Die Gartenlaube (1884)/Heft 28

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 28.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Beide Damen, Leni Eibenheim und Gräfin Resi Lorbach, blickten verwundert auf Raban, wie um sich zu vergewissern, ob er im Ernst rede – dann sagte Leni lachend:

„Wie kommen Sie darauf? Man giebt schon, denk’ ich, den Soldaten im Dienst nicht genug, wie wird man für die Invaliden sorgen können?“

Damit zog sie das fortgeschobene Modeheft wieder an sich.

„Wenn Sie wirklich,“ fiel Resi ein, „darüber etwas wissen wollen, müssen Sie Lorbach, meinen Mann, fragen – vielleicht kann er Ihnen Auskunft geben, vielleicht auch nicht!“

„Vielleicht auch nicht! Ich fürchte es fast. Ist es Ihnen nie aufgefallen, Gräfin, daß die Menschen, die zu essen haben, sich merkwürdig wenig um diejenigen kümmern, welche nicht zu essen haben?“

„Wenig?“ entgegnete Gräfin Resi. „Ah. – ich meine, man thut doch so viel.“

„Man! Wer? Wir?“

„Nun – man giebt ja auch. Aber da sind die Volksküchen, die Armenhäuser, tausend Anstalten ...“

„Tausend? Sagen wir hundert. Nun ja! Aber denken wir daran? Stehen wir ihnen bei in ihren Anstrengungen, thun wir namentlich etwas gegen die Noth und das Elend, das sich nicht an die Anstalten wendet, das in schamhaftem Ehrgeize sich verbirgt ...“

„Sie reden ja wie ein Socialist!“ sagte Gräfin Resi.

„Bin aber keiner. Ich verwundere mich nur!“

„Worüber?“

„Ueber die merkwürdig harte Haut, welche alle gesunden und wohlhabenden Menschen gegen den Kranken und Armen haben, gegen das Leiden in ihrer nächsten Nähe, auch gegen das der Thiere.“

„Zum Almosengeben fühlt sich doch Jeder verpflichtet.“

„Genügt das? Ich verwundere mich auch darüber, daß, wenn ein Volk es zu einem geordneten Staatswesen gebracht hat, seine erste Frage nicht die ist: wie richten wir’s nun ein, daß wir Alle zu leben haben und Keiner zu darben?“

„Welcher Philosoph Sie sind, Herr von Mureck!“ scherzte Gräfin Resi – „Sie müssen das durchaus meinem Manne auseinander setzen; vielleicht hält er eine seiner Reden im Reichstage darüber.“

„Schwerlich – aber ich will gehen, ihn nach der Versorgung der Invaliden in diesem Staate zu fragen.“

Er erhob sich und ging, mit dem Grafen Lorbach zu reden. Leni schaute ihm mit mißmuthigem, gelangweiltem Gesichte nach und unterdrückte einen Anfall von Gähnen – Gräfin Resi stand auf, um zu den älteren Damen am Kamine zu treten; die schöne Leni aber stützte das Haupt auf die blüthenweiße Hand mit den schmalen Fingern und gab sich, in tiefe Betrachtung versinkend, dem Zauber hin, den in ihrem Journal die Fülle der Gestalten in tausendfach gefältelten Roben, Volants, Schleifen und Schleppen auf sie übte, bis ein paar jüngere Herren, neben ihr Platz nehmend, sie der tiefen Gedankenarbeit entzogen.

Als Raban sich in ziemlich später Stunde – das donnernde Rollen der Equipagen, welches die Schlußstunde der Theater verkündet hatte, war längst verklungen – nach Hause begab, befand er sich in einer Stimmung, die mehr mattherziger als verzagender Natur genannt werden konnte. Er gestand sich zum ersten Male, daß er sich im Salon der Frau von Eibenheim gelangweilt habe, und daß die Anwesenheit der bewunderten Leni auch nicht vom geringsten Einfluß gewesen, dieses Gefühl der Langeweile, das seiner Natur etwas Fremdes war, nicht aufkommen zu lassen.

Was man gesprochen und geplaudert den langen Abend hindurch, war das mehr werth gewesen, als das Plätschern des Albrechtsbrunnens, an welchem er eben vorüberging? War nicht ein unendlich großer, der größte Theil dessen, was die Gelehrten des Salons vorbrachten, Kramen im Kleinsten und Unerheblichsten, eine Hamsterthätigkeit im Zusammenschleppen von Körnern, aus denen niemals ein Stück Brod, ein Quentchen Nahrung für das Menschengemüth zu gewinnen ist? Ueber die Invalidenverpflegung war auch der Reichstagsabgeordnete im Unklaren gewesen; sein Steckenpferd waren die römischen Grenzwälle in Obergermanien.

Und nun, was Leni anging – weshalb hatte der Zauber, den sie anfangs auf ihn geübt, hier, wo er sie in dem richtigen, zu ihr gehörenden Rahmen geschaut, mehr ab- als zugenommen? Er fühlte wohl, daß die Gesellschaft, die Leni umgab, ihm völlig fremd war, daß er sich in ihr nie heimisch fühlen würde. Dazu kamen außerdem andere Gründe, die er heute noch nicht klar erkennen konnte. Man war ihm mit einer rückhaltlosen, warmen, gemüthlichen Offenheit entgegengekommen – mit jener liebenswürdigen Natürlichkeit und Ungezwungenheit, welche die Wiener Sitten charakterisirt, die dem Norddeutschen auch den Verkehr beider Geschlechter mit einander von einer auffallenden Vertraulichkeit erscheinen läßt. Raban aber war ein Norddeutscher. Und er [458] deutete das Entgegenkommen, das vielleicht nur in der allgemeinen Sitte seinen Grund hatte, als ein ganz persönliches, das sein Mannesgefühl erkältete. Er hätte es sich von Leni Eibenheim und ihren Verwandten nicht so leicht gemacht sehen mögen – er wollte nicht ein Wesen finden, das ihm so rückhaltlos zu sagen schien: klopfe nur an und dir wird aufgethan, – denn es liegt einmal in der Natur des Mannes, daß er Preise nicht schätzt, welche nicht hoch über ihm schweben und sein Ringen nicht herausfordern – das leicht Erreichbare verliert für ihn seinen Werth in dem Maße, wie es sich greifbarer seinen Händen nähert.

Darüber waren Stimmungen in ihm entstanden, welche ein schwankendes Aufschieben einer ernsten Bewerbung in ihm zur Folge gehabt, und von diesen Stimmungen war die, welche dieser Abend hervorgerufen, die drückendste. Leni Eibenheim war ja auch so seltsam unzugänglich für Gedanken gewesen, die, wie er fühlte, in jeder weiblichen Brust ein Echo finden sollten.


3.

Als Raban von Mureck am andern Tage, in einer etwas späteren Stunde, denselben Spaziergang wie am gestrigen machte, wurde er auf unerwartete Weise wieder in die Gedanken zurückgeworfen, welche sich ihm gestern an demselben Orte aufgedrängt hatten. Er sah auf dem Reitwege der Ringstraße zur Rechten eine kleine, aus drei Personen bestehende Cavalcade daher kommen, die aus dem Prater zurückzukehren schien: zwei junge Herren und eine Dame. Jene in elegantestem Reitcostüme auf edeln, muthig die Schaumflocken um sich werfenden Rossen; die Dame ebenfalls im modernsten Reitkleide ein auffallend schönes Pferd, einen wie Metall leuchtenden Goldfuchs zügelnd. Sie hatte den von dem leichten Männerhute herabflatternden Schleier zurückgeworfen, und so konnte Raban ihre Züge fixiren. Betroffen blieb er stehen und sah, wie sich das Antlitz der Dame ebenfalls mit dem Ausdruck einer gewissen Betroffenheit für einen Augenblick – ihm zuwandte; in der eleganten Reiterin erkannte er deutlich das junge Mädchen, dem er gestern begegnet war, dessen Erscheinung ihn gestern plötzlich mitten in eine vergessene Scenerie seiner Knabenzeit zurückversetzt hatte! Raban war überzeugt, daß er sich nicht täuschte – es war die gute Bekannte der verdächtig aussehenden Alten, die „Tochter“ des invaliden Stelzfußes mit dem grimmigen weißen Schnurrbart auf der Bank im Stadtpark!

Raban mußte sich zugleich gestehen, daß sie sehr schön sei, viel schöner als er gestern bei dem flüchtigen Streifblick auf ihr Antlitz hatte wahrnehmen können, und daß diese Begegnung in so verschiedener Umgebung zu den räthselhaftesten Vorkommnissen gehöre, auf die er in der Kaiserstadt je gestoßen. Mit dieser Betrachtung schaute er der graziösen, so sicher und leicht sich im Sattel wiegenden Erscheinung völlig gefesselt nach. Welche Räthsel dieser Art mochte die Kaiserstadt nicht aufgeben!

Wie dunkle Schatten zogen trübe Gedanken an großstädtisches Sittenleben Raban durch die Seele. Aber als er sich kopfschüttelnd wandte, um weiter seines Weges zu schreiten, sagte er sich schon, daß in dieser Erscheinung, auf dieser hellen Stirn und in den großen klaren Augen, die auf ihn gerichtet waren, etwas liege, was jeden Verdacht, jede argwöhnische Vermuthung weit abscheuchen müsse und zur Thorheit mache. Nur desto grübelnder aber sann er dem nach, was ihn bei dem Anblick der fremde Dame so unwillkürlich und jetzt eben mehr als gestern noch an seine junge Nachbarin auf Arholt erinnert hatte, die, seinem väterlichen Heim einst so nahe, doch nur einmal in seinem Leben von ihm gesehen worden war. Der Gedanke daran begann eine eigenthümliche Herrschaft auf ihn zu üben. Es liegt ein geheimer, still wirkender Zauber in solch einer Mädchenphysiognomie, die außer dem Reiz der Wirklichkeit und Gegenwart auch noch den hat, daß sie uns in stilles träumerisches Nachkosten einer theuren Vergangenheit versetzt.

Raban sollte jedoch nicht lange ungestört seinen Gedanken nachhängen.

Als er eine Strecke weiter gegangen war, begegneten ihm Graf Kostitz und ein Mann, zu dessen Lebensgewohnheiten es schwerlich gehörte, um diese Zeit, wo sich die schöne Welt hier Rendezvous gab, auf dem Ring spazieren zu gehen. Dies war Doctor Silbermann, der Münzen- und Anticagliencustode[1]. Der Doctor hatte ein sehr geröthetes Gesicht und blickte mit düster gerunzelter Stirn Raban an, als ob er Mühe habe, ihn zu erkennen. Graf Kostitz schaute ebenfalls sehr ernst darein – er hatte jedenfalls das gesuchte geflügelte Wort noch nicht gefunden und mußte sich mit einem schon vorhandenen begnügen, dem alten: „Schöne Seelen finden sich –“, als er Raban begrüßte und mit einer gewissen feierlichen Haltung ihm die Hand schüttelte.

„Nicht immer im richtigen Augenblick,“ versetzte Raban. „Die Herren scheinen in Anspruch genommen . . .“

„Das sind wir allerdings,“ fiel mehrmals mit dem Kopf nickend Doctor Silbermann ein, „von einem sehr unangenehmen Vorkommniß.“

„Der Doctor wird es Ihnen erklären,“ sagte Graf Kostitz, „wenn Sie Rechtsumkehrt machen und mit uns hinauf gehen wollen.“

Raban schloß sich ihnen an.

„Um was handelt es sich?“ fragte er.

„Um seine Münzen, natürlich!“ versetzte Graf Kostitz; „es sind ihm einige davon gestohlen, von diesen theuren Kleinoden!“

„Gestohlen – aus dem kaiserlichen Antikencabinet?“

„So ist es,“ fiel Doctor Silbermann ein. „Ich habe es erst an diesem Morgen entdeckt – und nun laufe ich schon seit zwei Stunden bei den Antiquaren umher, um sie zu verständigen und zu instruiren für den Fall, daß die Münzen ihnen zum Kauf angeboten werden sollten.“

„Sind es viele, werthvolle?“ fragte Raban.

„Ein halbes Dutzend – aber so ziemlich unersetzliche; der historische Werth ist natürlich größer als der Metallwerth, der den Spitzbuben verlockt hat. Es sind alte aragonesische Löwenthaler – äußerst selten – der Goldwerth mag für das Stück einen Dukaten betragen.“

„Also Goldmünzen – und wie ist es einem Diebe möglich geworden . . .“

Silbermann zuckte die Achseln. Er entgegnete:

„Es drängen sich so viele Menschen an den Tagen, wo das Publicum zugelassen wird, bei uns ein – es wird so leicht vergessen, eine der Glasscheiben, die man aus irgend einem Grunde öffnen mußte, gleich wieder zu schließen! Es brauchen sich nur zwei Schwindler zu verabreden; der eine zieht den diensthabenden Wächter in ein angenehmes Geplauder, und unterdeß führt sein Complice im nächsten Raume den Diebstahl aus. Wenn er dabei so discret ist, nur ein halbes Dutzend dieser Münzen, wie in unserem Falle, zu escamotiren, so können dazu doch Tage, Wochen vergehen, bevor die Lücke nur entdeckt wird. Wenn es nur nicht gerade die fast nahezu unersetzlichen Arholt’schen Münzen wären!“

„Wie nennen Sie dieselben?“ rief Raban aufhorchend aus.

„Die Arholt’schen Münzen. Es sind Münzen, die dem Cabinet gewonnen sind durch Ankauf eines Münzfundes, der vor langer Zeit auf einem Gute Arholt, da draußen im Reich irgendwo, gemacht worden. So steht es bei der Eintragung im Katalog bemerkt. Auch daß weitere Exemplare nur in der Sammlung zu Madrid und zu Brüssel vorkommen, sonst nicht. Das macht den Diebstahl eben so fatal und ärgerlich.“

„Ich habe nie von solch einem Funde auf Arholt etwas vernommen,“ sagte Raban. „Sie müssen nämlich wissen, daß dies Gut in meiner Heimath liegt, meinem väterlichen Heim benachbart.“

„In der That? Der Fund muß aber doch dort gemacht sein – unsere Kataloge sind durchaus zuverlässig; die Fundorte sind ja oft so wichtig, wenn die Echtheit der Anticaglien in Zweifel gezogen wird. Aber hier sind wir vor einem weiteren Antiquarladen angekommen, in den ich eintreten werde. Die Herren begreifen, daß die Sache noch völlig geheim und unter uns bleiben muß, um die Nachforschungen zu erleichtern.“

Die Herren versprachen Doctor Silbermann die gewünschte Geheimhaltung, und da Graf Kostitz hier in eine Nebenstraße einzubiegen hatte, trennten sich alle drei.

Raban schritt weiter, über die eigenthümliche Häufung der Erinnerungen an das heimische Gut Arholt nachsinnend. Wie oft hatte er es auf seinen von Murack aus unternommenen Jagdstreifereien von irgend einem Hügelrücken oder einem hohen Waldsaum aus in der Tiefe daliegen sehn! Ein massives, wuchtiges altes Gebäude – hinter einer Pappelreihe halb versteckt, durch deren Wipfel die hohen Essen und die zwei plumpen mit stumpfen [459] Schieferdächern bedeckten Eckthürme lugten. Die grauen Mauern mit den in größter Regellosigkeit angebrachten Fenstern würden sich sicherlich viel weniger romantisch ausgenommen haben, hätte das stellenweise sie verdeckende Baumgrün nicht ein Element des Malerischen dem Bilde eingefügt. Damals, wenn Raban sein Auge darüber hinschweifen ließ und die Rüsternallee verfolgte, die zwischen Wiesengründen bis zu den breiten schlammigen Gräben des alten Castellwesens führte – hatte er nur wenige Augenblicke lang seine Gedanken dort verweilen lassen. Das flüchtige Entflammen seines Herzens für die kleine Herrin von Archolt war ja halb vergessen.

