Die Gartenlaube (1884)/Heft 34

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[553]

No. 34.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


9.

Als Raban am Morgen des folgenden Tages über den Ring schritt, um sich in die Vorstadt, in Melber's Atelier zu begeben, begegnete er hier einmal wieder seinem alten Bekannten Graf Kostitz. In seine Gedanken vertieft, erkannte er ihn nicht gleich, aber Graf Kostitz hielt ihn auf.

„Sie sehen ja furchtbar niedergeschlagen aus, Mureck, und erkennen Ihre Freunde nicht mehr. Erfüllt Sie so die Sehnsucht nach der Entflohenen?“

„Entflohenen – welcher Entflohenen?“ versetzte Raban befremdet.

„Nun, Ihrer Flamme, der schönen Leni.“

„Die ist entflohen – mit ihrem Vetter nach Ungarn?“

„So arg ist’s nicht,“ gab Graf Kostitz lachend zur Antwort; „Sie lassen Ihre Phantasie ja sofort wie ein Pußtapferd galoppiren! So arg nicht! Nach Steiermark – mit den Ihrigen.“

„Leni ist mit den Ihren nach Steiermark gereist?“

„Ja, und das wissen Sie nicht einmal? Auf ihr Gut, zum Sommeraufenthalt.“

„Ah – und wann?“

„Gestern – nachdem vorgestern der große Bazar stattgefunden, auf welchem Sie durch Abwesenheit geglänzt haben.“

„In der That!“ sagte Raban mit einem tiefen Seufzer, aber einem solchen der Erleichterung.

„Und nun – werden Sie den Ulrich von Liechtenstein machen und als irrender Ritter ihr nachziehen in das schöne grüne Land?“

„O,“ entgegnete lächelnd Raban, „man braucht nicht gleich irrender Ritter zu werden; ich ziehe es vor, hier in Wien zu bleiben. Auf Wiedersehen!“

Er schritt, bewegt von der erhaltenen Botschaft, weiter. Es lag etwas tröstlich Befreiendes in dieser Nachricht. Sein Ausbleiben auf dem Bazar war, so schien es, als etwas Entscheidendes betrachtet worden. Man war gegangen, ohne ihm eine Kunde davon zukommen zu lassen – das sprach nun deutlich genug – es war die beste diplomatische Art einer Lösung, um die er sich mit schwerfälligerer Natur gesorgt hatte. Die Sorge war überflüssig gewesen!

Ob Marie nun auch dazu sprechen würde: es thut mir leid – ihr verhängnißvolles „das thut mir leid“, das Raban von vorn herein so außer sich gebracht?

Er fand Wolfgang Melber ruhig bei seiner Arbeit. Im Vorraum punktirte der ältere Arbeitsgenosse Wolfgang’s an dem Marmor herum, aus welchem die Büste Mariens herausgemeißelt werden sollte; in dem innern Raume knetete und strich Wolfgang, eine Cigarre zwischen den Zähnen, an der Gewandung eines Grabstein-Engels. Mariens Modellirstuhl stand verhüllt in den Winkel geschoben.

„Sie werden,“ sagte Wolfgang, als Raban eingetreten war und ihn begrüßt hatte, „Sie werden das Fräulein“ – er betonte immer eigenthümlich, fast wie ironisch, wenn er, ‚das Fräulein‘ sagte – „heute wohl nicht finden. Sie ist gestern nicht gekommen und wird auch wohl heute nicht zur Arbeit antreten. Sie hat immer so Zeiten, wo sie nicht auftaucht – nach Frauenzimmerart, bei denen alles stoßweise geht. Heut Feuer und Flamme für ihr Werk – und morgen ist ihr eine alte Frau, die eine Kellertreppe hinuntergestürzt ist, interessanter.“

Raban schwieg darauf; nachdem er sich gesetzt und eine Weile Wolfgang’s Thätigkeit mit anscheinendem Interesse zugesehen hatte, sagte er, so unbefangen als möglich:

„Ist das Fräulein nicht ein wenig Ihre Verwandte?“

Wolfgang streifte ihn mit einem flüchtigen prüfenden Blick.

„Freilich. Ein wenig meine Verwandte ist sie allerdings. Hat sie’s Ihnen gesagt?“

„Nicht sie. Aber Sie wissen – wir haben dieselbe Heimath. Und dort hat man mir gesagt, daß der Vater des Fräuleins Marie Tholenstein so hieß, wie Sie sich nennen.“

„Nun ja,“ entgegnete Wolfgang, zurücktretend, um seine Arbeit ein wenig aus der Entfernung zu betrachten, „so wie ich, Melber, hieß er in der That; er war meines Vaters Bruder und ein curioser Hansl von einem Menschen. Er hielt sich für den ersten Heldenspieler der Welt, und wenn die Welt ihn als solchen nicht anerkannte, so war das nur eine ganz infame Intrigue, die ihn nicht aufkommen ließ, weil er mit einem adligen Fräulein durchgegangen war. Alle Höfe und Potentaten Europas hatten die Hände in dieser Intrigue, und alle Theater ihre geheimen Instructionen von oben her wider ihn bekommen. Und so stahl er denn dem lieben Herrgott den Tag ab, hatte den Edelmuth, keinem ‚Mimen seine Kränze‘ zu beneiden, weil er viel schönere [554] und reichere, um welche die große Intrigue des Jahrhunderts ihn gebracht, ‚innerlich‘ trug, und verkehrte viel in ‚Schwemmen‘ und ländlichen Schenken.“

„So daß Sie – ihn wohl wenig gesehen haben?“ ließ Raban forschend fallen.

„Wenig? O nein, er hatte einen Narren an mir gefressen und war immer bereit, mich um die Schule herumzuführen – ich war sein Publicum, ich Aermster!“

„Um seine Tochter, um Fräulein Marie, hat er sich wohl wenig gekümmert?“

„Wahrscheinlich wenig genug. Ich weiß es nicht! Er war schon todt, als das Fräulein hierher kam. Mein Vater hat mir zuerst von ihr geredet, von dieser Cousine, und ist zu ihr gegangen und hat sie hierher in mein Atelier gebracht – wo sie denn ja auch recht heimisch geworden ist,“ setzte Wolfgang wieder mit etwas ironischer Betonung hinzu.

Raban schwieg, über die Mittheilungen nachdenkend, aus denen sich keinerlei Folgerungen ziehen ließen und die nur eine Bestätigung dessen enthielten, was sein Vater ihm geschrieben.

„Sie,“ fuhr nach einer Weile Wolfgang mit seinem spöttischen Tone fort, „Sie, Herr von Mureck, scheinen ein sehr lebhaftes Interesse an dem Fräulein zu nehmen – wie? Leugnen Sie nicht, Sie lassen sich den Kopf meiner Gruppe nicht umsonst aushauen . . .“

Raban sah den Künstler mit einem sehr ernsthaften Blicke an.

„Nun ja,“ lachte Wolfgang, ohne sich dadurch stören zu lassen. „Gestehen Sie ein, daß ich Recht habe. Fräulein Marie hat es Ihnen angethan. Und weshalb wollten Sie es leugnen? Hat es jemals ein passenderes Paar gegeben? Sie ist eine Erbin, und Sie selbst sind doch auch wohl so etwas wie ein Erbe? Oder nicht? Ferner sind Sie Nachbarskinder – einem und demselben mütterlichen oder stiefmütterlichen Boden entsprossen. Und dann – es ist ja geradezu rührend, wie zwei schönen herzerwärmenden Flammen gleich Ihre Passionen, sich mit Bettlern, scrophulösen Kindern und von der Kellertreppe gefallenen Familienmüttern abzugeben, Ihre humanitären und weltverbessernden Gedanken zusammenschlagen. Also – was hält Sie noch zurück? Weshalb sprechen Sie nicht, weshalb verloben Sie sich nicht mit Marie Tholenstein?“

„Weshalb fragen Sie darnach?“ gab Raban heftig bewegt und empört zur Antwort.

„Als Mariens Vetter, denk’ ich, darf ich doch so fragen? Und dann . . .“

„Dann? Fahren Sie fort.“

„Dann,“ sagte Wolfgang Melber, einen Thonkloß in den Händen ballend, „dann wär’s mir eben recht – sehr recht! – Sind Sie so sicher, daß, wenn Sie noch lange zögern, nicht Gefahr im Verzuge ist?“

„Sie reden wirklich, als wenn . . .! Aber vorausgesetzt, Sie hätten Recht, woher sollte die Gefahr kommen?“

„Von einer andern Neigung, die sich in dem Fräulein Marie so festsetzte und sie so zu beherrschen begönne, daß sie endlich nicht mehr darüber hinaus könnte und – Ihnen einen Korb gäbe!“

„Von einer Neigung zu Wem? Zu Ihnen?“

„Zu mir? Nun – vielleicht! Halten Sie das für unmöglich? Sie sind sehr skeptisch, Herr von Mureck!“

„Nicht so skeptisch, um eine Unmöglichkeit da zu suchen!“

„Wo würden Sie denn eine suchen?“

„Darin, daß Sie nicht sehr eifrig zugreifen würden, wenn sich Ihnen die Hoffnung böte, daß die Erbin von Arholt . . .“

„Frau Melber werden wollte? Ich würde sehr dafür danken!“

„Sie?“

„Ja, ich. Ich hätte durchaus keine Lust, mir aus dummer Eitelkeit solch eine weiße Rose in’s Knopfloch zu stecken! Solch eine sensitive Pflanze. Wahrhaftig, ich hätte keine Lust, mein Leben im Schatten einer Trauerweide zuzubringen. Denn würde sie nicht sehr bald so etwas werden? Sie leidet und klagt schon jetzt genug – das Leben, das ich führe, findet durchaus ihre Billigung nicht – sie hat eine ganz besondere Gabe, mich durch wehmüthig anklagende Blicke zu langweilen! Kurz, das ewig Weibliche gefällt mir besser, wenn es in weniger hoheitsvoller Weise in die Erscheinung tritt. Begreifen Sie das nicht?“

„O ja – ich begreife Sie – recht gut, Herr Melber!“

„Also! Und dann gestehe ich Ihnen gern, nach meiner Ansicht ist es verächtlich, hinter einem reichen Weibe drein zu laufen, das uns dann hofmeistert, weil Alles von ihm kommt, weil wir sein Geschöpf sind. Ein ordentlicher Mann schlägt sich aus eigener Kraft durch. Mein Talent ist dazu groß genug. Und dann, wissen Sie, bildhauert sie ja selber. Sie hat eine ganz respectable Anlage für die Kunst – wirklich höchst achtbar. Mit einigem größeren Fleiße wird sie über das Dilettantenthum sehr bald hinausgewachsen sein – entschieden hinaus! Das kann mir aber nicht passen, auch das nicht. Ich will nicht, daß mir die Leute einmal – die Leute sind boshaft – nachsagen: der Melber läßt sich das Beste von seiner Frau modelliren! Ich danke für eine solche Kunstgenossin als Frau!“

Wolfgang Melber trat von seiner Arbeit zurück und warf einen halb triumphirenden, halb forschenden Blick auf Raban. Wollte er in dessen Miene die Bewunderung seiner idealen Denkungsart lesen?

Raban that ihm nicht den Gefallen, diese zu zeigen. Was er gehört hatte, bewegte ihn hinreichend in anderer Weise. Wolfgang Melber’s Herzensergießung war ihm eine niederschmetternde Enthüllung gewesen.

Er wußte jetzt ja Alles sich zu deuten: Mariens Wesen, ihr Betragen diesem Menschen gegenüber, und ihr grausames Wort: ich darf Sie nicht anhören. Sie durfte nicht, weil sie eine andere Neigung hatte, der sie treu zu bleiben sich gelobt. Marie Tholenstein liebte diesen Vetter Wolfgang Melber.

Es war eine traurige Entdeckung, die nun Raban’s Hoffnungsstern endgültig, für immer und ewig auslöschte. Er hatte Mühe, sich so weit zu fassen, um seine ganze Bewegung vor Wolfgang zu verbergen und das Gespräch mit anscheinender Unbefangenheit so weit fortzusetzen, daß er, ohne zu sehr aufzufallen, abbrechen, aufstehen und sich entfernen konnte.

Gewiß gab es in der großen volkreichen Stadt keinen Menschen an diesem Vormittage, der sich unglücklicher fühlte als Raban Mureck – hoffnungsloser und hülfloser. Er hatte das Gefühl, etwas thun, etwas zur Entwirrung einer Katastrophe, die durch ihn herbeigeführt war, leisten zu müssen, und war doch ohnmächtig etwas zu thun. Wenn er nur noch hätte ein paar Worte mit Marien wechseln können, nur die beruhigende Versicherung hätte von ihr zu erhalten vermocht, daß sie nicht vorschnelle Eröffnungen ihrem Vetter machen wolle! Aber es wurde ihm ja unmöglich gemacht, sie zu sehen und zu sprechen. Als er heimgehend an ihrer Wohnung vorüberschritt, wagte er trotzdem den Versuch; er stieg hinauf und läutete. Der erscheinende Diener meldete ihm, daß das gnädige Fräulein noch krank sei und Niemand empfange.

Es war am Ende etwas Gutes an der Krankheit: daß sie beide von vorschnellem Aussprechen zurück gehalten wurden, ehe Alles klar war.

Aber wenn sie diesen Menschen liebte, dann gerade mußte es sie drängen, ihm die Eröffnungen zu machen, zu denen sie entschlossen war. Und wie sollte Alles klar werden? Der Einzige, durch den Klarheit zu erhalten gewesen wäre, war ja, wie schon gesagt, Wolfgang’s Vater, der alte Graveur. Er war der einzige Mensch auf Erden, der die Wahrheit wußte. Aber welche Mittel gab es, diesen Mann zu zwingen, die Wahrheit zu sagen?

Er war bisher nie hervorgetreten, er hatte bisher geschwiegen. Weshalb? Wenn Marie Tholenstein seine Tochter war, so mochte er schweigen, weil er den Dingen ihren Lauf lassen, weil er sein eigenes Kind nicht aus einer glücklichen und glänzenden Stellung reißen wollte. Oder er mochte auch schweigen, weil er die üblen Folgen einer gerichtlichen Feststellung des einst mit seinem Bruder geschmiedeten Complots fürchtete. Ein etwaiger Wechsel, ein Uebergang der bisherigen Erbrechte Mariens auf Wolfgang müßte ja bei den Gerichten gerechtfertigt werden, hätte ernste und gründliche Untersuchungen zur Vorbedingung gehabt. Er war jedenfalls jetzt ein alter Mann. Schweigen, durch Enthüllungen unbekannter und still ruhender Dinge sich nicht Unruhe und Last aller Art schaffen, mußte jedenfalls das sein, was ihm zunächst lag!

