergo und suchte zunächst einen Aufschub der Execution zu erzielen.

Hierbei stieß er auf so unerwartete Hindernisse, daß er noch kurz vor Mitternacht auf’s Neue die Gräfin Ghiccioli aufsuchte.

Sie schien anfangs geneigt, ihr Erstaunen zu äußern, daß Cesari zu so ungewohnter Stunde inmitten ihrer glänzenden Soirée sie behellige. Dann aber begriff sie, was auf dem Spiele stand. Für diesen Abend war es zu spät. Der König, gegen zehn Uhr von einem Jagd-Ausfluge zurückgekehrt, hatte sich ohne Zweifel bereits zur Ruhe begeben. Aber – das wußte man –: Seine Majestät war ein Früh-Aufsteher. Die Gräfin Ghiccioli versprach ihrem Verwandten heilig und theuer, sich selber, so schwer es ihr ankomme, beim ersten Grauen des Morgens dem Schlaf zu entreißen und um jeden Preis eine Audienz durchzusetzen.

Sie hielt ihre Zusage. Gegen dreiviertel auf acht stand der Avvocato im Cabinet Seiner Majestät und berichtete. Es war das erste Mal, daß er mit dem Souverain in persönliche Beziehungen trat. Der König, durch die bescheidene und doch so feste Beredsamkeit Cesari’s auf’s Angenehmste berührt, beauftragte sofort die zwei Officiere seiner Palastgarde, die Hinrichtung des verblendeten Salvatore zu inhibiren, während einer der Kammerherren mit dem Befehle betraut wurde, den Geheim-Polizisten in Gewahrsam bringen zu lassen.

*  *  *

Dies Alles erzählte Antonio Cesari dem wortlos lauschenden Apulier mit großer Lebendigkeit. Salvatore schauderte, als ihm so noch einmal klar und voll zum Bewußtsein kam, wie es in der That nur eines geringfügigen Zufalls bedurft hätte, um eine Verspätung und somit seinen schmachvollen Tod herbeizuführen.

Auch Maria hatte starr und schweigend mit zugehört. Die Augen gesenkt, lehnte sie an der Brüstung des vergitterten Fensters. Plötzlich brach sie in Thränen aus.

„Ach, Signore,“ schluchzte sie, die Hand Cesari’s ergreifend, „wenn ich Eure Stimme vernehme, so mein’ ich, Ihr wäret der Engel des Herrn, der uns das Heil verkündigt! Dennoch – ich kann nicht froh werden! Es liegt mir auf der Seele, wie eine qualvolle Ahnung! Sprecht, Signore: nichtwahr, mit schwerer Strafe wird er’s zu büßen haben, trotz der Mühe, die Ihr Euch gebt – und ich mit ihm?“

Ihr schwerlich,“ versetzte Cesari, „denn Ihr habt nicht geholfen; Ihr wart nur Mitwisserin, und kein Gesetz der Welt kann Euch zwingen, Euren Verlobten zu denunciren. Er selbst jedoch – allerdings! Was soll ich Euch täuschen? Das Tribunal – das meinte auch der Monarch – hat sich in den Augen Neapels lächerlich gemacht mit diesem Proceß, und Nichts verzeiht der Napoletaner weniger, als einen Streich, der ihm Spott und Hohn auf den Nacken lädt. Mögen jetzt andere Richter die Sache führen, – in diesem Punkte sind die Signori wie Ein Leib! Ich sag’ es im Voraus, Padovanino: macht Euch gefaßt darauf, daß sie Euch züchtigen bis an die Grenze der Möglichkeit! Und wißt Ihr – so leid es mir thut: – im Grunde haben die Leute Recht! Auch Der untergräbt die Sicherheit des Gemeinwesens, der solche Verbrechen erheuchelt; und wäre es wahr, was Eure Narrheit sich eingeredet, daß Monsignore De Fabris in eigner Person Euch beauftragt hätte: gut, so verdientet Ihr Beide, daß man Euch krumm schlösse! Versteht Ihr, Padovanino?“

„Signore Cesari,“ murmelte Salvatore zerknirscht, „ich hoffe, Ihr erkennt meine Reue, und laßt mich nicht im Elend verkommen!“

„Das gebietet schon meine Pflicht. Seid jetzt nur standhaft und faßt den einzigen ehrenwerthen Entschluß: muthvoll das zu ertragen, was Ihr Euch auferlegt habt!“

„Das will ich!“ rief Salvatore.

[400] Cesari drängte zum Aufbruch. Nochmals warf sich Maria dem Geliebten an’s Herz. Dann schritt sie an der Seite des Rechtsgelehrten hinaus.

„Armer Thor!“ dachte Cesari. „Ich kenne die napoletanischen Richter! Bis auf’s Blut werden sie Rache nehmen!“




12.

Es war vier oder fünf Wochen später.

Alberto, der Einsiedler von der kleinen Marine, saß, wie so oft, in gramvoller Starrheit vor seiner Hütte und blickte hinaus auf die endlose Meeresfläche.

Seit jener Begegnung mit Antonio Cesari, der die Zingarella zu holen kam, hatte er Qualen erduldet wie nie zuvor! Gleich im Anfang das nagende Vorgefühl – und dann die Gewißheit, daß die kurze, ach, so himmlisch beglückende Hoffnung gelogen hatte! Der Apulier war also nicht der verworfene Missethäter, für den man ihn hielt, – sondern ein irregeleiteter, haltloser Schwärmer – und Maria liebte diesen Bethörten heiß und leidenschaftlich wie je! Was Alberto Petagna als dankbare Hingebung, als zärtliche Freundschaft, als beginnende Liebe ausgelegt hatte, war die Hülflosigkeit der heimlichen Angst gewesen! Das Einverständniß Maria’s mit dem Projecte des Schein-Attentats war ihm unbekannt; die Proceßverhandlungen wurden damals mit lächerlicher Geheimthuerei geführt. So hielt er die angebliche Losreißung der Zingarella von Salvatore noch immer für heiligen Ernst; ihre vermeintliche Rückkehr zu dem Verlobten bedeutete ihm den Untergang eines Glückes, das er nach so langen Jahren des Kummers und der trüben Entsagung endlich, endlich erobert zu haben glaubte!