Die Zurückhaltung des Vaters gegenüber den Bewohnern des Gutes schien wohlbegründet durch das, was ihm derselbe über sie mitgetheilt hatte – erst jetzt, wo er als gereifter Mann nachdenksamer Natur geworden, fand er in jener Mittheilung manches nicht Aufgeklärte. Und nun sollte gerade dort, auf Arholt, ein wichtiger Münzfund gemacht worden sein, von dem er nie hatte reden hören. Doch weshalb nicht, da ja jede Verbindung zwischen Mureck und Arholt abgebrochen war? Und alte spanische Münzen, auch seltenste, älteste, weshalb sollten sie nicht in einem Winkel solch einer alten Burg gefunden worden sein? Im Dreißigjährigen Kriege waren spanische Truppencorps, Marodeure, raubgierige „Landstorger“, eine wahre Volksplage, ein allgemeiner Landschaden in seiner Heimath gewesen. Aus den Niederlanden waren sie herüber gewechselt und hatten ihr Wesen getrieben, bis sie das Volk gegen sich in den Harnisch gebracht, bis sie, von den zusammengeschaarten Bauern angegriffen, geschlagen, sich in die nächstbeste Burg geworfen und dort vertheidigt hatten. Da mochte denn oft genug, ehe die Bande capitulirend abzog, einer der Ihrigen oder sie Alle die beste Beute vor der erzwungenen Herausgabe zu sichern gesucht und irgendwo in gutem Verstecke verscharrt und verborgen haben – bis zur Rückkehr in günstigeren Tagen, die nicht stattfand. Man fand ja öfter in den alten Häusern, in Kellern, Mauerfundamenten so etwas. Nur seltsam war es, wie solch ein auf Archolt gemachter Fund in das kaiserliche Cabinet in Wien gerathen war. Die Familie galt ja als reich – sehr reich sogar, meinte Raban wiederholt gehört zu haben. Hatte sie nicht den Ehrgeiz, so merkwürdige Gegenstände, deren Geldwerth in ihren Augen gering sein mußte, bei dem übrigen edlen Väterhausrath aus der Vergangenheit aufzubewahren?

Erst ein zufälliger Blick auf eine Anschlagsäule entzog Raban diesen Gedanken. Da stand mit großen Lettern angekündigt als Oper des heutigen Abends „Der Prophet“. Raban kannte die Oper nicht und sollte sie mit den Eibeheims – die Eibenheims hatten heute ihren Logentag – sehen. Sie lenkte seine Gedanken anderen Dingen zu: dem bizarrsten Charakter der Geschichte als Helden eines Kunstwerks, dem wunderlichen Widerspruche zwischen der Geschichte und der Kunst. Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht war, so bildete die Kunst eine höhere Instanz, die nach dem Codex der poetischen Gerechtigkeit die Urtheile der Geschichte umward und die großen Verbrecher zu ihren Helden machte. Die Wahrheit kam dabei freilich zu kurz, aber – was ist Wahrheit? Ist nicht am Ende Alles wahr, was geglaubt wird? Ob etwas in der Menschen Köpfen oder ob es in der Wirklichkeit lebt oder vorhanden war – ist es nicht dasselbe? Aus dem Zusammenspiel und Ineinanderwirken von vorhandenen Dingen und von bloßen Vorstellungen webt sich das Leben. Raban nahm sich lächelnd vor, Graf Kostitz als geflügeltes Wort den Satz vorzuschlagen: „Wahr ist, was geglaubt wird!“

Als er am Abende die Loge der Eibenheims betrat, fand er Frau von Eibenheim mit ihren Töchtern bereits angekommen, Leni in einer blendenden Toilette, deren raffinirte Zusannnenstellung Raban nicht entging. Er meinte, um Kunstgenüsse auf sich wirken zu lassen, solle man sich überhaupt nicht herausputzen, wie man sich für die Kirche nicht putze, da man mit dem Vorsatze der Selbstentäußerung und der Hingabe des Ichs an ein Höheres komme und in eine Welt der inneren Weihe doch nicht mit langen Schleppen und hochtoupirten Frisuren eintreten dürfe.

„Man kommt aber doch, um zu bewundern und bewundert zu werden,“ antwortete Leni und setzte mit kokettem Schmollen hinzu: „und findet sich oft genug in Beidem getäuscht! –“

„Um so in desto bessere Stimnnmg für die Aufnahme der Tragödie zu gelangen!“ sagte Raban ungerührt von diesem Vorwurfe.

Die musikalische Tragödie, welche sich vor ihnen entwickelte, versetzte ihn selbst in eine sehr ernste Stimmung. Die düsteren Chöre der gläubigen Männer auf der Bühne zogen ihm mit einer erschütternden Gewalt durch die Seele. Bewegt davon sprach er in den Zwischenacten von der historischen, hier völlig, ja ganz unglaublich entstellten Unterlage der dramatischen Handlung. Diese müsse noch ihren Dichter finden, ihren Shakespeare, meinte er. Es sei hier zu der großartigsten Tragödie der Rache der Kern von der wirklichen Geschichte gegeben. Jene Männer, deren Propheten man auf der Bühne sehe, stellten die Träger einer Bewegung, die Bekenner einer religiösen Ueberzeugung vor, welche die folgerechte Weiterentwickelung der Lehre des sechszehnten Jahrhunderts gewesen, – einer religiösen Ueberzeugung, welche heute so ungefähr das Gemeingut aller religiösen Naturen von tieferer Bildung geworden. Damals aber habe man diese Menschen mit Feuer und Schwert, mit schonungsloser Wuth verfolgt, hingemordet, geschlachtet zu Tausenden. So habe man die Empörung, die grenzenlose Erbitterung in ihnen großgezogen, den Schrei nach Rache auf ihre Lippen gelegt, den wahnsinnigen Durst nach Wiedervergeltung an den Gottlosen in ihnen genährt. Und so sei dies bizarre Prophetenkönigthum entstanden, das hier statt eines Shakespeare ein Scribe auf seine Art begriffen und behandelt habe.

Seine lebhafte Auseinandersetzung, was ein großer Dichter aus dieser Tragödie der Rache hätte machen können, fand wenig aufmerksames Gehör bei seinen Damen in der Loge. Von Freunden und Bekannten, welche zur Begrüßung eintraten, unterbrochen, schwieg er. Aber er war noch jugendlich genug in seinem Fühlen, um dadurch erkältet zu sein – er hätte aus den Wogen der ernsten Musik Leni’s Seele auftauchen sehen mögen wie einen zu jedem Fluge in’s Reich des Ideals bereiten Schwan, und nun plauderte sie mit dem eben eingetretenen Marinelieutenant sehr lebhaft über die Gründe, weshalb die Marchesi Wien verlasse und nach Paris gehe. Es war nichts Schwanenhaftes in – diesem Geschnatter! Raban sagte sich nicht just das – aber gedankenverloren blickte er auf die strahlende, lichtübergossene Scenerie. Wie jugendlich in all seinem Fühlen, so war er noch naiv und unerfahren genug, sich verwundern zu können. Er verwunderte sich, wie man ergreifenden Dingen so wenig Interesse entgegenbringen könne; wie man an die furchtbare Grausamkeit der Menschennatur erinnert werden könne, ohne bewegt zu werden, und wie er neulich seine Verwunderung über die Härte der Glücklichen gegen die Unglücklichen ausgesprochen, so empfand er jetzt einmal wieder eine erstarrende Verwunderung über die Thatsache jener Grausamkeit, deren schreckhafte Bilder ihm vor die Seele getreten waren ... er verwunderte sich endlich über das ganze Räthsel dieses widerspruchsvollen Menschenlebens – und nicht zum wenigsten, ganz zuletzt, über seine Neigung für Leni Eibenheim! –


4.

Es war als ob Raban von der Erinnerung an seine Knaben-Abenteuer nicht losgelassen werden sollte, denn, seltsam genug in der großen Stadt, schon zwei Tage später sah er die Unbekannte, die er zuletzt als elegante Reiterin erblickt, in einer andern Stadtgegend wieder. Es war in der Währingerstraße, in welche er hineinschritt, um einem dort wohnenden Bekannten einen Besuch zu machen; nachdem er eine Strecke gegangen, sah er sie raschen elastischen Schrittes ihm entgegenkommen. Sie war in demselben bescheidenen dunklen Anzuge, in welchem er sie zuerst gesehen – die Amazone war völlig abgestreift. Raban blieb stehen – vor dem nächsten Laden; er wandte anscheinend seine ganze Aufmerksamkeit hier der Ausstellunng von Klempnerwaaren zu, um, ohne aufzufallen, bei ihrem Näherkommen den Blick auf ihre Züge richten und diese sich einprägen zu können. Eine eigenthümliche Bewegung bemächtigte sich seiner, als sie an ihm, ohne seiner zu achten, vorüberging – ihr Blick war gesenkt, und es lag ein Ausdruck tiefen ernsten Sinnens auf ihrem Gesichte, ein schwermüthiger Ausdruck, mit dem sie, zerstreut und die Umgebung nicht achtend, durch die Menge schritt. Aber in diesen Zügen lag etwam von so milder Seelenhaftigkeit, in der weichen Anmuth der Linien des ovalen Kopfes mit dem zarten nur wenig gerötheten Teint lag ein solcher Wiederschein innerer Reinheit und Klarheit, daß Raban davon mit jenem Gefühle erfüllt wurde, das nichts [460] gemein hat mit dem Bezaubertsein eines Augenblicks, sondern die Empfindung einer dauernden Wirkung, eines uns bleibenden tiefen Eindrucks ist.

Wie unwillkürlich wandte sich Raban, als sie vorübergegangen war, und folgte ihr nach. Er beschloß sie bis an ihre Wohnung zu verfolgen – wußte er diese, so mußte er leichter dem Geheimniß ihrer Existenz auf die Spur kommen können. So ging er gleichen Schrittes mit ihr dahin. Aber nicht weit. Nach hundert Schritten ungefähr bog sie in einen offenstehenden Thorweg ein. Als Raban denselben ebenso betrat, sah er rechts die Steinstufen einer breiten Treppe, emporführen – er glaubte noch den Schritt der leichten Fußes Emporsteigenden zu vernehmen.

Auch er stieg empor. In den ersten, zweiten, dritten Stock – er hörte noch immer den leichten, aber sich allmählich verlangsamenden Schritt über ihm. Endlich stand er auf dem Absatz der Treppe im vierten Stockwerk und – blickte in das runzelvolle Gesicht einer alten Frau, das, von einer weißen Rüschenhaube umgeben, ihm aus der Spalte einer nur wenig geöffneten Thür wie neugierig entgegensah.

Sie mußte das junge Mädchen eben eingelassen haben und schien nun Raban’s Anrede zu erwarten. Da er, Athem schöpfend und verwirrt, damit zögerte, sagte sie:

„Zu wem wollen Sie?“

„Ich möchte die Dame, welche eben hier heraufstieg, bitten, mir eine Frage zu erlauben. Ich glaube, sie ist aus meiner Heimath und ich kenne sie …“

Das Gesicht der alten Frau verfinsterte sich.

„Dame?“ versetzte sie – „Es ist Niemand hier heraufgekommen – gehen Sie nur!“

„Niemand?“ rief Raban aus. „Aber ich sah sie doch …“

„Niemand!“ unterbrach ihn die Alte und schlug wie verdrossen die Thür vor ihm zu.

Raban blickte bestürzt auf dem kleinen Vorplatz sich um. Es war außer der eben vor ihm verschlossenen nur noch eine Thür da, welche auf den Vorplatz herausging. Aber an dieser hing ein altes Vorhängeschloß, welches Zeugniß dafür ablegte, daß sie nicht geöffnet worden war. Durch das Fenster, welches schlecht genug und nur dämmernd den Platz erhellte, konnte das junge Mädchen auch nicht verschwunden sein. Es war ein neues Räthsel zu denen, welche sie umgaben. Die alte Frau hatte offenbar – in tugendlichem Eifer, als sie den jungen Mann erblickt, einfach gelogen!

Raban mußte den Rückzug antreten, aber er that es nicht, ohne nach dem Namen zu sehen, den er auf einer Karte, die an der Thür der alten Frau angeheftet war, erblickt hatte. Er las die Worte: Heinrich Melber, Graveur.

(Fortsetzung folgt.)

Verlorenes deutsches Land.

Wohin sind die Zeiten, da deutsche Rede, deutsches Lied, deutsche Sage bis tief hinein nach Istrien und in’s Friaul klangen! Wohin – wird es nun aber bald heißen – sind die Zeiten, wo wir in den Tagen des seligen Bundes davon träumten, daß einst die Tricolore des einigen Deutschlands, von den Thürmen und Schloßbergzinnen Laibachs, von den Mauern Gradiskas, von den Palästen Triests, das uns doch immer der deutsche Port an der schimmernden Adria war, wehen würde! Aber auch als 1866 der großdeutsche Traum endgültig ausgeträumt war, hatten wir noch keine Ahnung davon, daß uns eines Tages jene uralten deutschen Länder – Krain, Görz etc. – ernsthaft von einem slavischen Völklein von ein und einviertel Millionen, das vom grünen Posruck und der rauschenden Drau bis zur Meeresküste seit zwölf Jahrhunderten ohne Geschichte, ohne eigene Cultur selbstzufrieden dahin vegetirte, streitig gemacht werden könnten, von einem Aggregat einzelner südslavischer Stämme, das erst seit gestern eine mühsam aus den Dialekten zusammengeflickte Sprache besitzt. Wie konnten wir glauben, daß in derselben Zeit, in der wir uns der Wiederaufrichtung des deutschen Reichs, der Wiedergewinnung von Straßburg und Metz und der neuen Glorie des deutschen Volkes erfreuten, uraltes deutsches Land, und noch dazu ein Theil der österreichischen Erblande, auf solche Weise in Frage gestellt werden könnte? Wir hatten so wenig an die eigentlich lächerlich klingende Möglichkeit gedacht, daß wir die jungen literarischen Bestrebungen des krainischen Südslaventhums mit einem gewissen sympathischen Interesse verfolgten. Und doch, es wird Wahrheit, was fanatische Schwärmer in den nationalen Clubs declamirten, was die Dämonen des Deutschenhasses den abgelegenen Schluchten des Terglou raunten; eine Hiobspost um die andere trifft aus dem alten Herzogthum Krain ein, daß dort das Deutschthum nahe daran ist, wie schon längst in Istrien, wie mit einem Schwamme hinweggewischt zu werden. Es ist eine böse Kunde, es ist die Botschaft von einer Reihe verlorener Schlachten und von dem Verlust tausendjährigen deutschen Besitzes!