Wenn aber Raban zu ihm gegangen wäre, wenn er ihm klargelegt, was er wußte, und dann ihn auf sein Gewissen gefragt hätte, ob Wolfgang seines Bruders, des Schauspielers, oder ob [555] er der Sohn dessen sei, den er Vater nannte – was war auf die Antwort zu geben? Es blieb immer aufs Aeußerste ungewiß, ob die Antwort von der Wahrheit eingegeben war oder von der Furcht vor drohenden Folgen; von der Wahrheit oder von dem Verlangen, die Umstände zu benutzen und seinem Sohne Wolfgang die glänzende Lebensstellung zugewendet zu sehen, welche bisher das Erbtheil Mariens war. Von der Wahrheit oder dem Wunsche, Marien, seinem eigenen Kinde, seinem Fleisch und Blut, dies Erbtheil zu bewahren, auch wenn es Wolfgang zugekommen wäre.

Es litt Raban nicht daheim. Er verließ die Stadt, er wanderte über die Linien hinaus; er streifte stundenweit umher, und als er heimkehrte, hätte er schwer angeben können, wo er gewesen. Von allen den Bildern, welche die durchirrte Landschaft wechselnd und vorüberziehend ihm vorgehalten hatte, stand, als er wieder daheim war, nur ein einziges noch wie tiefer eingegraben in seiner Seele. Es war das Bild eines breiten, in raschem Gange majestätisch dahinziehenden Stromes, eines mächtigen Gewässers, das durch die Auen der schweigend ruhenden Flur, an dem Fuße der unbewegten Hügel entlang dahinfluthete, wie das einzig Lebendige, einzig Mächtige, wie der bewegte Herrscher in dieser todten Welt. Und sich selber sah er am Ufer dieses Stromes stehen, auf denselben hinunterblickend, mit den Augen seine Tiefe zu ermessen suchend – und im Herzen das Gefühl, daß auch er zu der todten Welt, durch welche der Strom als lebendiger Herrscher dahinzog, gehöre. Ein innerlich todter Mensch, auf dessen Lebensflamme erstickend sich die Asche verglühter Hoffnungen, hoher Entwürfe und idealer Zukunftsbilder gelegt hatte. Ein todter Mensch, nun für alle Zeit verurtheilt, so am Ufer des Zeitenstroms, der dahinziehenden Wellen der Weltgeschehnisse zu stehen, sie an sich vorübergleiten zu lassen, eine nach der andern, und ihnen mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen, wozu und warum! – –

Am folgenden Vormittage schritt Raban abermals zu der Wohnung Mariens. Als ihm hier von dem Diener wie gestern die Nachricht geworden, daß das Fräulein zu krank sei, um irgend Jemand zu empfangen, ließ er ihre Zofe Anna bitten, zu ihm herauszukommen. Anna erschien und gab Bericht über Mariens Befinden; das Fräulein sei ganz bedenklich angegriffen, von Herzklopfen gepeinigt, von Schlaflosigkeit – aber der Arzt hoffe, daß der Zustand in einigen Tagen gehoben sei, ohne daß sich, wie er anfangs gefürchtet, eine ernstere Krankheit daraus entwickele.

Raban konnte, beruhigter über diesen Punkt, sich entfernen; er konnte wieder einen seiner weiten Spaziergänge antreten, wobei er sich die Frage vorlegte, ob er nicht besser thue, wenn er Wien, das für ihn kein glücklicher Boden mehr war, verlasse und in seine Heimath zurückkehre, die vielleicht mit mildernden, tröstend zerstreuenden Einflüssen ihm über die kommenden Tage hinweghelfen würde.

Als er dann am Abende ziemlich spät seine Wohnung im Hotel wieder betrat, wurde ihm mitgetheilt, daß ein ältlicher Herr dagewesen sei, um ihn zu sprechen. Er sei zweimal gekommen, in den Abendstunden noch, und habe großes Bedauern geäußert, Herrn von Mureck nicht treffen zu können. Als er das zweite Mal fortgegangen, habe er hinterlassen, daß er am andern Morgen in der Frühe wiederkommen werde.

„Und hat er keine Karte zurückgelassen?“ fragte Raban.

„Eine Karte schon!“ sagte der Portier, indem er eine solche hervorholte; „diese hier.“

Raban erstaunte nicht wenig, als er den Namen las, den die Karte zeigte. Der Name lautete nicht anders, als:

„Heinrich Melber, Graveur.“ .

Es stand wirklich so da: Heinrich Melber! Also dieser Mann war es, der nun aus eigenem Antriebe zu ihm kam! Wozu, weshalb kam er?

Raban fragte es sich und wiederholte es sich, während er, oben in seinem Zimmer angekommen, beunruhigt auf- und abschritt. Und doch war die Frage nicht schwer zu beantworten. Wenn Heinrich Melber das Bedürfniß fühlte, sich ihm zu nähern, so konnte es nur sein, weil „das Eis gebrochen“, der entscheidende Schritt geschehen war; weil Marie Tholenstein Wolfgang Melber hatte zu sich berufen lassen, weil sie ihm Alles gesagt, ihm alle ihre Rechte übertragen zu wollen erklärt hatte, und weil nun Heinrich Melber, von Wolfgang unterrichtet, das Bedürfniß empfand, mit Raban zu sprechen, von ihm zu vernehmen, was eigentlich sein Vater ihm geschrieben, von ihm den Brief seines Vaters selbst übergeben zu erhalten.

Nichts Anderes konnte des Mannes eifriges Verlangen, Raban zu sprechen, bedeuten, und nichts Anderes war für Raban zu thun, als sich entsagungsvoll in die Lage der Dinge, in die weitere Entwickelung dessen, was nun kommen würde, zu ergeben. Wenn Mariens Herz an Wolfgang hing, so unwürdig dieser ihrer sein mochte, so war sie für ihn auf ewig verloren, mochte nun ihr edelmüthiges Verzichten ihr das Herz Wolfgang’s gewinnen, oder mochte dieser bei dem Widerstreben gegen solch eine still und sanft mahnende Lebensgefährtin, gegen solch eine Trauerweide, wie er sich ausdrückte, beharren. Es gab nichts, was einen Lichtschimmer, eine tröstende Helle in Raban’s Zukunft warf, als der Gedanke, daß er durch diese Zukunft doch wandern könne auf Wegen, die neben denen einherliefen, welche sie wandelte. Er konnte mit ihr dieselben Pfade schreiten, zu den Hütten der Armen und zu den Leidenden, den Hülflosen. Er konnte sich in eine ihn glücklich machende Gemeinsamkeit des Herzenslebens mit ihr hinein fühlen, wenn er wie sie seine suchenden Gedanken auf die Umgestaltungen unserer gesellschaftllchen Einrichtungen wandte, die zur Abwehr der Noth der Enterbten führten; zur Umgestaltung vor Allem der Anschauungen der Menschen und ihrer Art zu fühlen bei fremdem Leide, und zur Christianisirung eines noch ganz heidnischen Verhaltens der Menschen zu den schwerwiegenden Fragen der Humanität.

Er konnte ihr verwandt, er konnte Marien ein geistiger Bruder bleiben. Er konnte streben, gut zu werden wie sie. Er konnte sich sogar sagen, daß so vielleicht eine Stunde kommen werde, wo sie selbst fühlen und sich gestehen würde, sie hätte besser daran gethan, wenn sie ihr Herz statt Wolfgang einem andern Manne zugewandt . . . Doch nein, nein, vielleicht war sie dann die Gattin Wolfgang’s, und dann wäre es ein Frevel gewesen, so etwas zu wünschen und darin eine Genugthuung zu empfinden!

Es war am andern Morgen noch ziemlich früh – Raban hatte sich eben erst erhoben, nachdem ihm spät erst der Schlaf gekommen – als der Kellner Herrn Melber meldete und dieser zugleich eilig eintrat. Es war ein kleiner ältlicher Mann, vorgebeugt gehend, mit hoher gewölbter Stirn und einem leidenden Ausdrucke in seinem anziehenden Gesicht, das von langem ergrauenden dünnen Haare umrahmt war – er trug es hinter die Ohren gestrichen und von einer Brille dort festgehalten. Wie vom raschen Treppensteigen außer Athem, schien er nicht gleich die Worte zur Anrede finden zu können. Raban sagte, ihm entgegengehend:

„Herr Melber – ich kann mir denken, weshalb Sie zu mir kommen – um eines Briefes willen, den mein Vater . . .“

„Um eines Briefes willen?“ fiel ihm der Graveur in’s Wort „o mein Gott, nein, leider handelt es sich wenig um Briefe, sondern –“

„Nicht? Aber um was denn? Bitte, nehmen Sie Platz. Um was denn handelt es sich?“

Heinrich Melber ließ sich wie erschöpft in einen Sessel fallen.

„Um etwas sehr Fatales, um etwas ganz Schreckliches . . . man hat meinen Sohn, meinen Sohn Wolfgang, den Bildhauer Wolfgang Melber am gestrigen Mittage verhaftet –“

„Verhaftet? Ihren Sohn?“

„Verhaftet, zum Landgericht eingeliefert . . .“

„Aber ich bitte Sie, weshalb?“ rief jetzt ebenfalls erschrocken Raban aus.

„Ja – weshalb! Das ist’s eben, was mich zu Ihnen treibt! Wegen eines Mißverständnisses, eines ganz falschen Verdachts, einer Dummheit . . .“

„Ist das möglich! Aber weshalb denn, wegen welches Verdachts?“

„Er soll gestohlen haben – Münzen gestohlen – Goldmünzen – aus dem kaiserlichen Cabinet . . .“

(Fortsetzung folgt.)


[556]

Alfred Meißner’s Lebenswerk.

Von Hans Blum.
(Schluß.)


Es war im September 1846, als Meißner nach Leipzig kam. Der Verleger für „Ziska“ war bald gefunden. Das Heldengedicht erschien und hatte ungeheuren Erfolg. Meißner konnte am Morgen nach der ersten Ausgabe von sich sagen, wie Byron, daß er über Nacht berühmt geworden sei. Die erste Auflage war in der ersten Woche vergriffen. Alle Zeitungen, alle Literaturzeitschriften – von denen es damals eine Fülle gab – waren voll des einmüthigsten Lobes, obwohl Meißner den einflußreichen Freunden jedes Wort über das Werk verboten hatte. Selbstverständlich machte dieser glänzende Wurf den vierundzwanzigjährigen Dichter in allen Schriftsteller- und Künstlerkreisen begehrt und beliebt, ebenso sehr aber auch seine persönliche Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit. Leipzig und Dresden konnten damals als die Heimathsitze der namhaftesten deutschen Schriftsteller und Künstler gelten. In Leipzig lernte Meißner Heinrich Laube, Herloßsohn, Ignaz Kuranda, Ernst Willkomm, Johannes Nordmann, Oettinger etc. kennen, in Dresden Gutzkow, Auerbach, Richard Wagner, Robert Schumann, Rietschel, Semper, Julius Hübner, Julius Schnorr, Hähnel, Ferd. Hiller. In treffendster Weise wird jeder dieser Männer von Meißner geschildert. Gutzkow’s „Uriel Acosta“ war für ihn das letzte literarische Ereigniß in Dresden. Er mußte unfreiwillig und plötzlich von der sächsischen Hauptstadt Abschied nehmen.

In Oesterreichs amtlichen Kreisen war nämlich Meißner’s „Ziska“ keineswegs mit der Begeisterung aufgenommen worden, wie im Volke. „Ziska“ ward im Gegentheil von der kaiserlich königlichen Censurhofstelle mit dem damnatur belegt. Die strafrechtliche Verfolgung des österreichischen Verfassers war damit angesagt. Daß diese in Form eines „Kreisschreibens“ an die österreichischen Regierungsämter im Werke sei, erfuhr Meißner durch die anonyme Zusendung dieses lithographirten Actenstückes von Seiten eines vertrauten Freundes in Prag. Trotz der damaligen sprichwörtlichen Bereitwilligkeit des sächsischen Staates, Oesterreich bei Ergreifung politischer Verbrecher starke Hand zu leisten, weilte Meißner noch in Dresden. Eben erst hatte er das lithographirte „Kreisschreiben“ erhalten.

Es war ein feuchtkalter Januarabend des Jahres 1847, als er mit Richard Wagner, Friedrich Pecht und Hähnel aus Helbig’s Restaurant an der Brücke trat und seiner Wohnung in der Neustadt zuschritt. Da redete ihn, dicht am Hause, ein Friseur leise und vorsichtig in breitem Sächsisch an und vertraute ihm, daß Polizei seit einer Stunde auf seinem Zimmer seiner warte und eine Droschke in der Nähe auf sie Alle.

„Sehen Sie dort die Droschke, mein gutes Herrichen,“ schloß der freundliche Warner, „es ist die bewußte.“

„Ich blickte in die angegebene Richtung,“ sagt Meißner, „betrachtete das mir freundlich zugedachte Vehikel, war aber entschlossen, dasselbe nicht zu benutzen.“

Ohne Zeitverlust nahm unser Dichter den nächsten nach Preußen abgehenden Eisenbahnzug.

Seine Wanderzeit begann. Erst in Köln machte er Halt. Dann ging es weiter nach Brüssel. In dem bunten Flüchtlingsgewimmel der belgischen Hauptstadt gewinnt Meißner einen lieben, bedeutenden Freund, den geistvollen, bescheidenen Jacob Kaufmann. Am 8. Februar 1847 betritt Meißner zum ersten Male Paris. Sein unseliges Wiedersehen mit Céleste an diesem Tage ist schon oben erzählt. Am 10. Februar schon sucht er Heinrich Heine auf. Das Verhältniß der beiden Dichter gestaltet sich von Anfang an überaus herzlich. Kein Anderer hat über Heine’s Verhältnisse, Gedanken, schriftstellerische Schöpfungen und Pläne der folgenden Jahre so tiefe und unbefangene Aufschlüsse gegeben, wie Alfred Meißner. Was er selbst darüber geschrieben, Strodtmann und Eduard Engel mitgetheilt hat, darf als beste und untrüglichste Quelle der Nachrichten aus dem letzten Jahrzehnt des unglücklichen Dichters gelten. Diese Mittheilungen über Heine füllen einen großen Theil der beiden Bände des Meißnerschen Memoirenwerks. Darum allein schon lohnt sich dessen Besitz.