Inmitten dieser verzweifelten Stimmung regte sich eine Selbstanklage, die während der kurzen, seligen Tage der Hoffnung nicht zum Worte gekommen war.

Alberto haßte seinen Rivalen mit der ganzen Gluth des leidenschaftlichen Südländers. Es gab Minuten, wo er sein eignes Leben geopfert hätte, um den Apulier im offenen, ehrlichen Streit zu Boden schmettern, zermalmen, vernichten zu können. Nun aber, da Salvatore hülflos im Kerker saß, meinte Alberto, sei es tückisch und feige gewesen, diese Hilflosigkeit zu benutzen und sich der trauernden Braut mit Freundschaftsbetheuerungen und verkappter Bewerbung zu nähern. Er sagte sich zwar, wenn zwei Augen wie die Maria’s Einem in’s Antlitz schauten, sei man jeder Erwägung unfähig, – und ganz Capri habe doch nicht anders gewußt, als daß der vermeintliche Mörder so wie so für dieses Leben verloren sei: aber das half ihm nichts wider das dunkle Gefühl; er kam sich schuldig vor, und das Weh, das er litt, erschien ihm gleichsam als Strafe.

Wohl eine Stunde lang hatte er so gesessen, als eine zitternde Hand sich plötzlich auf seine Schulter legte.

Die Zingarella stand neben ihm. Ihr Auge blickte verstört; ihr halb geöffneter Mund schien nach Athem zu ringen.

Alberto sah zu ihr auf. Es überrieselte ihn. Was konnte sie wollen? Was besagte die verzweiflungsvolle Angst ihrer Mienen?

Sofort begriff er, daß der Apulier und sein Schicksal dabei im Spiele sein müsse. Aber was führte dann die Erschreckte zu ihm, dem Einsiedler, der nur fern von ihr sich halbwegs zu fassen vermochte? Heischte sie Trost von dem Trostlosen?

„Alberto!“ sagte sie demüthig.

Ihre Stimme klang so erschöpft, so flehend, daß Alberto sofort sich bewältigt fühlte. Im Gedanken an Salvatore hatte er selbst gegen Maria etwas wie Haß empfunden; jetzt schwand das völlig dahin.

Er stand auf.

„Du?“ sagte er, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend. „Was suchst Du hier?“

„Dich, Alberto! Ach, wenn Du mir’s nachträgst – meine Schwäche und Thorheit ... Ich hätt’ es bedenken müssen ...“

„Was, Maria?“

„Daß Du Dich täuschen würdest, und Dir Hoffnungen machen ... Aber ich konnte nicht anders, – und Deine Freundschaft that mir so wohl ...! Wirst Du mich’s büßen lassen? Ach, dann ist Alles verloren – Alles, Alles! Aber ich kenne Dich besser! Du fühlst edel und groß! In Deiner Selbstlosigkeit stehst Du höher als Alle, und ich glaube an Dich und Dein treues Herz, wie an die Wunden des Welterlösers!“

Ihre Augen, eben noch so verschleiert, loderten auf. Jeder Zug ihres Gesichtes verrieth, wie tief sie empfand, was sie so hastig hervorstieß.

„Ich zürne Dir nicht,“ sagte er düster.

„O, Du bist gut – gut wie ein Engel! Komm, führe mich in Dein Haus! Nur im tiefsten Geheimniß kann ich Dir anvertrauen, was mir die Seele zerreißt!“

Alberto schritt ihr voran. Sie betraten die Hütte.

(Schluß folgt.)




Nekrolog eines Theaters.

Kein langes Dasein ist den Kunststätten beschieden, auf welchen der Mime seine schnellwelkenden Kränze erwirbt. Ein tückischer Feind umlauert die Bretterwelt und läßt nur allzu oft ihre Herrlichkeit in Rauch und Flammen aufgehen. Allein in diesem Jahrhundert sind mehr als 500 Theater niedergebrannt, und namentlich in den großen Städten sind Theaterbrände keine Seltenheit. Die Geschichte von London weist seit dem Jahre 1613 nicht weniger als 35 solcher Brände auf, in Paris wiederholte sich seit dem Jahre 1762 dieses schauerliche Schauspiel 24 Mal, und Berlin und Wien figuriren in dieser Statistik mit je acht Theaterbränden. Die viel jüngeren Großstädte der nordamerikanischen Union rivalisiren in dieser Beziehung mit ihren ehrwürdigen Schwestern in Europa, denn New-York allein kann in seinen Annalen 26 Theaterbrände verzeichnen, während das junge San Francisco durch Feuersbrunst schon 21 Theater verlor. Ja, die modernen Theater scheinen rasch zu leben und zu vergehen, wie so viele Werke unserer ungeduldig alles umändernden Zeit. Die Statistik hat nachgewiesen, daß ihre durchschnittliche Lebensdauer nur 30 Jahre beträgt.

Darum erregen Theaterbrände nur dann ein größeres Aufsehen, wenn bei ihnen namhafte Verluste an Menschenleben zu beklagen sind, oder wenn durch die ungebändigte Feuersmacht Kunststätten vernichtet werden, an die sich besondere Erinnerungen knüpfen. So wirkte vor wenigen Jahren die furchtbare Katastrophe im Wiener Ringtheater erschreckend auf die Gemüther des Theaterpublicums, so hat auch die Zerstörung des Wiener Stadttheaters vor Kurzem die Freunde des deutschen Schauspiels schmerzlich berührt.