Ein hochinteressantes Land, dieses Krain! Schon beim raschen Reisefluge auf dem ehernen Schienenwege gewinnt man einen Einblick in die eigenthümlichen Schönheiten dieses Landes der geheimnißvollen riesigen Kalkhöhlen, die dasselbe zu einem großen Theile gar unheimlich unterkellern; dieses Landes der urplötzlich im Boden verschwindenden Flüsse und Bäche, einer räthselhaften Grottenfauna und der packendsten Gegensätze in der Natur.

Wenn wir die Einfahrt in das Kronland mit einem Zuge der Südbahn bei dem Bahnknotenpunkt Steinbrück wählen, so begleiten uns aus dem lieblichen steierischen Unterlande die prächtigen, waldreichen und pittoresken Steiner Alpen, wie die Sulzbacher Alpen in Krain genannt werden. Mit einer üppigen, fast südlichen Vegetation ausgestattete Berglandschaftsbilder ziehen längs der gleich einem wilden Alpenkinde laut daher tollenden Save vorüber, bis sich vor den Blicken die weite Ebene des sumpf- und wasserreichen Laibacher Moors aufthut, welches durch seine Pfahlbautenfunde mehr als einmal die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich gelenkt hat. Der Mittelpunkt der Fläche, an deren nordöstlichem Rande schroff wie eine Mauer die Vorberge des Triglavstockes gigantisch emporsteigen, ist der mit festungsartigen Gebäuden gekrönte breite Schloßberg von Laibach, an dessen steile, grüne Abhänge sich die Landeshauptstadt lagert. Dieselbe zeigt in ihrer Anlage und Bauart ganz und gar den Charakter und Anblick einer alten deutschen Stadt. Sie steht auf dem Boden einer uralten Cultur; hier blühte in den ersten vier Jahrhunderten das römische Aemona, dessen Wasserleitung noch heute benutzt wird.

Die Stadt, die von der Laibach durchströmt wird, ist – davon erzählt auch die in ihrer ersten Anlage aus dem 13. Jahrhundert stammende Deutsch-Ordenskirche – eine echte Tochter deutscher Cultur. Wohl fühlen wir uns angeregt, den erstbesten Bürgersmann anzureden, aber – slavisch lautet die Antwort, illustrirt von einer höhnischen Grimasse; denn der Angeredete versteht zwar deutsch, aber er will es nicht verstehen: Es ist ein guter Zufall, wenn wir auf einen Deutschen stoßen. Es ist noch nicht lange her, da lag das Stadtregiment noch vorwiegend in deutschen Händen. Heut ist es ihnen freilich durch allerlei Künste und Praktiken entwunden. Das Deutschthum wird mehr und mehr mundtodt gemacht. Allmählich verschwinden die deutschen Schilder, deutsche Straßennamen weichen slavischen. Der übermüthige Slave kennt auch kein „Laibach“ mehr, nur ein „Ljubljana“. Kurzum, das uns aus der Geographie und durch seinen Congreß[2] so geläufige gute, alte deutsche Laibach, Jahrhunderte hindurch ein Centrum deutscher Cultur, die bis in’s Friaul hinein und bis in’s Herz von Istrien gebot und dort höchstens mit den Wälschen concurrirte, trägt nur noch äußerlich eine deutsche Maske, hinter der uns aber das Antlitz des Gernegroß unter den slavischen Stämmen entgegen grinst. Dem Deutschen ist Laibach ein fast verlorner Posten, dem Slovenen ist „Ljubljana“ die künftige Hauptstadt des „Königreichs Slovenien“, das nach seiner Phantasie eines Tages von der Südspitze Istriens bis vor die Thore des steierischen Graz und von der Grenze Kroatiens bis über den Isonzo hinaus und ganz Süd-Kärnten umfassend bis in’s Gailthal reichen soll.

Wir besteigen wieder den Zug. Er fährt uns, nachdem er uns auf dem 7200 Fuß langen und 12 Fuß hohen Damm über das Laibacher Moor getragen, dem die Cultur weite Ackerflächen abgerungen hat, in schroffem Uebergange wieder in die

[461]

Die Fuchsfamilie.
Originalzeichnung von C. F. Deiker.

[462] fremdartige, wilde Schönheit der julischen Alpen hinein. Dann steigt er über die Hochebene von Loitsch in die Steinwüste des öden Karst. Wir gelangen in die geheimnißvolle Welt der Adelsberger Höhlen und des Zirknitzer Sees, wo der Karst zwar noch bewaldete Höhen zeigt, wo aber der wüstenartige Charakter der Landschaft sich dem Blicke aufdrängt, wo zahllose Wasserläufe spurlos im Boden verschwinden, um in unergründeten, lichtlosen, unterirdischen Tiefen unter und zwischen den Märchengebilden des Tropfsteins dahin zu rauschen.

Eine wie verbrannt aussehende, leichte Wellen bildende Bodenfläche dehnt sich aus, überstreut mit Millionen großer und kleiner, vom Sturmwind der Bora ausgefegter Steine, und begrenzt von malerischen weiß, braun und violett leuchtenden, größtentheils waldlosen Kalkbergwänden. Durchfährt man des Nachts diese Gegenden, so machen sie im bleichen Sternenschimmer den Eindruck einer Landschaft des Mondes mit ihrer seltsam geformten, erstorbenen Bergwelt. Das Leben giebt hier nur Gastrollen; es überrascht uns zuweilen der urplötzliche Anblick einer in üppiger Fruchtbarkeit und südlicher Vegetation prangenden, geräumigen Bodenmulde, gleich einer Oase der Wüste. Im Fluge vorüber, als wär’s nur eine Fata Morgana gewesen. Das ist der Karst mit seiner hungernden Bevölkerung, mit seinen stummen Fluren, mit seiner tropischen Hitze im Sommer und seiner sibirischen Kälte im Winter und mit seiner schrecklichen Bora, die über die öden Gefilde brausend allem Lebenden den Krieg bietet.

Wer aber auf einem andern Wege, mit einem Zuge der Rudolfsbahn von Kärnten her in’s Land Krain kommt, dem stellt es sich dar als eine ebenso gewaltige wie in wilder, lebensfroher Schönheit prangende Hochwacht der Alpenwelt. Die bestrickenden Reize waldreicher Berglandschaften, belebt von den leuchtenden Spiegeln der Weißenfelser Seen und den übermüthig daherspringenden, in ungebändigter Lust jauchzenden Zuflüssen der Wurzener Sava nehmen uns gefangen und geben uns nicht frei. Links blicken die zerrissenen, spukhaft gestalteten Gipfel der Karawankenkette herüber, die das Land gegen Kärnten abgrenzt, und rechts grüßen die gigantisch über einander gethürmten Quadern und Strebepfeiler, die jäh emporsteigenden Felsenstirnen der julischen Alpen – herunter in die schmalen Schluchten, in denen sich die Eisenstraße und die Landwege dahin winden. Wir vermögen die Blicke nicht loszureißen, von dem unsagbaren Zauber der wechselnden Landschaftsbilder, und ehe wir es uns versehen, haben wir Radmannsdorf erreicht, die Station, die den Zugang zu dem lieblichen Seebezirk von Veldes vermittelt.

Es ist noch nicht lange her, seit diese Perle der julischen Alpen für die Touristenwelt entdeckt worden ist. Eingelassen wie ein leuchtendes Juwel in die felsenstarrende Alpenwelt, von grünen Gestaden umkränzt, mitten in der dunkelblauen Fluth ein trauliches Eiland, dessen Kirchlein sich im klaren Wasser spiegelt, auf dem Gestade hingestreut zahlreiche Villen und Sommerfrischen, deren Terrassen die Woge netzt, und überall die düster-ehrwürdige Gegenwart der Felsengiganten, welche dunkle Schatten über die zitternde Wasserfläche werfen, während ihre weißen Häupter, in der feurigen Lohe des Abends zauberisch aufleuchtend, den rosigen Brand im See wiederspiegeln – das ist der See von Veldes mit seinen Reizen, die Perle des Landes Krain!

Freilich herrscht, wenn man von den Sommergästen absieht, das slavische Idiom so ausschließlich in der Umgebung des Sees, daß man ohne einige Kenntniß desselben es nicht wagen darf, Ausflüge in das Innere dieser überwältigenden Gebirgswelt zu unternehmen. Und wahrlich lohnt es sich, einzudringen in die geheimnißvollen Bergwildnisse und Felsenkessel an den Abhängen des Triglav (Terglou), des dreigespitzten, kühn in den Aether (3000 Meter) ragenden Königs der Krainer, der Julischen Alpen, auf dessen Felsenzinnen die entthronten altslavischen Gottheiten hausen und durch dessen düstere Waldschluchten die dunklen Fittige der Sage rauschen. Dringt man auch nur bis an die Ufer des Wocheiner Sees vor, so überschleicht einen doch im Verkehr mit den Bewohnern die Ahnung, daß in diesen Alpenwildnissen noch der ungebrochene, trotzige Geist eines von deutscher Cultur nie ganz bezwungenen, nur scheu vor ihr zurückgewichenen urslavischen Volksthums haust, und daß ein Wehen dieses Geistes durch ganz Krain, durch Görz bis vor die Thore von Triest, durch Istrien und durch manche Strecke von Untersteiermark bis in die Landstube von Graz geht. Wir fühlen aber auch, daß wir es bei dem Aufschwung des Slavismus in diesen Ländern weniger mit dem Emporringen einer in sich gefesteten, schaffensfrohen, ideenreichen, jungen Volkskraft, als mit dem starrnackigen, haßvollen Empören der Uncultur wider die deutsche Cultur zu thun haben, mit wilden Leidenschaften, deren sich das halbgebildete slovenische Streberthum bedient, um – das ist der Hauptzweck – sich bequem in all den Aemtern fest zu setzen, in denen bisher wackere und wohl unterrichtete deutsche Männer für des Landes Wohl gewirkt haben.

Und sollt’ es wirklich so schlimm stehen um das Deutschthum? Grüßen nicht überall im Lande Schlösser und Burgen mit deutschen Namen in die Thäler hernieder? Liegt nicht inmitten des Krainerlandes Auersperg, der Stammsitz eines erlauchten Geschlechts, das dem Kaiserstaate Staatsmänner und Feldherren und einen seiner edelsten deutschen Dichter, Anastasius Grün, gab? Wahrlich, überall tragen die Städte und Märkte seit ihrer Gründung vor vielen Jahrhunderten deutsche Namen: Laibach, Krainburg, Weixelburg, Treffen, Neustädtl, Stein, Neumarktl, Altenmarkt, Adelsberg, Wippach, Nassenfuß, St. Marein, Weißenfels, Wartenberg, Landstraß etc. Wie muthet uns dies so vertraut an! Selbst zahlreiche Dörfer und Gemarkungen tragen, soweit man sie nicht in den jüngsten Zeiten slovenisirt hat, noch vielfach deutsche Namen. Besuchen wir aber den einen oder andern dieser Orte mit den deutschen Namen, so kann es uns wohl passiven, daß wir nur mit Mühe eines deutsch sprechenden Bürgers, aber kaum noch eines deutschen Bauern habhaft werden; denn – o die schmerzliche Enttäuschung! – Ortschaften mit kerndeutschen Namen und historisch nachweisbaren deutschen Ursprungs sind durchweg von Stockslovenen bewohnt. Allerdings zeigen diese Stockslovenen vielfach und in manchen Städten und in vielen Dörfern durchaus deutschen Typus in Wuchs, Haarfarbe und Gesichtsausdruck, ja sie tragen sogar, freilich durch slovenische Orthographie entstellte, gute deutsche Namen, sie heißen Pfeifer, Huber, Maier, Schober, Payer, Eggert etc., aber sie können nicht mehr deutsch reden, und könnten sie es noch, so wollen sie es nicht, sie wollen ja gute Slovenen sein, aber sie sind – und das verleiht der Thatsache das Tieftraurige und Beschämende einer schweren nationalen Niederlage! – slavisirte Deutsche! Deutsche, die nicht von einem gleichwertigen Culturvolke, sondern von einem culturlosen Volke aufgesogen sind, das erst seit Kurzem einen gemeinsamen Namen trägt! Und das nicht etwa im fernen Osten, getrennt von Deutschland, sondern in einem alten deutschen Herzogthume, wo sie ein Jahrtausend die Herren waren, in einem Reiche mit deutscher Dynastie, deutscher Staatssprache, deutschem Mittelpunkte und deutsch verhandelndem Parlamente!

Nur eine einzige in sich geschlossene große Sprachinsel, in die aber die slavische Fluth bereits Lücken reißt, existirt noch im Südosten Krains: das Gottscheer Ländchen. Wie lange, wenn kein Retter ersteht, wird es dauern, und auch diese Säule „kann stürzen über Nacht“.[3] Was sagt denn nun die Statistik? Die letzte Zählung (December 1880) ergab in Krain unter 477,000 Bewohnern kaum 30,000 Deutsche und im gesammten Küstenlande [463] (Görz, Istrien, Triest) unter etwa 600,000 Bewohnern nur etwa 12,600 Deutsche. Das sind allerdings wahrhaft niederschmetternde Zahlen. Aber in diesen Ländern, wo so oft der Schein trügt, ist auch die Statistik keine unbestechliche Macht. Es hat nicht verschwiegen und vertuscht werden können, daß slavischer und italienischer Terrorismus in Krain und im Küstenlande auf der einen, und deutsche Mattherzigheit – und leider auch Gesinnungslosigkeit – auf der andern Seite die Resultate der Volkszählung massenhaft gefälscht haben. Wie viele deutsche Krämer und Handwerker, die vereinzelt unter Slovenen leben, wie viele Minoritäten in ehemals geschlossenen deutschen Bezirken, die aber jetzt der Slavisirung verfallen sind, zeichneten sich um des lieben Friedens willen als Slovenen ein!

So erzählte jüngst ein über die Dinge in Krain stets sehr wohl unterrichtetes österreichisches Blatt: In einem gut deutschen Dorfe von Gottschee wurden die Leute gefragt: „Welche Sprache sprecht Ihr?“

„Gottscheerisch.“

„Das ist keine Sprache, sprecht Ihr auch Slovenisch?“

Auf die bejahende Antwort wurden die deutschen Bauern des Ortes als Slovenen notirt. Das officielle statistische Werk „Die Völkerstämme der österreichisch-ungarischen Monarchie“ von Dr. Ad. Ficker berechnete im Jahre 1869 (das heißt in einer Zeit, in welcher die Terrorisirung der Deutschen in Krain bereits in vollster Blüthe stand, und die statistischen Angaben schon sehr stark im slavischen Sinne beeinflußt waren) die Deutschen Krains noch auf 32,600 und die des Küstenlandes auf 24,000. Daß im Verlaufe von elf Jahren gegen 14,000 Deutsche „aufgesogen“ worden sein sollten, das ist doch unglaublich. Landeskundige berechnen auch jetzt die Zahl der Deutschen in den genannten Ländern Südösterreichs auf etwa 70,000 Köpfe. Sie würden also hiernach in Krain sieben bis acht Procent repräsentiren. Unter allen Umständen handelt es sich dort nur um eine geringe deutsche Minderheit, und wir fragen wohl bang: So wäre das Wort von den „alten deutschen Reichs- und Bundesländern“ nur eine historische Sage? Wir antworten getrost mit Nein! Reden denn nicht die deutschen Namen der Städte Und Märkte, so vieler Dörfer und Gegenden, Berge und Flüsse von der uralten Geschichte des Deutschthums im Lande? Zwar behaupten die slovenischen Volksredner und Publicisten: die Slaven seien die „Ureinwohner“ des Landes und die Deutschen nur „Eindringlinge“. Sie vergessen aber, daß in den östlichen Alpenländern seit deren Romanisirung und seit den Stürmen der Völkerwanderung von Ureinwohnern überhaupt keine Rede sein kann, sondern nur von Einwanderern, und daß unter diesen gerade den Germanen der Vortritt gebührt.