Aber auch für die Kenntniß der hervorragendsten Gelehrten, Schriftsteller, Dichter des damaligen Frankreich sind diese Erinnerungen Meißner’s ungemein werthvoll. Jules Michelet, Béranger, Alexander Dumas Vater z. B. sind sämmtlich köstlich geschildert. Der Dialog, der sich mit Vater Béranger bei Meißner’s Besuch entspinnt, ist die beste Lustspielscene, die man sich denken kann. Béranger hält Prag für die Hauptstadt Ungarns, verwechselt es dann mit dem aus der polnischen Erhebung berühmten Praga und hält Meißner trotz aller Belehrung für einen Ungarn. Als ihm auch dieser Irrthum benommen ist, macht er die verworrenen staatsrechtlichen Verhältnisse Deutschlands dafür verantwortlich, daß er, der klare Franzose, sich nie darin zurecht finden könne. Alexander Dumas dagegen versichert ernsthaft, er arbeite an einer Uebersetzung von Schiller’s „Kabale und Liebe“ – „eine Arbeit,“ sagt Meißner, „die um so erstaunlicher erscheint, wenn man bedenkt, daß Dumas kein Wort Deutsch verstand.“ Endlich lernt Meißner damals auf einer Eisenbahnfahrt von Havre nach Paris eine reizende junge Deutsche kennen, die er fortan häufig spricht, und zwar so oft er nach Paris kommt, mit der er stundenlang durch die Umgebungen der Weltstadt wandert, die aber um ihren Namen, ihre Familie, ihre Wohnung undurchdringliches Geheimniß webt. Erst viele Jahre später, nach dem Tode Heine’s, erfährt Meißner von ihr selbst, daß sie Heine’s „Monche“ (Camilla Selden) gewesen, von der unseren Lesern Eduard Engel zu Beginn dieses Jahres eingehend berichtet hat.

Im September 1847 kehrte Meißner nach Deutschland, zunächst nach Heidelberg, zurück. Der kurze Aufenthalt daselbst ward von entscheidender Bedeutung für die Richtung seines poetischen Schaffens. Er traf dort Berthold Auerbach, Adolf Stahr, Jacob Moleschott, Hermann Hettner, Ludwig von Rochau. Den Freunden theilte er mit, daß er weitere zwei Epen aus der böhmischen Geschichte „Georg von Podiebrad“ und die „Weißenberger Schlacht“ fast vollendet habe. Auerbach und Hettner erheben lebhafte Einsprache, erklären den Stoff für undeutsch, der deutschen Sache in Böhmen gefährlich. Inzwischen war nämlich die czechische Nation erfunden worden. Meißner wehrt sich, streckt aber die Waffen vor der verstärkten Gegenrede der Freunde. Die Gedichte wandern in den Ofen, und am Abend kann er den Freunden verkünden, daß es bei ihm „mit den alten Böhmen für immer vorüber sei“.

Diese That erweist sich nach seiner Rückkehr nach Prag, Ausgangs 1847, als eine wirklich gute, deutsche That. In dem wilden Nationalitätenstreite, den das Jahr 1848 in der böhmischen Hauptstadt wachsen sieht, wären Meißner’s czechische Epen wirklich nur den Feinden der Deutschen in Oesterreich Rüstzeug gewesen. Unvergleichlich lebendig ist die Schilderung der Scenen und Persönlichkeiten, welche der Frühling des „tollen Jahres“ in der böhmischen Hauptstadt über die öffentliche Schaubühne führt. Meißner schildert sie aus erster Quelle, denn der Dichter des „Ziska“ ward von den begeisterten Volksmassen in die provisorische Regierung Böhmens, den „Nationalausschuß“ gewählt. Doch immer fremder und unbehaglicher fühlt sich Meißner in der Stadt seiner Jugend bei der wachsenden Unklarheit der Köpfe und Ziele. Auf das Frankfurter Parlament ist sein Hoffen, seine Zuversicht gerichtet. Er eilt zu Pfingsten nach Frankfurt; von Leipzig an macht er die Fahrt mit Arnold Ruge. Er bleibt in Frankfurt bis gegen Neujahr und sieht hier alle die Hoffnungen in Trümmer gehen, die er auf die Versammlung in der Paulskirche gesetzt. Die Erstürmung Prags und die Wiens durch Windischgrätz liegen dazwischen. Meißner stand ganz auf dem Boden der Frankfurter Linken, und auch sein Werk steht heute nach sechsunddreißig Jahren noch auf diesem Boden. Der Historiker mag es deshalb tadeln; dem Freunde treuer zeit- und culturgeschichtlicher Schilderung bietet es eine Fülle köstlichsten, frischesten Stoffes. An der großen Revolutionsbewegung selbst hatte sich Meißner nur durch ein „Octobergedicht“ aus Anlaß der Wiener Octobertage betheiligt. Dieses sollte nach der Meinung des Prager Staatsanwalts eine wahre Fundgrube politischer Verbrechen enthalten, nämlich: „1) Schmähung des Landesfürsten, mit der Absicht, gegen ihn Abneigung zu erwecken; 2), 3) und 4) Aufforderung zum Aufruhr, zur Unterjochung des Vaterlandes durch einen äußeren

[557]

Des Meeres und der Liebe Wellen. Nach dem Oelgemälde von Wilhelm Kray.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstaengl in München.

[558] Feind (deutsche Reichsarmee) und zu gewaltsamer Veränderung des österreichischen Kaiserstaates.“ Meißner traute dem Landfrieden in Frankfurt nicht mehr. Er hatte auch geschäftlichen Grund in’s Ausland zu reisen, da ihm ein Frankfurter Verleger den Auftrag ertheilt hatte, ein Buch über die sociale Bewegung im republikanischen Frankreich zu schreiben.

So geht es denn abermals über Köln nach Paris. In Köln macht Meißner die Bekanntschaft von Freiligrath und Karl Marx. Der Letztere giebt ihm an einen Herrn Sarpi in Parts ein Paket mit, das in einer wilden Straße, im Dunkeln, unter seltsamen Paßworten abgeliefert werden soll. Ein Mann in den Vierzigern, blaß, mit schwarzem Vollbarte, nimmt es dort begierig in Empfang. Als wenige Wochen später die Zeitungen das Bild des revolutionären Volkstribunen und Herrschers von Rom veröffentlichen, erkennt Meißner in Signor Sarpi – Joseph Mazzini. Auch Alexander Herzen und Telecky lernte Meißner in Paris kennen! Den Hauptreiz dieser Pariser Capitel bilden aber auch diesmal die tiefen Gespräche Heinrich Heine’s über Zeit und Menschen.

Der Mai 1849 ist gekommen, der letzte Act des Trauerspiels der Revolution. In Dresden, Baden, der Pfalz und ganz Oesterreich-Ungarn herrscht das Standrecht. In Oesterreich allein enden nach authentischen Quellen von 1848 bis 1852 am Galgen oder unter den Kugeln des Standrechts 2187 politische Verbrecher! Da litt es Meißner nicht mehr in der Heimath, in Karlsbad, wohin er inzwischen wieder zurückgekehrt ist. Er sucht die Einsamkeit. Seine liebsten Freunde leben in der Verbannung, sind gestorben, verdorben in den furchtbaren Jahren. Er eilt nach England, in das freie Inselreich, das, unberührt von der wilden Reaction des Festlandes, sein freies Staatsleben weiter entwickelt. Natürlich wimmelt es auch in London von Flüchtlingen. Da findet Meißner Moritz Hartmann wieder, dann Ludwig Bamberger, Arnold Ruge, Adolf Stahr, Fanny Lewald, selbst Ladislaus Rieger und Franz Pulsky. In den feinsten Familien und Gesellschaften Englands erhält Meißner Zutritt, bei Lord Russell wie im Carlton-Club. Im Hochsommer bricht er zum Besuche der schottischeu Hochlande auf, der Mutter Heimath. Da ist auf stürmischer Seefahrt die Bibel das einzige Buch an Bord. Unser Dichter liest die Geschichte des Königs David, tagelang. Der Plan seiner ersten dramatischen Arbeit „Das Weib des Urias“ ist in seinem Haupte vollendet, als er das Buch der Bücher aus der Hand legt. Sofort wird die dramatische Dichtung geschrieben und gedruckt. Sie hatte in damaliger Zeit keine Hoffnung, aufgeführt zu werden, vornehmlich wegen ihrer historischen Treue. An poetischem Werthe stellten sie einzelne Kritiker, wie z. B. Julian Schmidt, über Alles, was Meißner bis dahin geleistet.

Sofort nach dem Erscheinen dieses Werkes im Sommer 1851 ging Meißner an eine zweite dramatische Arbeit „Reginald Armstrong oder die Welt des Geldes“, eine Tragödie, die alsbald in Prag, Braunschweig und Hannover mit dem glänzendsten Erfolge gegeben, von den Hoftheatern in Berlin, München und Dresden zur Aufführung angenommen wurde. Aber die Aufführung in Wien, in der Saison morte von 1852, verdarb die glänzenden Aussichten, die das Stück verdiente. Dasselbe war nichts für die damalige Wiener Gesellschaft: viel zu innig, durchgeistigt, freisinnig – und zudem hatte der Dichter des „Ziska“, der Freiheitslieder des „tollen Jahrs“ dort einflußreiche Feinde. Das Wiener Theaterpublicum aber galt damals in ganz Deutschland als die inappellable Instanz über den Werth oder Unwerth eines neuen dramatischen Werkes. Hier wurde auch Meißner’s spätere dramatische Arbeit „Der Prätendent von York“, trotz ihres großen Erfolges in Weimar, durch die kühle Haltung des Burgtheaterpublicums zu Grabe getragen.

Damit war leider Meißner’s Entschluß besiegelt, dem dramatischen Schaffen zu entsagen und sich ausschließlich dem Romane zuzuwenden. Was er auf diesem Gebiete geleistet, wissen wir Alle. Aber seine Lebenserinnerungen brechen an dem Punkte ab, wo er in diese neue Bahn einlenkt, in der er Jahrzehnte ausharrte und Kranz um Kranz errang.

Dreißig Jahre sind darüber hingegangen. Aus dem Dreißiger ist ein Sechsziger gemordet. Aber frisch, aufrecht und schaffensfreudig, mit jugendlich warmem Herzen hält er die Wacht deutscher Gesinnung und Gesittung, deutscher Poesie nach wie vor in Oesterreich. Seine Ideale sind die seiner Jugend. Seine Feder ist sein Schwert, und er schlägt eine so kräftige Klinge wie irgend ein anderer Deutsch-Oesterreicher durch Reden im Reichsrath, oder durch Leitung eines der großen Organe der Wiener Presse. So möge dem trefflichen tapferen Dichter noch ein langes Schaffen und Genießen und bald auch Zeit und Lust beschieden sein, die Geschichte seines Lebens bis auf die Gegenwart weiter zu erzählen.


Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)


19.

Nach dem Schloßbrande 1774 hatte man, um dem Kunstbedürfnisse des Hofes, besonders der Herzogin Anna Amalie, zu genügen, zuerst im Fürstenhause auf einer kleinen Bühne französische Stücke gegeben. Als dann Goethe die Leitung der gesellschaftlichen Freuden in die Hand nahm, wurde in dem Saale eines Hauses an der Esplanade eine größere Bühne aufgeschlagen und schon im vorigen Winter zu verschiedenen Aufführungen deutscher Stücke benutzt. Es spielte da vor einer gewählten Gesellschaft wer irgend Talent besaß, gewöhnlich aber gaben die Kammersängerinnen sowohl im Singspiele wie auch im Drama die Hauptrollen.

Mit dem Eintreffen Corona Schröter’s erhielt die Theaterlust neue Nahrung. Die Künstlerin richtete sich mit ihrer treuen Wilhelmine häuslich ein und trat bald unter großem Beifall in Concerten und Hofgesellschaften auf.

In derselben Weise wie im vorigen Jahre folgten auch in diesem Winter die geselligen Freuden, gleich einem Fries bunter Märchengestalten, einander auf dem Fuße. Alle die künstlerisch wirksamen Menschen ersannen täglich Neues und fanden von allen Seiten Beifall und Verständniß für jeden geistreichen und poetischen Gedanken.

Wie die einsame Trauerweide im einem Garten voll blühender Blumen, voll fruchttragender Bäume stand die Herzogin Luise zwischen der lebensfrohen Menge. Entschiedener noch als im ersten Winter ihrer Ehe mied sie die Freuden der Geselligkeit. Immer noch unter dem Vorwande der Trauer um den Tod der Schwester, immer noch im schwarzen Kleide, war sie nicht zu bewegen, in größere Kreise zu gehen, und schien selbst kleine Gesellschaften widerwillig zu besuchen.

Dem Herzoge ward dieses Wesen aber so unverständlich und so unbequem, daß er bereitwillig den unausgesprochenen Wunsch der Gattin erfüllte und sich, wo es anging, von ihr fern hielt. Er wußte, daß die stillschweigende Trennung zwischen ihnen seit Emiliens Tode und der sich daran knüpfenden peinlichen Unterredung datire; aber er, dem gänzlich entfallen war, was er eigentlich Verletzendes gesagt hatte, begriff nicht, wie Luise so lange zürnen konnte.

Mittlerweile suchte er sich auf jede andere Weise schadlos zu halten und machte verschiedenen Damen der Gesellschaft den Hof. Keine aber vermochte ihn dauernd zu fesseln. Auguste Kalb war ihm zu entgegenkommend, die Göchhausen zu wenig schön, Adelaide Waldner zu kindisch, Karoline Ilten zu verliebt in seinen Bruder, die liebliche Sophie von Schardt, die junge Schwägerin der Stein, zu harmlos und tugendhaft. Endlich interessirte ihn die ehrliche, frische Henriette von Wöllwarth, doch sah er, daß er seinem treuen Kumpan Wedel damit arg in’s Gehege komme, und so mußte er auch hier zurücktreten.

Goethe hatte sich entschlossen, auch den Winter über in seinem Gartenhause am Stern auszudauern. Er meinte, das alte Haus lasse sich repariren und das Gärtchen an der Ilm sei ihm gar zu lieb. Dann dichtete er mit Moos und Werg Fenster und Thüren und richtete sich mit seinem Philipp in dem engen Neste wohnlich ein. Man betrat das Haus durch eine vom [559] Garten herein führende Thür; unten hauste der praktische Famulus; eine schmale Treppe führte in den oberen Stock, hier schlossen sich zwei Stuben mit einem Altane und zwei kleine Seitencabinete dem engen Flure an.

In dem größeren Zimmer mit schlichtester Einrichtung saßen Mitte December der Herzog und Goethe in traulichem Gespräche beim knisternden Holzfeuer des großen Kachelofens.

Karl August klagte endlich dem Freunde die fortdauernde Trennung von seiner Frau, über die er bislang geschwiegen, weil er Goethe auf Seiten der Herzogin gesehen und sich dadurch verletzt gefühlt hatte.