Als sich jener Prachtbau vor 12 Jahren an der Seilerstätte erhob, da begrüßten in ihm Viele die Wiege eines neuen dramatischen Aufschwungs, denn kein Geringerer als Heinrich Laube, der „Marschall Vorwärts“ der deutschen Theatertruppen, war sein Schöpfer und dazu erkoren, in den neuen Räumen mit frischen Kräften seine Thätigkeit zu entfalten. An diese Zeit dachten wohl die Meisten, als der elektrische Funke die Nachricht von dem Brande des Wiener Stadttheaters in Deutschlands Gaue trug.

Es war am 16. Mai um einhalb fünf Uhr Nachmittags. Da meldete der Thürmer auf St. Stephan dem Centraldepôt der Feuerwehr, daß ein verdächtiger Rauch über dem Dache des Stadttheaters aufsteige. Der erste Löschzug ging ab, bis bald darauf die Meldung „Dachfeuer im Stadttheater“ sämmtliche Feuerwehren alarmirte. Sie erschienen pünktlich an Ort und Stelle und gingen energisch an das Rettungswerk, obwohl die Hoffnung, den Brand zu ersticken, nur eine geringe war. Schon um fünf Uhr ergriffen die Flammen den Zuschauerraum und nur die Bühne, geschützt durch den eisernen Vorhang, blieb noch unversehrt. Es begann der Kampf zwischen dieser eisernen Schranke und den weiter um sich greifenden Flammen.

„Um diese Zeit bot das Innere des Theaters,“ wie ein Augenzeuge berichtet, „das Bild eines riesigen Feierkranzes, der sich um ein wogendes, flammendurchzucktes, funkensprühendes Meer von Rauch schlang, dessen Hintergrund die rothglühende Courtine bildete.“

Eine Stunde lang leistete sie der Gluth siegreichen Widerstand. Da begann kurz nach einhalb sechs Uhr die Dachwölbung zu wanken, und mit donnerndem Getöse stürzte die Decke in das Parterre nieder. Das Schicksal des Gebäudes war nun entschieden. Durch frischen Luftzug angefacht loderten die Flammen mit erneuter Gewalt auf, der eiserne Vorhang begann zu schmelzen und in wenigen Minuten überflutheten die Flammen auch den Bühnenraum. Als der Morgen des 17. Mai anbrach, war das Theater ausgebrannt, kahle, geschwärzte Mauern umringten einen dampfenden Trümmerhaufen. Nur eln Trost war geblieben, der Brand hat, abgesehen von einigen Verletzungen der braven Feuerwehrleute, kein Opfer an Menschenleben gefordert. In Wien empfindet man den Verlust dieser Kunststätte sehr schmerzlich, denn es ist keine Hoffnung vorhanden, daß sich ein neuer Bau aus dem Trümmer- und Schutthaufen erheben wird.

„Es ist uns,“ sagte uns ein Freund von dem blauen Donaustrande, „als wäre ein Stück von Wien, als wäre ein Stück von uns selbst gestorben und wie am Grabe eines lieben Freundes, dessen Laufbahn sich vor unserer Seele entrollt, so blicken wir heute – am Grabe des Stadttheaters – trauernd auf sein Entstehen und auf seine Entwickelung zurück.“

[401]

Der Brand des Wiener Stadttheaters am 16. Mai 1884.
Originalzeichnung von J. J. Kirchner.

[402] Und auch wir möchten die Geschichte dieses Theaters unsern Lesern nicht vorenthalten. Als Heinrich Laube nach Beendigung seiner Leipziger Direction nach Wien zurückkehrte, hatte just Friedrich Halm darum nachgesucht, daß man ihn der Leitung des Burgtheaters entheben möge, und als seinen Nachfolger hatte er den früheren Gegner, Heinrich Laube, vorgeschlagen. Dessen Freunde aber mißbilligten einen Wiedereintritt in’s Burgtheater und riethen zur Gründung eines neuen Schauspielhauses.

Es war die Zeit des volkswirthschaftlichen Aufschwunges, ganz Wien war von fröhlicher Zuversicht erfüllt, und man konnte annehmen, daß die lebensfreudige Stadt reichliches Publicum für ein neues Theater stellen werde. In wenigen Wochen war das nothwendige Capital durch Ankauf von Logen (zu 25,000 Gulden) und Sperrsitzen (zu 5000 Gulden) aufgebracht. Die Stadt Wien selbst hat weder zur Gründung noch zur Erhaltung des Theaters eine Beisteuer geleistet.

Man nannte das neue Schauspielhaus Stadttheater, im Gegensatze zu dem Burgtheater, der Hofbühne. Denn die Haupttendenz des neuen Unternehmens war, ein Theater zu bilden, welches frei bliebe von den bei einem Hofinstitut unerläßlichen Beschränkungen und welches den Schauplatz für jegliche dichterische Schöpfung bieten würde. Keine Concurrenz, sondern eine Ergänzung sollte also das Stadttheater werden für die Hofbühne.

Das wurde freilich von der Leitung des Burgtheaters anders aufgefaßt. Sie behandelte wenigstens das Laube’sche Stadttheater wie ein Concurrenz-Unternehmen, und man verschaffte sich z. B. Reverse von unzähligen Autoren, daß ihre Stücke in Wien nur im Burgtheater gegeben werden dürften, um Laube seine Aufgabe zu erschweren. Das gelang auch vollständig. Nicht wohlgemuth und hoffnungsfreudig, sondern voll schwerer Sorgen schritt Laube zur Eröffnung seines Stadttheaters.