Reste der Gothen und Vandalen besiedelten nämlich nach dem Ablaufen der Völkerhochfluth das Land und machten es sich auf den entvölkerten Trümmern der römischen Herrschaft bequem mit Beil und Pflug. Keine Chronik berichtet von ihrer stillen, friedlichen Thätigkeit in diesen dunklen Zeitläuften; aber mehrere, längst slovenisirte „Gothendorf“ legen beredtes Zeugniß ab. Die Gottscheer gelten ebenfalls als Ueberrest jener alten germanischen Völker. Ihre Sagen deuten auf eine Urheimath am Meere hin. Später besetzten die Langobarden das Land und Reste derselben blieben darin, als König Alboin über das uralte Tres Viis (Tarvis) mit seinem Volke in Italien einbrach. Freilich war diese älteste germanische Bevölkerung von Krain sicher nur eine spärliche und vermochte nicht an Widerstand zu denken, als sich um 600 die ungeheure slavische Völkerfluth, gedrängt von den Avaren, in das zum großen Theil unbewohnte Land zwischen den norischen Alpen und der Adria ergoß. Sie drang vor bis an die Meeresküste und sendete ihre Vorposten bis tief in das Innthal und in’s Friaul.

Schon in den nächsten Jahrhunderten aber begann hier im Südosten die deutsche Rückfluth. Diese Länder geriethen ohne besonderen Kampf rasch wieder unter deutsche Herrschaft (im 8. und 9. Jahrhundert). Die Winden wurden aus Ober- und Mittelsteiermark und aus dem nördlichen Kärnten durch die bajuvarischen (baierischen) Einwanderer allmählich, aber vollständig hinausgedrängt, und nur in Untersteiermark, Südkärnten und ganz besonders in Krain und dem Küstenlande blieb die slavische Masse sitzen. Neben ihr aber machte sich im Anschluß an die im Lande zerstreuten gothisch-vandalisch-langobardischcn Reste eine stetige baierische, fränkische und wohl auch schwäbische Einwanderung unter den Karolingern, Ottonen und Saliern geltend. Die Bischöfe von Salzburg, Bamberg und Freising und die unter dem Schirme der deutschen Könige und Herzoge in Karantanien (Kärnten, Krain, Steiermark) sich seßhaft machenden deutschen Herren und Ritter besiedelten das immer noch sehr dünn bevölkerte Krain mit zahlreichen deutschen Ansiedlern. Damals war es in diesen Gegenden im Gegensatze zum Heut gerade die Kirche – freilich eine noch sich deutsch fühlende Kirche –, die durch ihre Stifte und Klöster lebhaft germanisirend vorging und die mit deutscher Cultur das Land eroberte.

Namentlich in das 12. und 13. Jahrhundert fällt der Höhepunkt dieses schönen Culturkampfes, als dessen älteste Denkmäler so viele „Deutschdorf“, „Deutschgereut“, „Hartmannsdorf“, „Grafendorf“, „Grafenacker“ – heute sämmtlich slavisirt – gelten dürfen. Seine schönsten Errungenschaften aber waren die vielen deutschen Städte und Märkte, durchwegs deutsche Gründungen, die vor Jahrhunderten auch thätsächlich geschlossene kerndeutsche Gemeinwesen repräsentirten, in denen die Slaven nur eine untergeordnete Rolle als Dienstboten spielten. Wie schon angedeutet, gab es auch eine starke deutsche Bauernschaft im Lande. Der Adel endlich gehörte ausnahmslos, wie noch heute, dem deutschen Stamme an. Die Geschichte Krains war eine rein deutsche.

Eine Statistik gab es in jenen Zeiten allerdings noch nicht, und es läßt sich daher nicht ziffermäßig feststellen, ob die Deutschen in der Majorität waren oder nur über eine starke Minorität verfügten. Aber bei einem Blick auf die Ueberfülle deutscher Ortsnamen darf man sich wohl nicht scheuen, das erstere anzunehmen. Jedenfalls ist es dem Slaventhume in Krain niemals bis in unsere Tage herab eingefallen, eine nationale Rolle spielen zu wollen, wie eine solche doch in hohem Grade die Czechen und Kroaten gespielt haben. Und wäre der Jesuit nicht gekommen, so hätte vielleicht nie ein Zwist das friedliche Neben- und Durcheinanderleben von Deutschen und Winden und den Proceß einer allmählichen Germanisirung des weichen und bildsamen windischen Volkselementes unterbrochen. Da war es die blutige Gegenreformation unter Herzog Ferdinand (dem nachmaligen Kaiser Ferdinand II.) am Ende des 16. und am Anfange des 17. Jahrhunderts, welche den ersten Hauptschlag gegen das besitzende und gebildete deutsche Bürgerthum Krains führte. Ungezählte Schaaren von evangelischen deutschen Bürgern, die sich nicht „bekehren“ lassen wollten, wurden gezwungen, das Land zu verlassen; ihre Besitzungen wurden den katholischen Winden überliefert. Aehnlich dürfte der Glaubenseifer unter den Bauern aufgeräumt haben. So wurde ein großer, vielleicht der größte Theil der deutschen Intelligenz gewaltsam aus dem Lande getrieben. Die Geschichte dieser traurigen Reaction ist eben noch ungeschrieben.

Von dieser Zeit an datirt die langsam fortschreitende Slavisirung der Deutschen in Krain, ein Proceß, der durch die unter jesuitischem Einflusse vor sich gehende Entwerthung der deutschen Cultur gefördert wurde. Den Deutschen ging nach und nach jede moralische Widerstandskraft und schließlich auch das deutsche Bewußtsein verloren. Man darf daher getrost sagen, daß sich die windische, oder modern ausgedrückt, die „slovenische“ Nation mit deutschem Blute – im wirklichen wie im übertragenen geistigen Sinne – aufgepäppelt hat und daß ein großer Theil derselben durchaus deutschen Ursprungs ist. Auch in der Sprache läßt sich dies nachweisen, denn neben vielen italienischen Worten ist eine Fülle von Bezeichnungen der alltäglichsten Gegenstände und Begriffe im Slovenischen unverkennbar deutscher Herkunft; oft sind besagte Worte nahezu unverändert aufgenommen worden. Trotz alledem war noch vor einem Jahrhundert das deutsche Element im Lande viel stärker, als heute, und in den meisten Städten das Deutsche die Umgangssprache. Das Windische galt, gerade so wie einst das Czechische und Magyarische, als Sprache der Bauern und Dienstboten. In jüngster Zeit wird aber die Ausmerzung des Deutschen mit einem beispiellosen Fanatismus betrieben, und leider gewähren die gegenwärtigen politischen Verhältnisse diesen Bestrebungen allen möglichen Rückhalt.

Die deutsche Sprache, einst die herrschende, wird kaum noch geduldet. Was die deutsche Cultur in Krain während vieler Jahrhunderte ohne Gewaltthat und ohne die ausgesprochene Absicht, die Slaven ihrer Nationalität zu berauben (die Vorkämpfer der Reformation in Krain: Truber, Hans von Ungnad, Vergerius

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Fleißige Hände.
Originalzeichnung von W. Hasemann.



und Andere sorgten sogar für slavische Bibeln und Andachtsbücher, das heißt für die ersten Druckwerke in windischer Sprache!), in fleißiger, ehrlicher Arbeit geschaffen, das versuchen die slovenischen „Retter und Befreier“ des Landes unter Führung deutscher Adeligen (unter Anderem des Grafen Hohenwart) und deutscher Beamten binnen wenigen Jahren entweder mit Gewalt auszulöschen, umzustürzen oder mit einem slavischen Stempel umzufälschen. Man slovenisirt die deutschen Schulen; man hat es bereits durch Auslieferung des Lehrerseminars in Laibach deutschen Lehrern unmöglich gemacht, sich im Lande auszubilden. Bald wird keine höhere Schule mit deutscher Unterrichtssprache im Lande mehr existiren. Und dies Alles unternimmt eine Zwergnation, die nicht einmal hinreichend Lehrbücher in ihrer Sprache besitzt, die über keine Geschichte, keine eigene Cultur verfügt und deren heimische nationale Literatur gerade ein schmächtiges Büchlein füllt, wider die Angehörigen eines Culturvolkes von mehr als 50 Millionen, wider die Väter des Landes! Um die Deutschen in Böhmen und Mähren, in Ober- und Mittelsteiermark und Kärnten ist uns nicht bange; sie werden sich erwehren; aber im Lande Krain droht der deutschen Minderheit die Auslöschung gerade so, wie sie schon in Istrien vor langen Zeiten – unbeachtet von Deutschland – erfolgt ist. Wir haben dort, ehe wir es auch nur ahnten, eine Reihe von Schlachten verloren, und bald, wenn nicht ein totaler Umschwung erfolgt, hat das Deutschthum jedes moralische Anrecht auf das alte deutsche Reichsland Krain eingebüßt, und die tausendjährige deutsche Geschichte des Landes wird zur Sage geworden sein!

F. G. Adolf Weiß.     


  1. Anticaglien, kleine Alterthümer, z. B. Münzen, Waffen, Schmuck aus der Vorzeit.
  2. Der Laibacher Congreß wurde im Januar 1821 eröffnet und dauerte bis zum Mai. An demselben nahmen die Kaiser von Oesterreich und von Rußland, der König beider Sicilien und der Herzog von Modena theil.
  3. Der Retter ist in der That für die Deutschen in Krain erschienen, der österreichische Schulverein, dessen verdienstvolles Wirken hier besonders anerkannt werden muß. Auf der in den Pfingstfeiertagen zu Graz stattgefundenen Hauptversammlung desselben erstattete Dr. Otto Steinwerder aus Kärnten u. A. auch Bericht über den Stand des Deutschthums in Krain. Aus demselben geht hervor, daß in Laibach eifrig für das Deutschthum gewirkt wird. Außer der evangelischen Schule, welche der Schulverein unterstützt, ist dort ohne Zuthun des Letzteren eine deutsche Schule im Entstehen und wird von ihm ein Kindergarten errichtet. Lebhaft betheiligt sich der Schulverein an der Erhaltung der deutschen Sprachinsel Gottschee durch Bücher, Schulrequisiten, Lehrmittel, Gehaltszulagen für Nothlehrer etc. Auch werden die Bau-Unterstützungen fortgesetzt. In diesem Gebiete erhält der Schulverein eine Volksschule in Maierle und eine Schule für Drechslerei und Schnitzerei in Gottschee, um für den mehr und mehr zurückgehenden Hausirhandel dem Ländchen einen Ersatz durch Hausindustrie zu schaffen. Ein Gottscheer, Herr Stampfl in Prag, welcher schon vor zwei Jahren ein Capital von 100,000 Gulden für Söhne seiner Heimath zu Stipendien gewidmet und dadurch den Nachwuchs von deutschen Priestern und Lehrern gesichert hat, hat den Schulverein, durch eine neue Spende von 20,000 Gulden in den Stand gesetzt, besagte Holzindustrieschule in einem eigenen Hause unterzubringem „In der That, wenn wir sagen könnten,“ bemerkte hierzu der Berichterstatter, „wir haben viele solcher Männer wie Stampfl in Oesterreich, so könnten wir zufrieden sein.“ Vielleicht veranlaßt dies hier Gesagte doch die deutschgesinnten Millionäre in Oesterreich, ihren Beutel etwas weiter für den so segensreich wirkenden deutschen Schulverein aufzuthun, der für das laufende Jahr einer Summe von mindestens 300,000 Gulden bedarf.

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Die Geharnischten von Torgau.

Festliche Aufzüge, in welchen uns Kriegsbilder vergangener Zeiten vorgezaubert werden, bilden heutzutage kein seltenes Ereigniß. Wo Erinnerungen an große geschichtliche Ereignisse gefeiert werden, da fehlt selten der mittelalterliche Harnisch und der wallende Helmbusch gepanzerter Ritter. Es dürfte aber kaum eine andere Stadt im Reiche geben, in welcher ein derartiges Schauspiel so oft und so regelmäßig sich wiederholt, wie dies in Torgau der Fall ist, das seine „Geharnischten“ alle zwei Jahre hoch zu Roß und zu Fuß vor die Thore der Festung hinausziehen sieht. Wo ein solcher Brauch so treu bewahrt wird, dort muß sicher der Geist der Bürgerschaft auf eine ereignißreiche geschichtliche Vergangenheit zurückblicken können, auf alten Glanz, den man nicht so leicht vergessen mag. Und in der That hat die ehemalige kurfürstliche Residenz an der Elbe ihre bedeutende Geschichte. – Als mit dem 10. Jahrhundert das Frühroth einer neuen Zeit über den Hütten der slavischen Wenden an den Ufern der Elbe erschienen war, da wurde Thurgove als die erste deutsche Niederlassung, als Stützpunkt für das germanische Vordringen und Warte gegen die unterjochten Stämme gegründet. Die Wehrhaftigkeit der Burgmannen und der innerhalb der Stadtmauern angesessenen Einwohner schützte Burg und Stadt, und die Beschäftigung mit den Waffen blieb als ein ernstes Erforderniß der Nothwendigkeit in steter Uebung.

Die Zeiten wurden allgemach friedlicher. Nach der Theilung Sachsens in die ernestinische und albertinische Linie zog in Torgau die Pracht und der Glanz des Herrscherhauses ein. Unter seinem Schutze blühte hier Handel und Wandel: weit über den Bannkreis des Stadtrechtes hinaus war Torgaus Herrschaft auf commerciellem Gebiete befestigt und gesichert. In Leipzig und Halle rechnete man nach Torgauer Maß und Gewicht, und der „Torgauer Scheffel“ galt in Mitteldeutschland als Grundmaß.

Mitten in diesem regen Treiben entstand auch am Anfange des 16. Jahrhunderts das vielthürmige Wahrzeichen der Stadt, das Schloß Hartenfels, dicht an der Elbe auf einem Porphyrfelsen erbaut. Noch heute gilt es als das gewaltigste Denkmal der Renaissance in Deutschland, welches an Größe sich wohl mit dem königlichen Schloß in Berlin messen darf und nur von dem Marienburger Schlosse übertroffen wird. Die Bewunderung und den Neid vieler Herrscher hatte es einst wachgerufen, die in seinen weiten Hallen gastliche Aufnahme fanden. Hatte doch Karl V., vor Torgau im Jahre 1547 vorbeiziehend, das Schloß eine „recht kaiserliche Burg“ genannt, und Albrecht von Brandenburg nach der Mühlberger Schlacht zu Herzog Moritz geäußert: „Herr Ohm, es möchte wohl einer einen Krieg führen, wenn er ein solches Schloß [466] gewinnen könnte.“ Und die schöne Schneckentreppe im Schloßhofe hatte Friedrich dem Großen so sehr gefallen, daß er bei ihrem Anblick ausgerufen haben soll: „Könnte ich sie in die Tasche stecken, so würde ich sie mitnehmen.“

Um die Zeit, aus welcher unsere heutige Zeichnung des Schlosses und der Stadt stammt, feierte hier Peter der Große die Vermählung seines Sohnes Alexius mit der braunschweigischen Prinzessin Charlotte Christiane Sophie und hielt eine lange Unterredung mit Leibnitz über die Mittel und Wege, wie Kunst und Wissenschaft in Rußland eingeführt werden könnten.