„Solche Maulerei und thörichte Pikirtheit, die kein Ende finden kann, ist mir unausstehlich,“ sagte er jetzt rückhaltlos. „Du weißt, wir hatten im Sommer etwas wie einen Zank, ich mag wohl zu derb geworden sein, ein paar unbedachte Worte hingeworfen haben! Ich schwöre Dir aber, daß ich von der ganzen Geschichte nichts Genaues mehr weiß; und sie spinnt sich daraus einen Trauermantel, den sie sammt ihrer Duldermiene gar nicht wieder los wird. Diese Sentimentalität ist mir zu arg!“

Goethe vertheidigte die Herzogin mit warmen Worten.

„Wußt’ ich’s doch im Voraus, daß Du ihr Advocat sein würdest!“ rief Karl August unzufrieden. „Deshalb habe ich Dir auch nichts wieder von unserem Zwist gesagt; nun aber kommt im Januar ihr Geburtstag heran; der Besuch des Cousin Ferdinand von Braunschweig ist in Sicht, da muß Luise doch ihre Trauerflöre abthun, repräsentiren und aufhören mir ein grämliches Gesicht zu schneiden, sonst heißt es in der Verwandtschaft, wir leben wie Katze und Hund zusammen.“

„Besinne Dich, womit Du sie beleidigt hast; bei Milli’s Tode fand Eure Entzweiung statt? Wenn ich Arzt sein soll, muß ich genau den Sitz des Uebels kennen.“

Der Herzog beichtete; so gut er sich jener Unterredung noch entsann, suchte er sie wieder zusammen zu stellen.

„So glaubt sie also Deine Liebe verloren zu haben?“ rief Goethe bewegt, „so trauert sie um ihr verlorenes Eheglück? Und Du bist nicht davon ergriffen, bist nicht in tiefster Seele gerührt?“

„Rührung hin, Rührung her!“ knurrte der Herzog unwirsch.

„Setze sie mir zurecht, weine meinetwegen mit ihr, aber mach’ sie wieder entgegenkommend und vernünftig.“

„Sie verhält sich stolz und ablehnend gegen mich, sie hält mich für feindlich gegen sie gesinnt, und ich verehre sie doch so innig. Aber laß mich überlegen, ich will versuchen ein Festspiel zu erdenken, das, auf sie gemünzt, ihr vielleicht zu Herzen geht.“

Einige Wochen später ward die lustige Welt von Weimar durch die Nachricht lebhaft in Bewegung gesetzt, Goethe habe zum Geburtstage der Herzogin Luise ein neues Drama gedichtet, Seckendorf die darin vorkommenden Lieder in Musik gesetzt, Aulhorn werde Ballets arrangiren, und nun solle es an ein Vertheilen der Rollen, an unterhaltende Proben und an alle jene Vorbereitungen gehen, die oft ergötzlicher sind als der Festabend selbst. Die Jugend zeigte sich, wie immer, voller Bereitwilligkeit, und das Unternehmen ward mit allen Kräften in Angriff genommen. So kam der festliche Tag, der 30. Januar heran.

Der Herzog hatte seiner Gemahlin durch die Oberhofmeisterin Gräfin Gianini sagen lassen, er hoffe sie an ihrem Geburtstage in farbiger Gesellschaftstoilette zu sehen.

Am Morgen des Tages ließ er bei ihr anfragen, wann sie ihn empfangen wolle.

Sie ließ erwidern, daß sie immer für ihn bereit sei.

Er ging also mit einem Schmuckkästchen, das ein Halsband von Türkisen enthielt, etwas unbehaglich gestimmt – denn seit jenem unliebsamen tête-à-tête hatte er nie versucht sie allein zu sehen – zu ihr in den grünen Salon.

Luise war heute weiß gekleidet, sie sah aber ebenso bleich und niedergeschlagen aus wie immer, und sowohl ihre beiden Hofdamen, wie auch die Oberhofmeisterin waren zugegen. Damit war jede Möglichkeit einer intimeren Erörterung abgeschnitten.

So sehr nun Karl August auch Versöhnung wünschte, athmete er doch erleichtert auf, als es jetzt noch nicht zu der halb gefürchteten Aussprache zwischen ihnen kommen konnte. Diese Frau hatte ein Etwas in ihrem Wesen, das ihn beklemmte, und stets fühlte er sich ihr gegenüber in einer fremden Atmosphäre. Er übergab mit einem kurzen Glückwunsch sein Geschenk, küßte seine Gemahlin auf die Wange, nahm zu einer kurzen, gleichgültigen Besuchsunterhaltung mit den Damen Platz und war froh, als die Geburtstagscour der Gratulanten das Zimmer derart anfüllte, daß von einer persönlichen Berührung nicht mehr die Rede sein konnte.

Nach einem Hofdiner in den üblichen Formen sollte zum Abend die Aufführung des lange vorbereiteten Festspiels folgen.

Der Saal, in welchem an der einen kürzeren Seite die Bühne aufgeschlagen worden, prangte heute in besonderem Schmuck. Tannengewinde und Treibhauspflanzen, reichlichere Beleuchtung als sonst, Fahnen, Inschriften und Festons bildeten ein heiter einladendes Ganze.

Die Mitglieder des Hofes, welche nicht als Darsteller im Stück beschäftigt waren, umgaben die in weiße Seide gekleidete junge Herzogin, an deren Halse der ihr vom Herzoge verehrte Schmuck glänzte, und eine befohlene große Gesellschaft füllte alle übrigen Zuschauerplätze.

Eine Festouvertüre, unter Leitung des Capellmeisters Wolf, von den sechsunddreißig Mitgliedern der Capelle vortrefflich ausgeführt, eröffnete das Spiel.

Dann trat Karoline von Ilten, anmuthig als Amor gekleidet, hinter dem Vorhang heraus, ging auf die Herzogin zu, überreichte ihr einen Theaterzettel – während die Gesellschaft durch Lakaien mit Zetteln versorgt wurde – und trug, zaghaft stockend, neben gereimten Glückwünschen, die Bitte vor, das folgende Spiel, von Amor selbst ersonnen, sich wohl gefallen und zu Herzen gehen zu lassen.

Der Komödienzettel lautete:

Festspiel

zu Ehren des Geburtstags Ihrer Durchlaucht, der Herzogin Luise von
Sachsen-Weimar-Eisenach,

am 30. Januar 1777.

Lila, ein Drama mit Gesang und Tanz.

Personen:
Baron Sternthal Sr. Durchl. Herzog Karl August.
Lila, seine Gemahlin Demoiselle Corona Schröter.
Marianne, seine Schwester Frl. Heimelte von Wöllwarth.
Schwestern der Lila Auguste von Kalb
Frl. Adelaide von Waldner.
Graf Altenstein Oberstallmeister von Stein.
Graf Friedrich, sein Sohn Oberforstmeister von Wedel.
Doctor Verazio Legationsrath Goethe.
Der Oger,[1] der Dämon, Feen, Spinnerinnen, Gefangene.

Das Stück handelte von einem durch Mißverständnisse getrennten Ehepaare und ging mit phantastischen Erscheinungen, Tänzen und Chören ergötzlich vorüber. Lila, die aus Irrthum und Wahn den Verstand verloren hat und stets Trauerkleider trägt, wird durch Doctor Verazio-Goethe hergestellt und mit ihrem Gemahl wieder vereinigt. Zuletzt singt sie:

„Ich habe Dich, Geliebter, wieder,
Umarme Dich, o bester Mann!
Es beben alle mir die Glieder
Vom Glück, das ich nicht fassen kann!“

Lebhafter Beifall folgte. Die Idee, der trübsinnigen jungen Herzogin ein Spiegelbild vorzuhalten, wurde auch recht wohl verstanden, doch hütete man sich, laut davon zu sprechen.

Welchen Eindruck die Herzogin selbst empfangen haben mochte, war schwer zu beurtheilen. Sie behielt stets in voller Selbstbeherrschung die Haltung ruhiger Würde. Wie üblich erhob sie sich nach dem Spiel und sprach mit den vornehmsten Personen ihres Kreises. Auf ein warmes Lob des Stückes und der hübschen Vorstellung von Seiten ihrer lebhaften Schwiegermutter antwortete sie mit edler Ruhe, daß es eine geschickt arrangirte Darstellung gewesen sei, die recht unterhaltend gewirkt habe. Dann fragte sie ablenkend, als eine Schaar Lakaien die Stuhlreihen forträumte und die Capelle sich anschickte auf der Bühne Platz zu nehmen, ob man noch zu tanzen beabsichtige. Die Herzogin Anna Amalie verneinte und sagte, so viel sie wisse, solle nur ein Souper an kleinen Tischen folgen.

Eine der andächtigsten Zuschauerinnen war Christel von Laßberg an der Seite ihrer Tante Barbara gewesen. Ihre großen blauen Augen weiteten sich immer mehr, und immer lebhafter zuckte die innere Erregung in ihren zarten Gesichtszügen, je phantastischer sich die Handlung entwickelte. Es schien ihr, als [560] lebe sie selbst zwischen diesen Spukgestalten, diesen Feen, Spinnerinnen und Gefangenen, die sämmtlich dem Winke des Magus Goethe gehorchten.

Nach einer langen und schweren Krankheit im Frühjahre hatte Christel ihr Traumleben in aller Stille fortgeführt. Da ihr Ungeschick, sich in der großen Welt zu bewegen, noch dasselbe war, mußte sie sich in diesem Jahre noch von aller Geselligkeit fern halten und durfte nur heute ausnahmsweise der Einladung zur Geburtstagsfeier der Herzogin folgen. Welch eine Fülle von Bildern und Eindrücken empfing sie wieder im tiefsten Heiligthum ihrer Seele! Wie köstlich schien es ihr, unbeachtet den Herrlichen in seiner Sicherheit und Schönheit als Meister des Spiels wirken und walten zu sehen!

Zwischen den Coulissen stehend, erwartete Wedel seine Partnerin Marianne-Henriette von Wöllwarth – die jetzt zu ihm trat. Wie hübsch und stattlich sie in der rosenfarbenen Tracht der Feenkönigin aussah! Er bot ihr zärtlich dem Arm, um sie die Stufen des Podiums hinunter im den Saal zu führen.

„Nun ist das hübsche Spiel und ,Liebendürfen‘ wieder vorbei, theure Marianne!“ sagte er mit theatralisch wehmüthigem Pathos. „Ich fürchte, es wird mir nicht gelingen, diese Maske abzulegen, diese vortreffliche Angewohnheit wieder los zu werden. Wie wäre es, wenn auch Sie’s versuchten, den Schein zur Wirklichkeit zu erheben?“

Unter solchen halb scherzhaft gesprochenen, halb ernsthaft gemeinten Worten führte er Henriette unter die herzu drängende, beglückwünschende Menge.

Die Tische zum Souper waren im Saale aufgestellt; Luisens Hofmarschall Graf Görtz hatte es gar eilig, die für den Tisch der Herzogin bestimmten Personen zu benachrichtigen; die übrige Gesellschaft setzte sich nach Willkür und Neigung zu einander.

Der Plagegeist.
Nach dem Oelgemälde von Hugo Kauffmann.

Hildebrand von Einsiedel, der nur im Chor beschäftigt gewesen, führte Lila-Corona zu Tisch. Goethe, der sich von Frau von Stein getrennt sah, welche an die Tafel der Herzogin befohlen war, nahm mit Adelaide von Waldner und einigen Paaren von der Schauspielergesellschaft an lustiger Tafelrunde Platz. Im Stillen hatte er gehofft, heute auch mit an den Tisch der Herzogin Luise gewünscht zu werden, da er es doch war, welcher ihr Fest verherrlichte. Er erwartete verständnißvolle Rührung in ihrem ernsten Auge zu lesen und war verstimmt, daß es ihm nicht geglückt war, der hochverehrten Frau noch vor dem Souper zu nahen. Mit Ungeduld flogen seine feurigen Blicke zu der fürstlichen Tafel und suchten nur einem Augenaufschlage von ihr zu begegnen.

Sie saß ruhig und edel da in ihrem Kreise, anscheinend unberührt von Allem, was geschehen und was noch um sie geschah.

Endlich erhob sich das herzogliche Paar, die ganze Gesellschaft folgte, und nun schloß noch eine letzte ungezwungene Unterhaltung die Freuden des Abends.

Es währte nicht lange, so nahte Goethe der Herzogin. Er stand jetzt dicht an ihrer Seite; sie schien ihn aber nicht zu bemerken und sprach angelegentlich mit der Gräfin von Werthern von Neuheiligen.

Da sah der Herzog des Freundes Verlangen und kam ihm in seiner resoluten Weise zu Hülfe.

Er bot der Gräfin den Arm, rief: „Du mußt die schöne Frau auch mir einmal gönnen, Luise!“ und führte die Dame in eifrigem Gespräche davon. Die Herzogin wandte sich halb und wollte an Goethe vorüber auf die Geheimräthin von Bechtoldsheim zugehen; er aber vertrat ihr den Weg und sagte, während hohe Röthe über seine schönen Züge flammte:

„Bin ich denn wirklich bei Eurer Durchlaucht in Ungnade gefallen?“

Luise maß ihn mit einem großen Blick: „Wünschen Sie etwas, Herr Legationsrath?“ fragte sie eisig.

„Ja!“ erwiderte er jetzt fest, „ich wünsche zu wissen, womit ich Eure Durchlaucht beleidigte?“

Um ihre Mundwinkel zuckte es wie Weinen, und sie flüsterte: „Halten Sie mich für so schwerfällig im Begreifen, daß ich den Sinn Ihres Festspiels nicht erfaßt haben sollte? Oder glauben Sie, daß es einer Fürstin, einer Frau gleichgültig sein kann, wenn sie vor der ganzen Gesellschaft als eine geisteskranke Thörin hingestellt wird?“

„Durchlaucht! Herzogin! Um Gottes willen, diese Auffassung?“ rief er in tiefstem Erschrecken.

„Still!“ raunte sie ihm zu. „Verschlimmern Sie nicht Alles durch noch einen Eclat!“

Graf Görtz trat in diesem Augenblicke heran, er sagte höhnisch, aber in submissester Haltung: „Ein reizender Anblick, wie der Dichter aus höchster Hand seinen Lorbeer empfängt!“

Die Herzogin entgegnete gefaßt: „Die Verse des Herrn Legationsrath Goethe waren in der That charmant; führen Sie mich an meinen Wagen, Graf!“

(Fortsetzung folgt.)


[561]

Am Grabe Heinrich Laube’s.