Diese erfolgte am 15. September 1872. Schiller’s Demetrius–Fragment, von Laube ergänzt, bildete die Eröffnungs-Vorstellung. Der Erfolg war günstig, aber das Publicum schien noch nicht ganz gewonnen. Es stand dem neuen Theater zuwartend, beinahe mißtrauisch gegenüber. Durch eiserne Energie jedoch erzwang sich Laube die Gunst der Wiener – nicht indem er ängstlich bald dies, bald jenes versuchte, sondern indem er seinen systematischen Plan rücksichtslos verfolgte.

Bald war eine Künstlerschaar gebildet, welche eines ersten Theaters vollkommen würdig heißen mußte. Die Damen Schönfeld, Frank, Schratt und Albrecht, die Herren Lobe, Robert, Friedmann, Tewele und Tyrolt, sie alle gehörten dem damaligen Stadttheater an und haben sich heute maßgebende Stellungen in der deutschen Theaterwelt errungen.

Trotz der Gegenarbeiten des Burgtheaters, welches auch die besten Mitglieder des Stadttheaters zu gewinnen suchte, konnte Laube auch bald wirkliche Novitäten, d. h. noch unaufgeführte Stücke moderner Autoren bringen. Adolf Wilbrandt wurde mit seinem „Grafen von Hammerstein“ glänzend eingeführt, Paul Lindau’s „Maria und Magdalena“ verhalf die Darstellung zu durchschlagendem Erfolg, und zahlreiche Lustspieldichter, wie G. v. Moser, Julius Rosen und Sigmund Schlesinger, fanden hier eine Stätte. – Das Publicum hatte das Theater lieb gewonnen, und die Cassen waren wohlgefüllt.

Da trat eine Wandlung ein. Die Geschäfte an der Börse gingen schlechter und schlechter. Die Geschäftswelt wurde von Panik erfüllt, und mit erschreckender Schnelligkeit erfolgte der „Krach“. Das Stammpublicum des Stadttheaters, welches zum großen Theil aus Finanzleuten bestehen mochte, war verarmt und gab den Theaterbesuch auf. Die Vorstadttheater mit ihrem Possen-Repertoire erlitten freilich wenig Einbuße. Es mußte sich also Laube die Ueberzeugung aufdrängen, daß seine Bühne sich ebenfalls einer leichteren Richtung zuwenden müsse, wenn die materiellen Erfolge nicht geschwächt werden sollten. Er wollte aber nur ein erstes Theater führen, und so trat er – am 15. September 1874 – von der Leitung zurück.

Laube’s Nachfolger, Theodor Lobe, konnte den Niedergang des Theaters nicht aufhalten, und Laube kam dem Unternehmen noch einmal zu Hülfe. Er arbeitete mit ehrlicher Anstrengung, jedoch ohne sich selbst genug zu thun. Allenthalben fehlte jetzt die mächtigste Triebfeder, die Begeisterung. Er hielt es für seine Pflicht, um die Gründer nicht zu schädigen, auch leichte Schwänke zu geben, und so mühte er sich, im Grunde genommen, für ein Theater, das nicht sein Theater war. Nach vierjähriger Thätigkeit trat er – tiefer verstimmt – zum zweiten Male zurück.

Es folgte das sogenannte „Vierer-Collegium“, bestehend aus den Herren Friedmann, Lobe, Schönfeld und Tyrolt, und dann zum dritten Male eine Direction Laube, die jedoch kaum einige Monate währte.

Man stand vor einem Räthsel. Wer sollte den Muth finden, das zu unternehmen, womit ein Laube gescheitert war? Jeder schüttelte ungläubig den Kopf, als die Nachricht auftauchte, der Komiker Karl von Bukovics habe die Direction übernommen. Aber die Nachricht bestätigte sich. Der neue Director frug zwar nicht viel nach künstlerischen Pflichten, sondern machte die finanzielle Festigung des Unternehmens zu seiner Hauptaufgabe. Als Schauspieler mit vollstem Rechte sehr beliebt, zog sich Bukovics ein neues Stamm-Publicum heran, ein Publicum, das keine großen Ansprüche machte, sondern den Abend ohne Aufregung und in behaglicher Heiterkeit verbringen wollte. Anfänglich kamen noch einige interessante Vorstellungen zu Stande, denen vornehmlich das Regietalent und die Darstellungskunst Mitterwurzer’s eigenthümlichen Reiz verlieh. Allmählich aber wurde das künstlerische Niveau des Stadttheaters – nicht ohne Geschick – immer tiefer herabgedrückt, bis wir schließlich kein Schauspielhaus, sondern ein Possentheater vor uns hatten, in welchem die französische Farce vornehmlich gepflegt wurde. Die Veranstaltung eines Anzengruber-Cyclus bildet den einzigen Lichtpunkt in der letzten Epoche des Stadttheaters, und Anzengruber’s „Meineidbauer“ war auch das Stück, welches zuletzt auf dem Theaterzettel für den Abend des 16. Mai angekündigt war. R.     


Schnepfenthal.

Eine Jubiläumsskizze von H. Schwerdt.

Es war am 7. März 1784. Schon neigte sich der trübe Tag dem Abend zu. Da schwankte eine schwerfällige Kutsche durch Rödichen, ein thüringisches Dorf zwischen Waltershausen und Friedrichsroda, und bog in die Höhlung ein, die sich zum nahen Landgut Schnepfenthal hinabzog. Aus den großen Wagen spähten zwischen hochaufgethürmten Kisten und Schachteln elf Köpfe hervor, welche die neue Heimath mit ungeduldigen Blicken begrüßten.

Auf dem Bocke saß neben dem Kutscher ein Mann, der etwa vierzig Jahre zählen mochte. Seine ganze Haltung verrieth etwas Schulmeisterliches, aber im besten Sinne des Wortes. Mit der steifen Mode seiner Zeit schien er und mit ihm seine ganze Reisegesellschaft gebrochen zu haben, Statt einer Perrücke trug er das schlichte, schwarze Haar gescheitelt, der Zopf war schon seit Jahren abgeschnitten worden. Ein unverkennbares Wohlwollen, und doch auch wieder ein sinniger Ernst war den märkirten Zügen seines bräunlichen Gesichtes aufgeprägt. Unter der hohen Stirn schien eine Welt von Gedanken zu arbeiten und aus den freundlichen Augen leuchtete eine kindliche Gutmüthigkeit, während die stark hervortretende Nase und die raschen Bewegungen der Hände von Entschlossenheit und Thätigkeit zeugten.

