Die Gartenlaube (1884)/Heft 40
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No. 40. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Germania auf dem Meere.
Chorlied deutscher Colonisten.
Wir saßen so meerweit zerstreut in der Welt,
Ein fahrend Volk Colonisten,
Wir bauten dem Fremden das wildeste Feld,
Schon froh, nur das Leben zu fristen.
Und glaubten Dich nie zu schauen im Traum,
Germania, auf dem Meere.
Da hörten die Mär’ wir von wildem Kampf
Und Deinen gewaltigen Siegen;
Eine neue Zeit Dir gestiegen,
Und wie Deiner prächtigen Tannen Holz
Dich trug schon überall kühn und stolz,
Germania, auf dem Meere.
Bei Deiner Gewehre Knattern!
Hei, regte sich froh unser deutsches Herz,
Und ließen Dein Banner wir flattern!
Wir scheuten der Fremden Grimm nicht mehr:
Germania, auf dem Meere.
Und wir riefen nach Dir, gleichwie im Traum:
„O Mutter, laß Dich bewegen!
Komm, schaff’ uns ein Heim und schaff’ uns Raum,
An ferner Küste, am fernsten Port
Laß bauen die Söhne Dir Hort an Hort
Germania, auf dem Meere!“ –
Und siehe, nun kommst Du, nun bist Du da!
O, sieh hier uns Kinder von fern und nah
Im Geiste Dir alle zu Füßen!
Wir küssen Dein Kleid Dir, die theuere Hand,
Wir küssen in Dir unser Vaterland,
Zwar ist kaum entflogen Dein Aar dem Forst,
An fremder Küste zu nisten;
Zwar schaart er erst spärlich im neuen Horst
Uns fahrend Volk Colonisten;
Deß sei Dir heut’ jubelnd Dank gesagt,
Germania, auf dem Meere!
Uns trieb einst der schaffende Zeitgeist fort,
Der Bildung Samen zu streuen;
Daß wir Deines Schirmes uns freuen,
Bis Dich eine blühende deutsche Welt
Als Mutter grüßt, die sie zusammenhält,
Germania, auf dem Meere.
Als einer Wende der Zeiten.
Kühn galt es, nach langer Kyffhäuserruh’
Zum harrenden Ziele zu schreiten,
Und stolz nun erkennst Du, wozu Deine Macht:
Germania, auf dem Meere! Emil Faller.
„Fanfaro.“
Der gute junge Doctor! Er predigte so klug über die Liebe, als sei er der alte Rabe des Stiftsförsters, und war so unerfahren darin wie der junge Staar, der mit seinem gelben Schnabel auf dem Nußbaum vor dem Fenster sang. Was wußte er mit seinem unberührten Herzen von dem mächtigsten der Gefühle, das selbst der Mensch nicht ergründen kann, der es aus eigner Erfahrung kennen lernte!
Oder vermochte sie die einzige Liebe ihres Lebens zu erklären? Melanie war sich schon damals trotz ihrer jungen Jahre ganz bewußt gewesen, daß Arved weder ein bedeutender Geist, noch ein starker Charakter war, und dennoch hatte sie ihn geliebt mit allen seinen Schwächen.
Sie stammten beide aus Familien des Hofadels in der herzoglichen Residenz, in denen es Tradition war, ihr Vermögen im Hofleben zuzusetzen. Sie, die Tochter des Oberjägermeisters, war frühzeitig als Stiftsdame eingeschrieben worden, wenn auch Niemand daran dachte, daß sie wirklich einst werde Gebrauch von der Vergünstigung machen müssen; er, der Sohn des Obersten, der, mit dem Titel eines Generals versehen, das herzogliche Contingent commandirte, war jung ohne viel Mühe Lieutenant in demselben geworden.
Sie fühlten sich vom ersten Augenblick an zu einander hingezogen, als sie sich auf dem Parquet des Schlosses begegneten. Dann wurden sie Partner in den kleinen Lustspielen von Putlitz, die von der Hofgesellschaft aufgeführt wurden; sie gaben immer [654] das sentimentale Pärchen, für welches Niemand so gut paßte. Sie sangen zusammen aus Flotow’schen Opern, oder, wenn sie ernste Musik machten, das Duett von Mendelssohn: „Ach, wie so bald verhallet der Reigen!“ Und gleich einem Lied ohne Worte begleitete sie die Liebe, die nie ausgesprochen wurde und doch aus jedem Blick strahlte und im Klang der Stimmen ein Echo fand, durch ihre erste Jugend.
Es war zu Ende der fünfziger Jahre, und in jener Zeit schienen die Verhältnisse in den Kleinstaaten still zu stehen wie die Luft an heißen Sommertagen. Niemand ahnte, daß es die Stille vor dem Gewitter war. Wie das Staatsleben seinen monotonen Gang ging, so nahm das Gesellschaftsleben jahraus jahrein den gewohnten Verlauf.
Ihre Mutter begann bereits die großen Leinentruhen, die noch von dem längst in andere Hände übergegangenen Gut stammten, auszupacken, und ihr Vater überlegte, wie eine neue Hypothek auf das Haus aufzunehmen sei, um das obere Stockwerk zur Wohnung für das junge Paar auszubauen; denn daß Arved niemals aus der Residenz versetzt werden würde, wo er als Kammerjunker nebenher Dienst that, das stand bei Allen fest.
Eine etwas andere Schattirung trug das Benehmen seiner Familie. Seine Mutter glitt stets mit geflissentlicher Eile an Melanie vorüber, und der General sah in die Luft, wenn das junge Paar zum drittenmal mit einander tanzte. Sie hatten ja den Sohn zu vergeben, der Oberjägermeister nur die Tochter.
Da, als wieder der Herbst kam, veränderte sich das Bild. Es erschienen in der Residenz einige Familien von benachbarten Rittergütern, die ihre herangewachsenen Töchter bei Hofe und in der Gesellschaft präsentirten, um sie an den Festlichkeiten des Winters theilnehmen zu lassen.
Auf dem ersten Hofball, den sie mitmachten, tanzte Arved zum erstenmal den Cotillon nicht mit Melanie, sondern mit der weißblonden Tochter einer der fremden Familien. Seine Mutter sei mit ihren Eltern liirt, warf er wie entschuldigend hin.
Für weitere Vernachlässigungen fand er keine Erklärung mehr nöthig. Die Herzlichkeit des Tones ging in Höflichkeit über, er nahm noch die conventionelle Rücksicht; endlich war er aus ihrem Gesichtskreis entschwunden. Sie zersann sich den Kopf darüber, was ihn veranlaßt haben könnte, sich von ihr abzuwenden, und konnte den Grund nicht entdecken.
In jener Zeit fand ein großes Hoffest statt. An dem Morgen dieses Tages kam die Anzeige, daß Arved sich mit der jungen weißblonden Dame verlobt habe. Die Nachricht traf sie wie ein Blitzstrahl.
Und wie sollte das Ereigniß in ihr Leben eingreifen!
Wehmüthig richteten sich Melanie’s Blicke nach dem Schreibtisch am Fenster, über dem die Bilder ihrer Eltern hingen: der Vater in grüner goldgestickter Galauniform, die Mutter im blauen Atlaskleid, die hellbraunen Haare in kleinen Lockenbüscheln an den Schläfen mit Seitenkämmchen festgesteckt.
Die Mutter war in den Tagen vor dem Fest leicht erkältet gewesen; der Brief an den Hofmarschall, der sie vom Fest abmelden sollte, hatte schon bereit gelegen. Nach Empfang der Verlobungs-Anzeige aber trieb sie der Gedanke, vor Allem die Dehors zu wahren, der Welt eine freundlich lächelnde Miene diesem Vorgange gegenüber zu zeigen, wieder in die Höhe. Sie erschien, der Etikette entsprechend, decolletirt auf dem Hoffest, bei welchem Melanie mit entfärbten lächelnden Lippen Arved gratulirte und er wie ein Fremder und doch befangen den Glückwunsch annahm. Sie konnten sich bei ihrer Heimkehr sagen, daß sie mit vollkommener Klugheit gehandelt hatten, und daß die Hofgesellschaft dieses anerkennen müsse.
Der Trost zeigte sich aber nicht stichhaltig, als die Mutter am andern Tag in Fieberphantasien lag, als sie nach jäh verlaufendem Nervenfieber die Augen für immer schloß. Der tief gebeugte Gatte erfüllte pünktlich alle Obliegenheiten bei dem pomphaften Begräbniß. Er kam mit einer Lungenentzündung von dem zugigen Friedhof nach Haus, siechte hin, und nach halbjähriger Krankenpflege drückte sie auch ihm die Augen zu.
Es war ihr immer befremdend gewesen, wenn er in der letzten Zeit so voll Trost des Stiftes gedacht hatte. Nach seinem Hinscheiden erst gingen dem unerfahrenen Mädchen die Augen auf. Der Sitte jener Zeit gemäß, welche Erörterungen in der Familie über die pecuniäre Lage für unstatthaft und unzart hielt, war ihr der Einblick in die Vermögensverhältnisse ihrer Eltern verhüllt geblieben. Jetzt erfuhr sie, daß sie arm war.
Nun wurde ihr auch Arved’s Handlungsweise klar. Ihr kluger gerechter Sinn sprach ihn frei, und daß sie dieses vermochte, erleichterte ihr Herz. Aber doch sagte sie sich, daß es edler von ihm gewesen wäre, wenn er ein offenes Wort der Aufklärung zu ihr gesprochen hätte, statt sich nach und nach wie ein kleinlicher Diplomat aus der Affaire zu ziehen. Sie würde, wenn auch mit Schmerz, doch ohne Bitterkeit zu seinem Besten Verzicht geleistet haben.
Sie siedelte nach dem Stift über. An dem Tage, da sie ihren Hausrath einpacken ließ zum Umzug in das stille Asyl, fuhr das junge Paar in eleganter Equipage Visiten.
In dem Stift, das angefüllt war mit unverheirathet gebliebenen Töchtern aus den adeligen Familien des Landes, fand sie viele Schicksalsgefährtinnen, die sich längst damit getröstet hatten, daß ihre Stellung ihnen den Frauenrang, anständiges Einkommen, hübsche Wohnungen gab. Kritisirende Gespräche über die Deputate an Fisch und Wild, vertrauliche Mittheilungen aus der Chronique scandaleuse der Residenz und die Lectüre des Adelslexikons füllten ihr Leben aus.
Es kam eine Zeit, in der Melanie mit der Bitterkeit rang. Aber sie hatte immer einen Zug nach oben im besten Sinne. So schloß sie sich hier an die Professoren an, und im Umgang mit den Männern der Wissenschaft bereicherte sich ihr Geist mit Interessen, die sie über das eng beschränkte Loos, das ihr gefallen war, hinaustrugen, und sie fand den Frieden der Resignation, in dem die Sehnsucht nach Glück endlich entschlummert.
Als dann die politische Umwälzung in Deutschland so viele früheren Verhältnisse und Voraussetzungen zu nichte machte, wurde auch Arved unter denen genannt, in deren Leben die Vorgänge entscheidend eingriffen. Das herzogliche Militär wurde preußisch, sein Vater pensionirt, er selbst, der in der Residenz sich angekauft hatte, in eine entfernte Garnison versetzt.
Vor ein paar Jahren, als sie aus dem Seebad zurückkam, war sie ihm wieder begegnet.
Sie harrte auf dem Bahnhof einer Stadt, die einen Knotenpunkt des deutschen Eisenbahnnetzes bildet, ihres Zuges. Da sah sie ihn stehen. Sie erkannte ihn sogleich, obwohl er sein Gesicht abgewendet hatte. So pflegte er immer den Kopf ein wenig nach der rechten Schulter zu neigen. Er war mit Handgepäck beladen. An seinem rechten Arm hing seine Frau, vier Töchter umringten ihn. Jetzt, da sie längst überwunden hatte, freute es sie, ihn wiederzusehen, und sie ging auf ihn zu. Aber da er sich nach ihr umwandte, blieb sie einen Augenblick zaudernd stehen. War der Mann mit dem nervösen verärgerten Gesicht, in welchem Mund und Nase zusammen und in die Höhe gezogen waren, als drückten ihn die Stiefeln, der hübsche elegante Arved?