Am 3. August haben wir Wiener den Mann begraben, der achtzehn Jahre hindurch – vom December 1849 bis zum September 1867 – das Burgtheater leitete und ihm den Ruf der ersten deutschen Bühne verschaffte – ein Ruf, der, offen gestanden, seither nicht ohne allen Grund hier und da bemäkelt wurde. Fünfunddreißig Jahre hat Laube unter uns gelebt; er war einer der Unserigen geworden, er fühlte sich als ein Adoptiv-Wiener, noch ehe die österreichische Residenzstadt ihm – bei Gelegenheit seines siebenzigsten Geburtstages das Bürgerrecht verlieh. Als er hier die Leitung des Burgtheaters übernahm, erschien er als ein neues, ungewohntes Element: er war nicht von Adel, er war kein Katholik, er hatte weder äußerlich noch innerlich das Zeug zum Hofschranzen, und doch vertraute man ihm die Direction der vornehmsten Wiener Kunststätte an, und er durfte ziemlich frei schalten und walten, ja er drang bei den Oberbehörden mit Vorschlägen und Anträgen durch, welche schier unvereinbar aussahen mit dem österreichischen Polizeistaate der Reactionszeit.

Was Laube als Director des Burgtheaters vollbracht hat, sowie seine Position im deutschen Schriftthume überhaupt, muß einer späteren pragmatischen Würdigung überlassen bleiben; er war als Politiker, als Schriftsteller und als Bühnenleiter eine so markant ausgeprägte Persönlichkeit, er schöpfte und schuf immer so ganz aus seiner Zeit heraus, er hielt immer so beharrlich Schritt mit der Epoche, in der er lebte, daß eine zusammenhängende Darstellung seines Wirkens sich, wenn sie ihre Aufgabe richtig löst, zu einem culturgeschichtlichen Ueberblicke gestalten muß. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, eben von dem offenen Grabe Heinrich Laube’s kommt, der ist vor der Zumuthung sicher, ein abschließendes Wort sagen zu sollen über die Thätigkeit einer der eigenartigsten Erscheinungen unserer nationalen Literatur. Es kann sich heute nur darum handeln, dem Entschlafenen einen Gruß nachzurufen, keinen letzten Gruß, denn Deutschland darf erwarten, daß eine zureichende Feder sich bereit finden wird, Laube ein Denkmal in Form einer eingehenden Monographie zu setzen.

Heinrich Laube.
† am 1. August 1884.

Aber wie gesagt, wir Wiener betrauern in Laube unseren engeren Landsmann; mag er in Sprottau geboren worden sein, in Wien hat er sich als dramaturgischer Marschall bewährt, wir beanspruchen ihn für uns, obwohl ein Drittel seiner Persönlichkeit uns nur durch Ueberlieferung bekannt geworden: der Politiker.[2] Als solcher hatte er vor seiner Uebersiedelung nach Wien abgeschlossen. Er betheiligte sich von da an nicht mehr direct am öffentlichen Leben, aber in seinem Salon fiel so manches kräftige Wörtlein über Regierungskünstler und ihre Sünden, und namentlich in den letzten Jahren durfte Laube’s Haus als eine der Schutz- und Truzvesten des arg bedrohten Deutschthums gelten. Bei den letzten Gemeinderathswahlen machte Laube, was er früher nicht gethan, von seinem Stimmrechte Gebrauch, er wußte, daß in Zeitläuften, wie den jetzigen, jeder einzelne Wähler von Wichtigkeit sei, und er wollte seinen Mann stellen in dem Kampfe um den deutschen und freiheitlichen Charakter der Communalvertretung.

Wenn es wahr ist, daß Rafael ein malerisches Genie gewesen wäre, auch wenn er keine Hände besessen hätte, so darf man auch sagen: Laube hätte großen Einfluß geübt, auch wenn er keinem bestimmten Berufe angehört haben würde. Seine Bedeutung lag vielleicht mehr in dem, was er bei Anderen bewirkte und zur Reife brachte, als in dem, was er selber producirte. Er hatte der Politik entsagt und übte durch seine bloße Conversation größeren politischen Einfluß, als so mancher active Abgeordnete. Er war kein Theaterdirector mehr und galt doch als oberste Instanz in allen dramaturgischen Dingen. Schauspieler fragten ihn, ob sie Talent haben. Dichter brachten ihm ihre Stücke zur Begutachtung, und er prüfte Alles und Jedes mit eisernem Fleiße. In seiner hochgelegenen Arbeitsstube im vierten Stockwerke, von wo er auf das rege Treiben der Ringstraße hinabsah, ließ er Probe spielen und las er Manuscripte, die ihm „eingereicht“ wurden, als hätte er ein Haus und ein Personal, um sie aufzuführen. Er war Director in partibus infidelium, er leitete eine unsichtbare Bühne – das „Laube-Theater“, das erst an dem Tage geschlossen wurde, da sein Herz aufhörte zu schlagen.

Seit siebenzehn Jahren war er nicht mehr Director des Burgtheaters, er machte die Leipziger Episode durch, stand zwei Mal an der Spitze des von ihm gegründeten Wiener Stadttheaters, aber insgeheim meinten die Wiener doch, eines Tages müsse er wiederum einziehen in das kaiserliche Schauspielhaus am Michaelerplatz. Nach ihm kamen Wolf, Dingelstedt, Wilbrandt, aber hinter ihnen ragte immer der Schatten Heinrich Laube’s empor, und sie Alle, die ihm gefolgt, erschienen uns doch nur wie Platzhalter für ihn, der eines Tages wiederkommen müsse. Daß er altere, daß seine Thatkraft erlahmen könne, das wollte uns nicht in den Sinn.

Er lebte uns allzeit so, wie er in der Vorrede zu dem zweiten Bande seiner „Reisenovellen“ sich charakterisirt hatte: „Wenn es das Publicum interessirte, so würde ich eingestehen, daß ich eigentlich nie habe schreiben wollen, daß mir das Handeln viel interessanter ist, und daß ich nur schreibe, wenn ich nichts zu thun habe.“ Er mochte es nicht Wort haben, daß es ihm genüge, Schauspieler zu dirigiren, Bücher und Dramen zu schreiben. Als ein Mann der persönlichen That wollte er gelten. Jene Vorrede zu den „Reisenovellen“ hatte er vor mehr als vierzig Jahren erscheinen lassen; in der neuesten Zeitwieder betonte er öffentlich – aber es klang das wie eine leise Selbstironie aus dem Munde des Dramaturgen, der ohne Bühne nicht leben konnte –, daß er in die Thätigkeit eines Theaterdirectors ohne seinen vorgefaßten Willen hineingedrängt worden. In einer längeren Auseinandersetzung erzählt er, wie seine Stadttheaterdirection erster Periode geendet: „Da ergriff meine Behörde (er meint den „Directionsrath“, dem Freiherr von Scheh präsidirte) der herrschende Kleinmuth: sie verlangte ein wohlfeiles Theater. Das ist nicht meine Sache. Ich habe die Theaterdirection nicht gesucht und bin ihr nur treu geblieben, so lange als ich etwas der Rede Werthes [562] schaffen konnte. Mittelmäßiges mühsam zu ermöglichen, das schreckt mich ab und bringt mich zu der Stimmung, welche mich beim Eintritt in diese Laufbahn beherrschte, bringt mich zu der Frage: Wozu? Dies Wozu war jetzt nur kläglich zu beantworten, und deshalb trat ich zurück. Daß ich das Stadttheater nach Verlauf eines Jahres doch wieder übernahm, spricht nicht dagegen. Ich übernahm es jetzt nur als Hülfsarbeiter, als Helfer in der Noth, und wie man trocken sagt: aus verdammter Schuldigkeit, weil es für mich errichtet worden sei.“ ... Ich citire gern dieses Stück Laube’scher Prosa, weil ein stets arbeitssamer und dabei so scharfverständiger Mensch wie Laube am besten sich selbst erklärt.

Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß die beiden bedeutendsten Dramaturgen, die in Wien gewirkt: Franz Dingelstedt und Heinrich Laube, vorgaben, ihren Beruf nicht als hinreichend zu erachten für ihre Ansprüche. Ihre Gründe waren verschieden. Laube fand, daß er viel mehr arbeiten könnte, als ein Theaterdirector muß. Dingelstedt wäre gern über den Hofrath und den Baron emporgestiegen, und als Theaterdirector konnte er über diese Rangstufen nicht hinauskommen.

Wie Laube auch gedacht haben mag über seinen dramaturgischen Beruf, Wien betrachtete ihn vorzugsweise als Leiter des Burgtheaters. Von seinem Schriftstellerthume war den Wienern nur die dramatische Seite bekannt. Von seinen erzählenden Werken wußte man hier wenig, und als die „Presse“ seinen Roman: „Der deutsche Krieg“ veröffentlichte, war der Erfolg ein geringer. In der „Neuen Freien Presse“ ließ er später seine heftigen Artikel über und gegen das Burgtheater, sowie seine „Erinnerungen“ erscheinen. Jene interessirten durch ihren polemischen Ton, diese durch die Fülle des in ihnen angehäuften thatsächlichen Materials. Je älter er wurde, desto mehr drängte es ihn, sich zu beschäftigen. Eine Novelle folgte der anderen; er redigirte eine Gesammtausgabe seiner Werke, einen illustrirten „Lessing“, in den letzten Lebenstagen den Beginn zu einem illustrirten „Heine“; er ließ im Burgtheater ein Stück aufführen, das entschieden mißfiel, aber wann hätte ihn eine Niederlage entmuthigt! Er schien ewige Jugend und eine unerschöpfliche Energie zu besitzen. Jeder Mißerfolg spornte ihn nur zu neuem Ringen und Kämpfen an.

Heinrich Laube auf dem Todtenbette.
Originalzeichnung von W. Gause.

Er ist gestorben; ermüdet ist er nie ... Vor fünf Jahren noch lag ihm der Gedanke nicht fern, ein Berliner Theater zu übernehmen. Auch das Frankfurter Stadttheater stand für ihn in Frage.

Keines dieser Projecte verwirklichte sich, und Laube verblieb weiter in Wien. Hier war er populär wie Wenige. Ganz Wien kannte den gedrungenen, knochenfesten Mann in dem altmodischen, hinten mit einer Spange versehenen Rock, wie er, mächtigen Schrittes ausgreifend, die Hauptallee des Praters täglich um dieselbe Stunde durchmaß, gefolgt von seinen Jagdhunden, begleitet von einem befreundeten Künstler oder Schriftsteller. Ein ebenso regelmäßiger Prater-Spaziergänger war Erzherzog Franz Karl, der im Jahre 1878 verstorbene Vater Kaiser Franz Joseph’s, ein eifriger Theaterfreund. Der Erzherzog gesellte sich gar oft zu dem Director, und dann unterhielten die Beiden sich über das Burgtheater, und der Erzherzog war untröstlich, als er nicht vermochte, durch seinen Einfluß die Intriguen zu durchkreuzen, welche im Jahre 1867 Laube verdrängten.

Während Laube in Leipzig lebte, entbehrte das Wiener Localbild eine liebgewordene Figur. Aber sie kam wieder, Laube machte wieder seine täglichen Promenaden – nur die leise Aenderung trat nach und nach ein, daß er den Prater zu Wagen besuchte und in dem geräumigen Gefährte sein Nachmittagsschläfchen hielt nicht mehr der stramme, aufrechte Fußgänger von ehedem ...

Als ich ihn das letzte Mal besuchte – es war im Winter von 1883 auf 1884 – war er emsig damit beschäftigt, die Grillparzer-Biographie zu schreiben, seine starke, markige Schrift (immer Antiqua) bedeckte einen stattlichen Stoß von Quartblättern. Das Buch ist seitdem erschienen und hat Laube viele Anfeindungen eingetragen. Er hätte, sagen die Leute, aus Grillparzer’s Aufzeichnungen manche Bemerkung über das Verhältniß zu Katharina Fröhlich, seiner „ewigen Braut“, weglassen sollen. Die Angriffe, die es gegen ihn regnete, brachten ihn so wenig aus der Fassung, daß er sich sofort an einen Roman: „Ruben“ machte, welcher die „Judenfrage“ behandelt.

Laube ist in hohem Alter gestorben. Bis an die Grenze des menschlichen Lebens gelangte er; er hat sein Dasein ausgenützt und ausgekostet, hat gearbeitet und genossen; Ehre, Ruhm und Wohlstand, Familienglück wurden ihm zu theil; sein Hingang hat also keinen tragischen Zug, und doch klang es den Wienern wie ein schreckliches Märchen, als die Kunde durch die Stadt eilte: „Heinrich Laube ist gestorben“ – schrecklich, weil Laube uns als ein Sinnbild kraftstrozender Männlichkeit galt, als eine Eiche, die manchem heftigen Sturme Widerstand leisten könne. Er gehörte zu den Auserlesenen, die Einen vergessen machen, daß allen Sterblichen das gleiche Loos zugetheilt ist, und deren Scheiden uns darum wie ein Elementarereigniß ergreift.

Es muthete uns wie ein koketter Scherz an, wie Laube im September 1874, als er von der Direction des Stadttheaters zurücktrat, sich in einer Abschiedsrede einen „alten Knaben“ nannte, der „vielleicht“ wieder einmal vor das Publicum hintreten dürfe. Ein Jahr später führte der „alte Knabe“ zum zweiten Male die Direction des Stadttheaters, und die Zeit verging und Niemand wollte glauben, daß auch an ihm die Jahre ihre Wirkung üben könnten, er selbst glaubte es am wenigsten ... Er bäumte sich gegen das Greisenthum. Edle Geselligkeit war eines seiner Mittel, sich die Frische der geistigen Regungen zu erhalten.

So lange seine Gattin Iduna lebte, bildete sie den Mittelpunkt eines gewählten Kreises, durch welchen Laube in Verbindung blieb mit allen Aeußerungen der modernen Bewegung. Nach dem Tode der Gattin stand er allein – sein Sohn Hans war schon im Jahre 1863 gestorben – aber nach wie vor versammelte [563] er gerne Männer und Frauen aus den verschiedensten Lebensschichten um sich. Umgang mit Menschen, die Jagd und eifrige literarische Arbeit füllten nun seine Zeit aus, sollten ihn das Alleinsein vergessen machen. Er trug sich mit Plänen auf Jahre hinaus, aber in der letzten Zeit wollten die intellectuellen Kräfte nicht mehr gehorchen, und verzweifelt wies er oft auf seine Stirn und sagte: „Es ist nichts mehr drinnen, ich bin zu nichts mehr gut.“

Willig unterzog er sich der ärztlichen Behandlung. Er liebte das Leben und wollte nicht von ihm lassen. In Karlsbad, wohin er in diesem Sommer zum achtundvierzigsten Male gekommen, suchte er Heilung. Er fand sie nicht, mußte dort die Cur unterbrechen, wollte dann in die berühmte Wasserheilanstalt von Professor Winternitz in Kaltenleutgeben gehen, aber sein schweres und schmerzhaftes Unterleibsleiden machte alle Projecte zu nichte.