Dieser Mann war Christian Gotthilf Salzmann, welcher seit drei Jahren an der von Basedow gegründeten Erziehungsanstalt zu Dessau, dem vielgepriesenen Philanthropin, als Religionslehrer und Liturg thätig gewesen. Weil ihm jedoch in dieser Stellung keine Zeit blieb, seine eigenen Kinder nach dem Ideale zu erziehen, welches er sich selbst gebildet hatte, und weil er sich je länger desto mehr nach einer selbstständigen pädagogischen Wirksamkeit sehnte, so hatte er sich schon seit geraumer Zeit Mit dem Gedanken getragen, eine eigene Erziehungsanstalt zu gründen, und zwar - wenn es sein konnte – im Herzogthum Gotha, wo er freundschaftliche Verbindungen angeknüpft hatte und zuversichtlich hoffen durfte, daß sein Unternehmen von dem hochherzigen Fürsten dieses Landes, Herzog Ernst II., begünstigt und gefördert werden würde. Und er hatte sich nicht getäuscht. Der Herzog, der bereits von Salzmann’s schriftstellerischer Thätigkeit wohlwollende Kenntniß genommen hatte und insbesondere sein jüngst erschienenes Buch: „Carl von Carlsberg, oder über das menschliche Elend“, sehr hochschätzte, erbot sich nicht blos, ihm zur Verwirklichung seines Planes ein herzogliches Lustschloß zu überlassen, sondern zog auch dann seine Hand nicht von ihm ab, als Salzmann, um in keinerlei Weise abhängig und durch keinerlei Rücksichten beengt zu sein, dies edle Erbieten freimüthig zurückwies, sondern sicherte ihm ein unverzinsliches Darlehn von 4000 Thalern zu, um sein Vorhaben in’s Werk setzen zu können.

Salzmann, der kein eigenes Vermögen hatte, sondern vorläufig nur vom Ertrag seiner Schriftstellerei lebte, nahm diese Spende dankbar an, und beauftragte nun einen seiner Freunde, den Obergärtner Wehmeyer in Gotha, ein kleines Landgut für ihn zu kaufen, welches sich durch seine schöne und gesunde Lage zu einem Erziehungsinstitute eigne, und dieser kaufte ihm eine ländliche Besitzung, die früher dem Kloster Reinhardtsbrunn zugehört hatte, das Oekonomiegut Schnepfenthal, das aus einem geräumigen Wohnhaus mit den dazu gehörigen Wirtschaftsgebäuden, einer Mahl- und Oelmühle, einem großen Garten mit Fischteich, einigen Wiesen und Aeckern und einem bewaldeten Bergrücken, „die Hardt“, bestand.

Dort ließ nun Salzmann auf einem nahegelegenen Hügel einen Neubau ausführen, der allen pädagogischen Ansprüchen der damaligen [403] Zeit genügen sollte. Ein Gönner, dessen Name heute verschollen ist, bot ihm hierzu hülfreiche Hand, und schon am 18. Juni 1784, also gerade vor hundert Jahren, konnte der Grundstein zum ersten Institutsgebäude und damit zur Erziehungsanstalt Schnepfenthal gelegt werden. Salzmann hatte zu dieser Feierlichkeit die Glieder seiner Familie im Wohnzimmer des Gütchens versammelt und las ihnen tief ergriffen die Urkunde vor, die er in den Grundstein legen wollte. Dann verschloß er sie in eine Blechkapsel und ging mit den Seinigen auf den Bauplatz, wo alle Arbeiter und viele Bewohner der Umgegend einen Kreis geschlossen hatten. Nach einer schlichten Rede legte er jene Kapsel in den ausgehöhlten Eckstein, warf mit einer Kelle gelöschten Kalk darauf und ließ von jedem Gliede seiner Familie dasselbe thun. Unerwartet stimmte ein Musikcorps, welches der Maurermeister Sahlender heimlich bestellt hatte, die Choralmelodie an: „Auf Gott und nicht auf meinen Rath will ich mein Glücke bauen.“ Es war ein unvergeßlicher Moment, der vielen Augen Thränen entlockte.

Unter den ersten Lehrern, die Salzmann für seine neue Erziehungsanstalt gewann, befand sich der berühmte Turnlehrer Chr. Gutsmuths, und einer der ersten Schüler war Karl Ritter, der spätere Begründer der wissenschaftlichen Geographie. Im Spätherbste 1785 wurde die Anstalt feierlich eröffnet.

Dennoch waren anfangs der Lehrer fast ebenso viele wie der Schüler, und erst im Jahre 1788 erreichte die Zahl der letzteren das Ziel von zwölf Zöglingen, welches sich Salzmann ursprünglich gesteckt hatte. Seit 1789 jedoch, nachdem der kleine Erbgraf Georg, nachmaliger Fürst von Schaumburg-Lippe, in Schnepfenthal eingetreten war, steigerte sich diese Zahl zusehends und war im Jahre 1803 bis zu einundsechszig Zöglingen angewachsen. Im Jahre 1791 mußte bereits ein zweites Haus gebaut werden und als auch dieses nicht lange ausreichte, wurde die rasch emporblühende Anstalt durch den Ankauf von zwei neuen Gebäuden abermals erweitert.