Ja, er war’s. Mit einem bittren Lächeln, zu dem nur die eine Hälfte seines Gesichts sich verstand, begrüßte er sie und fragte, ob sie vielleicht das Mittel entdeckt habe, wie man immer jünger werde.
Auch seine Frau war verändert, die frischen Farben in eine allgemeine Röthe verwandelt und der harmlos sichere Ausdruck des auf dem Lande natürlich aufgewachsenen Mädchens in Kleinlichkeit untergegangen. Mit neidischem Blick verglich sie Melanie’s hellen Staubmantel, die langen seidenen Handschuhe mit ihrer eigenen verdrückten Toilette. Freilich war selbst die zierliche Zofe, welche Darling nachtrug, eleganter als Arved’s Töchter in ihren schlichten Perkalkleidern, denen selbst ihre hübschen Knixchen nicht den Anstrich der Spießbürgerlichkeit nehmen konnten.
Aber Melanie begriff ihre ehemalige glückliche Rivalin doch nicht. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie die Jüngste, die mit denselben schwärmerischen blauen Augen sie ansah wie Arved dereinst, gleich hätte mitnehmen können!
Sie erfuhr, daß er „um die scharfe Majorsecke gegangen“ war, wie er sich ausdrückte, und nun, nachdem er den Abschied erhalten, in die alte Heimath zu ziehen gedachte. Er erkundigte sich nach dem Stift und sprach davon, daß er sich um eine Stelle daselbst für eine seiner Töchter bewerben wolle. Auch nach der in Greifenberg neu errichteten Selecta für Mädchen fragte er. Sie konnte zwischen den Worten lesen, daß sein Vermögen nicht so groß war, um ihn vor Sorge zu bewahren.
Endlich nahmen sie Abschied. Da sie ihm die Hand reichte, legte er die seine so schlaff hinein, daß sie einen leeren Handschuh [655] zu umfassen meinte. Ganz verwirrt saß sie in ihrem Eisenbahncoupé. Er hatte wirklich ein Benehmen gegen sie angenommen, als habe nicht er sie, sondern sie ihn sitzen lassen, als wolle er ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich zufrieden fühlte.
Und doch war sie nicht besser daran als er. Er hatte sich den Luxus gewünscht und eine engumfriedigte Häuslichkeit gefunden, sie hatte sich einen traulichen häuslichen Herd gewünscht und Eleganz und Behagen gefunden. Solche kleine Schäkereien erlaubt sich das Schicksal.
Ach vorbei; und Gott sei Dank, daß es vorbei war!
Sie begab sich in ihr Ankleidezimmer.
Darling trippelte ihr entgegen, hoch frisirt mit gekrepptem Toupet. Die Jungfer zog die Vorhänge von grauem mit herbstlich rothem Laub übersäeten Cretonne zusammen und warf ihrer Herrill den spitzenbesetzten Frisirmantel um.
Während die Zofe die weichen langen braunen Haare strählte, mit behenden Fingern einen Zopf flocht und diesen um den Kamm aus Schildpatt legte, der wie ein Krönchen die Haartour überragte, erzählte sie: „Fräulein Clusius sind doch schnell wieder hier bekannt geworden. Gestern kamen sie mit Herrn von Bartenstein aus dem Walde. Er führte sein Pferd am Zügel. Ich sah es, als ich mit Darlingchen spazieren ging.“
„Du hast mir den Kamm ein wenig schief gesteckt, Lina,“ unterbrach Melanie sie. „So, jetzt ist’s besser.“
Trotz ihrer äußeren Ruhe war sie erschrocken. Wenn sie auch Bartenstein für einen vollkommenen Cavalier hielt, so wußte sie doch, daß selbst ein solcher im Verkehr mit den Damen so gut wie im Pferdehandel eine Schelmerei für erlaubt hält. Und wenn auch eine Dame der Gesellschaft leicht über dieselbe hinweg kam, so würde sie Ereme’s feines Gefühl doch tief verletzen. Sie empfand es als eine Pflicht, die Freundin zu warnen, die hochgebildet, aber nicht weltklug war.
„Ich will ausgehen,“ sprach sie zu ihrer Zofe, als diese fragte, welche Robe das gnädige Fräulein befehle.
„Aber es droht mit Regen,“ warnte Lina und deutete auf eine langsam heraufrückende graue Wolkenwand.
Melanie sagte sich, daß man einen Regenguß nicht erst zu Hause abwarten könne, wenn man einem Ulanen den Vorrang ablaufen wolle, und sie bestimmte danach ihre Toilette.
Als Darling den Hut sah, hob er mit hoher Stimme ein Gewinsel an. Nun ja, zu einer Freundin durfte der kleine wohlgezogene Hund mitgehen.
Sie wählte den näheren Weg durch den Stiftsgarten zur neuen Promenade.
Elegante Spaziergängerinnen wandelten auf den Fußwegen; es war ja die interessante Stunde, um welche die Collegien geschlossen wurden und die Ulanenofficiere vom Exercirplatz heimkehrten. Durch die Kastanienallee rollten Wagen. Da fuhr auch der Landauer des Bankiers. Miß Smith’s blasse Augen sahen jedem aufleuchtenden rothen Kragen erwartungsvoll entgegen. Melanie, der als Tochter einer kleinen Residenz die Gewohnheit, stets zu combiniren, geblieben war, fragte sich, ob das Goldfischchen vielleicht um diese Zeit hier Bartenstein zu begegnen pflegte. Aber der von ihr vermuthete Reiter blieb aus. Statt seiner ritt Kronheim auf seinem englischen Pferd vorbei, die Fingerspitzen an der Czapka, die Augen unverwandt auf Miß Smith gerichtet. Melanie fand. daß der junge Officier ganz in der Stille eine Beziehung zwischen sich und der reichen Dame herzustellen suchte.
Die engen Straßen der Altstadt nahmen sie auf. Dort ging Elsa neben ihrer jungen Busenfreundin, beide mit Büchern beladen.
Es wurde Melanie nicht schwer, zusammenzureimen, warum Elsa von dem Schulgebäude, das die Selecta enthielt und am anderen Ende der Stadt lag, hier auf den Pfad der Lanzenreiter kam, auch nicht, warum sie ihren rosigen Mund wie ein kleines Kind verdrossen herausschob. Aber da kamen Studenten, die Mappen unter dem Arm. Die beiden hübschen Backfischchen erblicken und einen Gänsemarsch hinter ihnen her machen war das Werk eines Augenblicks. Lachend retteten sich Elsa und die Freundin in eine Conditorei. In der Privatstube des Conditors erschienen sie alsbald mit Stachelbeerkuchen vergnügt am Fenster.
Das Leben bot freundlich Ersatz: Confect und jugendliche Neckerei, einen annehmbaren Reservemann, eitlen wohlbestellten Haushalt; man durfte nur nicht zu anspruchsvoll sein, lächelte Melanie wehmüthig.
In Ereme’s kühlem Haus kam ihr die Frau Doctor entgegen.
„Gut, daß Sie da sind, liebes Fräulein von Seebergen. Ich kann gar nicht mehr mit Eremechell fertig werden. Sie ist so aufgeregt und wird gleich so heftig. Ich denke mir, sie hat sich in Griechenland den Magen verdorben mit dem vielen Oel. Das ist keine feine Küche, mit Oel zu schmalzen, und ich begreife nicht, warum die alten Griechen ihrer Göttin so dankbar für den Oelbaum gewesen sind. Ereme sitzt im Gartensaal. Bitte, treten Sie ein. Ich habe noch in der Küche zu thun.“
Melanie öffnete die Thür des Salons. Orangenblüthenduft wehte ihr entgegen. Die Flügelthür nach dem Garten stand offen. Ueber die breiten Stufen, welche hinausführten, glitten die Schatten der Lorbeer- und Orangenbäume, die zu beiden Seiten derselben standen. Es war kühl und dämmerig in dem Raume, den Melanie in dieser Ausstattung kannte, so lange sie nun in dem Clusiushaus verkehrte. Immer waren die Wände pompejanisch roth gemalt gewesen, an dem Platz in der Tiefe des Salons hatte immer das Sopha gestanden, dessen rothe Kissen in geradlinige weiße Holzrahmen eingefaßt waren; so hatten stets die steiflehnigen hohen Stühle mit den kleinen Fußschemeln davor sich um die Tafel gereiht, die hohen weißen Tischchen zu beiden Seiten des Sophas die enghalsigen eckig gehenkelten Vasen getragen. Und hinter der Palmengruppe hatte sich ewig gleich, weiß, kühl, lächelnd die Statue der Pallas Athene erhoben.
In der Thür saß Ereme, das Antlitz hinaus und emporgerichtet. Nur die jugendlich gerundete Wange, nur die dunklen Wimpern des Auges vermochte Melanie zu erschauen; aber sie meinte, den Blick, der sich an denselben hinausspann in sonnenferne Weiten, sehen zu können. Darling trippelte zu ihr hin und stieg an ihr empor.
Mit leisem Erschrecken wandte sie sich um. Sie schien sich erst aus ferngelegenen Gedankengängen wieder zurückfinden zu müssen. Dann bot sie Melanie die Hand, und beide nahmen neben einander im Sopha Platz, während Darling sich auf Ereme’s Fußkissen zusammenknäulte und mit einem Seufzer einschlief.
„Ich habe sehr bedauert, daß ich Sie neulich nicht annehmen konnte,“ sagte Melanie, „und daß Sie es ablehnten, mich in das Concert zu begleiten. Wollen Sie nicht wieder ausgehen?“
„Nein; ich würde mich nicht zurechtfinden in der Gesellschaft, wie sie sich jetzt zusammensetzt,“ antwortete Ereme abwehrend.
„Wäre es nicht doch besser, Sie schlössen sich an?“ warf Melanie hin. „Sie verlieren so gut wie ich leicht die Fühlung mit der Gegenwart. Wir sind beide in ganz anderer Atmosphäre groß geworden, als die ist, welche heute herrscht. Sie im Geist der antiken Welt, ich in den Anschauungen der antiquirten Welt eines kleinen Hofes. Und ich finde,“ fuhr sie eindringlicher fort, „daß die Frau, die sich freiwillig zurückzieht, sich eines Vortheils begiebt. Die Gesellschaft bildet eine schützende Mauer um Jeden, der zu ihr gehört; der alleinstehenden Frau aber begegnet selbst der ritterliche Mann kecker, schon weil es seine männliche Eitelkeit nicht ertragen kann, wenn wir uns einbilden, auch ohne Schutz unsern Weg durch’s Leben zu finden.“
Ereme wußte sofort, was Melanie andeuten wollte. Sie hob stolz das Haupt. „Ich werde nicht die Hülfe der Gesellschaft anrufen, um einen Mann, der mir keck begegnet, in seine Schranken zurückzuweisen. Und ich denke, mein Name steht so rein da, daß ich auch einmal Außergewöhnliches thun darf, ohne daß selbst nur der Schatten eines Verdachtes auf mich fällt.“
Da Melanie sah, daß sie von Ereme verstanden wurde, fragte sie in dem leichten Gesellschaftston, der so flüchtig über gefährliche Stellen hinzugleiten versteht: „Wie kam es doch?“
„Er redete mich im Walde an,“ erwiderte Ereme, und eine Pupurgluth stieg in ihren Wangen auf.
Er? schon Er? dachte Melanie erschreckt.