Bei solchen Anlässen füllte sich wohl die Stadt mit Fremden und auch die Bürger wurden im Harnisch entboten, um die hohen Gäste einzuholen.

Aber namentlich in der Reformationszeit waren die Augen aller Deutschen auf Torgau gerichtet. War ja doch „Wittenberg die Mutter und Torgau die Amme der Reformation“. Hier auf dem Schlosse Hartenfels erhob sich auch die erste protestantische Kirche, in der Luther predigte. Hier war es, wo im Jahre 1526 zwischen den Hessen und Sachsen der „Torgauer Bund“ gegen die katholischen Reichsstände geschlossen wurde, wo 1530 Luther und seine Freunde die „Torgauer Artikel“ verfaßten und wo reichlich vier Jahrzehnte später das „Torgauische Buch“ veröffentlicht wurde, aus welchem dann nach einer Umarbeitung das sogenannte Bergische Buch oder die Concordienformel entstand. Und als der Kurfürst mit seinen Theologen zum Reichstag nach Augsburg zog, da bildeten die gewappneten Torgauer den Schluß seines Gefolges. Die späteren unruhigen Zeitläufte zwangen die Bürger oft genug, die Waffen zu tragen, und noch im 17. und 18. Jahrhundert mußten Stadt und Burg gegen allerlei Angriffe gerüstet sein. Darum enthält auch das im Jahre 1719 neu revidirte Statut der Stadt die Bestimmung:

„Ein jeder Bürger soll mit Harnisch und andern Wehren jederzeit zu Tag und Nacht gerüst und bereit seyn, daß auf jedern Nothfall kein Mangel zu spüren.“

Als später die Gefahren für die Stadt aufhörten, da mochten sich die Einwohner von den alten Rüstungen nicht trennen, und was früher Nothwendigkeit gewesen war, das wurde jetzt als Andenken an vergangene Zeiten beibehalten. So erben noch heute Harnisch und Waffen vom Vater auf den Sohn fort, und alle zwei Jahre zieht die „Torgauer Bürger-Pikenier-Compagnie“ – so lautet der officielle Name der Geharnischten – auf den Anger hinaus, wo seit undenklichen Zeiten das Schützenfest abgehalten wird.

Schon Wochen vorher beginnen die Uebungen. Der Schemel des Handwerkers und der Comptoirsessel des Geschäftsmannes werden mit dem Sattel vertauscht; Schmied und Schlosser müssen den schweren Panzer, den etwa veränderten Formen seines Trägers entsprechend, neu zurechtbiegen. Wenn aber die Woche nach dem Pfingstfeste erschienen ist und mit ihr der Tag des Auszugs, dann erhebt sich auf dem Anger, der Stätte des Festes, eine schnell gebaute Stadt von Zelten und kleinen, burgartig zugerichteten Häusern – neben den Schank-, Tanz- und Geschäftszelten auch viele Privatzelte der ausziehenden Bürger. Dem patriarchalischen Charakter des Festes entspricht es, wenn am Tage des Auszuges vom grauenden Morgen an bis zum Beginne des Ausrückens die Mitglieder der Compagnien bei ihren Officieren sowie bei dem Bürgermeister der Stadt Posten stehen; ja selbst der militärische Posten vor dem königlichen Commandanturgebäude wird während dieser Stunden von einem uniformirten Bürger abgelöst.

Vormittags zehn Uhr beginnt der Ausmarsch. Nicht Alle sind geharnischt; die Geharnischten aber ziehen voran, und zwar theils zu Pferde, theils zu Fuß. Der Harnisch mit Arm- und Beinschienen deckt den Körper, eiserne Handschuhe und der Helm mit Visir vervollständigen die Rüstung; Piken, Schwerter und Schilde bilden die Bewaffnung. Streitkolbenträger decken die Standarte der Berittenen, Morgensternträger begleiten die Fahne der Fußgänger. Diesen Ausmarsch stellt eine unserer Zeichnungen dar. Stimmungsvoll paßt das Bild mit den stattlichen Geharnischten in den Rahmen der den Marktplatz umsäumenden hochgiebeligen alten Häuser, hell glänzen die Rüstungen in den funkelnden Strahlen der Frühjahrssonne, und lustig spielt der Wind mit den zerfetzten Fahnen und den wehenden Helmzierden. Nach Ankunft auf dem Anger wird von den versammelten Civil- und Militärbehörden die große Parade abgehalten, commandirt von dem Hauptmann der Geharnischten, und nun beginnt das dreitägige Volksfest mit aller üblichen Unterhaltung und Kurzweil. Am Sonntage darauf erfolgt der feierliche Einmarsch, der das Fest beendet, worauf die bewaffnete Schaar zu ihrer bürgerlichen Beschäftigung zurückkehrt.


Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)
11.
Christel von Laßberg’s Tagebuch.

Januar 1776. Es hat eine schwere Zeit auf unserm Hause gelastet. Vater war düsterer und bitterer als jemals vorher; nach dem unglücklichen Ballabend ist er tagelang nicht aus seinem Zimmer gegangen. Tante Barbara mußte ihm das Essen in die Vorstube setzen, und zum Dienst meldete er sich krank. Als dann gegen Weihnachten mein Bruder sich mit dem Vetter Wrangel ansagte, und beide junge Männer aus ihrer kursächsischen Garnison herüber kamen, konnte er nicht wohl umhin, wieder am Familientische zu erscheinen, er that’s und ich glaube, er ist seitdem weniger finster.

Gustchen war viel bei uns und vergnügte sich mit den beiden Officieren, die sie auch hinaus zu locken wußte: damit sie ein paar willfährige Tänzer mehr habe, wie sie mit kecker Zuversicht eingestand.

Ich bin so recht versunken, ohne Saft und Kraft, und viel gescholten. Alle zerren und necken an mir, ich aber kann’s nicht ändern, ich muß still im Schatten weiter träumen. Sie halten mich aber doch für abwesender, als ich bin. Dicht daneben saß ich, als Erich Wrangel zu meinem Bruder sagte:

„Es gefällt mir gerade an ihr, daß sie so rührend einfältig ist, wie ein junges, weißes Täubchen, dem man den Hals umdreht, ohne daß es Arges merkt.“

Mein Bruder lachte und vertheidigte mich; es war mir aber zu gleichgültig, um darauf zu achten. Ja, für ihre Sprache bin ich einfältig, und von der meinen wissen sie nichts; die versteht nur Er, mein hoher, erhabener Dichter. Daß er fort ist aus meiner Nähe, daß ich ihn nicht sehe, nicht höre, das ist’s was mich lahm, träumend und einfältig macht! Er zog in die Belvedere-Allee, und so ist meine Sonne untergegangen.

Im Februar. Gustchen muß doch die Heirath nicht wollen; neulich zuckte sie die Achseln, als von ihm die Rede war, und sagte: „Er wird langweilig!“ – Er! Das ist zum Lachen. Er langweilig; lieber Himmel, ich glaube, Auguste verliert den Verstand! Sie machte sich auch viel mit dem Vetter zu schaffen, und als sie hörte, daß er ein großes Majorat zu erwarten habe, sagte sie:

„Schatz, sei brav und tritt ihn mir ab, ich sehe, sie wollen ihn mit Dir zusammen thun, aber Gräfin, reiche Gräfin sein, paßt besser für mich als für Dich; Du träumst ja doch Dein Leben hin!“

Ich entgegnete ihr, daß sie meinetwegen alle Grafen der Welt heirathen könne, daß ich aber weder für mich noch für sie über den Vetter Erich verfüge.

„Bist Du doch vielleicht in den hübschen, blonden Jungen verliebt?“ fragte sie lauernd; aber ihr prüfender Blick fand mich kalt wie Eis. Nun sind die Beiden längst fort, und Auguste kommt seltener.

Am 14. Februar. Heute ist hier im Hause etwas Wunderbares geschehen. Das Hoffräulein der Frau Herzogin-Mutter ist hier gewesen und hat es erreicht, mit Vater zu sprechen. Er hörte höflich zu, und ich weiß doch, daß er innerlich gegen die Göchhausen gewüthet hat. Die kleine Dame fing es sehr geschickt an, ihn zu versöhnen. Nachdem sie viel Artiges von der Herzogin ausgerichtet, sprach sie so gütig über mich, daß ich ganz beschämt wurde. Endlich kam sie auf den unglücklichen Ballabend, an welchem ich vorgestellt wurde, und mit voller Unbefangenheit sagte sie:

„Wenn der Herr Oberst seine Husaren dem Landesherrn in der Manege vorführt, so denke ich, sie müssen etwas reiten können?“

„Den Stock auf die Kerls, wenn sie’s nicht können,“ brummte mein Vater.

„Ebenso erwartet die Frau Herzogin, daß ein junges Fräulein, welches ihr auf einem Balle vorgeführt wird, etwas tanzen kann.“

„Ah, war es das?“ fragte er aufathmend.

Sie wurden nun sehr bald einig, daß ich bei dem Hoftanzmeister Unterricht haben müsse. Fräulein von Göchhausen empfahl sich; sie reichte meinem Vater die Hand zum Kuß hinauf, und er neigte wirklich seinen grauen Schnurrbart darüber. Hätte das nie gedacht! Tante Barbara lächelte mich selig an; es war, als hätte uns das kleine Fräulein die liebe Sonne im Pompadour in’s Haus getragen. Und ich? O, wie bin ich glücklich, daß ich nun doch zu ihm, in den Kreis, in dem er Leitstern und Herrscher ist, eintreten darf!

[467] Am 16. Februar. Der Hoftanzmeister Adam Aulhorn ist hier gewesen. Welch ein redseliges, behendes Männlein! Er wäre mir zuwider, wenn er mir nicht zu so Großem verhelfen sollte. Wie verlegen und linkisch fühlte ich mich, als er mich ein paar Versuche machen ließ! Er aber sagte, ich sei biegsam wie ein Schilfrohr, das im Winde schaukelt, und zierlich, wie eine Libelle, die über den Wellen dahin schwebt. Vater schien zu lächeln, und die gute Barbara schlug außer sich vor Freude in die Hände.

Am 17. Februar. Nun ist’s aus; nun ist alles aus! Wie ein Aschenregen sinkt düstere Trauer über das Leben; kein Mund darf mehr lächeln, kein Herz mehr freudig klopfen; wenn die Sonne scheint, ist’s ein Irrthum. Der Edelste, Herrlichste, den Gott in diese Zeit gestellt hat, er ist dem Verderben verfallen! Ja so ist es, es kann nicht anders sein! Dies kann Gustchen nicht gelogen haben, sie hat es mir, von seiner Hand geschrieben, gezeigt. Er hat alles in ahnender Seele voraus gewußt, im Werther geschildert; jetzt wird sein prophetisch Vorempfinden zur schrecklichen Wahrheit an ihm selbst! O, könnte ich mich in seinen Weg werfen, könnte ich ihn anflehen umzukehren, oder könnte ich ein Sühnopfer für ihn sein!

Auguste hat mir ein Abenteuer mit ihm auf der Maskerade erzählt. Goethe machte ihr eine glühende Liebeserklärung, aber er hielt sie für eine Andere, für – die Frau des Oberstallmeisters, die er anbetet. O, mir ahnte das längst! Ich schrie auf, als Auguste dies Schreckliche aussprach. Es ward dunkel vor meinen Augen, ich sank im Stuhl zurück. Auguste beachtete das nicht, sie plauderte weiter; lange Zeit hörte ich nichts von dem, was sie sagte, endlich konnte ich wieder begreifen. Sie berichtete, wie sie den Abtrünnigen schlecht behandle, wie sie Nichts von ihm wissen wolle; daß jetzt der gewandte Kammerherr Siegmund von Seckendorf ihr huldige, ihr nicht ganz gleichgültig sei, daß sie aber sehen wolle, welche Position er am Hof finde, ehe sie ihm Hoffnung auf ihre Hand gebe.

Endlich stammelte ich: ob sie mir das Papier zeigen könne, auf dem seine Liebeserklärung für die Andere stehe. Sie zog es sogleich hervor.

„Das führe ich als Waffe gegen ihn bei mir!“ sagte sie schadenfroh. „Damit will ich ihm noch oft die Hölle heiß machen.“

„Gieb!“ bat ich.

Sie reichte es mir; ich raffte mich mit ganzer Kraft zusammen; ich las und versuchte zu begreifen. Ja, er beschrieb seine Gluth, seine Zärtlichkeit. Gustchen lachte höhnisch; sie wagte es, über ihn zu lachen! Das sollte sie nicht! Verzweiflung erfaßte mich, ich mußte ihn vor dem Hohn dieses Mädchens schützen – und zerriß, ehe sie es hindern konnte, das Papier in kleine Fetzen. Gustchen schrie gellend auf und überhäufte mich mit Vorwürfen.


12.

Acht Jahre lagen zwischen der Zeit, da Goethe, ein unreifer Jüngling, krank und muthlos seine Studien in Leipzig beschloß und zu seiner Wiederherstellung in das elterliche Haus nach Frankfurt heimgekehrt war. Unter den zahlreichen Erinnerungen an Leipziger Bekanntschaften blieb auch ein anmuthiges Mädchenbild in seinem Gedächtniß bewahrt. Damals war die von ihm in anonymen Gedichten Gefeierte kaum dem Kindesalter entwachsen, aber als Künstlerin bereits angestaunt und angebetet. Jetzt war sie aus der holden Knospe zur voll entwickelten Blüthe, aus der viel versprechenden Anfängerin zur Meisterin in der Kunst des Gesanges emporgewachsen.

In den oberen Räumen des stillen, von weitem Park umgebenen Häuschens, welches der Leipziger Kunstgärtner Probst verwaltete, hatte sie damals ihr zurückgezogenes Heim aufgeschlagen. Schon nahte der Frühling, aber düster schauten noch die kahlen Bäume des Gartens in die Fenster hinein.

Die Sängerin saß am Clavier, sie hielt die Stirn mit der Hand bedeckt und war in Träumerei versunken. Endlich fanden sich ihre Finger auf den Tasten, leise irrten sie darüber hin, bildeten eine sanfte, traurige Melodie und gingen dann in ein Gebet aus Hasse’s Oratorium „Elena al Calvario“ über. Jetzt begann sie auch zu singen, und mit immer größerer Macht und Innigkeit klang ein Flehen um Erlösung aus den Banden schweren Leids von den jungen schönen Lippen.

Während dieses ergreifenden Liedes öffnete sich leise die Stubenthür und ein rundes Mädchengesicht, von blondem Haar umrahmt, schaute mit freundlichem Ausdruck herein. Als die Sängerin geendet hatte, eilte die Lauscherin auf ihre Freundin zu. Es war Wilhelmine Probst, die Tochter des Kunstgärtners.