Christian Gotthilf Salzmann.
Nach einem alten Stich auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Gotthilf Salzmann, in seinem höheren Alter wie ein Patriarch verehrt, starb am 31. October 1811, im achtundsechszigsten Jahre seines verdienstvollen Lebens und im achtundzwanzigsten seiner segensreichen Wirksamkeit in Schnepfenthal. Seine entseelte Hülle ruht im Eichwäldchen der Hardt[1], unweit des Turnplatzes. Auf seinem Grabe prangt kein Denkmal – er wollte es nicht! Nur einen Hollunderstrauch haben die Seinen darauf gepflanzt, wie er es angeordnet hatte, weil die getrockneten Blüthen dieses Strauches ihre heilkräftige Wirkung oft an ihm bewährt hatten.

Nach Salzmann’s Tode wurde die Erziehungsanstalt von seinem Sohne Karl im Geiste des Verstorbenen fortgeführt, ihm folgte im Jahre 1848 der Enkel des Gründers W. Ausfeld und heute leitet sie thatkräftig Dr. Wilhelm Ausfeld, der Sohn des Letztgenannten. In der Pfingstwoche haben sich in Schnepfenthal die früheren Schüler und Freunde der Anstalt zu frohem Jubelfeste vereinigt, und sie konnten sich überzeugen, daß trotz der im Laufe der Zeit nöthig gewordenen Aenderungen die Grundsätze der Erziehung dieselben geblieben sind.

Ja, Salzmann’s frischer, freier, fröhlicher und humaner Geist hat sich in seiner Stiftung bis zum heutigen Tage lebendig erhalten. Es ist der Geist der Humanität und geläuterter Religiosität, wie er sich aus der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts emporgerungen und vornehmlich in der Schule der Philanthropie zur Geltung gekommen. Salzmann aber, wenn auch kein pädagogischer Reformator, so doch ein scharfdenkender Erzieher von Gottes Gnaden, war kein sclavischer Anhänger dieser Schule, sondern hatte sich ein eigenes System gebildet, das er kraft seines organisatorischen Talentes in Schnepfenthal zur Ausführung brachte, indem er Rousseau’s und Basedow’s Excentricitäten zu vermeiden wußte und Pestalozzi’s bahnbrechende Ideen in seinen Erziehungsplan aufnahm. Die harmonische Entwickelung und Uebung der körperlichen und geistigen Anlagen und Kräfte, und vornehmlich die Heranbildung der Jugend für’s praktische Leben, war das Ziel, dem er mit methodischem Geschicke zustrebte. Und so legte er auf körperliche Abhärtung und Gewandtheit, aber auch auf entschiedene Charakterbildung ein großes Gewicht.

Der Geist der Anstalt offenbart sich schon in dem traulichen Familienleben, das in derselben herrscht. „Vater Salzmann“ wurde der Gründer genannt, „Du und Du“ – das ist die Sprache, in welcher noch heute die Schüler mit dem Director und seiner Gattin verkehren. Die Zöglinge aber sind unter einander gleichberechtigte Brüder, wie verschieden auch die Stellung ihrer Eltern ist. Dazu trägt schon die gleichmäßige einfache Kleidung bei, welche die Anstalt liefert: scharlachrothe Jacken mit kurzen frackähnlichen Schößen, und in früheren Zeiten gelbe Westen und gelbe Hosen. Diese charakteristische Uniform wird jedoch seit Jahren nur noch Sonntags und bei festlichen Gelegenheiten getragen. Salzmann aber legte so hohen Werth darauf, daß er Prinzen und Grafen zurückwies, weil deren Eltern für ihre Söhne eine standesgemäße Kleidung beanspruchten.

Auch die körperliche Abhärtung wird nicht mehr so streng gehandhabt wie sonst, wo man sich in frühester Morgenstunde, gleichviel ob Sommer oder Winter, am offenen Hofbrunnen wusch, wo man sich Entsagungen durch Fasten und Nachtwachen auferlegen mußte, wo man sich mit bloßen Füßen im Schnee herumtummelte, wo man auf dem einen Teiche Schlittschuh lief, im andern aber badete, nachdem das Eis mit Stangen eingestoßen worden u. dergl. m.

Unter allen Leibesübungen aber stand und steht das Turnen obenan, wogegen Reiten und Tanzen wenig mehr geübt wird. Ist doch Schnepfenthal die Pflanzstätte der systematischen Turnkunst, wie sie, Gutsmuths ausgebildet, sodaß Jean Paul empfiehlt, „um jedes Haus herum ein kleines gymnastisches Schnepfenthal zu bauen“. Dadurch und durch die vielfachen Spiele und Feste, die hier abgehalten wurden, wußte Salzmann schon früher das zu erreichen, was jetzt in der Jugenderziehung allgemein erstrebt wird. Auch der Handfertigkeitsunterricht, der heute als eine neue pädagogische Errungenschaft gepriesen wird, in Schnepfenthal aber von jeher an der Tagesordnung war, wird noch gegenwärtig vorzugsweise in den Wintermonaten betrieben.

Und ebenso wird nach wie vor eine strenge Disciplin gehandhabt, wenn auch, nach Luther’s Mahnung, neben der Ruthe stets der Apfel liegt. Wie wäre sonst das junge Blut im Zaume zu halten?

Den wechselnden Ansichten und Verhältnissen entsprechend, ist im inneren und äußeren Leben der Anstalt allmählich Vieles anders geworden, als es der ehrwürdige Stifter geplant. Aber der Geist, der sie von Anfang an belebte, ist bis zum heutigen Tage derselbe geblieben und durch nunmehr 1352 Zöglinge befruchtend in die verschiedensten Kreise des Lebens getragen worden. Aehnliche Anstalten sind in den verflossenen hundert Jahren mehrere entstanden, den meisten aber ist nur eine kurze Lebensdauer beschieden gewesen, während Schnepfenthal unter der Direction des Urenkels des Begründers, Dr. Wilhelm Ausfeld, noch in voller Thätigkeit steht. Und so mögen denn günstige Sterne Schnepfenthal in’s zweite Säculum hinüberleuchten!