Ereme fuhr erregt fort: „Er drängte mir seine Begleitung auf, und ich kann Ihnen mein Erstaunen darüber nicht verhehlen, daß Männer in solcher Stellung sich so ungebildet ausdrücken.“
„Ungebildet?“ fragte Melanie befremdet.
„Ich bin gewöhnt, die Sprache als das Gewand zu betrachten, welches der Geist des Menschen sich schafft,“ antwortete Ereme. „Herr von Bartenstein bedient sich einer Barbarensprache, die nur darum nicht unedel klingt, weil er die Worte so scharf ausprägt, daß sie neben einander stehen wie Soldaten – er würde sagen: wie stramme Kerle.“ Sie mußte das Wort, das sie förmlich verfolgt hatte, einmal nennen, als werfe sie es damit zum Haus hinaus.
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[657] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [658] Melanie lächelte. „Auch ich bin oft über den modernen Verkehrston betroffen; denn in meiner Jugend wählte man unter den Worten bis zur Ziererei. Jetzt wird das Pathos gänzlich vermieden. Seit ein etwas derber Humor unserem Heer im Kriege beigestanden hat, ist demselben als Nationalbelohnung ein festes Heim in unserem Volk zu Theil geworden.“
„Ich habe nur den wohlfeilen Tageswitz herausgehört, mit dem eine untergeordnete Natur sich aushilft,“ widersprach Ereme.
„Sie unterschätzen ihn,“ warnte Melanie nachdrücklich. „Gerade weil er eine bevorzugte Persönlichkeit ist, überschreitet er mit souverainer Machtvollkommenheit die herkömmlichen Formen.“
„Das mag den Damen seiner Kreise gegenüber angemessen sein, die den engen Horizont der Gesellschaft haben,“ entgegnete Ereme. „Aber er soll sich hüten, mit seiner Keckheit an Persönlichkeiten sich zu wagen, deren hohen Culturstandpunkt er offenbar gar nicht begreift; sonst wird er ebenfalls mit souverainer Machtvollkommenheit zurückgewiesen werden. Ich für mein Theil,“ setzte sie nachlässig hinzu, „werde dafür sorgen, daß der tollkühne Ulan mich nicht wieder mit seinen Trivialitäten über die wahre Stellung der Frau behelligen kann, und es wird mir eine Freude sein, ihm klar zu machen, daß auch seinem starken Willen nicht Alles erreichbar ist.“
In diesem Augenblick wurden im Hause Stimmen laut, Sporen klirrten. Die Frau Doctor begrüßte sich mit einem Herrn.
Ereme und Melanie erstarrten zu Bildsäulen. Dann begann Melanie zu lachen. Die Thür öffnete sich und zeigte ein lebendes Bild.
Die Tante knixte artig vor Bartenstein, indem sie mit der einen Hand ihn zum Eintreten aufforderte, mit der andern, welche einen zierlichen Schaumbesen hielt, entschuldigend nach der Küche winkte.
Bartenstein, die Czapka in der Hand, stand in ehrerbietiger Haltung vor ihr und trat dann sporenklirrend über die Schwelle, während die Tante, sich zurückziehend, hinter ihm die Thür zudrückte.
Funkelnd vor Uebermuth verbeugte er sich vor den beiden Damen, indem er Ereme fragte: „Meine Gnädigste, ich weiß nicht, wie der Gruß der Griechen lautete?“
Vollständig aus der Fassung gebracht durch diesen Ueberfall geschah es ihr, daß sie Auskunft gab: „Freude sei mit Dir.“
„Ich danke, gleichfalls,“ erwiderte er lachend. „Ich konnte mir nicht versagen, nach dem gestrigen für mich so interessanten Spaziergang Ihnen einen Besuch zu machen, und ich hoffe, nicht hinausgeworfen zu werden, da die Gastfreundschaft den alten Griechen heilig war.“
Ereme deutete mit einer ihrer großen langsamen Bewegungen auf den hochlehnigen Sessel neben Melanie. Doch vermochte sie nicht ein leises Zittern der Fingerspitzen zu bemeistern und sein an dieselben sich heftender Blick bewies, daß er es wohl bemerkt hatte.
Ueber künstliche Beleuchtung im Hause.
Je großartigere und ungeahntere Fortschritte die moderne Technik des Beleuchtungswesens macht, desto mehr ist die Frage des Publicums berechtigt: Welche Beleuchtungsart sollen wir in unserem Hause einführen? Bei welcher Art läuft unser Auge die geringste Gefahr? Die Antwort ist nicht ganz leicht zu geben.
Daß ein allzu helles Licht das Auge blendet, ist bekannt; das Sehen in elektrisches Bogenlicht, in die Sonne, in den Blitz, auf große Schneeflächen ruft Zerstörungen in der Netzhaut des Auges hervor, die häufig ganz unheilbar sind; auch haben alle Augenärzte die Beobachtung gemacht, daß Handwerker, welche viel der Einwirkung von blendendem Lichte ausgesetzt sind, z. B. Heizer, Glasbläser, Schmiede, oft an Entzündung oder Vertrocknung der Sehnerven leiden. Um so starke Lichtquellen handelt es sich aber bei unserer Zimmerbeleuchtung niemals. Allein wir können auch bei den schwächeren Beleuchtungen in unseren Wohnungen einen allgemeinen Lehrsatz anwenden, den wir der täglichen Beobachtung des Tageslichtes entnehmen. Jedermann weiß, daß das zerstreute (diffuse) Tageslicht niemals blendet, weil eben die Lichtquelle selbst dem Auge entzogen ist. So müssen wir auch die künstliche Lichtquelle dem Auge entziehen und nur das diffuse Licht, welches von ihr ausgeht, in’s Auge gelangen lassen; alsdann wird von Blendung nie die Rede sein. Da man aber die Flamme im Zimmer dem Auge nicht vollkommen entrücken kann, wird man bei allen Lichtquellen, bei Gas, Petroleum, selbst bei Glühlicht immer Glocken anwenden müssen, sei es aus mattem Glase, aus Milchglas oder aus Porcellan etc.
Diese Glocken nehmen allerdings sehr viel Licht; Hartley in London hat gefunden , daß die gewöhnlichen Milchglaskugeln 33 bis 60% Licht entziehen, ein matter Lampenteller sogar über 60%. Die Lichtmessungen[1] betreffs dieses Punktes waren bisher complicirt. Vor Kurzem aber hat der Professor Leonhard Weber in Breslau ein überaus sinnreiches Instrument erfunden, welches das Ausführen dieser Messungen ungemein erleichtert, und mit Hülfe dieses Weber’schen Photometers hoffe ich den Werth der verschiedenen Reflectoren von Blech, Glas, Porcellan etc. für die einzelnen Beleuchtungsarten ermitteln und in einem späteren Artikel mittheilen zu können. Bis jetzt kann man nur rathen, einen Schirm oder Reflector so zu wählen, daß die größte Lichtmenge durch denselben nach unten auf das Buch oder die Arbeit geworfen wird, während die Flamme selbst dem Auge möglichst entzogen bleibt. –
Viel wichtiger als die Frage der Blendung ist jedoch bei unserer künstlichen Beleuchtung die Frage: Welchen Schaden erfährt das Auge durch zu geringe Beleuchtung?
Das Gesetz, nach welchem die Sehschärfe von der Lichtintensität abhängt, kennen wir noch nicht mit voller Sicherheit. Unumstößlich fest steht nur, daß bei Abnahme der Beleuchtung die Sehschärfe beträchtlich sinkt, ferner daß bei Kurzsichtigen die Sehschärfe bei schlechter Beleuchtung viel schneller abnimmt, als bei Normalsichtigen, und daß ein Gleiches in höherem Alter beobachtet ist.
Wenn aber die Sehschärfe abnimmt, müssen wir uns den Gegenständen, um sie zu erkennen, noch mehr nähern, und gerade diese dauernde Annäherung birgt ernste Gefahr für das Auge. Beim Naheblick muß sich nämlich ein Muskel im Auge zusammen ziehen, der sogenannte Accommodationsmuskel; dabei zerrt er die Aderhaut nach vorn und gestattet der Krystalllinse, die für den Naheblick nothwendige stärkere Krümmung anzunehmen.
Das Wesentlichste beim Naheblick ist also ein Muskelzug; dieser aber bewirkt eine Erhöhung des Druckes im Inneren des Augapfels und leistet einer Dehnung der hinteren Theile der Augenhäute Vorschub. Zugleich wird die Aderhaut gezerrt, der Kopf vornübergebeugt, und so werden, wenn das Nahesehen längere Zeit fortgesetzt wird, Reizungszustände herbeigeführt, die sehr wohl geeignet sind, ein normales Auge kurzsichtig und ein kurzsichtiges noch kurzsichtiger zu machen.
Alle Augenärzte sind darin einig, daß anhaltendes Nahesehen, besonders bei ungenügender Beleuchtung, ein die Myopie (Kurzsichtigkeit) im höchsten Grade begünstigendes Moment ist.
Der statistische Nachweis wurde schon vor 18 Jahren von mir an mehr als 10,000 Schulkindern geführt, daß die Myopie namentlich in den höheren Schulen außerordentlich verbreitet ist, daß sie dort stets von Classe zu Classe immer mehr Kinder ergreift, und daß auch der durchschnittliche Grad der Kurzsichtigkeit von Classe zu Classe zunimmt. Meine Beobachtungen sind seitdem bei mehr als 50,000 Schülern in anderen Städten von den besten Forschern bestätigt worden, und ich konnte in der hygieinischen Ausstellung zu Berlin im vorigen Jahre ein graphisches Tableau vorführen, das allein aus 9400 Beobachtungen in 24 deutschen Gymnasien gestützt folgendes erschreckende Resultat zeigte: „Durchschnittlich sind in Sexta 22%, in Quinta 27, in Quarta 36, in Tertia 46, in Secunda 55 und in Prima 58% Schüler kurzsichtig!“
Alle Unterrichtsbehörden sind vor Kurzem von dem Herrn Minister von Goßler aufgefordert worden, ähnliche Untersuchungen anstellen zu lassen, deren Details von der wissenschaftlichen Prüfungsdeputation in Berlin vorgeschlagen werden sollen. Wenn wir also mit Freude und Dank anerkennen, daß die Staatsbehörden jetzt aller Orten, ganz besonders im Elsaß, in Hessen [659] und in Preußen, wachsam sind, um der größeren Verbreitung der Kurzsichtigkeit in den Schulen vorzubeugen, so haben wir die doppelte Verpflichtung, Alles aufzubieten, um auch bei der häuslichen Beschädigung unseren Kindern jede Gelegenheit zur Entstehung oder Vermehrung der Kurzsichtigkeit zu nehmen.
Wir müssen also, um die Annäherung des Auges an die Arbeit zu verringern, auch die künstliche Beleuchtung im Hause zu einer möglichst glänzenden gestalten. Meine Ansicht geht dahin, daß jedes Kind seine eigene Lampe habe, damit es seinen Arbeitsplatz hinreichend erleuchten könne.
Die Zeiten, in denen bei den sogenannten Studirlampen eine Person am Tische stets den Oelkasten zugedreht erhielt, sind längst vorüber, die allgemeine Einführung des Petroleums hat die Reservoirs nach unten verlegen lassen; allein um so nothwendiger ist es, daß keine Arbeitslampe ohne Glocke oder Schirm, welcher das Licht nach unten wirft, angewendet werde.
Dasselbe gilt von den Gasflammen. Was nützt dem Schreibenden die Erhellung des Raumes 1 Meter über seinem Kopfe, wenn der Arbeitsplatz dunkel bleibt?! Hier empfehle ich schon seit vielen Jahren Blechschirme, welche oben 10, unten 40 Centimeter Durchmesser und 12 Centimeter Höhe haben; solche bewähren sich in der Taubstummenanstalt zu Breslau ganz gut; eine so armirte gute Gasflamme reicht für 4 Kinder, die an einem Tische arbeiten, aus. Gewiß ist Glühlicht noch mehr vorzuziehen, denn es verbessert die Sehschärfe im Allgemeinen und die Farbensehschärfe im Besonderen wegen seiner größeren Intensität; aber auch hier muß durch Glocken das Licht nach unten geworfen werden.