Am 1. August um sechs Uhr Morgens hauchte er seinen Geist aus. Seine Pflegetochter, Fräulein Cornelia Haas, befand sich an seinem Sterbebette. „Wegnehmen,“ lautete sein letztes Wort …

Sein Begräbniß war ein Anlaß zu arger Enttäuschung. Das Burgtheater ließ sich nicht vertreten. Director Adolf Wilbrandt fehlte, die Regisseure fehlten, die Schauspieler und Schauspielerinnen fehlten, welche er „entdeckt“, ausgebildet, sozusagen „gemacht“ hatte. Tiefe Entrüstung machte sich geltend gegen all diese Herren und Damen, die sich um Laube’s Leichenbegängniß willen nicht aus ihren Sommerfrischen aufstören ließen. Der Dichter Josef Weilen, der als Präsident des Journalisten- und Schriftstellervereins „Concordia“ das Wort führte, gab der Stimmung aller Anwesenden Ausdruck, indem er sagte: „Was Du als Director des Burgtheaters geleistet, Berufenere sollten es an dieser Stelle aussprechen …“ Heinrich Laube war ein streitbarer Mann; es dünkt uns wie ein selbstverständlicher Abschluß seiner Laufbahn, daß über sein offenes Grab ein polemisches Lüftchen dahinweht.
Ferd. Groß.


„Eigener Herd, Goldes werth.“
Ein Wort an die Arbeiter und Arbeiterfreunde.

Es war im Herbst 1865, als der Arzt Dr. Frederik Ulrik in Kopenhagen vor einer Versammlung von Arbeitern der weithin bekannten Maschinenbau-Anstalt Burmeister u. Wain daselbst den Vorschlag entwickelte, eine Vereinigung zur Herstellung von Arbeiterwohnungen zu gründen. Es war eine kühne Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Er wollte einen großen Theil der Arbeiter, die bis dahin in Miethscasernen und ungesunden Häusern der überfüllten Stadtviertel wohnten, in gesunde, menschenwürdige Räume, die Heimathlosen aus den dunkeln Schlupfwinkeln, in denen Unzufriedenheit und Krankheit brüten, in lichtere Wohnstätten überführen, in welchen Reinlichkeit und froher Muth walten; er wollte aus den Besitzlosen, die unstätt umherziehen, seßhafte Hausbesitzer schaffen und denselben Antheil an einem Stückchen unserer Mutter Erde geben.

Noch kühner, ja verwegener erschien dieser Plan, wenn man die Mittel betrachtete, mit welchen der menschenfreundliche Arzt seine Ideen verwirklichen wollte. Mit stolzem Selbstbewußtsein wies er jene Hülfsquellen zurück, welche die Tugend der Barmherzigkeit so vielen Wohlthätern der ärmeren Volksclassen zu erschließen pflegt, er appellirte weder an das Mitleid der Reichen noch an die Hülfe des Staates – nur durch die Mittel der Arbeiter sollte für das Wohl der Arbeiter gewirkt werden. Sparsamkeit und Selbsthülfe war seine Losung!

Was er den Arbeitern versprach, war groß und verlockend, geringfügig, was er von ihnen forderte. Wer dem Vereine beitreten wollte, hatte nur einen wöchentlichen Beitrag von etwa vierzig Pfennig nach unserm Gelde zu zahlen. Aus dem auf diese Weise gesammelten Capital sollten nun Grund und Boden angekauft, sollten kleine, für je eine oder höchstens zwei Arbeiterfamilien bestimmte Häuser gebaut werden, Häuschen, deren Werth noch durch kleine Vorgärten erhöht wurde. Diese sollten nach ihrer Fertigstellung unter den Mitgliedern des Vereins ausgeloost werden und die glücklichen Gewinner durch Ratenzahlungen, die einem geringen Miethzins entsprachen, allmählich zu Hausbesitzern avanciren. Dabei aber war der Verein kein Lotterie-Unternehmen, bei welchem die leer ausgehenden Arbeiter ihren Einsatz verloren. Im Gegentheil, die eingezahlten Beiträge, jene oft sauerersparten, wöchentlich abgelieferten Groschen waren ihnen stets gesichert. Wer aus irgendwelchem Grunde aus dem Verein trat, erhielt sie wieder ausgezahlt, und wer ihm, ohne ein Haus zu erwerben, zehn Jahre treu bleiben würde, dem war die Rückzahlung mit Zinseszinsen zugesagt.

Das waren die Grundzüge des Arbeiterbauvereins, der am 20. November 1865 in’s Leben trat. Gegen 300 Personen, durchweg Arbeiter der oben erwähnten Fabrik, gelang es vorläufig für das Unternehmen zu gewinnen.

Der Anfang in der Entwickelung versprach freilich nicht gar viel. Schon wenige Monate nach der Gründung zeigte sich, daß manche Leute sich lediglich in der sicheren Erwartung angeschlossen hatten, dadurch in kürzester Frist zu einem Hause zu gelangen. Als sie ihren Irrthum erkannten, traten sie zurück, und so sank die ursprüngliche Mitgliederzahl um ein volles Dritttheil. Dies bildete die erste und, wie gesagt werden darf, die einzige Krisis in dem Bestande des Vereins. Sie ist in Wirklichkeit von höchst segensreichen Erfolgen begleitet gewesen. Gab sie doch Gelegenheit, offen darzulegen, was der Verein leisten und was er nicht leisten könne, Veranlassung, allerlei unerfüllbare Wünsche und Hoffnungen von vornherein zu beseitigen, womit Lehren verknüpft waren, die bis zum heutigen Tage nachgewirkt haben.

Anfangs 1867 waren es nur 220 Mitglieder. Mit der Gesammtsumme der von dieser Schaar im Laufe eines Jahres zusammenfließenden Wochenbeiträge ließen sich selbstredend keine großen Sprünge machen. Aber immerhin kam ein kleines Capital ein, womit man die Allen sichtbare Thätigkeit des Vereins zu beginnen wagte. Der Bau von Vereinshäusern wurde also aufgenommen. Dieses muthige Vorgehen wandte dem Verein neue Freunde zu, und so geschah es, daß die Mitgliederzahl sich bis Neujahr 1868 wieder reichlich verdoppelte. Einen ähnlichen Zuwachs lieferte das nächste Jahr. Im März 1869 war bereits das erste Tausend erreicht, im März 1871 das zweite, im März des folgenden Jahres das vierte Tausend; 1875 fehlte nicht gar viel am sechsten Tausend; 1876 wurde das siebente überholt und in demselben imponirenden Umfange hat die Entwickelung bis zu diesem Augenblick gedauert. Am 1. Januar 1884 schloß die Rechnung mit 12,643 Mitgliedern ab, genau 1000 mehr als am 1. Januar des Vorjahres.

Diesen stattlichen Zahlen stehen andere zur Seite. Mit der Zunahme der Mitglieder haben naturgemäß die Einnahmen des Vereins sich in gleichem Maße erhöht. Auch hier gingen aus den Hunderten die Tausende und Abertausende hervor. Vermehrte Einnahmen sind jedoch wieder gleichbedeutend mit gesteigerter Thätigkeit. Die schüchternen Anfänge haben eine gewaltige Fortsetzung erfahren. Die ersten vereinzelten Hausbauten finden wir zu Straßen, Colonien, ja ganzen Stadttheilen erweitert. 523 Häuser mit rund 1000 Familienwohnungen bezeichnet heute der Verein als die seinigen, die sammt und sonders auf Mitglieder übertragen sind und von Mitgliedern bewohnt werden. In den letzten Jahren kamen alljährlich durchgängig fünfzig Häuser nebst Straßenanlagen etc. zur Vollendung.

Die ältesten von dem Verein gebauten Häuser befinden sich mehr im Innern der Stadt, während die neueren, und zwar in weit überwiegender Zahl, eine nahezu in sich abgeschlossene Colonie bilden. Diese liegt in unmittelbarer Nähe eines großen Binnensees, des Sortedamsö’s, in einer ebenso anmuthigen wie gesunden Gegend. Nichts kann anziehender sein als ein Besuch dieser umfassenden Häusergruppe. Der Charakter der zweistöckigen Bauten entbehrt ja freilich einer gewissen Mannigfaltigkeit, hält sich aber auch von wirklicher Einförmigkeit sehr weit entfernt. Dazu trägt auch das [564] kleine Gärtchen bei, welches den Eingang zu jedem Hause ziert. Auf die Pflege dieses winzigen Erdenfleckes wird meist eine rührende Sorgfalt verwandt. Ueberall herrscht eine musterhafte Sauberkeit. Durch klare Fenster, mit grünenden und blühenden Blumen und durch blendend weiße Vorhänge geschmückt, blickt uns eine einfache, unendlich anheimelnde Häuslichkeit an.

Und doch sind es ausschließlich kleine Leute, unbemittelte Leute, die hier wohnen: Arbeiter, welche in Fabriken und Werkstätten ihr Brod verdienen müssen, Handwerker, Unterbeamte etc. Die Größe der Wohnungen vermag ja auch nur bescheidenen Ansprüchen zu genügen: zwei oder drei Zimmer mit Dachstübchen, Bodenkammer und sonstigen Bequemlichkeiten gewähren keinen Raum für ausgedehnte Wirthschaftsführung. Aber glückliche, zufriedene Menschen lernen wir dort kennen, die nicht ohne innere Genugthuung, nicht ohne ein Gefühl des Stolzes sich bewußt scheinen, daß sie durch eigene Arbeit, durch Sparsamkeit und Sinn für Vorwärtsstreben dies vor sich gebracht haben! Glückliche Menschen, die an sich selbst die frohe Wahrheit des alten Spruches erfahren: „Eigener Herd, Goldes werth!“ Ja, es bildet sich im Verein und durch den Verein, namentlich aber unter den Hauseigenthümern eine wahrhafte Elite des Arbeiterstandes aus. Immer mehr ist es bei den strebsamen Elementen der Kopenhagener Arbeiterbevölkerung gute Sitte geworden, dem Bauverein anzugehören. Daß sich jedoch auch die andern Classen nicht zurückhalten, kann nur erfreulich sein. Die Theilnahme eines Arbeitgebers zieht oft genug zugleich den Anschluß seiner Arbeiter nach sich. Und selbst der Kronprinz Frederik von Dänemark steuert seit Jahren als ordentliches Mitglied seine vierzig Pfennig für die Woche bei.

Eine Straße des Arbeiterbauvereins in Kopenhagen.

An der Spitze des Vereins begegnen wir noch heutigen Tages den meisten der wackeren Männer, welche seiner Zeit die ersten Grundsteine legten. Wir nennen vor Allem den trefflichen Menschenfreund Dr. F. Ulrik, dessen Verdienste nicht hoch genug geschätzt werden können. Neben ihm sind die Herren Maschinenmeister N. C. Jensen, Kaufmann Moses Melchior aufzuführen. Sie und so manche Andere haben mit unendlicher Hingabe dem schönen Werke gedient, sie sehen jetzt aber auch in so herrlichem Maße die Früchte ihres Strebens vor Augen.

Im Laufe dieses Jahres werden die Häuser des Vereins von etwa 5000 Personen bewohnt sein, eine Zahl, die sich in Zukunft um nicht viel weniger als 1000 Seelen jährlich vergrößern dürfte. Welches Glück wird ihnen durch die Genossenschaft zu Theil! Wie außerordentlich haben sich ihre gesammten Lebensbedingungen mittelst dieser Vereinigung gehoben, die ja freilich keine bedeutenden Geldopfer, wohl aber Sinn für sociales Emporkommen, wirthschaftliche Einsicht, Glauben an die Tugend der Sparsamkeit und an die Kraft der Selbsthülfe erfordert!

Der Kopenhagener Arbeiter-Bauverein darf mit Recht als ein Muster hingestellt werden. Als solcher ist er in manchen kleinen dänischen Städten, den Verhältnissen nach freilich modificirt, nachgeahmt worden. Auch die deutsche Stadt Flensburg hat, seinen Grundbestimmungen entsprechend, aber unter Berücksichtigung der deutschen Genossenschaftsgesetzgebung, einen Arbeiterbauverein in’s Leben gerufen, der sich ebenfalls überaus glücklich entwickelt.

An dieser Stelle jedoch rufen wir weit, weit hinein in die Kreise unserer arbeitenden Classen: „Macht Euch jenes stolze Beispiel vom Sunde her zu Nutze! Was dort geschieht, kann auch von Euch geschehen, und der Segen wird kein geringerer sein!“

P. Chr. Hansen.


Die Hagenbeck’schen Singhalesen.

Die in neuerer Zeit in Deutschland wiederholt auftretenden Schaustellungen außereuropäischer Menschenrassen üben wohl auf Jedermann eine eigenthümliche Anziehungskraft aus. Es ist dies namentlich der Fall, wenn diese Fremdlinge, welche der Mehrzahl der Besucher wohl nur aus Abbildungen und Beschreibungen bekannt sind, in Begleitung ihrer eigenthümlichen Hausthiere erscheinen und wir somit Gelegenheit haben, die originelle Art und Weise, in welcher letztere von ihren Besitzern behandelt, gepflegt und benutzt werden, kennen zu lernen. Die ersten Versuche, wie auch die bedeutendsten Unternehmungen in dieser Richtung hat unseres Wissens der bekannte Thierhändler Karl Hagenbeck in Hamburg mit großem Erfolge durchgeführt, und von ihm ist auch das Arrangement der großen „Singhalesen-Karawane“ ausgegangen, welche diesen Sommer hindurch die größeren Städte Deutschlands bereist und bereits Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Dresden hinter sich hat.

Es sind das keine imitirten, sondern echte Singhalesen, wirkliche Einwohner der Insel Ceylon, welche die Agenten Hagenbeck’s zu einer Reise nach Europa veranlaßt haben. Sie sind mit Kind und Kegel bei uns erschienen, haben ihre leichten Hütten, ihre Hausthiere, Elephanten und Zeburinder, mitgebracht und auch die zweiräderigen „Ochsendroschken“ nicht vergessen.

Wir haben die immergrüne Heimath dieses 1½ Millionen Seelen zählenden Volkes erst vor Kurzem unsern Lesern ausführlich geschildert (vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1883, Nr. 11) und können uns darum heute auf die Beschreibung des Thun und Treibens beschränken, welches sich beim Besuch der eigenartigen Schaustellung vor unsern Augen entwickelt.