  1. „Gartenlaube“ 1859, S. 212.

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Blätter und Blüthen.


Der 6. October 1789. (Mit Illustration S. 392 und 393.) Einer der wichtigsten Tage der französischen Revolution! Das Bild stellt uns dar, wie König Ludwig XVI. und Königin Maria Antoinette von dem Volk aus Versailles nach Paris zurückgeführt werden, mitten im Zug von Weibern und Nationalgarden. Es waren die Tage, an denen die Revolution zum ersten Male ihre ganze Wildheit und Grausamkeit entfesselte. Tags vorher waren 7000 Weiber nach Versailles gezogen: einige Gardes du Corps waren als Opfer ihrer Wuth gefallen: es sind dieselben, die hier des Königs Wagen geleiten, alt und jung, mit Trommeln, Fahnen und Schwertern. Théroigne de Méricourt, die wilde Furie der Revolution, die auf einer Kanone sitzend gegen Versailles zog, erscheint hier hoch zu Roß mit ihrem leidenschaftlichen schönen Gesicht, das Schwert in der Hand; verwilderte und fanatische Nationalgarden bilden einen tumultuarischen Zug; einige sind trunken, andere machen den anmuthigen Schönen den Hof, die eben in Versailles des Königs Garden so tapfer massacrirt hatten; eine große Menge beobachtet neugierig, mit größerem oder geringerem Antheil, das Schauspiel, das der seltene Zug ihr bietet; verfallene Mauern, allerlei Höhlen des Proletariats, Winkelherbergen und Hütten, die dem Zusammenbruche nahe sind, geben die Sitz- und Stehplätze für dies verwahrloste Publicum.

Am meisten lenkt das Königspaar in dem von Piken umstarrten Prunkwagen, dessen vier Staatspferde sich mühsam langsamen Schrittes den Weg durch das Getümmel bahnen, die Blicke auf sich. Stolz und verächtlich blickt die österreichische Kaisertochter auf diesen Pariser Pöbel, noch lastet auf ihr beschwerend die Erinnerung des vorhergehenden Tages: hatte sie doch im Unterrock aus dem Bett vor diesen Furien flüchten müssen, als eine Thür nach der andern von ihnen erbrochen und die Gardes du Corps ermordet wurden. Und erst wenige Tage waren vergangen, als die schöne stolze Königin bei dem Gastmahle der Garde-Officiere erschienen war, welche ihre Degen zogen, um sie und den König zu begrüßen, und bei funkelndem Wein das Lied „O Richard, o mon roi“ begeistert anstimmten! Noch klang ihr dies Lied in den Ohren: doch neben ihr saß König Richard mit seiner unverwüstlichen Bonhommie, nur verdrießlich, in seinem Behagen gestört zu werden, und vielleicht nicht ohne stille Reue, den Wünschen des Pöbels nachgegeben und das ruhige Versailles mit dem stürmischen Paris vertauscht zu haben. Noch ahnten Beide nicht, welcher Zukunft sie entgegenfuhren, was ihrer in dem schrecklichen Paris harrte und wie allmählich von Jahr zu Jahr das Verhängniß immer schwerer seine Hand auf ihre gekrönten Häupter legen werde. Der blutige Aufstand vom 10. August, der Sturm der Tuilerien, die Kerkerhaft im Temple, das Schaffot: das waren Schreckensbilder der Zukunft, wie sie ihre Phantasie sich noch nicht auszumalen wagte, trotz der Demüthigungen, die ihnen der Augenblick bereitete. Und der kleine Prinz, der neugierig aus dem Wagen heraus das Schauspiel betrachtet, das ihm die bunte, wildbewegte Menge bietet? Er ahnt nicht das grausame Schicksal, welches den Sprößling der Bourbons bedroht: finstere Kerkerhaft, schmachvolle Mißhandlung, frühen ruhmlosen Tod! Doch gerade dahinter macht ja die Geschichte ein Fragezeichen; das Prätendententhum der Naundorff macht in neuester Zeit wieder viel von sich reden, wo die legitimistischen Kreise in Paris der Prinzessin Amélie huldigen, die von jenem Ludwig XVII. ihre Herkunft ableitet. –

Joseph Emil Squindo, der Künstler, dem wir unser Bild verdanken, ist leider schon in seinem 25. Jahre dem Leben und der Kunst entrissen worden. Geboren in Nördlingen am 13. Februar 1857, starb er am 18. November 1883 in München. Sein Gemälde: „Der 6. October 1789“ ist, obwohl unvollendet, der beste Beweis, zu welchen großen Hoffnungen sein Talent berechtigte. Nach der Vollendung wäre dieses Bild nach Paris gekommen, nach dem jähen Tode des Künstlers aber geschahen Schritte, dasselbe der Stadt München zu erhalten. Zu einem Verkauf konnte sich die Familie des Verstorbenen nicht entschließen; so wurde das Bild dem baierischen Staat zum Geschenk gemacht und der königlichen Staatsgemäldesammlung einverleibt.


Zur Naturgeschichte der „Seeschlangen“. Im milden Frühherbste des Jahres 1873 saßen wir selbdritt während der ersten Stunden einer jener lauen, wundersamen Vollmondnächte, wie sie der Herbst an den Schweizerseen oft noch bringt, am baum- und rebenreichen Ufer des stillen, melancholischen Untersees. Es war am Tage von Sedan, den zu feiern mehrere deutsche Curgäste der Kaltwasseranstalt M., und darunter am wenigsten einige schon lange in der Schweiz eingebürgerte Stammesbrüder, trotz aller Einwendungen sich nicht hatten nehmen lassen, worüber die Insassen des Grenzdörfchens ihrerseits in unbegreifliche Erregung geriethen. Um nun aber nach Beendigung des üblichen Feuerwerkes durch unsere Gegenwart nicht weiter zu reizen, hatten wir uns an das Seegestade zurückgezogen.