Das Minimum von Licht, bei welchem ein Auge noch arbeiten kann, ist kaum anzugeben, da individuell die größten Verschiedenheiten beobachtet werden. Ich möchte empfehlen, daß das Minimum eine derartige Helligkeit sein soll, daß bei derselben die feinste Perlschrift, z. B. diese Zeile
noch bequem aus 1/2 Meter vom gesunden Auge gelesen werden kann. Es scheint mir dies bei 10 Normalkerzen der Fall zu sein.
Es handelt sich aber gar nicht so sehr um die Feststellung des Minimums, unsere Aufgabe ist vielmehr, soviel wie möglich Licht zuzuführen, damit das Auge sich der Arbeit nicht zu nähern und der Kurzsichtigkeit zugeführt zu werden braucht. Ist die Lichtquelle zu hell, so kann man sie immer mäßigen, aber gegen zu geringes Licht kann man sich nicht schützen; man kann nie genug künstliches Licht zur Arbeit haben. –
Eine dritte, sehr wichtige Frage lautet: Welchen Schaden erfährt das Auge durch zu heiße Beleuchtung? Ein Gefühl von Trockenheit im Auge tritt ein; die von der Schleimhaut des Auges, der sogenannten Bindehaut, gelieferte Feuchtigkeit, welche den vorderen Theil des Augapfels bedeckt, verdunstet zu schnell. Das ist recht lästig; denn es wird dabei nicht blos das Auge, sondern auch der Kopf erwärmt; man empfindet Kopfschmerz und kann nicht mehr weiter arbeiten.
Bekanntlich enthalten die verschiedenen Lichtquellen verschiedene Mengen von Wärmestrahlen, das sind diejenigen Strahlen, welche im Spectrum jenseit des rothen Endes liegen. Man kann sie am besten mit berußten Thermometern messen. Ich fand bei Messungen, die ich in der Breslauer Gasanstalt mit Herrn Director Schneider vornahm, daß nach 10 Minuten ein Thermometer von einer Gaslampe doppelt so stark erhitzt wurde, als von einer Edison-Lampe, die dieselbe Lichtstärke hatte.
Die Empfindlichkeit des Auges gegen Wärme ist übrigens bei den verschiedenen Personen auch eine sehr verschiedene. Vor 15 Jahren untersuchte ich die Augen von 132 Schriftsetzern, von denen ich 51% kurzsichtig fand. Nur 72 stimmten für Gas, die andern der geringeren Hitze wegen für Petroleum. Von 72 Uhrmachern fand ich nur 9% kurzsichtig; sie arbeiten mit der Lupe und strengen ihre Accommodation weniger an, können also weniger zur Kurzsichtigkeit neigen; sie müssen bei ihren feinen Arbeiten die Flamme ganz nahe: 25, selbst 18 Centimeter an das Auge bringen, und in der That stimmten 54 unter den 72 für Oel oder Petroleum, da das Gas ihr Auge zu sehr austrockne.
Freilich kann die Hitze verringert werden, wenn die Flamme recht hoch über dem Kopfe steht, allein die Helligkeit nimmt bekanntlich nicht wie die Entfernung, sondern wie das Quadrat der Entfernung ab; man muß also eine doppelte und selbst vierfache Menge von Licht haben, wenn man die Hitze vermeiden will. Das Glühlicht aber erhitzt fast gar nicht, ist also gewiß das Arbeitslicht der Zukunft.
Es fehlen noch Messungen der Temperaturerhöhung bei bestimmter Höhe der Lampe über dem Kopfe; ich persönlich kann stundenlang ohne jede Störung arbeiten, wenn eine Gasflamme (Rundbrenner von 24 Millimeter Durchmesser), von Porcellanteller und Glocke umgeben, 1/2 Meter über meinem Kopfe sich befindet. Für Schulen wünschen die Straßburger Aerzte die Flamme einen Meter hoch über dem Kopfe.
Zu den Körpern, welche die Wärmestrahlen wenig oder gar nicht durchlassen, und die man „athermane“ (wärmelose) nennt, gehören die Glassorten; schon hieraus folgt der Nutzen von Cylindern. Schuster und Bär in Berlin, Besitzer einer großen Lampenfabrik, haben, um die strahlende Wärme zu verringern, in ihren sehr empfehlenswerthen hygieinischen Normallampen[2] zwei Cylinder über einander angebracht. Durch den Uebercylinder wird die Temperatur anfangs um 2° später, wenn auch er sich erwärmt, um 1° herabgesetzt. –
Ueber den Nutzen dieser oder jener Farbe des künstlichen Lichtes sind die Ansichten noch sehr getheilt; Versuche über die Ausdauer bei verschieden gefärbten Lichtquellen liegen nicht vor. Einzelne Personen können mit blauen Gläsern oder bei blauen Cylindern (die freilich viel Licht nehmen) länger und bequemer schreiben andere, wie Fieuzal und Javal in Paris, empfehlen im Gegentheil gelbe Brillen. Die Frage ist noch nicht gelöst; möge Jeder in dieser Beziehung nach seiner Empfindung verfahren!
Dagegen müssen wir noch einiges über den Schaden sagen, den zuckende Beleuchtung hervorbringt. Beim Zucken wechselt die Beleuchtungsintensität überaus schnell. Wie lästig ist es uns, an einem Staketenzaune vorüberzugehen, der von der Sonne beschienen wird! Wenn wir vom Dunkeln ins Helle kommen, müssen wir uns bekanntlich erst längere Zeit an den Uebergang gewöhnen; dagegen wird unsere Netzhaut auf das Peinlichste gereizt, wenn beim Zucken der Flamme die Intensitäten so überaus schnell wechseln; das zuckende Licht ist unerträglich. Man merkt das besonders, wenn man in einem Hôtel bei einer Kerze einen Brief schreiben will. – Die Petroleumlampen haben stets ihren Cylinder, nur die Gasflamme läßt man häufig ohne solche. Das ist aber ganz unverantwortlich; bei offener Gasflamme soll wegen des Flackerns niemals gearbeitet werden. Seit wir die unzerspringbaren Glimmercylinder haben, ist auch aus pecuniären Rücksichten keine Veranlassung mehr vorhanden, sich auf offene Flammen zu beschränken. Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß die Gesundheitspolizei auch darauf sehen sollte, daß in Restaurationen, Conditoreien und Cafe’s, in denen Zeitungen gelesen werden, alle offenen, in Schalen brennenden Gasflammen beseitigt würden, damit die Augen der Leser vor dem zuckenden Lichte bewahrt werden.
Von den offenen Gasflammen zuckt nur die Albocarbonflamme niemals. Das Gas nimmt durch die Naphthalindämpfe bedeutend an specifischem Gewicht zu, gewinnt also auch an Stabilität. Die Albocarbonflamme ist mir persönlich – und ich habe bei allen Beleuchtungsarten viel gearbeitet – die liebste; sie giebt das hellste weiße Licht, flackert nicht und ist auch nicht so heiß, als die anderen Gasflammen; nur muß man darauf achten, daß sie nicht nach einiger Zeit rußt.
Mit Recht hat man früher darüber geklagt, daß das elektrische Licht beim Lesen anstrengt, da es fortwährend kleine Zuckungen mache; namentlich ist dies bei dem Jablochkoff’schen Bogenlichte der Fall gewesen. Ich habe aber auf der hygieinischen Ausstellung in Berlin im Pavillon der deutschen Edison-Gesellschaft eine Anzahl Glühlampen gesehen, die nicht die leiseste Zuckung zeigten. Die Ursache war die höchst vollkommene Regulirung der daselbst thätigen Dampfmaschine von Ludwig Löwe. Mit diesen Fortschritten der Technik fällt also auch das letzte Bedenken gegen das Glühlicht zur Arbeit fort.
Fasse ich alles zusammen, so komme ich zu folgenden Sätzen: Da das diffuse Tageslicht dem Auge niemals schädlich ist, so müssen wir seine Eigenschaften bei der künstlichen Beleuchtung möglichst nachzuahmen suchen; sie darf daher 1) nicht blendend sein, 2) nicht spärlich sein, 3) nicht die Augen erhitzen und 4) nicht zucken.
- ↑ Vergl. den Artikel über das „Messen des Lichts“ in Nr. 4 d. Jahrg.
- ↑ Vergl. „Zwanglose Blätter“, Beilage zu Nr. 49, Jahrgang 1881.
[660]
Von der hansischen Flanderfahrt.
I. Hamburg. Helgoland. Emden. Amsterdam.
Als wir uns zur Abreise anschickten, sagte mein sechsjähriger Enkel Hellmuth: „Der Papa geht zur Flunderfahrt, und der Großpapa geht auch zur Flunderfahrt.“
Wie Flundern aussehen und schmecken, wußte der Junge. Von Flandern wußte er nichts. Es ist immer besser: das Kind sagt etwas unrichtiges, aber es denkt sich etwas dabei, als es sagt etwas Richtiges und denkt gar nichts.
Die gedachte Aeußerung ruft mir indeß die Verpflichtung in das Gedächtniß, zu sagen, was die „hansische Flanderfahrt“ ist, und wie sie entstanden. Geplant ist ursprünglich die Sache von Mitgliedern des hansischen Geschichts-Vereins, der sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Geschichte der deutschen Hansa und der zu ihr gehörigen Städte zu erforschen, eine Aufgabe, die ganz Deutschland angeht und von jedem guten Reichsbürger, der dazu im Stande ist, mit Geld oder mit Arbeit unterstützt zu werden verdient.
Aus diesem Kreise also ging 1881 der Plan hervor, auf einem zu diesem Zwecke gemietheten Dampfer eine gemeinsame Fahrt nach den alten hanseatischen Städten der Ostsee zu machen. Ihr Ziel war Wisby[1] auf der Insel Gothland, das im 13. Jahrhundert die Führung hatte, und wir kehrten dann zurück nach Lübeck, das die Nachfolgerin von Wisby wurde. Als wir uns trennten, wurde der Wunsch laut, daß dies nicht die letzte Hansefahrt und daß man darauf bedacht sein möge, auch einmal den Kiel nach Westen zu lenken, um dort in die Fußstapfen der alten hanseatischen Vorfahren zu treten. Der Wunsch wurde zur That, und als unser auf der Wisbyfahrt so rühmlich bewährter Führer, Herr J. D. Hinsch von Hamburg, im Namen des aus Mitgliedern von Hamburg, Bremen und Lübeck zusammengesetzten Comités, an dessen Spitze er steht, die Einladung erließ zur „hansischen Flanderfahrt von 1884“, welche am 19. Juli in der Frühe angetreten werden und uns über Helgoland nach dem ostfriesischen Emden, dann nach der holländischen Handelsmetropole Amsterdam und endlich nach den an hanseatischen Erinnerungen so reichen belgischen Städten Antwerpen, Gent und Brügge führen sollte, erfolgten noch zahlreichere Anmeldungen als zur Wisbyfahrt von 1881. Damals fuhren wir unter dänischer Flagge auf dem Dampfer „Heimdal“. Diesmal aber hatten wir einen deutschen Dampfer, ein ganz neues Schiff, Eigenthum des „Norddeutschen Lloyd“ in Bremen, genannt „Der Schwan“. Er führte die deutsche Flagge und daneben noch die von Bremen und die des Lloyd; bei festlichen Gelegenheiten aber, wozu stets Ankunft und Abfahrt gehörten, entfaltete er daneben noch einen besonderen Flaggenschmuck von allen möglichen Farben. Er machte eine stattliche Figur und erregte namentlich in Brügge, wohin sonst so große Schiffe nicht kommen, Aufsehen. Unsere Zeichnungen geben ein getreues Bild von demselben in seinen verschiedenen Situationen.