In Mittelpunkte eines weiten freien Raumes befindet sich ein großes Wasserbassin, um welches die leichten Hütten der Singhalesen, aus Bambusstäben und einer Bedeckung von trockenen Palmblättern erbaut, sich gruppiren. Die Räume zwischen und hinter den Hütten sind mit Palmen und anderen großblätterigen Pflanzen entsprechend decorirt, sodaß das Ganze einer kleinen ceylonesischen Ansiedelung gewiß täuschend ähnlich sieht. – Es ist am frühen Morgen, nur einzelne Besucher zeigen sich hier und dort – in einer von den niederen Hütten ist der weibliche Theil der singhalesischen Bevölkerung eifrigst mit allerlei künstlichen Arbeiten beschäftigt. Die Männer füttern ihre Elephanten und Zebus oder lungern, mit der unvermeidlichen kurzen Pfeife im Munde und einem Kinde auf dem Arme, bei den Hütten umher. Ihr Körperbau ist leicht und zierlich, unter Mittelgröße, ja klein zu nennen, namentlich überrascht die geringe Größe der meistens sehr corpulenten Frauen und Mädchen. Der Gang ist rasch und elastisch, die Haltung aufrecht, die Haut zeigt bei den meisten Individuen eine prächtige Bronzefarbe, bei Andern ein Mandelgelb bis zum Braunschwarz hinab. Schädel- und Gesichtsbildung variiren sehr, doch scheinen die schmale, hohe Schädelform, eine etwas stumpfe Nase und gewulstete Lippen vorherrschend zu sein. Die Männer haben kurzen Bart und wie die Weiber langes, schwarzglänzendes Kopfhaar, welches von beiden Geschlechtern zu einem Chignon am Hinterkopfe aufgebunden und durch einen Hornkamm befestigt wird. Die Kleidung der Männer besteht in der Regel nur aus einem um die Hüften geschlagenen, bis auf die Füße hinabreichenden bunten Stücke Zeug, der Kopf ist turbanartig mit einem farbigen Tuche umschlungen. Die Frauen tragen den Kopf frei, aber außer dem langen Unterkleide noch kurze Jäckchen.

Die Kopfzahl der diesjährigen „Singhalesen-Karawane“ beziffert sich auf circa 40 Personen, darunter Männer, Frauen und Kinder jeden Alters. Die mitgeführten Thiere bestehen in einer Anzahl des schön gebauten Zebu, oder Zwerg-Buckelrindes und 20 Elephanten verschiedenen Alters. Um die Verwendung der Elephanten in ihrer Heimath zu zeigen, werden die riesigen Thiere im Laufe des Tages mehrere Male mit dem

[565]

Die Hagenbeck’sche Singhalesen-Karawane.
Originalzeichnung von L. Beckmann.

[566] Fortschaffen und Aufstapeln einer Anzahl von Baumstämmen, die oft mehrere hundert Kilogramm schwer sind, beschäftigt, wie dies auf dem vorstehenden Bilde veranschaulicht wird.

Inzwischen sind die kleinen, flinken Zeburinder in die leichten zweiräderigen Cabriolets gespannt und zwar mittelst eines an der Spitze der beiden Deichselstangen befestigten einfachen Joches, welches vor dem Höcker des Rindes auf dem Nacken ruht und nach unten durch einen Gurt gehalten wird. Als Leitzügel dient ein feiner, glatter Strick, welcher durch die schon in früher Jugend für diesen Zweck durchbohrte Nasenscheidewand der Zebus gezogen wird. Die höchst einfachen, leicht und elegant gebauten rothlackirten Cabriolets haben eiserne Achsen und Reifen und sind augenscheinlich englisches Fabrikat, denn ein anderes im Zuge befindliches zweirädriges Fuhrwerk – vom indischen Festlande stammend – macht mit seinen niedrigen Holzrädern mit je vier Doppelspeichen und seinen eigenthümlichen Sitzvorrichtungen einen ganz andern, fremdartigen Eindruck.

In raschem Trabe eilen die elegant gebauten Zebus mit den leichten Fuhrwerken dahin, bald aber treiben die Lenker der Gespanne die Thiere durch leichte Gertenhiebe zu rasendem Galopp an, und so entspinnt sich ein tolles Wettfahren im Umkreis der Hüttengruppe.

Der dumpfe Schall eines großen Gonghs macht dem Treiben ein Ende, und wir werfen unsere Blicke der entgegengesetzten Ecke des Platzes zu, von wo sich langsamen, feierlichen Schrittes die lange Reihe der riesigen, mit bunten Decken geschmückten Elephanten nähert. Vorauf zwei Vorreiter, dann vier Musikanten mit dudelsackähnlich quietschenden und schnarrenden Instrumenten – dann kommt der stärkste Elephant mit den langen Stoßzähnen, er ist festlich geschmückt mit hellblauer Decke, welche wie der mit Federbüschen gekrönte Baldachin mit breiten Goldfranzen verziert ist.

Unter dem Baldachin sitzt rittlings auf weichem Polster der wohbeleibte Führer, mit gutmüthigem Lächeln wohlgefällig um sich schauend – er trägt ein langes bis unter die Arme reichendes Gewand von tadelloser Weiße und eine wundersame Kopfbedeckung von gleicher Farbe, welche am meisten einem viereckigen, aufgebauschten Kissen ähnelt. Arme, Hals und Füße sind nackt. Am Ende des langen Zuges folgt auch ein größeres vierräderiges Zebufuhrwerk – durch Verbindung zweier Cabriolets hergestellt. Darin sitzen oder hocken vier bis fünf Singhalesenfrauen oder -Mädchen im Kreise um eine große Kesseltrommel, welche sie unaufhörlich mit ihren kleinen, dicken Händen bearbeiten. Nach mehrmaligem Umzuge gebietet der Führer Halt, sein Elephant hebt den linken Vorderfuß hoch empor, um seinen Reiter absteigen zu lassen. Dann streckt sich das kluge Thier allmählich nieder – der Baldachinsattel (Houdah) wird abgeschnallt, die Decke entfernt und bald liegt die ganze Elephantenschaar behaglich auf der Seite und hält Siesta.

Neben und auf den lebenden Colossen ruhen ihre Führer rauchend, schwatzend oder den grottesken Sprüngen der buntgeputzten indischen Tänzer zuschauend, welche mitten auf dem Platze ihre Künste aufführen und mit überraschender Schnelligkeit und Präcision sich gleichmäßig nach rechts oder links schwenken und vor- und rückwärts springen. Anhaltender Applaus im Zuschauerraume belohnt die flotte Tänzerschaar, dann kommen die Schlangen- und Teufelsbeschwörer, welche in merkwürdigem Aufputze unter wunderlichen Grimassen schwer verständliche Pantomimen aufführen.

Nach dieser Arbeit begiebt sich die Singhalesen-Karawane an ihre starkgewürzte Mahlzeit, die zum größten Theil aus Reis besteht. Wehmüthig denkt dann wohl Mancher von ihnen an das ferne Ceylon und die ruhigere Siesta, die er dort unter dem Palmendache seiner Hütte gehalten, an die paradiesische Insel, auf welcher er noch weniger zu „arbeiten“ braucht, als hier in der Hagenbeck’schen Truppe.
L. B.


Ein märkisches Bad und sein Jubelfest.
(Mit Illustrationen von A. v. Rößler.)

Die Mark Brandenburg ist nicht so arm an landschaftlichen Reizen, wie man bei dem Gerede von des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse gemeiniglich denkt. Potsdam ist eine landschaftliche Perle allerersten Ranges; aber auch die nähere Umgebung Berlins hat große Schönheiten. Es sei ferner an den Spreewald, an die Wälder und Seen im Nordosten erinnert; endlich an die märkische Schweiz, die viel zu wenig gekannte! Ein Hochland, welches in der höchsten Erhebung – an dem Nordabfalle von Falkenberg bis Freienwalde an der Oder und in der Buckower Gegend im Süden – eine wahrhaft imposante Hügelentwickelung mit wundervollen Waldschluchten und eingestreuten Seen aufweist, bietet diese märkische Schweiz in der langen Thalspalte von Falkenberg bis Straußberg eine Kette von Waldseen, welche wenigstens im Blumenthal eine der schönsten Waldpartien säumt, die man durchwandern kann.

Auch einen Bade-Ort hat diese „Schweiz“ der Mark geliefert; eine starke salinische Eisenquelle und ein reichliches Stück salinischen Eisenmoors stellen das Städtlein Freienwalde an der Oder in die Reihe der wirkungskräftigen Heilbäder Deutschlands. Zudem ist dieses Freienwalde landschaftlich der schönste Punkt der märkischen Schweiz nicht nur, sondern vielleicht des ganzen deutschen Ostens, seine Wald- und Hügelwelt reichlich so schön wie die Mittelgebiete unserer vielbesuchten Gebirge.

In Berlin weiß man dies wenigstens in bestimmten Kreisen, welche im Sommer allsonntäglich schaarenweise Besucher, aber auch ständige Sommergäste in Menge liefern, denen die Nähe der Heimath allerlei erwünschten Vortheil bietet. Doch auch von weither kommen Sommerfrischler und Curbedürftige, Leute mit schlechtem Blut und chronischen Erkältungsleiden, besonders gichtisch geplagte und gelähmte, von deren Heilung die Curchronik Wunder erzählt. Leider hat die Verwaltung vor nicht gar langer Zeit die Votivtafeln und die zahlreichen Krücken verbrannt, welche kräftig dafür zeugten. Der Uebergang des Besitztitels vom Fiscus auf die Stadt (1832) war dem Bade bedauerlicher Weise ungünstig; erst die Gründerzeit, welche mit den alten Bauten aufräumte und allen Comfort modernen Badelebens hierher verpflanzte, um das Geschaffene nach dem „Krach“ mitsammt dem Besitzrechte der Stadt zurückzugeben, bezeichnet den Anfang einer Zukunft für das Bad, die seiner Vergangenheit würdig sein dürfte.

Es ist eine Thatsache, welche sonderbarer Weise fast unbekannt geworden, daß dieses Freienwalde an der Oder bis in den Anfang des Jahrhunderts hinein das Privatbad der Hohenzollern gewesen, wie es als Bade-Ort die Gründung eines der größten Hohenzollern ist, welche die Geschichte kennt: des großen Kurfürsten. Als nämlich 1683 zufällige Heilungen in Folge des Genusses von Wasser aus einer der Freienwalder Mineralquellen Aufsehen erregten und die Kunde davon an den brandenburgischen Hof kam (durch Vermittelung des Freienwalder Apothekers Gänsichen), ließ der Große Kurfürst das Wasser chemisch untersuchen und legte alsbald seine Hand auf die Quellen. Er verfügte die Fassung der Hauptquelle und die Einsetzung einer Brunnenverwaltung und zog im Jahre 1684 selbst mit Gemahlin, zwei Prinzen und ziemlichem Gefolge als Curgast in Freienwalde ein.

Seitdem hat fast jeder Hohenzoller hier gebaut und hier getrunken und gebadet bis in den Anfang dieses Jahrhunderts. Kein Wunder also, daß die Bürger von Freienwalde den zweihundertjährigen Gedenktag des Einzugs des Großen Kurfürsten, dieses für ihre Stadt so wichtigen Ereignisses, durch ein besonderes Fest feierten. Dank der regen Betheiligung der Berliner Künstlerschaft gestaltete sich dasselbe zu einem der glänzendsten Costümfeste, die in den letzten Jahren gegeben wurden, und verdient auch wohl an dieser Stelle eine kurze Erwähnung.

Die Stadt hatte am 21. Juli, dem Jubeltage, üppigsten Festschmuck angelegt. Grünes lieferte der Stadtforst verschwenderisch; Fahnen und Fähnchen hatte eine kurz zuvor abgehaltene Thierschau in Unmenge hinterlassen. So zog [567] sich dicht Mast an Mast, durch ganze Tannen oder Fichten getrennt und durch Guirlanden verbunden, der Weg vom Bahnhofe bis zum Beginn der alleegrünen Brunnenstraße. Hier und da eine Triumphpforte, einmal sogar ein mit Velarium überdachtes Tempelchen. An den Häusern das Mögliche von Bekränzung, Teppichen, Inschriften, Fahnen.

Kurfürstlicher Artillerist im Festzuge.

Früh langten die Künstler aus Berlin an, mit verdächtigem Gepäcke und aus Staubröcken aufblitzenden Garderobenheimlichkeiten. Sie waren Gäste der Stadt und beeilten sich, ihre Quartiere aufzusuchen. Eine Zeitlang häuften sich die bunten Erscheinungen in dem Straßengewoge der Zuschauer; Wagen mit Damen des 17. Jahrhunderts rollten hin und her, dann und wann trabte der derbe Gaul eines rothblousigen Schlächters Platz heischend durch den Schwarm. Plötzlich hörte das Alles auf: droben beim Schlosse war Probe.

Gegen Mittag erschien der Kronprinz, welcher die Einladung zum Feste angenommen hatte, mit seiner Begleitung, bezaubernd gut gelaunt, sprudelnd von witzigen Einfällen und Artigkeiten, aber fraglos und in stetig wachsendem Maße zugleich wahrhaft überrascht durch das, was sich von nun ab seinem Auge darbot.

Nach dem üblichen officiellen Empfang entwickelte sich im Schloßgarten der erste Festact. Aus verdeckendem Gebüsch kommt Kurfürst Friedrich Wilhelm geritten mit einem glänzenden Gefolge. Ihm folgt im Wagen die Kurfürstin mit ihren Ehrendamen. Während die kurfürstliche Gruppe sich zum Schlosse hin bewegt, defilirt der Zug weiter: kurfürstliche Dragoner unter Führung des alten Derfflinger, Künstler und Gelehrte, wie Schlüter, der Chemiker Kunckel, Leibarzt Mentzel und Andere, ein Magister mit Frankfurter Studenten, berittene Polen, die Negergesandtschaft von der afrikanischen Colonie Groß-Friedrichsburg – eine kostbare Gruppe von täuschender Echtheit mit einem absonderlichen Götzenbilde auf einem der Dromedare des Zoologischen Gartens, mit Palmenfächern und anderen Zuthaten; ferner der kurfürstliche Hofküchenwagen, Bauern mit zwei Schafen und einer Ziege, Badegäste, kurfürstliche Artillerie mit der äußerst gelungenen Nachbildung eines Riesengeschützes aus der Ruhmeshalle, endlich ein Quacksalber auf einem Eselwagen und etliche Landstreicher und Handwerksburschen.

Hierauf folgte auf der andern Seite des Schlosses der zweite Act des Festes: die Begrüßung des Kurfürsten durch die Bürger der Stadt Freienwalde. Ein zweiter nicht minder glanzvoller Zug, die Spitzen, Innungen, Gewerke der Stadt darstellend, bewegte sich die Parkwiese herauf und gruppirte sich vor der Terrasse des Schlosses.