Die große Wasserebene lag wie ein glänzender Spiegel da, darinnen nur der Mond sein magisches Licht reflectirte; alles Geräusch ringsum war verstummt und selbst die stummen Fische waren noch stiller geworden, als tagsüber; denn lange Zeit ließ sich keiner beikommen, seinen Kopf über die krystallklare Fluth behufs luxuriöseren Luftschnappens zu erheben.

Plötzlich jedoch entstand inmitten einer großen seichten Ausbuchtung des Sees ein starkes Geräusch, und beim raschen Hinschauen glaubten wir alle drei gesehen zu haben, wie ein mindestens fünf bis sechs Meter langes fisch- oder schlangenartiges Unthier an der Oberfläche blitzschnell dahinschoß. Von dem Thiere sah man nur den grauschwarzen, eigenthümlich wellig eingebogenen Rücken, der etwas über das Wasser hervorragte. Da wir nur diesen wahrnehmen konnten, war es nicht möglich, sich eine bestimmte Meinung über die Species desselben zu bilden.

Einer sagte endlich lachend: „Das war sicher eine Seeschlange!“, worauf der andere fortfuhr: „Aber offenbar nur eine Untersee-Schlange!“. Der dritte behielt seine Ansicht für sich und erklärte nur, er wolle sich andern Tags bei den Fischern erkundigen, ob sie vielleicht auch schon eine ähnliche Beobachtung gemacht hätten und was dann ihre Meinung sei, da sie ja die Fauna des Seebeckens genau kennen müßten.

Ich dachte im Stillen sofort an eine Sinnestäuschung, vielmehr an eine optisch-physiologische Begründung der Erscheinung.

Des andern Morgens fuhren wir unter Leitung des kundigsten Seglers unter den Fischern im Nachen auf dem See. Dabei erzählten wir diesem das Ereigniß vom vorhergehenden Abend und sprachen die Zwei auch wieder ihre Vermuthungen aus.

Der Fischer jedoch sagte lebhaft in seinem krächzenden Dütsch: „Dees is ’n Heacht g’si!“ und erzählte sofort, daß er ganz früh in der Nähe jener Stelle eine Seeforelle von 10 Pfund Schwere – ein guter Fund, denn das Pfund kostete 1 Franken! – mit einer großen Wunde in der Seite auf dem Wasser todt schwimmend angetroffen und auch bereits verkauft habe; im See gebe es Hechte von 50 und mehr Pfund Schwere.

Also ein Hecht und keine Seeschlange! – Wenn jener demnach auch keine Seeschlange war, so kann er doch die Fabel von der letzteren erklären helfen; denn offenbar kommt die weltbekannte Seeschlange des atlantischen Oceans stets ebenso zu Stande, wie die kleinere Unterseeschlange in unserem Fall! Nämlich so:

Die Netzhaut unseres Auges hat die Eigenthümlichkeit, daß die Bilder, welche sie treffen, auf ihr nicht sofort wieder erlöschen, sondern noch eine kurze Zeit nachhalten. So entsteht bekanntlich, wenn man ein glimmendes Streichhölzchen rasch im Kreise herum oder wenn man es liniengerade schnellstens hin- und herbewegt, nicht der Eindruck von einzelnen getrennten Lichtpunkten, sondern der einer zusammenhängenden Kreis- oder geraden Linie aus glühender Masse. Wenn die leuchtende Streichholzspitze nämlich von a nach i fortgerückt ist, ist das Bild von a noch nicht und sind noch weniger die Bilder von b c d e f g und so fort schon erloschen, sondern es lassen alle zusammen den Eindruck jener feurigen Linie zurück, respective sie bilden diesen Eindruck.

Gerade so geschah es auch mit unserem pfeilschnell eine größere Strecke lang dahinschießenden Hechtrücken! Er erschien dem hinsehenden Auge als ein meterlanges graurückiges Unthier, als eine Unterseeschlange! Die seitlich sofort wieder zusammenfallenden, vorher aus einander getriebenen Wasserwellen aber gaben demselben das eigenthümlich wellige Aussehen.

Sonach hatte diese Unterseeschlange keine wirkliche Existenz, sondern verdankte den Anschein dieser einer physiologischen Eigenthümlichkeit der menschlichen Netzhaut. Gerade so verhält es sich offenbar auch stets mit der allsommerlich in den Zeitungen beschriebenen und zuweilen sogar abgebildeten „großen Seeschlange“.

Wird diese nun wohl nach obigen Auseinandersetzungen nur noch als sozusagen optische Täuschung fortan figuriren? Das soll sie bei Leibe nicht! Wir wollten ja den Zeitungen gar nicht ihre Seeschlangen, die sie, wie bekannt, in den Hundstagen so gut gebrauchen können, nehmen, sondern sie nur naturwissenschaftlich deuten. Dr. B. (W.)


Allerlei Kurzweil.
Auflösung des Rösselsprungs in Nr. 22:

Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höh’n, in Büschen und Hecken
Uebten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
Jede Wiese sproßte von Blumen.

Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 22:
„Durch Nacht zum Licht.“
Auflösung des Quadrat-Räthsels in Nr. 22:


Kleiner Briefkasten.

A. M. W. Pr. Ihnen könnte vielleicht durch den Lette-Verein in Berlin, welcher sich die Förderung höherer Bildung und Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts zur Aufgabe gestellt hat, geholfen werden. Die Direction desselben befindet sich Berlin SW. Königgrätzerstraße 90.

G.... S. in Königsberg. Auf anonyme Anfragen wird eine Antwort, wie schon oft von uns betont, nicht ertheilt.

W. in H. Keines der angepriesenen Mittel ist wirksam.