Ein großer Theil der Gesellschaft fand sich schon am Vorabende in Hamburg auf dem Schiff ein, um dort zu übernachten. Ich freute mich, eine große Anzahl alter Freunde und Bekannter begrüßen zu können, namentlich auch Wisbyfahrtgefährten und Gefährtinnen. Da waren Senator Versmann von Hamburg und Bürgermeister Burchard von Rostock, beide mit Damen. Desgleichen Justizrath Haeusler von Braunschweig, ferner Senator Dr. Klügmann von Lübeck, Senator Rapp von Hamburg, Senator Brandenburg von Stralsund, Oberbürgermeister von Ibell von Wiesbaden, Dr. Gaedertz von Lübeck, Schierenberg von Frankfurt, Dr. Schiemann und andere deutsche Männer aus Reval sowie aus Riga. Auch die Reichshauptstadt war, wenn auch nicht zahlreich, denn doch würdig vertreten durch den Abgeordneten Stadtsyndikus Zelle und seinen Bruder, den Dr. Zelle, den Liebling der Gesellschaft. Natürlich durfte auch Dr. Koppmann von Hamburg, jetzt Archivdirector in Rostock, nicht fehlen, der auch diesmal für die Flanderfahrt, so wie er 1881 für die Wisbyfahrt gethan hatte, uns einen gedruckten Führer verfaßt hat, der neben sonstigem verdienstvollen Inhalt überall die Beziehungen der zu besuchenden Orte zur Hansa und zu den deutschen Hansestädten und die in jenen noch vorhandenen, der gedachten Beziehung ihren Ursprung verdankenden Denkmale in lehrreichster Weise und zweckdienlicher Kürze hervorhebt. Um es kurz zu sagen: Dr. Koppmann war der geistige, und Herr Hinsch der leibliche oder wirthschaftliche Führer der Gesellschaft, ein Führer, der Alles wußte, Alles ordnete und Jedermann half mit einer Bereitwilligkeit, die niemals auch nur von einem Schatten übeler Laune getrübt war. Er hatte auch an allen Orten, die wir besuchten, vorher schon die nöthigen Verbindungen hergestellt, sodaß wir überall willkommene Gäste waren und für jede Stätte die besten einheimischen Führer und Rathgeber fanden.
Am Tage der Abfahrt hatten wir Gelegenheit, den stolzen Mastenwald Hamburgs zu bewundern. Der großartige Stromverkehr [661] bot jeden Augenblick etwas Neues, so z. B. kleine Boote, dicht besetzt von Arbeitern, die auf der Elbe von draußen nach ihren städtischen Werkstätten und Fabriken eilten; sie hatten zahlreiche kleine Ruder, welche wie Beine aussahen, und wenn so ein kleines, leichtes, schnelles Boot dahineilte, dann war es, als wenn ein Tausendfuß über eine glatte Tischfläche glitte.
Der „Schwan“ lag an dem so schön und zweckmäßig eingerichteten Dallmannsquai; programmmäßig lichtete er präcis um sieben Uhr Morgens die Anker, und wir hatten nun Gelegenheit die villengeschmückten malerischen Ufer zu bewundern. Oder vielmehr nicht die Ufer, sondern das Ufer, nämlich das rechte Ufer von Altona und Ottensen bis Blankenese. Es ist hier wie am Rhein, wo die landschaftlichen Schönheiten und die interessanten Gebäude sich ebenfalls vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich, auf dem rechten Ufer befinden. Deshalb ist indeß auch das linke Ufer nicht zu verachten, am wenigsten hier an der unteren Elbe. Denn dies Land hier ist zum großen Theile dem Strome abgewonnen von tapferen niederländischen Männern, welche mit ähnlichem Stolze sich dessen berühmen können, wie die Holländer, welche sagen: „Gott schuf das Meer und wir das Land.“
Diese Marschen des „Altenlandes“ sind von Niederländern, ich glaube sogar von Vlamingen oder Friesen, dem Strome abgewonnen und verdienen daher unsere besondere Aufmerksamkeit, und es ist hier vielleicht der Ort, daran zu erinnern, wie viel Deutschland, insbesondere Norddeutschland und Preußen, den großentheils durch religiösen Fanatismus aus ihrer Heimath vertriebenen Friesen, Vlamingen und Holländern verdankt, welche sich ebenso sehr durch ihr Colonisationsgeschick als durch ihren Gewerbefleiß auszeichneten. Preußen ist besonders dadurch groß geworden, daß es Alle aufnahm, „die mühselig und beladen waren“. Ein Wink für die Gegner der Zugfreiheit!
Helgoland und der Weg dahin sind unzählige Male beschrieben. Ich will mich daher kurz fassen und den geneigten Leser im Uebrigen auf das umfangreiche und gründliche Werk meines alten Freundes und politischen Kriegscameraden Friedrich Oetker, des „Chatten-Häuptlings“, verweisen, welcher Jahre lang auf diesem englischen Eilande als Verbannter verweilt hat, weil er in Deutschland in Gefahr schwebte, auf Veranlassung der damaligen kurhessischen Mißregierung eingesteckt zu werden. („Oetker, Helgoland. Schilderungen und Erörterungen.“ Berlin, Duncker 1855.)
Wir konnten der malerischen Insel, welche sich wie ein von Thürmen flankirtes rothes Schloß aus der See hebt, nur einen flüchtigen Besuch von vier Stunden abstatten. Wie landesüblich, hatten wir die Lästerallee zu passiren, welche sich auf dem Unterland sammelt, um die ankommenden Seekranken zu verspotten, aber bei uns keinen Anhaltspunkt dazu fand, obgleich wir auf See eine „aufspringende Kühlte“ hatten und das Ein- und Aussteigen aus dem Dampfer in die Kähne für Manchen nicht ganz leicht war.
[662] Abends schifften wir uns ein nach Emden, unter Gewitter und Strichregen. Von der Nacht, welche etwas unruhig gewesen sein soll, kann ich gar nichts berichten; denn ich schlief den Schlaf des Gerechten in einem guten und geräumigen Bette. Auch bin ich der Meinung, daß der „Schwan“ eine ruhige Gangart hat, welche noch ruhiger gewesen wäre, wenn er mehr Ladung gehabt hätte, oder Ballast. Nur eine Unart hatte er an sich, welche man sich aber im Interesse der Reinlichkeit gefallen lassen mußte. Jeden Morgen kurz nach fünf Uhr — wo der Mensch noch lange nicht ausgeschlafen, namentlich wenn er sich bis spät in die Nacht auf Deck dem Singen und Trinken und anderen freien Künsten gewidmet hat – begann ein Kettengerassel, das an die schönsten Ritter- und Gespenstergeschichten erinnerte. Es war die Maschine, welche das zum Deckwaschen erforderliche Wasser emporhob. Wir, die Masse des Volks, waren in dem zweistöckigen Zwischendeck des vorderen Schiffes einquartiert. Immer je zwei geräumige Kojen über einander. Hinreichenden Raum und frische Ventilation hatten wir, die alle Schäden heilte, welche man während der großen Hitze zu Lande erlitten. Das Gerassel war für die Frühaufsteher das Signal zum Aufstehen, das sich nicht ohne Geräusch und laute Conversation bewerkstelligen ließ. Aus der einen der oberen Kojen kletterte der Inhaber mit der Geschicklichkeit eines Turners, aus der anderen sprang er gleich Harras. Aus den unteren streckten sich hier ein Paar nackte Beine und dort ein Paar in Jäger’scher Wolle mit Zehen an den Strümpfen hervor aus den sonst mit dunklen Vorhängen geschlossenen Kojen. Dann kamen die einzelnen Gestalten zum Vorschein und entwickelten beim Waschen aus den gemeinsamen Waschbecken und beim Ankleiden sehr achtungswerthe Balancirkünste. Dann folgte ein Rufen und Streiten um Schuhe und Stiefel. Und dann endlich eilten die Unermüdlichen aufwärts und ich hörte sie schreien „Borkum“ und dann „Rottum“. Ich entnahm daraus mit Genugthuung, welch schöne Fortschritte wir während meines Schlafes gemacht hatten, und schlief dann weiter, wobei mir das Aufhören des Kettengerassels sehr zu Statten kam. Als ich aufstand, waren wir schon in dem Dollart, und da das Wasser für unseren großen „Schwan“ zur Zeit nicht tief genug war, so kam ein kleinerer Dampfer, die „Norderney“, um uns aufzunehmen und durch die zur Zeit der Welfenherrlichkeit vielberühmte Schleuse – den Emdenern wurden die Staatsmittel für die Schleuse verweigert, weil sie oppositionell gewählt hatten, und das nannte man die „welfische Schleusenpolitik“ – nach Emden zu fahren, wo wir, geführt von den Emdener Herren de Vries, Oberlehrer Dr. Kuhlmann und Telegraphendirector Hoffmeister, ausstiegen, um uns, nach Einnahme eines Imbisses, der Besichtigung der Stadt und ihrer Sehenswürdigkeiten zu widmen.
Die Stadt hat einen holländischen Charakter, der sich nicht nur in holländischen Inschriften, sondern auch in holländischer Bau-Art und Sauberkeit kundgiebt. Desgleichen in dem Delft und den übrigen zahlreichen Canälen.
Die Hauptsehenswürdigkeit ist das Rathhaus mit seinen Sammlungen. Es ist ein imposanter Renaissance-Bau aus der letzten Zeit des 17. Jahrhunderts. Er hat ohne Zweifel sehr viel Geld gekostet, und ich schließe daraus, daß Emden damals noch eine reiche und blühende Stadt war.
Freilich steht über der Thür der Rathhausstube ein Vers, der uns zu denken giebt. Er heißt: „In spe et silentio fortitudo nostra“, das heißt auf Deutsch: „Unsere Tapferkeit besteht im Ausharren und Schweigen“.
Und diese Tugend des standhaften Ausharrens hat Emden noch nicht verloren. Seine Sammlungen und Kostbarkeiten sind von außerordentlichem Werthe; und es hat an Versuchern aller Art nicht gefehlt, welche schweres Geld dafür boten. Aber Emden hat das böse Beispiel anderer Städte – ich nenne Lüneburg, wo übrigens eine standhafte Minorität, freilich vergeblich, sich dem Verkaufe des Rathsschatzes widersetzt hat – nicht befolgt und die Versucher zurückgewiesen. Es hat seine Schätze bewahrt und sich seine Krone nicht rauben lassen. Unter den Silberschätzen sind namentlich einige Pokale bemerkenswerth. Einer derselben hat die Gestalt eines Schiffes. Dessen Bauch wird mit Wein gefüllt; man kann einen Theil des etwas erhöhten Sterns herunterklappen, um dort den durstigen Mund anzulegen, und während man den kostbaren Inhalt des Fahrzeuges trinkt, wehen Einem die Flaggen und flattern Einem die Segel und Taue um die Nase und vor den Augen. Die Arbeit dieses Kunstwerks ist ausgezeichnet. An einer Strickleiter z. B. klettert ein beinahe nackter Matrose hinauf. Man sieht ihn von der Rückseite; an dem Körper dieses winzigen Figürchens ist jeder Muskel deutlich erkennbar; und man findet keinen Fehler, selbst wenn man das Vergrößerungsglas zur Hand nimmt. Das kostbare Weinschiff soll ein Geschenk der Maria Stuart sein. Freilich läßt sich das nicht beweisen, aber das Kunstwerk verliert auch dadurch nichts.
Ebenso interessant wie die Silberkammer ist die sehr ansehnliche Waffensammlung, sowohl vom künstlerischen als vom militärisch-technischen Standpunkt. Das merkwürdigste Stück derselben ist ein Hinterlader aus dem siebzehnten Jahrhundert – der Urahne der Zündnadel- und der Chassepot-Gewehre.