„Reichardt war ja nur kurze Zeit bei Dir,“ sagte sie neugierig, „er rannte unten im Flur wie toll an mir vorbei, habt Ihr Euch gezankt?“

„Es ist die alte Geschichte, Mienchen, er bat um Liebe, der arme Junge.“

„O Himmel, also doch! Wie bin ich froh, kein Mann zu sein und Dich also innig lieben zu dürfen, so viel ich mag!“ rief das dicke kleine Mädchen, die hohe Gestalt der Freundin umfassend.

„Ja freilich,“ lächelte Corona und küßte sie auf die Stirn, „wärst Du ein Jüngling, müßte ich Dich von mir entfernen.“

„Wie alle,“ seufzte die Kleine. „Arme Corona, gebunden und doch frei; schmerzlich gefesselt an einen Entsetzlichen und doch mit sehnendem Herzen allein gelassen!“

„Sei still, Mienchen, Du weißt, es schmerzt mich, daran erinnert zu werden; wir dürfen nicht davon sprechen,“ bat die Sängerin mit einem tiefen Seufzer.

In diesem Augenblicke hörten die Mädchen Schritte auf der Treppe, denen ein starkes Anpochen an die Thür folgte. Gleich darauf öffnete sich dieselbe und ein großer, schöner Mann erschien auf der Schwelle. Sein dunkles Auge durchflog den Raum, aber der Blick haftete, während er sprach, über den Köpfen der erstaunten Mädchen im Leeren.

„Bist Du die Sängerin Corona Schröter?“ fragte er.

„Ich bin’s!“ entgegnete diese dem Unbekannten, der sie duzte, erstaunt einen Schritt entgegen tretend. „Was wollen Sie?“

Der Mann zog langsam eine schwarze Sammetschleife aus seinem Busen und sagte:

„Du weißt, von wem ich komme, entferne Deine Gefährtin, damit ich Dir die Worte unseres Meisters überbringe.“

Corona war erbleichend zurückgetreten.

„Wilhelmine – geh!“ stammelte sie bittend.

„Wieder von ihm? Muth, Corona!“ flüsterte die kleine Freundin und verließ das Zimmer.

„Was befiehlt er mir?“ fragte jetzt die Sängerin bebend und legte die Hände auf ihre Brust.

„Er läßt Dir sagen, daß eine Forderung an Dich ergehen wird, Leipzig zu verlassen, daß er Dir befiehlt, jener Forderung zu folgen.“

„Ich soll Leipzig verlassen! Wohin soll ich gehen?“

„Das wirst Du zur rechten Zeit erfahren; mir liegt nur ob, Dir seinen Befehl auszurichten, Dir, demselben zu gehorchen.“

„Ist er hier? – Da er Sie schickt, wird er also nicht selbst zu mir kommen?“

„Wir haben nichts zu fragen, nichts zu antworten; Gehorsam ist unsere einzige Pflicht!“

Nach diesen Worten entfernte sich der Unbekannte und ließ Corona in einem Taumel von Bestürzung und Neugier zurück. Stärker denn je fühlte sie sich unter dem Druck eines fremden, sie gänzlich unterjochenden Willens.

Der Unbekannte hatte mit starken Schritten das Haus verlassen; er verfolgte eine den Garten kreuzende Allee und erreichte einen an der Gartenmauer sich hinziehenden Gang. Als er sich in demselben umsah, kam ein großer hagerer Mann auf ihn zu. Schwer konnte man sagen, ob der Fremde alt oder jung sei. Er trug schwarzen Sammet, die feinsten Brüsseler Spitzen und bot in seiner vornehmen, ernsten Erscheinung das Bild eines Hofmannes.

„Hast Du Corona gesehen?“ fragte er den herankommenden Jüngeren.

„Ja, Herr Graf.“

„Und willfährig gefunden?“

„Durchaus. Ich staune Deine Macht an, mein hoher Meister. Wie hast Du nur dies stolze Weib gezähmt?“

Nach kurzer Pause entgegnete der Graf: „Herrschaft über Andere erringt nur Der, welcher sich zuerst selbst beherrscht. Aus der Ueberwindung meines sinnlichen Ichs ward ich ihr Herr. Aber ich werde Dir noch bessere Beweise meiner Kraft geben. Deinem völligen Gehorsam sollen sich nach und nach beseligende Geheimnisse erschließen.“

[468] Sie verließen in lebhaftem Gespräche mit einander den Garten. – –

Etwa zu derselben Morgenzeit, in der gestern der junge Componist Reichardt zu der Angebeteten gesprungen war, schritt heute Goethe’s elastische Gestalt durch die Kieswege des Ziergartens auf das Gärtnerhaus zu. Vielleicht war eine ähnliche Ungeduld in ihm, wie gestern in dem liebesehnenden Musiker.

Corona trat ihm in ihrer edlen Schönheit imponirend entgegen – und empfing denselben Eindruck von seiner Persönlichkeit. Als er seinen Namen nannte – flog ein warmes Roth über ihre bewegten Züge, und sie streckte ihm erfreut wie einem alten Bekannten beide Hände entgegen.

„So bin ich also nicht ganz vergessen?“ fragte er mit leuchtendem Blicke.

„Sie haben dafür gesorgt, daß man Sie nicht vergessen konnte, Sie herzerschütternder Poet! Wie haben Sie meine ganze Seele mit Ihrem Werther erfaßt! Und wie deutlich ist mir dabei das Bild des schlanken Studenten wieder lebendig geworden!“

Sie fragte, was ihn her führe, und er richtete ihr den Auftrag des Herzogs und Anna Amaliens aus, die, sich nach einer echten Künstlerin sehnend, beschlossen hätten, sie unter vortheilhaften Bedingungen für Concerte und Komödien nach Weimar zu berufen.

Corona wechselte, während er sprach, in großer innerer Bewegung die Farbe. So hatte also doch ihr geheimnißvoller Gebieter vierundzwanzig Stunden früher gewußt, was ihr bereitet wurde! Sie erfuhr, daß Goethe gestern Abend angekommen sei; sie bat ihn, sich zu besinnen, wann und wo er von seinem Vorhaben gesprochen habe. Er versicherte, dasselbe sei zwischen den Herrschaften und ihm ein Geheimniß geblieben, und fügte lachend hinzu, um ihren sichtlichen Ernst, der ihn seltsam berührte, zu zerstreuen:

„Soll man Dich nicht auf’s Schmählichste berauben,
Verbirg Dein Gold, Dein Weggehn, Deinen Glauben!“

Er gedachte nicht eines Briefes an Lavater, dem er vor mehreren Wochen – entzückt von des Herzogs Absicht – geschrieben hatte, daß man die holde Künstlerin, welche er einst schwärmerisch verehrt, auf seinen Rath nach Weimar berufen wolle.

Ihr Benehmen bei seinem Vorschlage erschien ihm rätselhaft; sie beruhigte aber sein mißmuthiges Erstaunen mit einer unbedingten Zusage. Er ging oft zu ihr, und sie kamen bald überein, daß Corona im Herbste nach Weimar übersiedeln solle.

Als nach langem Geplauder an einem der nächsten Tage Goethe endlich Abschied nehmen mußte, sagte er:

„Ich harre des Herbstes mit Sehnsucht, der mir in Ihnen die Freuden des Frühlings und Sommers bescheeren soll; aber jetzt, da ich scheide, geben Sie mir ein kleines Andenken, ein Pfand, holde Freundin – welches mir Ihr Kommen verbürgt. Schenken Sie mir die Sammetschleife, die Sie stets während dieser beglückenden Zeit unseres Wiedersehens getragen haben. Dieser Schmuck gefällt mir ohnehin nicht an Ihnen; er scheint mir ein Fleck auf Ihrem reinen Bilde.“

Er streckte die Hand nach der erbetenen Gabe aus, die ihm unbedeutend und nur in seinem Sinne werthvoll erschien.

Die Künstlerin aber erblaßte, trat zurück und legte die Rechte schützend über ihre schwarze Schleife. Mit bebender Stimme entgegnete sie:

„Fordern Sie nicht dies Band, ich kann es Ihnen nicht geben! Eine fremde Hand darf es nie – niemals berühren!“


13.

Eine frisch gestärkte weiße Zipfelmütze über dem röthlichen, alten Gesichte, sorglich in ein weißwollenes Negligé verpackt, die Hände resignirt über seinem Bäuchlein auf der Bettdecke gefaltet, so lag der Oberkämmerer von Göchhausen seit dem entsetzenbringenden Maskeradenabend in seinem weißumhängten Bette, der schweren Folgen für seine Gesundheit harrend, die da kommen sollten, aber nicht kamen.

Der Herzog hatte gleich am andern Tage den Oberhofmarschall von Witzleben zu Göchhausen geschickt, um sein Bedauern über ein unglückliches Mißverständniß ausdrücken zu lassen, dessen Opfer er geworden sei. Dann sandte er ihm seinen Leibarzt Doctor Friedrich Hufeland, der nach einer Untersuchung seines Zustandes unumwunden erklärte: Herr von Göchhausen sei durchaus gesund, er möge ruhig zu seinen früheren Lebensgewohnheiten zurückkehren. Vier Wochen im Bett sich auszuruhen und mögliche schlimme Folgen abzuwarten, schien dem alterirten Gemüthe des Scheinpatienten sicherer, und so lag er seitdem gottergeben da. Jeden Morgen kam der Kammerherr von Seckendorf, um nach seinem Befinden zu sehen und Serenissimus Bericht abzustatten. Auch Graf Görtz kam oft, und so machte sich’s bald, daß ein kleiner Kreis von Gesinnungsgenossen vor dem Krankenlager des höchst gesunden alten Herrn sich zusammen fand. Es gab längst im Stillen eine Verbindung Solcher, die dem wilden Genietreiben am Hofe abhold waren, die dem zurückhaltenden Benehmen der jungen Herzogin lebhaft zustimmten und schon das Wesen der Herzogin-Mutter zu zwanglos schalten.

Graf Görtz hatte früher vergeblich versucht, der Mutter den ihr so ähnlichen Sohn zu entfremden, ihn in andere Bahnen zu lenken, ihm die Exklusivität seiner Lebensstellung recht an’s Herz zu legen. Karl August dürstete aber vor allen Dingen danach recht mit ganzer Kraft und Seele Mensch zu sein, und hierauf den Stand des Fürsten als seinen eingeborenen Beruf treu auszufüllen. Daß er nicht Mensch mit andern sein, daß er die Liebe nicht begehren, sich der Freundschaft nicht in die Arme werfen, Jugendlust nicht genießen sollte, wie Andere auch, das vermochte der Erzieher ihm mit aller Mühe nicht beizubringen.

Im großen Uhrwerke des menschlichen Verkehrs finden die hemmenden Gewichte immer ihren Platz! Bald gründete Görtz eine Partei. Es gelang ihm sogar, leise Zeichen der Zustimmung von den geachtetsten Männern der Stadt, dem Minister von Fritsch und dem Oberhofmarschall von Witzleben, zu erlangen.

Seckendorf war anfänglich als Eindringling vermieden, man hatte erwartet, er werde als Literat und Componist den Genies und ihrem Treiben in die Arme werfen. Dem war aber nicht so. Er hatte mit Vorsicht alle äußeren Punkte seiner Stellung geordnet und zeigte sich jetzt als ein Hofmann von feiner Form und kühler Zurückhaltung.

Luise von Göchhausen war am Morgen nach der Maskerade zu ihrem Oheim geeilt, um in wirklicher Besorgniß nach ihm zu sehen. Rohrmann und Ursula empfingen sie mit rücksichtslosem Zorne. Sie wollten ihr den Weg in’s Allerheiligste des leidenden Gebieters versperren, aber Luise, unerschrocken wie immer, drang durch und versuchte, wenigstens den Alten von ihrer Unschuld zu überzeugen. Da sie dies Bemühen mit zähem Eifer fortsetzte, tagte es endlich in dem Begriffsvermögen des Oberkämmerers, und er fing an, sie gnädigst alle Tage ein Stündchen auf dem Stuhle vor seinem Bette zu dulden.

Trafen sich die mißvergnügten Hofherren bei Göchhausen, den sie seit jenem Abenteuer innerlich zu den Ihren zählten, so waren sie sämmtlich zu loyale Vasallen der Krone, um an das gesalbte Haupt selbst zu rühren. Längst hatten sie sich ein willkommenes Object ihres Zorns in Goethe ausersehen, von dem alle begangenen Tollheiten, alles wilde, tadelnswerthe Genietreiben ausgehen sollte. Graf Görtz besonders war es, der nicht aufhören konnte, auf diesen „Verderben des allergnädigsten Herrn“ hinzuweisen.

„Dieser Mensch,“ sagte er eines Tages, als er mit Seckendorf bei dem Patienten zusammentraf, „der in seinem Götz den Aufruhr gepriesen, im Werther den Selbstmord vertheidigt und jetzt sich sogar mit dem alten Magister Faust beschäftigen soll, welcher im Bündniß mit dem Teufel stand – dieser frivole Scribent vergiftet mit seinen laxen Grundsätzen das jugendliche Gemüth unseres allergnädigsten Herrn.“

„Es ist nicht zu verkennen,“ nahm Seckendorf das Wort, „daß die wunderlichsten Dinge hier durch den Gebrauch sanctionirt werden. Ich habe sehr bald gesehen, daß meine rothen Absätze und meine Hofmanieren hier Contrebande sind. Hetzpeitschen, Reitstiefel und polnische Schnürenröcke, wallendes Haar und die sogenannte Werthermontirung, das sind die Requisiten zu der Farce, die dieser Günstling uns nach seinem Sinne aufführen läßt!“

„Ja, er und wieder er!“ rief der Hofmarschall in rücksichtsloser Bitterkeit. „Wie werden wir ihn los, diesen Stein des Anstoßes?“

Hier wurden die drei Männer durch ein leises Kichern in ihrer Nähe erschreckt. Sie blickten zur Seite und sahen Luise

[469]

Fischerinnen bei Genua.
Von Bartolommeo Giuliano.

[470] von Göchhausen, die, hinter ihrem großen Fächer hervor blinzelnd, offenbar längst als Zuhörerin ihrer Unterredung an der Eingangsthür gestanden hatte. Sie kam näher, nickte ihrem Oheim zu und sagte:

„Also unser schöner Faiseur mißfällt den Herren? Aber ist er’s denn nicht, der unserer engbrüstigen Geselligkeit den eigentlichen Lebensodem einbläst? Ja, er regiert, giebt Regenwetter und Sonnenschein und hat auch mehr Lebensart und Geschäftsklugheit als alle Hofschranzen und politischen Kreuzspinnen zusammengenommen in Leib und Seele. So lange Karl August lebt, richten die Pforten der Hölle nichts gegen ihn aus!“

Sie hatte offenbar in der Heftigkeit mehr gesagt, als sie wollte; ihre klugen Augen flammten, und sie stand in ihren kleinen Hackenschuhen fest da.

„Kind, Kind! wie Du mich alterirst!“ rief Göchhausen.

Der Kammerherr verbeugte sich artig gegen die Dame, schob ihr einen Stuhl hin und sagte mit feiner Ironie:

„Das schöne Geschlecht erbarmt sich gern des Gescholtenen; besonders wenn es sich um einen verführerischen jungen Herzensstürmer handelt; ein überaus liebenswürdiger Zug!“

„Es mag auch die Sympathie der Eingewanderten für einander sein, denen das strenge Behüten eines convenablen Tons am hiesigen Hofe weniger am Herzen liegt,“ sagte der Graf mit mehr Bitterkeit.