Der Bürgermeister thut einen Kniefall auf der obersten Treppenstufe und spricht den Willkommspruch in den steifen Alexandrinern der Zeit.

Und der Kurfürst spricht dawider seinen Dank und trinkt auf das Wohl der Stadt, während auf ein Hoch des Bürgermeisters Hunderte von Kehlen einstimmen.

Mit der Aufforderung des Fürsten, ihn zu den Quellen zu geleiten, endigt die Scene; jener begiebt sich wieder zu seinem Zuge, dem sich der Städterzug anschließt, um nach einer Promenade durch die Stadt auf dem Festplatze am Brunnen einzutreffen.

Der Brunnenplatz ist mit jungen Bäumen bestanden; links begrenzt ihn das Curhaus mit einer Loggia an der ganzen Frontlänge, geradeaus und rechts ein überbauter Säulengang, welcher mit dem Tempelchen über der Königsquelle abschließt. Drei Bogen der Loggia sind für den Kurfürsten bestimmt, eine roth überkleidete Treppe führt vom Platze zu dem roth drapirten Zelt hinauf. Die übrigen Bogen sind für den Kronprinzen, das Gefolge und die Behörden da, die Tribüne, welche sich rechts unter die letzten Bogen hinbaut, gehört den am Zuge betheiligten Damen und bietet ein anmuthiges Bild, welches der Zeichner in unserer Schlußvignette festzuhalten versucht hat. Die Säulengänge sind mit amphitheatralisch ansteigenden Tribünen gefüllt, das Tempelchen durch blaue Portièren für alle Blicke abgeschlossen.

Soeben hat der Kurfürst mit Gemahlin und Prinzen in seinem Zelt Platz genommen. Da bildet sich eine Gasse von der Quelle her bis zur kurfürstlichen Treppe, und nun entwickelt sich aus den blauen Gardinen der Königsquelle, auf improvisirten Treppen über die Balustrade steigend, ein Spalier von dreißig kleinen Wassergeistern in allen Schattirungen von blauem Tarlatan, fleischfarbene Tricotstrümpfe an den Füßen, Seerosenkränze im aufgelösten Haar und Schilfbündel in den Händen, und in diesem Spalier hin bewegt sich eine Gruppe von olympischer Abkunft: Gott Neptunus mit fünf Quellnymphen in der Nymphentracht der Barockzeit (vergl. die Anfangsvignette Seite 566). Sie steigen zum Kurfürstenzelt aufwärts, Neptun stemmt sich gravitätisch gnädig auf den Dreizack und beginnt also:

„Neptunus zeigt sich hier dem fürstlichen Geblüt,
Deß Ruhmb und großes Lob gleich Phöbus Leuchte glüht:
Wie Phöbus’ Pfeil den Ball von Pol zu Pol bestreichet,
Also auch Euer Nam’ das fernste Volk erreichet.
Des Mohren wild Geschlecht, von Hitze schwartz gebrennt,
Kommt Euch zu huld’gen schon aus Affrika gerennt“ –

So geht die bombastische Huldigung weiter, sich zu einer kräftigen und verheißungsvollen Empfehlung der Colonialwirthschaft zuspitzend und mit einer Vorstellung der Nymphen schließend, von welchen dann die drei vornehmsten mit Wechselsprüchen den hohen Badegast grüßen und über ihre Heilkraft Auskunft geben. Nun hebt die „Königsquelle“ ihren böhmischen Glaspokal, gefüllt mit Brunnen, und reicht den ersten Trunk dar:

„Laß wohl dir diesen Trunk, Haus Brandenburgk, gefallen!
Vor Kind und Kindeskind soll Segeil daraus wallen.“

Und der Kurfürst trinkt und bedankt sich etwas sauersüß, und im Hinabsteigen ruft der Wassergott noch ein schallendes Hoch für das Haus Brandenburgk über den Platz, das ein gewaltiges Echo weckt. Dann verschwindet die antike Götterwelt hinter die Portièren zurück, und die Wellen des bunten Lebens und Treibens der Zuggäste, welche nach den durch einen Marschall in Aussicht gestellten Speisen und Getränken verlangen, schlagen hinter ihnen zusammen.

Und damit war auch das Hauptprogramm des Costümzuges zu Ende. Was folgte, war ein butes Allerlei, bei dem sich jeder so gut oder schlecht vergnügte, als es die Umstände mit sich brachten. Ein Festdiner im Cursaale, Spaziergänge nach dem Eichenhain, Abends Ball, Illumination und Feuerwerk, ein heiterer Nachklang und Ausklang am andern Tage in Gestalt von allerlei Vergnügungen der bunten und fröhlichen Jugend, voll lustiger Episoden – das war der befriedigende Abschluß einer Jubelfeier, an welche alle Betheiligten mit farbenfrischer Erinnerung noch lange zurückdenken werden. Möge sie dem aufblühenden wunderschönen Bade so zu Nutz werden, wie sie ihm zur Ehre gereichte!
V. B.


Des Meeres und der Liebe Wellen

 (Illustration S. 557.)

Der Aether flammt in Abendgluth,
Schneeweiße Möven lauschen;
Du schlankes Kind der blauen Fluth,
Hörst Du der Wellen Rauschen?

5
Hörst Du das heilige Getön,

Das hohe Lied der Lieder? – –
Dein Auge lächelt groß und schön
Aus feuchten Wimpern nieder. –

Der Südwind weht, der Nebel steigt,

10
Dein Herzlein hör ich schlagen –

Ob auch Dein Mund noch träumend schweigt
In lieblichem Versagen.

Lind spielt um Deiner Wangen Schnee
Des Westens Rosenschimmer,

15
Du schlankes Kind der blauen See,

Sei mein, sei mein für immer!

Frida Schanz.
[568]
Blätter und Blüthen.

Der Plagegeist. (Mit Illustration S. 560.) Sommerliche Schwüle brütet auf den baumlosen Straßen des Dorfes, kein erfrischendes Lüftchen rührt sich, matt schleichen Menschen und Thiere auf dem Felde ihrer Arbeit nach, selbst die zahllosen Heere von Fliegen in der Wirthsstube des „Adler“ sitzen zu dicken schwarzen Haufen geballt regungslos auf den Bierflecken der Fensterbänke und der Tische, ihr Schwirren und Sumsen belebt nicht die Todtenstille des heißen Augusttages, und nur wenige Menschen würde man bei der Arbeit finden, wollte man die einzelnen Häuser des Dorfes besuchen. Nur Einer ist auf dem Platze, einer versieht seinen Posten gewissenhaft und ist zur Stelle: der dicke Wirth im „Adler“. Es ist ja Reisezeit, und mancher Tourist verirrt sich denn doch in diesen von Mutter Natur ganz leidlich ausgestatteten Erdenwinkel, da muß denn freilich der „Adler“-Wirth stets zur Hand sein. Er ist’s auch, aber nach seiner Art: den gefüllten Maßkrug und die Tabaksdose neben sich, sitzt er behaglich in seinem Polsterstuhl, die Brille auf der breiten stattlichen Nase liest er das eben eingelaufene Wochenblättchen und – harrt der Gäste, die da kommen sollen. Warten macht müde, zumal in solcher Hitze, das Bier ist ausgetrunken, der Andres, der Schlingel, der nie da ist, wenn man ihn braucht, hört auf kein Rufen, kein Schreien, und der dicke Alte ist denn doch zu bequem, um sich selber einen frischen kühlen Trunk aus dem Keller zu holen. Aergerlich brummend und knurrend vertieft er sich wieder in seine „Zeitung“, eben hat er die Mittheilung über die große neulich ganz genau beobachtete Seeschlange gelesen – da fallen die Augen zu, auf die Brust sinkt der dicke rothe Kopf, die Brille gleitet der längst zu Boden geflatterten Zeitung nach und ein sanftes Schnarchen schallt wie das Krächzen einer Säge in ästigem Holze durch die heiße, dumpfe Stube. Da – auf einmal ist der Andres, wie aus dem Boden gewachsen, in der Stube. Scheint sein Gehör auch schwach zu sein, so ist sein blitzendes, keckes Auge entschieden mit guter Sehkraft begabt, denn schnell hat er eine abgerissene Aehre auf dem Fußboden entdeckt und mit spitzbübischem Vergnügen kitzelt er den auf dem Schauplatz seiner Thaten entschlummerten Großvater. „Die Fliegen,“ murmelt dieser und macht eine schläfrige halbe Bewegung nach der Stelle hin, die der nichtsnutzige Bengel mit der Aehre bearbeitet. Doch immer kommt die „Fliege“ wieder, stets auf dieselbe Stelle setzt sie sich – plötzlich ist’s zu arg, der Alte erwacht, faßt die Aehre – aha – ein schneller Griff, und zwischen Daumen und Zeigefinger befindet sich wie in einem Schraubstocke das Ohr der „Fliege“. „Warte, Du Plagegeist!“ knurrt er, und gleich drauf hört man den Plagegeist recht menschlich weinen.


Zum Handwebe-Apparat. Man schreibt uns aus Ostpreußen: „In Nr. 27 der ‚Gartenlaube‘ wird unter Blätter und Blüthen auf einen Handwebe-Apparat hingewiesen, der von Frau Eugenia Wernicke erfunden worden ist. Bei uns in Litthauen kennt man einen ähnlichen Handwebe-Apparat schon seit langen, langen Zeiten. Jetzt freilich wird er von den Töchtern des Landes weniger gebraucht, als in jenen Zeiten, da das Deutschthum noch weniger Einfluß auf das Erlöschen der Gebräuche der eingeborenen Litthauer ausübte. Als Zeugen der Fertigkeit, welche man in Handhabung des genannten Apparates gehabt, findet man noch heute, auch selbst in jenen Häusern der Litthauer, wo schon die Muttersprache den deutschen Lauten gewichen ist, Bänder, die oft in erheblicher Breite und mit künstlichen Blumen durchzogen gewebt worden sind. Man staunt, wenn man die Arbeit und ihre Vollendung gegenüber dem Apparat betrachtet, wie es möglich ist mit einem so einfachen Werkzeuge eine so künstlerische Arbeit zu liefern. Die Frauen der Litthauer sind überhaupt im Weben auch auf dem Webstuhl Meisterinnen. Noch ist die Sitte nicht allenthalben unter den Litthauern geschwunden, daß die Braut vor der Hochzeit den Angehörigen des Bräutigams Geschenke in Gestalt selbstgewebter Bänder (Joastas) überreichen muß, und je künstlicher alsdann die Webart ausgefallen, desto freundlicher ist der Empfang des neuen Familiengliedes. Leider ist bei uns die Handhabung des Webe-Apparates – vielleicht aus falscher Scham – schon sehr geschwunden, dürfte aber sicher wieder in Aufnahme kommen, wenn dieselbe als Modesache behandelt werden würde.
E. K.“

Festzug in Freienwalde: Mohren aus der Colonie Groß-Friedrichsburg.


Das erste deutsche Schauspielhaus ist das 1530 zu Nürnberg von den Meistersängern erbaute gewesen. Augsburg folgte bald nach. In Frankreich waren schon hundert Jahre früher eigene Häuser für theatralische Aufführungen erbaut worden. In Italien benutzte man zu jener Zeit dazu noch die Ueberreste der alten Amphitheater. In London, wo man hauptsächlich in Wirthshaushöfen gespielt hatte, wurden 1576 die ersten drei hölzernen Schauspielhäuser errichtet.
J. L–r.

Ein Kunstmonopol. Nach dem schlesischen Kriege war es das erste Bemühen Friedrich’s II., die erschöpfte Staatscasse neu zu füllen, um so weit als möglich die Wunden seines Landes durch Segen des Handels und der Industrie zu heilen. Zu diesem Zweck verlieh er eine Anzahl Monopole, die ihre Käufer um hohen Preis zu erwerben hatten. Eines Tages meldete sich ein reicher italienischer Graf bei dem Könige, der Friedrich den Vorschlag unterbreitete, gegen Zahlung eines sehr bedeutenden Betrages die königliche Oper in Pacht zu nehmen. Der Monarch fand das Anerbieten überlegungswerth, aber gewohnt, in Sachen der Kunst mit seinem Musiklehrer Quanz, dem berühmten Flötenvirtuosen, zu berathen, theilte er demselben das beabsichtigte Geschäft mit und fragte um die Meinung des Künstlers.

„Ich bin außer mir, Majestät,“ lautete die Antwort, „und noch mehr werden es die Tonkünstler und Sänger sein, die völlig der Gnade und der Willkür ihres Käufers preisgegeben sein werden, bei dem ohne Zweifel mehr Prahlerei und Habgier als der Eifer für die Kunst Zweck seines Handelns ist.“

„Kann sein, Quanz, kann sein,“ meinte Friedrich, – „aber ich brauche Geld.“

„In diesem Falle sind Euer Majestät Herr und Meister über Ihre Oper; nur hätte ich, wird das Geschäft perfect, eine unterthänige Bitte im eigenen Interesse Euer Majestät zu wagen.“

„Laß Er hören.“

„Die Inschrift des königlichen Opernhauses lautet: ‚Fridericus Rex Apollini et Musis!‘ (König Friedrich Apollo und den Musen) – Wenn Euer Majestät nach dem Pachtcontracte das auslöschen lassen würden – –“

„Quanz!“ – der König wandte sich ab, – „laß Er dem italienischen Grafen sagen, ich könne von seinem Vorschlage keinen Gebrauch machen, aber red’ Er mir nie wieder von der Affaire!“
H. H.

Auflösung des Orakel-Quadrats in Nr. 32: Die vier Worte lauten: „Gran, Vega, Belt, Nanu.“ Die Buchstaben in diagonaler Richtung von links oben nach rechts unten – und fortsetzund von rechts oben nach links unten – verbunden, geben: „Gelungen!“

Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 33: Zufriedenheit.


Kleiner Briefkasten.

F. R. in F. Sie haben Recht: der Maler des Bildes Christoph der Kämpfer in Nr. 30 unseres Blattes ist nicht J. Kirchner, sondern Fr. Kirchbach.

B. B. in M. Goethe’s Biographie von Scherr finden Sie im Jahrg. 1873.

Apotheker G. in G. Eine derartige Anstalt ist uns nicht bekannt.

E. L. in Saarbrücken, L. D. in C., C. K. in S., C. K. in Dortm., Richard Wanderer, A. N. in B. bei P., E. L. in P. Ungeeignet.


  1. Oger, ein dem Rübezahl vergleichbarer böser Dämon, der namentlich Gemüthskranke in seine Gewalt zu bekommen sucht.
  2. Vergl. „Gartenlaube“ 1868, S. 516.