Neben der großen Kirche ist noch das Waisenhaus zu erwähnen. Es befindet sich in einem ehemaligen Kloster. Ich sah nie vergnügtere und besser gepflegte Waisenkinder. Kleine Jungen von fünf und sechs Jahren machten am hohen Reck die Riesenwelle u. dgl., und das nicht mit Verzagtheit, sondern mit Eleganz und Wohlbehagen. Gott segne den Nachwuchs und seine Pfleger! Die Rückfahrt zum „Schwan“ war nicht ohne Schwierigkeiten. Der Canal war sehr verschlickt und die Ebbe bereits eingetreten. Einige blieben zurück und kamen per Eisenbahn nach, wie die Holländer meinten, wegen Furcht vor „Zee-ziekte“ (wörtlich: See-Siechthum); anderen gelang es nur unter Beistand thatkräftiger Ruderer das Schiff noch knapp zu erreichen. Und dann ging’s wieder hinaus auf die wogende See. Wir hatten den Wind von der Seite, und das Schiff rollte ein wenig; sonst ging die Fahrt gut; und als ich Morgens auf Deck kam, waren wir schon nicht mehr weit von dem Eingang zu dem Nordsee-Canal, der uns einladend seine riesigen Molen entgegenstreckte. Es ist wahr, der Canal langweilte uns ein wenig durch den langen Aufenthalt an den Schleusen. Allein das war unsere Schuld. Unser „Schwan“ war zu lang. Ursprünglich wollten wir unseren Weg durch den interessanten großen „nordholländischen“ Canal nehmen. Als sich da die Unmöglichkeit der Ausführung darstellte, mußten wir uns auf den weit kürzeren Nordsee-Canal zurückziehen, wo uns aber ebenfalls einige mit Zeitverlust verbundene Schwierigkeiten entgegentraten.
Desto besser konnten wir dafür den Canal mit seinen Schleusen, mit seinen Ufern und den Anwohnern studiren. Unser Zeichner giebt uns eine gelungene Probe der Letzteren. So standen sie und so staunten sie unser großes Schiff an. Der Mann in Beinkleidern von unermeßlicher Weite, – den ungarischen „Gatjen“ vergleichbar, nur daß sie nicht weiß, sondern schwarz waren; die dünnen Beine in riesigen Holzschuhen, die aussehen wie Oderkähne; auf dem Haupt den ein wenig „auf Krakehl sitzenden“ Südwester; und im Mund, und zwar in einer hierzu hergestellten Zahnlücke das kurze, schwarzgerauchte, irdene Pfeifchen. Die theure Gattin und der hoffnungsvolle Junge waren auch dabei. Die Erstere lachte uns aus und der Letztere begrüßte uns mit einem zwar unmelodischen, aber gut gemeinten Gegröhle. Das Land zeigte uns üppige Wiesen mit Kühen so schön, als wenn sie Potter gemalt hätte, hübsche Landsitze und links im Hintergrunde die Stadt Zaandam mit vielen Windmühlen, wovon einige nicht vier, sondern nur zwei Flügel hatten. Die Stadt liegt an einem kleinen Fluß, der Zaan (Sahn) heißt. Ihr Name bedeutet den Damm an der Sahn. Wir Deutsche haben das Wort in Zardam verballhornt, und diese unrichtige Form ist seit Lortzing’s Oper „Zar und Zimmermann“ in Jedermanns Munde. Es wäre Zeit, sie abzuschaffen.
Der Canal, welcher die kürzeste Verbindung zwischen der holländischen Handelsmetropole und der Nordsee hergestellt und das Y (Ei) trocken gelegt hat, ist fünfundzwanzig Kilometer lang, acht Meter tief und durch drei Schleusen geschützt gegen den Andrang der Fluthen des Meeres. Der Volkswirth sieht ihn mit anderen Augen an, als der Maler. Er sieht nicht nur die pittoresken Gewächse am Ufer, sondern zuerst unten die in die Erde senkrecht eingerammten großen Eichenstämme; dann die horizontal gemauerten Basaltsäulen, welche den Rhein herunter gekommen; darüber dann als dritte Schicht die Mauern von Klinkersteinen; über diesen Mauern netzförmige Geflechte lebendiger Weiden, und endlich das mit Strandhafer u. dergl. befestigte Ufer. [663] Und doch durfte trotz dieser außerordentlich sorgfältigen und soliden Uferbefestigung unser allzu mächtiger „Schwan“ nur ganz langsam fahren.
Angesichts der Stadt Amsterdam, welche wir gegen zwei Uhr Nachmittags erblickten, kam uns ein reich beflaggter Hafendampfer entgegen, und schon auf eine ziemliche Entfernung trat eine eigenthümliche Wechselwirkung zwischen diesem Dampfer und dem unsrigen ein. Unser Reisegefährte, Herr Kindermann, hatte einen photographischen Apparat an Bord, und während er mittelst desselben ein Momentbild von dem Amsterdamer Schiffe aufnahm, bemerkten unsere scharfblickenden Seeleute auch auf diesem einen photographischen Apparat, welcher beschäftigt war, unseren „Schwan“ aufzunehmen. Erst als wir uns „bephotographirt“ hatten, begrüßten wir uns. Es waren nämlich an Bord des Hafendampfers, von welchem uns die unsererseits mit endlosem Jubel aufgenommene „Wacht am Rhein“ entgegentönte, der erste Bürgermeister der Stadt, Herr van Tienhofen, ein Gelehrter, ein Verwaltungsgenie ersten Ranges und ein „finished gentleman“, der Stadtrath Ankersmit und der Vorstand der Alterthumsgesellschaft, an dessen Spitze Herr E. Schöffer steht, in welchem ich später den Sohn eines Freundes und Collegen kennen lernte.
Sein Vater Conrad Heinrich Schöffer war nämlich während der siebenziger Jahre gleichzeitig mit mir Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Dieser, der Vater, war in Gelnhausen in weiland Kurhessen geboren, hatte dann in Amsterdam, wo er zu gleich als Consul der freien Stadt Frankfurt am Main fungirte, ein Menschenalter lang an der Spitze eines großen Geschäftes gestanden, das er seinem Sohne übergab, um sich in der Nähe seiner Vaterstadt ein Tusculum zu errichten, wo er seit 1865 den Rest seiner Tage in gemeinnützigem Wirken zubrachte. So findet man überall Beziehungen und Bekannte, und jeden Tag findet jenes kühne Wort des Columbus Bestätigung: „El mondo e poco“, das ist: die Erde ist klein und wird durch Herstellung allseitigen Zusammenhanges immer kleiner.
Schon ehe unser „Schwan“ an dem „Anleeg-Plaatsen“, der nach dem berühmten niederländischen Seehelden benannten „Ruyter-Kade“, angelegt hatte, befand sich in der Hand eines Jeden von uns ein zugleich als Passepartout, oder wie es in dem sich der romanischen Fremdworte viel weniger bedienenden Holländisch heißt, als „Algemeen Toegangs-Bewijs“ (allgemeiner Zugangs- oder Zulassungs-Nachweis) dienender Führer, welchen wir der (sich stets der praktischsten Mittel bedienenden) Liebenswürdigkeit des „Königlichen Alterthums-Vereins in Amsterdam“ verdankten. Der Führer bestand in einem Plan (Plattegrond) Amsterdams, das heißt des neuesten gegenwärtigen Amsterdam, wie sich solches gestaltet hat durch Herstellung einer Art Insel zwischen den verschiedenen Docks und dem Ueberreste des „Y“, auf welcher mit dem Festland durch geeignete Zugänge verbundenen Insel sich die Centralstation der Eisenbahnen befindet und die Aufgabe einer in einander greifenden Verbindung der Eisen- und der Wasserstraße, der Dampfkraft zu Wasser und zu Land, der Dampfschiffe und der Locomotiven, in der glücklichsten Weise gelöst wird. Freilich kam es mir, der ich die Stadt seit einem Menschenalter kenne, vor, als habe der Anblick der Stadt von der See aus dadurch etwas gelitten. Darauf kann es nun aber freilich nicht ankommen, wo es sich um die höchsten Cultur- und Handelsinteressen handelt. Der Führer bestand sodann zweitens aus einem Verzeichnisse dessen, was uns unsere niederländischen Freunde „anzubieten“ oder zur Verfügung zu stellen die Gewogenheit hatten.
Wir haben an den zwei Tagen ein großes und genußreiches Programm ordnungsmäßig erledigt. Die Begrüßung auf dem Rathhause durch den Herrn Bürgermeister van Tienhofen war herzlich, kurz und deutlich. Ausführlicher sprach er auf dem Bankett, beide Male in formell vollendeter deutscher Sprache. Die erste Begrüßung fand auf dem Rathhause statt, wo wir zugleich Gelegenheit hatten, die prachtvollen Bilder von Fr. Bol (die Vorsteher des Leprosen-Hauses über die Aufnahme eines aussätzigen Knaben entscheidend) und das Schützenbild des Franz Hals, zu bewundern.
Im Zoologischen Garten ergötzten wir uns an der guten Musik und an dem „Aquarium“, dem schönsten, reichsten und bestgepflegten, das ich jemals gesehen, wobei ich auch die europäischen Millionenstädte nicht ausnehme. Unsere liebenswürdigen holländischen Wirthe widerlegten mit Worten und Thaten die alberne Mär, daß in Holland ein fanatischer Haß gegen Deutschland herrsche. Sie fuhren uns zu Land und zu Wasser durch alle Partien der hochinteressanten und durch und durch originellen Stadt. Die Wasserpartie allerdings verregnete am ersten Tage recht gründlich.
Ich glaube, ich habe eine vollständige Anschauung der Stadt in ihren sehr verschiedenen Bestandtheilen und in ihren Eigenschaften, Eigenheiten und Eigenthümlichkeiten gewonnen, will mir aber die Darstellung für das nächste Capitel versparen, worin ich eine Vergleichung mit Antwerpen, der belgischen Handelsmetropole, zu versuchen gedenke.
Der Seitencanal, welchen unsere Zeichnung darstellt, bildet den schärfsten Gegensatz zu den vornehmen, stillen und reichen äußeren Grachten, zu welchen er sich verhält, wie der Canal Piccolo in Venedig zu dem Canal Grande und seinen prachtvollen Palästen.
Für heute mögen ein paar Momentbilder von der Straße der Charakteristik der Stadt als Vorläufer dienen. Da ist ein Mädchen aus Nordholland mit seiner eigenthümlichen Kopftracht, den Metallbuckeln an den Schläfen, welche in seltsamen großen Spiralen auslaufen; und hier ein frisches blondes Dienstmädchen mit Wangen wie Milch und Blut, den Haushaltkorb an der Rechten und den widerstrebenden Jungen an der Linken, Wirthschafterin und Kindermädchen in Einem. Das einfache geblümte Kleid und die untadelhaft weiße Schürze erhalten ein unangenehmes Gegengewicht in den colossalen Holzschuhen, die hier der dienenden Classe eigenthümlich; der Soldat im Hintergrund in seinem Regenmantel, die Kinnkette unter der Nase, ist gerade nicht sehr martialisch. Aber reinlichkeitsliebend ist auch er; denn er hat sich bei dem Regenwetter die Hosen aufgekrempelt, um sie vor Schmutz zu bewahren.
Der Gipfel aller unserer geselligen Vergnügungen war das uns gegebene Diner in dem prachtvollen, elektrisch erleuchteten Saal von Krasnapolskij. Auch die Damen unserer freundlichen Wirthe erwiesen uns die Ehre, daran Theil zu nehmen. Leider reicht weder der Zeichenstift noch die Feder aus, ein solches Fest zu beschreiben. Es wird in eines jeden daran Betheiligten Erinnerung leben.
[664]
Brausejahre.
Mit Ihrem Permiß, Onkelchen, Sie sehen so wohl, so heiter aus, daß Ihnen etwas Besonderes geschehen sein muß. Darf ich Ihre Freude theilen, darf ich wissen, um was es sich handelt?“ fragte Thusnelda mit schmeichelndem Tone.