„Lediglich Ueberzeugungssache, meine Herren!“ rief das Hoffräulein unerschrocken.

Göchhausen war längst, entsetzt über die Aufregung, in sein Kissen zurückgesunken; tastend suchte er seine Pulsschläge zu zählen.

Die beiden andern Herren verbeugten sich stumm gegen die Vertheidigerin des abwesenden Dichters, und traten vom Bette zurück, an dem Luise jetzt, mit Erkundigungen nach dem Ergehen des Patienten, Platz nahm. Dann räumte sie das Feld, da sie wohl fühlte, daß die eben ausgetauschte, ernste Meinungsverschiedenheit einer weiteren unbefangenen Unterhaltung nicht günstig sei.

(Fortsetzung folgt.)

Johann Gustav Droysen.0

Vierzig Jahre sind in diesen Tagen verflossen, seit auf dem Sängerfeste zu Schleswig (am 24. Juli 1844) zum ersten Male unter unendlichem Jubel ein Lied gesungen wurde, das für die Schleswig-Holsteiner Patrioten ein Trost- und Kampflied in schwerer Zeit geworden war: „Schleswig-Holstein meerumschlungen“. Der Holsteiner Matthäus Friedrich Chemnitz, der das Lied gedichtet, hatte in demselben zum vollen Ausdruck gebracht, was die Seelen seiner Landsleute erfüllte, und an den schlichten kernhaften Worten des Dichters entzündete sich eine ähnliche Begeisterung, wie ein Vierteljahrhundert später an den Strophen der „Wacht am Rhein“. In allen Städten Schleswig-Holsteins, auf den Straßen erklang das Lied, und überall sang man es in Deutschland nach, denn das Volk dachte und fühlte damals schon stärker deutsch, als es den meisten Regierungen gerade lieb war. Aber nicht allein die Schleswig-Holsteiner Poeten, sondern auch die Gelehrten, die Professoren der Kieler Landes-Universität griffen mit scharfer Geisteswehr in den Kampf ein, welchen die Bevölkerung um die Wahrung ihrer ererbten historischm Rechte, um die Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit und der politischen Untheilbarkeit der Herzogthümer gegen die Gelüste der dänischen Landstände kämpfte.

Johann Gustav Droysen.

Besonders war es einer unter den Kieler Professoren, der mit dem ganzen Feuereifer der Jugend, aber auch mit überzeugenden staatsrechtlichen Gründen die dänischen Ansprüche bekämpfte. Er war kein Landeskind, sondern von Geburt ein Pommer, der erst wenige Jahre vorher von der Berliner Universität nach Kiel berufen worden war, ein Mann, von dem man eigentlich am allerwenigsten ein so energisches Eingreifen in eine politische Tagesfrage erwarten konnte; denn Johann Gustav Droysen war zwar schon ein bekannter Gelehrter, als er in dem noch jugendlichen Alter von zweiunddreißig Jahren als Professor der Geschichte nach Kiel übersiedelte, aber sein wissenschaftlicher Ruf stützte sich auf Werke, die sämmtlich aus dem Stoffkreise der antiken Welt geschöpft waren, auf glänzende Uebersetzungen der großen griechischen Theaterdichter Aeschylos und Aristophanes und auf eine fesselnde, vielfach von neuen Gesichtspunkten ausgehende Geschichte des macedonischen Eroberers Alexander, des Napoleon der Antike. Allein mit der ihm eigenen Frische und Beweglichkeit des Geistes, der für äußere Einflüsse sehr empfänglich, war, widmete sich Droysen bald nach seiner Uebersiedelung von Berlin nach Kiel dem Studium der Schleswig-Holsteiner Frage und trat an die Spitze der protestlerischen Bewegung in den Herzogtümern. So verfaßte er in demselben Jahre, in welchem Chemnitz sein Schleswig-Holsteiner Streitlied sang, die „Kieler Adresse“ an den Dänenkönig, in welcher die Untheilbarkeit und Selbstständigkeit der beiden nördlichsten deutschen Volksstämme nachdrücklich betont war, und zwei Jahre später in Gemeinschaft mit acht Collegen von der Kieler Universität den „Protest der Professoren“. Der Protest ging darauf hinaus, daß eine dänische Staatsverfassung nur dann für die Herzogthümer Gültigkeit haben könne, wenn sie in gemeinsamer Berathung Dänischer und Schleswig-Holsteiner Vertreter vereinbart wäre. In der That beschickte Schleswig-Holstein die constituirende Versammlung, die nach dem Tode Christian’s VIII. der neue Dänenkönig 1848 nach Kopenhagen berief, nur zu dem Zwecke, um förmliche Verwahrung gegen die dänische Willkürherrschaft einzulegen.

Die Nachricht von der Pariser Februarrevolution gab den Anstoß zu einer allgemeinen Erhebung in den Herzogthümern, und als es sich nach der Errichtung der provisorischen Regierung vom 24. März darum handelte, einen Vertrauensmann zum Bundestage nach Frankfurt zu senden, fiel die Wahl auf den Professor Droysen. So kam Droysen nach Frankfurt, wo er später auch einen schleswig-holsteiner Bezirk in der deutschen Nationalversammlung vertrat. Im Verfassungsausschusse der Nationalversammlung hat er eine bemerkenswerthe Thätigkeit entfaltet, wenn auch die Arbeiten des Ausschusses unfruchtbar blieben, da die Einigung Deutschlands sich erst lange nachher und in einer wesentlich anderen Richtung vollzog, als man sie sich in der Frankfurter Paulskirche dachte. Droysen hat jedoch schon damals mit dem Scharfblicke des Historikers vorausgesehen, daß ein einiges starkes Deutschland nur unter der Führung der Hohenzollern möglich sei, was in der Paulskirche für einen ketzerischen Gedanken galt. Die Ereignisse von 1871 haben seine Vorahnungen gerechtfertigt.

Die elf Jahre seiner Kieler Professur (von 1840 bis 1851) sind die bewegtesten und ereignißvollsten im Leben Droysen’s gewesen; im Uebrigen führte er ein ruhiges, freilich an den höchsten Ehren reiches deutsches Gelehrtenleben. Darum läßt sich auch eine Skizze seiner Laufbahn in wenigen Worten geben.

Am 6. Juli 1808 zu Treptow an der Tollense geboren, war er nach Beendigung seiner Stettiner Gymnasial-Studien nach Berlin gekommen, um Theologie zu studiren; aber das Berlin der damaligen Zeit war nicht der Boden, welcher Theologen zu erzeugen pflegt. Als der Treptower Pfarrerssohn in der Residenz den genialen Hegel und sein bestechendes philosophisches System kennen lernte, als er den geistvollen Eduard Gans sowie Karl Ritter hörte, verflogen die theologischen Zukunftspläne, und statt auf die Kanzel bereitete er sich auf den Lehrstuhl der Historik vor. Er habilitirte sich 1833 an der Berliner Universität als Privatdocent, erhielt Jahre später eine außerordentliche Professur, aber da der politische Wind, welcher von oben herab wehte, seiner freieren Geistesrichtung nicht günstig war, folgte er 1840 dem an ihn ergangenen Rufe wach Kiel. Während der Jahre 1851 bis 1859 wirkte er in Jena als Nachfolger Luden’s, kehrte jedoch im letztgenannten Jahre nach Berlin zurück, wo er bis vor Kurzem zu den glänzendsten Zierden der Universität gehörte. Ein unheilbares Brustleiden führte am 19. Juni dieses Jahres seinen Tod herbei. Die Unsterblichkeit seines Namens hat er durch meisterhafte Darstellungen aus der neueren preußischen Geschichte errungen, namentlich durch sein prächtiges Volksbuch „Leben des Feldmarschalls York von Wartenburg“, durch seine „Geschichte der preußischen Politik“ und seine „Aktenstücke zur Geschichte des Großen Kurfürsten“. Ein Mann des patriotischen Wortes und der patriotischen That ist in ihm dahingegangen, der zu den edelsten und hervorragendsten Erscheinungen des von ihm ersehnten neuen deutschen Kaiserreiches gehörte. W. H. 


[471]

Blätter und Blüthen.


Liebaut’s Regenerator. In Nr. 7 unseres Blattes druckten wir eine Erklärung des Ortsgesundheitsrathes in Karlsruhe ab, in welcher vor dem Gebrauch des Heilmittels „Regenerator“ gewarnt und außerdem erklärt wird, daß von dem „berühmten Dr. Liebaut“ nirgends eine Spur nachzuweisen sei. Einige Tage nach dem Erscheinen der betreffenden Nummer erhielten wir von dem genannten Ortsgesundheitsrath folgende Mittheimng:

„Unter Bezug auf unsere Zuschrift vom 22. v. Mts., betreffend die Regenerationscur von Dr. Liebaut, erlauben wir uns hiermit verehrl. Redaction ergebenst mitzutheilen, daß nach den von uns neuerdings gemachten Erhebungen ein Dr. Liebaut als praktischer Arzt in Paris wirklich existirt. Chefarzt eines Spitals ist derselbe jedoch nicht. Warum das Geschäft von Elnain u. Comp. in Frankfurt am Main, welches das Liebaut’sche Mittel verschleißt, angab, es sei dort unbekannt, wo Liebaut wohne, wissen wir nicht; wir werden uns übrigens noch näher in dieser Richtung erkundigen.“

Außerdem hat uns Herr Liebaut einen Brief geschrieben, in welchem er selbst erklärt: „Ich Dr. med. Liebaut, seit Jahrzehnten prakt. Arzt in Frankreich, Ex-Chefarzt des Hospitals zu St. Germain en Laye, seit 14 Jahren Ritter der Ehrenlegion, bin Begründer der Regenerationsmethode und Autor der betreffenden Broschüre.“

Der Werth der sogenannten „Regenerationscur“, welche weder in Deutschland noch in Frankreich in wissenschaftlichen Kreisen bekannt ist, wird durch diese Eröffnung selbstverständlich kein höherer und wir können nur wiederholt auf die obenerwähnte Erklärung des Ortsgesundheitsrathes in Karlsruhe hinweisen, welche auf Grund einer gewissenhaften Prüfung des Liebaut’schen „Heilmittels“ besagt, daß dasselbe lediglich aus einem wässerigen, mit Zucker versetzten Auszuge verschiedener Pflanzenstoffe bestehe, welcher die angepriesenen Wirkungen in keiner Weise besitze.

In dieser Angelegenheit erhielten wir außerdem vor Kurzem eine Zuschrift, die wir im Nachstehenden wörtlich abdrucken. Ihr Inhalt bedarf keiner weiteren Erläuterung:

Der Reclamenmacher für die Liebaut’sche Regenerationscur hat einen schandbaren Streich an mir verübt, der geeignet ist, bei Denen, die mich nicht weiter kennen, meinen guten Namen anzutasten! In Hoffnung darauf, daß ich als Secretär des Hamburger Thierschutzvereins im In- und Auslande sehr bekannt bin und Vertrauen genieße, er also eine Persönlichkeit wie mich brauchen könne, hat derselbe folgenden Brief fabricirt:

,(Aus Hamburg.) Geehrter Herr! Mit Gegenwärtigem erlaube ich mir, Ihnen den Erfolg mitzutheilen, welchen bei mir die Befolgung der vorzüglichen Rathschläge des Herrn Dr. med. Liebaut, Ritter der Ehrenlegion, niedergelegt in seinem Buche ,Die Regenerationscur‘, bewirkten, und bitte ich Sie im Interesse aller mit gleichen Leiden Behafteten, das Nachfolgende so weit als möglich bekannt zu geben und bin ich zu jeder Auskunft gern bereit. Seit etwa drei Jahren stellte sich in Folge einer starken Erkältung und Vernachlässigung ein chronischer Magenkatarrh ein, den zu beseitigen mir unmöglich schien. Nach Versuch aller Mittel entnahm ich Ihrer Buchhandlung (die Broschüre ist in Hamburg bei Henschel und Müller’s Buchhandlung, Wexstraße 2, Altona: Buchhandlung von Kalmann u. Cie. à 50 Pf. erhältlich) das obengenannte Buch, durch dessen Rathschläge auch mir die vollständigste und schnellste Hülfe wurde. Mein Stuhlgang ist regelmäßig, der Magen verträgt sämmtliche Speisen, die Blähungen sind fast ganz beseitigt, sodaß ich nur wünschen kann, daß jedem Magenleidenden so rasche und gründliche Hülfe zu Theil werde. Ergebenst G. C. L. Behncke, Oberlehrer emer., Secretär des Hamburger Thierschutzvereins, gr. Lindenstraße Nr. 17, St. Georg.‘

und nicht nur in Hamburger, sondern auch in auswärtigen Tagesblättern denselben ohne mein Wissen und meinen Willen veröffentlichen lassen: wenigstens habe ich erfahren, daß er – außer hier in ‚Nachrichten‘, ‚Fremdenblatt‘ und ‚Reform‘ – auch im ‚Itzehoer Wochenblatt‘, ,Schwäbischen Merkur‘, ,Katholischen Wochenblatt‘ in Stuttgart und in der ‚Essen-Dortmunder Zeitung‘ dem Publicum mitgetheilt worden ist, was mir viele Belästigungen und Correspondenzen verursacht hat.

Ich habe den für mich Namenlosen bei der Hamburgischen Staats-Anwaltschaft verklagt und einen Strafantrag gestellt, da derselbe meinen Namen, meine bürgerliche Stellung und meine genaue Adresse gemißbraucht hat, um Reclame für eine Broschüre zu machen, die ich nie gefordert, nie gesehen, erfolgreiche Wirkung der Regenerationscur anzupreisen, die ich nie erfahren, mir Krankheiten anzudichten, die ich gottlob nie gehabt habe!

Ich habe diesen frechen Vorgang mehreren Hamburgischen Körperschaften und auch dem ärztlichen Verein angemeldet, und halte es für eine heilige Ehrenpflicht, auch Ihnen diesen schandbaren an mir verübten Streich zu unterbreiten, damit Sie zu Ihrem herrlichen Warnungsartikel in Nr. 7 der „Gartenlaube“ noch einen der Wahrheit gemäßen Beleg dazu dem Publicum geben können. Es bittet dringend darum

Ihr hochachtungsvoll ergebener
G. C. L. Behncke,
Oberlehrer emeritus, Secretär des Hamburger Thierschutzvereins.
Gr. Lindenstraße 17, St. Georg.“

Am Meer. (Mit Illustration S. 469.) Das Meer! – in seinem Schooß verbirgt’s „ein Labyrinth von Wundern“, die Mutter der Schönheit ist es, denn es gebar Aphroditen, und auch die schlanken schönen Nereïden, diese Nymphen des Salzwassers, sind seine Töchter. Die Tempel der Venus stehen als verödete Ruinen auf Klippen und Inseln, die Nereïden sind längst dahin, aber ihre Nachkommen leben noch heute: das sind die armen, am Strande, im Sande geborenen Fischermädchen, die in den kleinen braunen, schilfgedeckten Hütten längs der Küste des ligurisch- tyrrhenischen Meeres in Dürftigkeit und Armuth wohnen. Als barfüßige Strandläufer, ähnlich den Meervögeln, strecken sie die braunen Hände bettelnd gegen die heranrollenden Wogen aus und warten, bis die uralte strenge Stiefgroßmutter ihnen ein Almosen in Gestalt eines kleinen Weißfisches, einer Krabbe, eines See-Igels oder Schalthieres zuwirft, das sie mit geübten Fingern aus dem algenbedeckten Klippengestein herausklauben, während die rauhen Väter, die kecken Brüder in Böten und Barken mit Netzen und Reusen dieses sich zu erzwingen wissen.