„Eigentlich ist es eine secrete Affaire, mon enfant, flüsterte der alte Oberkämmerer, sich besorgt nach allen Seiten umsehend.
„Unter lieben Verwandten muß Vertrauen und Offenheit herrschen,“ sagte sie ermuthigend.
„Nun denn, aber précaution, Luise! Ich habe die Bekanntschaft eines Doctor Kaufmann gemacht. Der junge Gelehrte besuchte mich und vertraute mir im Laufe unserer Conversation an, daß er dreißig Jahre älter sei, als ich. ‚Herr!‘ rief ich ungläubig, ‚das ist impossible! Sie sehen aus wie ein blühender Jüngling von einigen zwanzig und behaupten neunzig Jahre alt zu sein?‘ ‚Doch, Baron, es ist so, höre mein Geheimniß‘ – der Schelm nannte mich Du! – ‚Ich behalte meine Frische in Folge eines Lebenselixirs!‘ ‚Eines Lebenselixirs!‘ rufe ich entzückt, ‚wo ist das zu acqueriren?‘ Er zuckt die Achseln und sagt, sein hoher Magus besitze das Aranum, welches, von Zeit zu Zeit wieder genommen, die Teufel des Siechthums und Alters austreibe, gebe es aber nur einzelnen Auserwählten. Ich flehte Kaufmann an, mir ein Rencontre mit seinem admirablen Chef zu verschaffen und von mir für den Trank zu fordern, was er wolle. Anfänglich wies er meine Bitten ab, dann vor ein paar Tagen ward er traitabler und hat mir endlich hier auf zehn Uhr in der Laube hinter dem Amor ein tête-à-tête mit dem Wunderbaren versprochen; ein Rendezvous, in welchem für ein Gehorsamsgelöbniß der herrliche Trank mein werden soll!“
„Also perennirende Jugend?“ sagte Luise belustigt. Sie sah darauf beim Lichte einer rothen Papierlaterne auf ihre dicke, mit Steinen besetzte Uhr, die halb Zehn wies.
Ein toller Einfall zuckte durch ihren übermüthigen Sinn.
„Hochgeschätzter Oheim,“ sagte sie feierlich, „vielleicht habe ich ein Mysterinm entdeckt, welches Sie noch rascher an’s Ziel Ihrer Wünsche führt; die Götter sind der harmlosen Unschuld gnädig, wie Sie wissen! Eben vor Beginn des Spiels, als es schon dämmerig in diesen Bosquets war, sah ich Christoph Kaufmann mit einem geheimnißvoll aussehenden Fremden auf jener versteckten Bank sitzen, hinter welcher mich mein Weg vorüber führte, da hörte ich folgendes Gespräch: ‚Wenn er wüßte‘, sagte Kaufmann – mit ‚Er‘ waren Sie natürlich gemeint – also, ‚wenn er wüßte, daß von Ihren Lippen, theurer Magus, einzig und allein das wahre Lebenselixir zu holen ist, daß jeder Kuß von Ihnen ein gesundes Lebensjahr einträgt, so würde er sich nicht mit einem Tranke begnügen.‘ ‚Jawohl,‘ entgegnete der Fremde, ‚aber diese schönste Gabe gehört nur meinen Lieblingen!‘ und darauf küßte er Kaufmann, daß es klatschte. Wie wäre es, theurer Oheim, wenn Sie sich diese Kunde zu Nutz machten und sofort, ehe er sich dessen versieht, über den Magus, der Ihnen eine Zusammenkunft bewilligt hat, herfielen? Sie könnten ihm in der Geschwindigkeit zehn Küsse rauben – denken Sie, zehn Küsse, zehn gesunde, jugendliche Jahre!“
„Goldkind, welch merveilleuse Entdeckung!“ rief der alte Herr triumphirend. Einmal im Bereich der Wunder, schien ihm nichts unglaublich.
„Möchte Ihnen Ihr Unternehmen wohl gelingen!“ sprach Luise eifrig mit unterdrücktem Lachen. „Ich will Sie aber nicht stören; da ist die Amor-Laube!“ Sie lief davon, kicherte ausgelassen vor sich hin, blieb dann plötzlich überlegend stehen und trug sich offenbar mit einem ergötzlichen Schwank.
„So geht’s,“ sagte sie in einem entschlossenen Tone, „mir glaubt er nicht!“ Sie setzte ihren kleinen Fuß mit dem Hackenschuh von Glanzleder auf eine Gartenbank und riß sich eine schwarze Sammetschleife vom Spann herunter, die sie verbarg.
Während die Göchhausen ihrer Intrigue nachging, schritt ein schlanker, in einen schwarzen Domino gehüllter und völlig maskirter Mann durch die halbdunkle Allee nach der Laube hin, in welcher der Baron von Göchhausen wartete.
Plötzlich kam aus einem Seitengange eine andere Maske eilfertig auf den Schwarzen zu; diese trug einen dunkelrothen Domino und ein eben solches Barett, sie nahm die Maske ab – ein irrender Lichtschimmer wies die Züge des Hofmarschalls Grafen Görtz.
Er ergriff den Arm des Andern, bog mit ihm zur Seite und begann: „Es ist noch zu früh für Ihr Rendezvous, der Baron bleibt Ihnen, Verehrtester, gewähren Sie mir noch eine ungestörte Unterredung.“
[665]
[666] „Ich bin ganz zu Ihren Diensten, Herr Graf,“ erwiderte eine scharfe Stimme.
„Sind Sie jetzt überzeugt, daß ohne Beseitigung des Favorit hier kein Raum ist für uns und nobele Passionen?“
„Ich bin es; dieser Poet dominirt Alles.“
„Sehen Sie, wie Recht ich hatte!“
„Kaufmann insiunirt mir, daß Goethe Serenissimus ernüchtert, daß er Abneigung, Mißtrauen gegen höhere Wissenschaften in dem Herzoge erweckt.“
„Er ist uns Beiden gleich sehr im Wege!“ rief Görtz befriedigt. „Stehen wir nicht an, alle Minen gegen ihn springen zu lassen!“
„Er scheint der hoheitsvollen, schönen Herzogin zu huldigen?“
„So? - Hm - eigentlich hat er eine andere Amour und Poussage.“
„Aber er verehrt sie doch?“
„Jawohl, wie wir Alle.“
„Einerlei, hier muß angeknüpft werden; diese Sturm- und Drangjugend verträgt starke Dosen; hier kann ich auch den kleinen harmlosen Baron gebrauchen!“
Ihre Pläne weiter erwägend, bogen sie in einen Seitengang.
Der Fremde, hier sich ganz sicher und unbemerkt wähnend, nahm auch die Maske ab und plauderte so mit seinem Begleiter.
Zur Gesellschaft zurückkehrend, unhörbar über einen Rasenplatz daherkommend, kreuzte jetzt Goethe mit Corona am Arm den Weg der beiden Herren.
Ein Augenblick allseitigen Stutzens; die Masken in beider Hand flogen vors Gesicht, - und mit bebendem Arm zog die Sängerin den Freund vorbei.
„Er; großer Gott!“ murmelte sie.
Das Paar hatte jetzt den hellerleuchteten Platz vor dem Hause, wo sich die Gesellschaft in buntem Durcheinander bewegte, erreicht.
„Wer war der schwarze Domino, Corona?“ fragte der Dichter.
„Ich weiß nicht - kenne ihn nicht,“ murmelte sie, wie ihm schien, in peinlicher Verlegenheit.
Sie ward gleich darauf von verschiedenen Personen umringt und machte sich von Goethe los.
Dieser ging Frau von Stein aufzusuchen, um von ihr ein gutes Wort über sein Gedicht und sein Spiel als Niklas zu hören. An ihrer Seite vergaß er bald alles Andere.
Die Sammetschleife verborgen in der Hand haltend, begab sich Luise von Göchhausen zur Gesellschaft zurück.
Es war oft in ihren Kreisen besprochen worden, daß Corona, in Folge eines dunklen Verhältnisses, stets eine schwarze Sammetschleife, gewissermaßen als Orden trage. Diese Thatsache ließ sie überzeugt sein, daß die schöne Sängerin einem Gebot, das mit jenem Zeichen an sie gelangte, gehorchen werde.
Sie fand Corona, die als Dortchen leicht kenntlich war, bald in dem Kreis verschiedener Verehrer, die mit ihr über ihre Rolle, ihren Gesang, den Verlauf der Aufführung sprachen.
Rasch zu ihr hindurchschlüpfend, wies sie ihr die Schleife in halbgeöffneter Hand und rannte ihr zu: „Ein hochwichtiger Auftrag!“
„Himmel, auch Sie in seinem Bann!“ flüsterte Corona erschrocken und verließ sofort ihre Bekannten, um mit der Göchhausen zur Seite zu treten.
„Unser Meister,“ sagte Luise wichtig, „gebietet, daß Sie sich unverzüglich zum Herzoge begeben und ihm Folgendes ausrichten: ‚Diejenige, welche Dein Herz ersehnt, harret Deiner in der Laube hinter dem Amor!‘“
„Gut,“ entgegnete Corona, mit feierlich entschlossenem Ton, „ich gehorche unverzüglich und werde den Herzog bald finden.“
Sie ging und die Göchhausen spionirte sehr erheitert und überzeugt, daß Karl August einer solchen Lockung nicht widerstehen werde, dem weiteren Verlauf ihres Schabernacks nach.
Der Herzog scherzte mit Auguste von Kalb und Adelaide von Waldner, die, in lichte Dominos gehüllt, sich neckend an seine Fersen geheftet hatten.
Corona winkte ihn mit bittender Geberde zu sich; er entrann seinen hübschen Plagegeistern und trat zu ihr mit der Frage nach ihren Wünschen.
Ernsthaft sprach sie. „Unser Meister laßt Euer Durchlaucht ausrichte: Diejenige, welche Ihr Herz ersehnt, harre Ihrer in der Laube hinter dem Amor!“
Der junge Fürst stieß einen Freudenlaut aus. „Endlich!“ rief er begeistert, „endlich hat er sich meiner Sehnsucht erbarmt!“
Und sogleich schlug er die zu der bezeichneten Laube führende Allee ein.
Die Göchhausen, wohl überzeugt, daß der Herzog einer Liebeslockung nie widerstehen werde, aber doch überrascht von der außerordentlichen Wirkung ihrer List, vermochte kaum so rasch zu folge, wie der Herzog vorauseilte.
Jetzt hielt er, wie beklemmt von den Schlägen seines Herzens, athemlos vor Spannung, neben dem lieblichen Marmorgebilde an, welches inmitten eines Kranzes von Lämpchen stand.
Er drückte die Hand beschwichtigend auf die Brust - seine listige Verfolgerin erreichte eben die Seitenwand der Laube - dann raffte er sich auf, murmelte in äußerster Gemüthsbewegung: „himmlische Frau Venus!“ und trat, scharf in das Innere des grünen Heiligthums lugend, in die Laube.
Eine Gestalt, in hellem Domino, sprang von der Bank auf und ihm entgegen; es war zu dunkel, um Gesichtszüge zu unterscheiden; das Wesen schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn inbrünstig. Ein helles Gelächter an seiner Seite machte den Herzog zuerst stutzig – er machte sich los, vielleicht auch nur, um frei aufzuathmen.
„Nur zwei!“ sagte die „Göttin“ mit bedauerndem Ton und heiserem Baß.
„Die Kickenliese läßt grüßen!“ rief Luise von Göchhausen und entfloh, glückselig über das Gelingen ihres Possenspiels.
„Donnerwetter, was ist das? Wen haben wir hier?“ fluchte der Herzog.