Sie sind arm, diese Mädchen, denn die alten Schätze, die auf dem Boden des Meeres ruhen, die Horte, die man einst in dieses versenkt, „die Truhen, die durch das blaue Wasser blitzen“, wirft keine wohlwollende Welle ihnen in den Schooß. Diese Herrlichkeiten sehen sie nur in den Augen der Alten blitzen, wenn diese ihre verschollenen Märchen erzählt – Märchen aus der Zeit, da die Völker der ligurischen Küste, die Herren von Porto Maurizio, Oneglia, Alassio, Albenga, Savona, Sestri, Genua und Spezia, noch vornehm und reich waren und an Stelle der heutigen morschen Fischerbarken stolze Dreimaster auf das Meer setzten, geführt von weltenentdeckenden Capitainen; denn auch Columbus ist ein Kind dieser Küste.

Damals kleideten sie sich in Seide und trugen echten Goldschmuck in den Ohren, heute umflattert ihre Glieder der dünne, bald verschossene Kattun. Sind sie aber auch schön? Der Dichter möchte es uns glauben machen. Wir Alle haben seine Lieder im Concert gehört oder selbst zu Hause gesungen, die bekannten Lieder: „Wir saßen am Fischerhause“, „Das Meer erglänzte weit hinaus“, „Du schönes Fischermädchen“, „Sternlos und kalt ist die Nacht“, in welch letzterem „die wunderschöne Fischertochter“ am Heerde sitzt, knisterndes Reisig in’s Feuer schüttet und hineinbläst, daß die flackernd rothen Lichter das „blühende Antlitz“ überstrahlen und die zarte weiße Schulter,

„Die rührend hervorlauscht
Aus dem groben, grauen Hemd –“

Heinrich Heine ist es, der mit dem Auge des Poeten die Dinge anschaut, oder durch das verklärende Fernrohr der Erinnerung. Solcher Anschauung entstammt auch sein Liedchen vom toscanischen Meere:

„Augen, sterblich schöne Sterne!
Also mag das Liedchen klingen,
Das ich weiland in Toscana
An dem Meere hörte singen.

Eine kleine Dirne sang es,
Die am Meere Netze flickte;
Sah mich an, bis ich die Lippen
An ihr rothes Mündchen drückte –“

In der Nähe besehen, gleicht diese Schönheit der des gutgebackenen Bauernbrodes: braun und derb, aber kräftig und gesund. Den Teint malte die mächtige Sonne der Riviera, die „nichts Weißes duldet“, keine Bleichsucht kennt; ihn festete und beizte der salzgesättigte Seewind, der Scirocco, die Tramontana, die für Schminke sorgen. Die Hände und Füße formte die harte Arbeit, und wenn diese, wie es der Rasse eigen, klein und zierlich sind, so sind sie doch auch hart und derb. Das Parfüm sodann, das die dürftigen Kleider durchhaucht, entstammt den Algen, dem Tange, dem Fische, dem geliebten Lauche, und der feine moschusduftende Herr Poet, der „seine Lippen an ihr rothes Mündchen drückt“, würde wohl zurückschrecken vor der beißenden Schärfe der gesalzenen Lippen. Aber auch er wäre der Dirne nicht willkommen, denn ihr Wunsch geht seit Jahrhunderten nach einem Schiffer, einem Fischer. Dies drücken ihre Lieder aus, von denen sie eine ganze Schiffsladung vorräthig hat.

„Heil’ge Katharina, laß dich bitten,
Gieb mir einen Fischer doch zum Mann!
Kehrt er Samstag Abends mir zurücke,
Ach, wie riecht er nach dem Meere dann!“

Oder der Gruß, den sie dem zu Meere gehenden Schiffer mitgiebt:

„Der du zu Meer fährst, Knabe, hör’ einmal,
Grüß’ mir den Fischer draußen, meinen Lieben!
Du kennst ihn nicht? O schau nur auf’s Signal,
Auf seinem Segel steht mein Herz geschrieben.“

So schlägt das kräftige Geschlecht nicht aus der Art. Und die Buben im Wasser? Das Volk hat ein Sprüchwort: Chi di gallina nasce, convien che razzoli, das heißt, wer von Hühnern stammt, muß scharren, oder, was ein Angelhaken werden will, krümmt sich bei Zeiten. W. Kaden. 


Fleißige Hände. (Illustration S. 464.) Das ist ein Bild für das Herz. Der Leser wird zum frohen Belauscher des reinsten Glücks, das dem Sterblichen beschieden ist: des Glücks des Seelenfriedens im stillen Fleiß. Ein Blick in die einfache Bauernstube erinnert uns sofort an das Lob, welches selbst der Böse Faust’s Gretchen spendet: „Nicht jedes Mädchen hält so rein.“ Der feste Eichentisch mit der großen Schublade und die Wandbänke sind ebenso Urvätermöbel, wie der Blumenstock und die Katze seit alter Zeit zum Bilde der Häuslichkeit des Landvolks gehören, und zwar nicht blos im Schwarzwald, wo unser Künstler sein Original gefunden, sondern in Deutschland allenthalben. – Der schönste Schmuck der Stube ist aber das Mädchen in seiner einfachen, ruhigen Thätigkeit. Zufrieden folgt ihr Auge jeder Bewegung der emsigen Hand, und wie [472] wunschlos erscheint uns der Ausdruck ihres jugendlich schönen Antlitzes! Ob’s hinter der glatten Stirn wirklich so ruhig steht, ob unter dem Mieder gar kein verdächtiges Pochen sich regt? Eitele Fragen! Das Leben wird auch mit ihr keine Ausnahme machen. Jetzt aber freuen wir uns noch des ungetrübten Anblicks der lieblichen Erscheinung; ist es doch, als ob unsichtbar in diesem Raume die Engel des Glücks und des Friedens weilten und als ob man mit dem Dichter ausrufen müßte:

„Mir ist, als ob ich die Hände
Auf’s Haupt dir legen sollt’,
Betend daß Gott dich erhalte
So schön und rein und hold!“


Deutschlands merkwürdige Bäume. Nr. 4: Die Linde auf dem Gottesacker zu Annaberg. Schon vor Jahren haben wir unsere Leser auf den Gottesacker der im sächsischen Obererzgebirge gelegenen Stadt Annaberg geführt, auf welchem sich das Grabdenkmal der Barbara Uttmann, der Erfinderin des Spitzenklöppelns, befindet. In der Nähe dieser interessanten Grabstätte steht auch die merkwürdige Linde, die uns unsere nebenstehende Illustration zeigt. Sie ist ein mächtiger Baum, welcher etwa 400 Jahre zählt und sich durch einen eigenartigen Wuchs auszeichnet. Von ihm berichtet die Sage, „daß er umgekehrt in die Erde gesetzt worden: die Aeste nach unten, die Wurzeln nach oben, welche hernach ausgeschlagen, Blätter getrieben und sich in Aeste ausgebreitet hätten“.

Linde auf dem Friedhof von Annaberg. Originalzeichnung von Franz Dotzauer.

Die Veranlassung zu dieser abweichenden Einpflanzung soll folgende gewesen sein: „Ein Marstaller (Vorstand des städtischen Fuhrwesens) auf St. Annaberg hatte einen ruchlosen Sohn, welcher besonders an die Auferstehung der Todten nicht glauben wollte. Daher gab ein eifriger Priester sich alle Mühe, diesen bösen Menschen auf bessere Gedanken zu bringen. Er ging endlich mit dem jungen Burschen auf den Gottesacker und stellte ihm daselbst vor, daß dieses das Feld des Herrn sei; wie der ausgestreute Same auf dem Felde aufginge und hervorwachse, so würden auch die hier Begrabenen als ein Same am jüngsten Tage wieder aus der Erde hervorkommen. Darauf aber hat der junge Mensch eine noch kleine Linde auf dem Kirchhof erblickt und zu dem Priester gesagt: so wenig als diese Linde, wenn man sie ausreißen und umgekehrt mit den Aesten in die Erde setzen wollte, gedeihen und ausschlagen würde, so wenig würden auch diejenigen, welche einmal todt seien, wieder lebendig werden und auferstehen. Darauf hat der Priester, in göttlichem Eifer entbrannt, geantwortet: er wisse gewiß, daß Gott, um solche Ruchlosigkeit zu strafen, so gnädig sein werde, ein Zeichen seiner Allmacht sehen zu lassen. Er wolle aber diese Linde umgekehrt in die Erde setzen lassen, und würde sie ausschlagen, so solle der Zweifler daran seinen bösen Unglauben erkennen. Und solches ist hernach auch geschehen.“

An der Möglichkeit dieses Wunders brauchen wir gar nicht zu zweifeln, denn es liegt in unserer Macht, dasselbe jeden Augenblick zu wiederholen. Jedermann weiß ja, daß die Wurzeln der Bäume, sobald sie von der Erde entblößt werden, Blätter und Zweige treiben können. Die Botaniker kennen auch das Experiment, den „Baum umzukehren“ oder sozusagen auf den Kopf zu stellen. Wer von unseren Lesern Lust hat, der kann den Versuch des Franzosen Duhamel zu jeder Zeit nachahmen. Dieser nahm eine junge Weide mit langem Schaft, bog denselben derart um, daß die Krone in die Erde eingegraben werden konnte, und nachdem die Zweige derselben nach einer gewissen Zeit Wurzeln getrieben hatten, grub er die ursprünglichen Wurzeln aus, die nunmehr eine neue kahle Krone des Bäumchens bildeten. Nach kurzer Zeit bedeckten sich die in der Luft schwebenden Wurzeln mit Knospen, und bald grünte das umgekehrte Bäumchen von frischen Blättern und Zweigen.

So war auch vor Jahrhunderten das Experiment mit der jungen Linde in Annaberg gelungen. Der jetzige Stamm derselben, welcher eine Höhe von 2 Metern und einen Umfang von fast 6 Metern hat, ist der frühere mit dem Wurzelstock umgekehrte Stamm, soweit er nicht mit den Aesten in die Erde versenkt wurde. Die ursprünglichen Wurzeln sind die nunmehrigen Aeste. Die Faserwurzeln bilden, vom Stamm als 16 starke, ungefähr 6 Meter lange Aeste fast rechtwinkelig ausgehend, ein breites Schirmdach, das nach oben, durch meist gerad emporwachsende Aeste, die vielfach verzweigt sind, sich verjüngt. In der Mitte dieser pyramidenartigen Baumkrone ragt als Fortsetzung des Stammes die zu einem starken Ast mit mehreren Ausläufern erwachsene Pfahlwurzel bis zu einer Höhe von 25 Metern empor. Wegen des langgestreckten, fast horizontalen Wuchses der unteren Wurzeläste, welche einen Umkreis von 30 Meter beschatten und in Folge dieser Gestalt bei Sturm nur einen geringen Stützpunkt hatten, unterbaute man dieselben bereits vor 200 Jahren. Das jetzige Gerüst, welches von 11 steinernen und 12 hölzernen Pfeilern getragen wird, stammt aus dem Jahre 1853.


Die Fuchsfamilie. (Mit Illustration S. 461.) Der aufmerksame, aber mit dem Thierleben weniger vertraute Leser wird in unserem heutigen „Familienbilde“ gewiß etwas vermissen: es wird ihm unvollständig erscheinen, da auf ihm das Haupt des Hausstandes, der alte Fuchs, fehlt. Hat nicht Meister C. F. Deiker einen Fehler begangen, daß er in dem Vorhofe der Burg Malepartus den schlauen Reinecke nicht gezeichnet hat? Er würde wohl eine prächtige Figur abgegeben haben, denn seine Zärtlichkeit gegen Weib und Kind ist ja weit und breit bekannt und selbst durch Sage und Dichtung verherrlicht worden. Wer erinnert sich nicht der rührenden Abschiedsscene in Goethe’s epischem Gedichte, wo Herr Reinecke der Frau Ermelyn seine Kinder empfiehlt und so gefühlsinnig von „Rossel, dem Schelmchen“, und „Reinhart, dem Jüngsten“, spricht, dem die Zähnchen schon so hübsch um’s Mäulchen stehen und der dem Vater gleich werden wird? Nun, wir müssen nicht vergessen, daß die Burg Malepartus und die in ihr geschilderten Familienscenen nur ein Werk menschlicher Phantasie sind und daß die schönen Worte des Dichters mit der Wirklichkeit gar nicht harmoniren. Deiker ist ein vollendeter Meister in der Darstellung der Thiercharaktere, und er hat in der That das Wahre und Richtige getroffen, wenn er in seinem rührenden Familienbilde den „Alten“ nicht berücksichtigt hat.

Reinecke, der Mephisto unserer Wälder, ist, wie die vorzüglichen Kenner unserer heimischen Thierwelt, die Gebrüder Karl und Adolf Müller, mit Recht erklären, der „treuloseste Familienvater“ auf Gottes Erden. Mit den Liebeslauten „Grau“ und „Griau“ wirbt er wohl im Februar um die Huld der jugendlichen Ermelyn und verlebt auch die kurzen Flitterwochen in dem von ihr errichteten Bau. Wenn aber die Jungen zur Welt kommen, dann überläßt er die Sorge für die Kleinen den ganzen Sommer hindurch ausschließlich der Mutter. Wie unser Haushund ist auch er dem Eheleben gar nicht zugethan und findet kein Wohlgefallen an den heiteren und launigen Spielen seiner jungen Nachkommenschaft; er meidet geflissentlich den häuslichen Herd. Wenn wir also in Wirklichkeit eine Familienscene aus dem Fuchsleben belauschen, so kann uns in derselben höchstens die Mutterliebe und das Spiel der Jungen erquicken. So wußte in diesem Falle unser berühmter Thiermaler die Wahrheit von der Dichtung zu scheiden und nicht nur ein kunstvolles, sondern auch lebenswahres Bild zu schaffen.


Kleiner Briefkasten.

G. R. in L. Sie irren! Unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe verbarg sich nicht der Geheime Hofrath Schneider, sondern der verstorbene Berliner Schriftsteller Hermann Goedsche.

G. v. V. und E. v. BL. in Rußland. Leider ungeeignet. Verfügen Sie gefl. über das Manuskript.

J. M. in St. Petersburg. Anstalt für künstliche Fischzucht in Hüningen, Gem. Blotzheim, Ober-Elsaß.

C. W. in Neisse, P. H. in Krakau, F. A. in Wien, Dr. V. St., D 3 G., J. M. in Karbitz, M. S. Sp. in Rußland (Trauerweide), H. W. in G. bei R., H. 50, R. W. in N. bei Wien, F. L. in Königsberg, G. K. in P.: Nicht geeignet.

Abonnent in Holland. Nein, nicht zu empfehlen! Wenden Sie sich an einen tüchtigen prakt. Arzt, der Sie persönlich untersuchen kann.


Inhalt:
[ Verzeichnung des Inhalts von Heft 28/1884; hier z. Zt. nicht transkribiert.]

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.