„Ach, Durchlaucht?“ rief der Oberkämmerer kleinlaut und enttäuscht. „Bitte tausendmal um Entschuldigung!“
„Pfui!“ machte der Herzog, „werde mich waschen müssen! Wie kommen Sie in aller Welt zu solchem Zärtlichkeitsraptus?“
Nach einigen zurückhaltenden Redensarten, von beiden unverständlich eingekleidet, da keiner mit der Farbe heraus wollte, ging der Herzog, enttäuscht und auf seine Widersacherin scheltend, schließlich aber doch über sein seltsames Mißgeschick lachend, durch die Allee zur Gesellschaft zurück.
Bald darauf trat ein schlanker Mann, in einen schwarzen Domino gehüllt, zu dem Oberkämmerer in die Laube.
Den Anlauf des kleine Mannes zur Wiederholung seiner Zärtlichkeit wehrte der Kommende mit starkem Arm ab; dann nahm er mit würdig, aber halblaut gesprochenen Worten den Baron von Göchhausen in Eid und Pflicht und händigte ihm schließlich, zur Belohnung, ein Päckchen von seinem wundervollen „Langlebensthee“ ein.
Mittlerweile waren auf Kies- und Rasenplätzen vor dem Hause verschiedene Tische gedeckt, an denen sich die Gesellschaft, wie der Zufall es fügte, zum Abendbrod zusammen gefunden hatte. Lakaien liefen ab und zu, Gläser klirrten, Gelächter ertönte hier und dort und viele Stimme schwirrte durcheinander.
Es gab für den Herzog, der auf der dämmerigen Allee kam, ein hübsches und belebtes Bild, auf diese bald heller, bald minder hell beleuchtete Gruppe zu blicken, die sich's in der lauen, dufterfüllte Sommernacht wohl sein ließen. Windlichter standen auf den Tischen, zahlreiche Lämpchen hingen in den Bäumen, und farbige Papierlaternen, ausländischen Prachtblüthen ähnlich, schwebten da und dort an unsichtbaren, von einem Zweige zum anderen gezogenen Fäden über den Häuptern der fröhlich tafelnden Gäste. Umschau haltend, lehnte Karl August im Schatten an einem Baumstamm und beobachtete die Gruppen vor sich.
An dem nächsten Tische saß seine Gemahlin; der Neid mußte es ihr lassen, daß sie sehr lieblich aussah! Ueber ihr schwebte eine Kette von lichtstrahlenden rothen Kelchen; sie trug einen himmelblauen Domino, dessen zurückgeworfener Capuchon Kopf und Hals frei ließ, eine leichtgepuderte Locke fiel zu jeder Seite des zarten Gesichts auf den Nacken herab und ein weißer Rosenkranz lag in dem aufgebauschten Haar. Zu seinem Erstaunen gewahrte er Goethe, in seinem knappen Fischercostüm jugendlich und schön, Luisen gegenüber und lebhaft zu ihr redend, was sie ohne Abwehr, wenn auch mit der ihr eigenen Zurückhaltung, geschehen ließ. An der Seite der jungen Herzogin saß Frau von Stein, die sich hier und da an dem Gespräch betheiligte. Die Herzogin Amalie, der Geheimrath von Fritsch, Baron Reinbaben, Wieland und einige andere Personen befanden sich noch an dem Tische.
[667] Seine erste Empfindung war Befriedigung, daß es dem Freunde gelungen sei, sich Luisen so weit zu nahen; seine zweite Erstaunen, Luise so ankömmlich zu sehen, sein endliches und überwiegendes Gefühl aber wieder jene Art von Eifersucht, seltsamerweise nicht auf die Frau – diese war ihm mit der Zeit zu gleichgültig geworden, sondern auf den Freund, mit dem er in letzter Zeit so wenig frei verkehren konnte, der ihm so absprechend erschien und nun, ihm entfremdet, sich dem feindlichen Theile zuwandte.
„Ist Luise ihm mehr, als ich ihm bin?“ fragte sich Karl August ärgerlich.
Als er dann, ganz gegen seine arglose Natur, noch verdrießlich hierüber nachsann und ungern seinem Wolfgang den Vorwurf der Treulosigkeit machen wollte, trat der lustige Kumpan Wedel, welcher ihn mit seinen in jedem Licht geübten Jägeraugen erspäht hatte, heran und bat ihn mit an seinen Tisch zu kommen, wo ein munterer junger Kreis, wie der Herzog ihn gern habe, beisammen sitze. Ohne sonderliche Lust folgte Karl August, war aber bald, inmitten der Gesellschaft, ebenso ausgelassen wie die Andern.
Vielleicht hätte er ganz den verstimmenden Eindruck vergessen, welchen er von seinem dunklen Beobachterposten mit hinweg genommen, wären ihm später nicht zufällig Worte zu Ohren gekommen, die jenen Eindruck festigten, sodaß er mehrerer Tage bedurfte, um einigermaßen wieder er selbst und ganz klaren Gemüths zu werden.
Die Gesellschaft war nämlich aufgebrochen, ein buntes Durcheinander, das hier und da in ein Gedränge ausartete, entstand. Der Herzog, in einem Wortgefecht mit der Göchhausen, die in der besten Laune über ihren wohlgelungenen Streich triumphirte, sich aber durchaus nicht in die Karten sehen ließ, war zurückgeblieben. Sein kleiner Widerpart entrann und er gerieth allein und unbemerkt hinter ein voranschreitendes Paar. Er erkannte Goethe’s Stimme, welche zu Frau von Stein sagte:
„Luise ist doch ein unendlicher Engel! Ein blinkender Stern! Ich konnte mich nicht enthalten einige Blumen aufzuheben, die ihr vom Busen fielen, und sie in der Brieftasche zu bewahren, die auf meinem Herzen ruht. Ich habe meine Augen hüten müssen, nicht zu oft über Tafel nach ihr zu sehen. Die Götter mögen uns Allen beistehen!“
Karl August war nicht so gleichmüthig, sich bei einer solchen Gelegenheit mit der Rolle eines stummen Hörers zu begnügen, aber zu edel geartet, zu herzlich für den Freund gesonnen, um Uebles in dessen Verehrung für Luise zu finden.
Ein paar große Schritte brachten ihn an Goethe’s Seite, wo er mit merklicher Ironie ausrief:
„Du scheinst meine frostige Gemahlin als Deine Muse zu feiern? Glück zu! Wird aber Deinen Versen nicht sonderlich bekommen!“ Worauf er bitter lachend abbrach.
„Meine Muse wird immer nur ‚die Wahrheit‘ sein, so hoch ich auch Ihre Durchlaucht verehre!“ entgegnete Goethe ernst, dann fügte er bewegt hinzu: „O lieber gnädiger Herr, wo haben Sie Ihre Augen, daß Sie den Reiz des Weibes nicht gewahren, welches Ihnen gehört?“
„Meine Augen sahen jüngst in die helle, lichte Sonne und sind blind für alles Andere!“ rief der Herzog mit Nachdruck.
Blätter und Blüthen.
Arbeitsschule. (Mit Illustration S. 656 und 657.) Zu den erquicklichsten Vergnügungen gehört das Belauschen und Beobachten stiller geselliger Thätigkeit, und die Künstler, welche uns durch ihre Darstellungen einen Einblick in die Räumlichkeiten ermöglichen, wo sich solche Scenen friedlichster Arbeit abspielen, werden allezeit ein dankbares Publicum um sich versammeln. Wie gern stehen wir vor dem Bilde des einsamen Denkers, oder des Malers, der, von seinem Werke beglückt, stillselig am Abend die Fortschritte des Tages betrachtet, oder der emsigen Stickerinnen in dem Gebirgsdorfe, wo Frauen und Mädchen die Kunst ihrer Nadel üben und der Großvater das jüngste Kind in der Wiege hütet, oder jenes stillvergnügten Nähens im friedlichen Stübchen! Unsere Künstler haben uns schon mit vielen sinnigen Darstellungen dieser Art erfreut. Aber diesmal thut Otto Piltz ein Uebriges, indem er uns mit einem ganzen Blumenbeet voll heitersten, lieblichsten Blüthenlebens überrascht, mit einer Schaar von Mädchen, deren Kindergesichtchen uns Auge und Herz festhalten an dem Bilde, das trotz der Einfachheit der vorgeführten Handlung uns doch durch eine reiche Mannigfaltigkeit der Gestalten anlockt. Sie stricken nur, diese kleinen Mädchen, welche die vorderste Gruppe unserer Illustration bilden, aber ist nicht jede einzelne so charakteristisch in ihrem Thun und Treiben, daß sie für sich ein fertiges Bildchen giebt? Man möchte jedes einzelne dieser lieblichen Kinder schildern, wenn das nicht unnützes Beginnen für unsere Leser wäre, da sie ja selbst alle vor Augen haben. Und auch im Hintergrunde, wo eine höhere Stufe weiblicher Thätigkeit erstiegen, wo das Nähen gelehrt und geübt wird, erfreut uns der Anblick des stillen Fleißes der Lehrenden und der Lernenden. Freilich sollten wir das Wörtchen „still“ nicht zu stark betonen, denn ob die kleinen Mündchen „Ruhe als die erste Bürgerpflicht“ anerkennen und halten, dürfte doch nicht ganz „zweifelsohne“ sein. Vor unserem Bilde stört uns dieser Zweifel nicht; es thäte nicht einmal wohl, die hübschen Plappermündchen sich alle schweigend zu denken.
Faß ihn! (Mit Illustration S. 664.) Der Schelm ist so glücklich gewesen, bei seiner jüngsten kleinen Razzia am See-Ufer einen willkommenen Fang zu thun: eine Anzahl Krebse, die er dann flugs heimgetragen und seiner erfreuten Mutter übergeben hat. Nur einen derselben hat er auf einen Augenblick escamotirt – unser Bild zeigt uns, zu welchem Zweck. Aber er täuschte sich gründlich, wenn er glaubte, seinen klugen Liebling irreführen und mit dem kleinen Ungethüm in seiner Hand in Conflict bringen zu können. Die Thiere, und zumal die Hunde, haben zumeist einen sehr feinen Instinct, erkennen bald eine ihnen drohende Gefahr und sind dann auf ihrer Hut. Dies erfährt auch der übermüthige Knabe, denn so oft er auch „Faß ihn!“ rufen mag – es ist umsonst: das Hündchen hütet sich, diesem Zurufe zu folgen, sträubt sich vielmehr energisch dagegen, auch nur irgendwie mit dem wunderlich gestalteten Feinde in Berührung zu kommen. Vielleicht erreicht es dadurch, daß der Knabe es entläßt und sich dem Kätzchen zuwendet, um auch bei diesem sein Glück zu versuchen Ob das Kätzchen sich tapferer erweisen wird? Ohne Zweifel, aber sicherlich mit eben so wenig Erfolg, sobald der Junge den Krebs auf den Boden setzt. Denn die Katze will den Davoneilenden von hinten angreifen, wo aber gerade die Waffen des sich rückwärts concentrirenden Ritters sich ihr entgegenstrecken. Ein Beispiel, wie auch der Rückschritt seinen Vortheil haben kann und weshalb jede Reaction den Krebs im Wappen führen sollte.
Kamerun und Lüderitz-Land. (Mit Illustration S. 665 und Karte S. 667.) Im Anschluß an unsere Artikel über Deutschlands Colonialbestrebungen (vergl. Nr. 37) bringen wir heute zwei Landschaftsbilder aus Kamerun und Fernando Po und eine Kartenskizze des deutschen Besitzes in Südafrika. Während sich das Lüderitz-Land ursprünglich vom Oranjeflusse längs der Küste bis zum 26° südlicher Breite erstreckte, ist nach inzwischen eingetroffenen Nachrichten dieser Besitz bedeutend erweitert worden. Der etwa 120 geographische Meilen lange Küstenstrich vom Oranjefluß bis zu den portugiesischen Colonien von Mossamedes befindet sich jetzt in deutschen Händen, allerdings mit Ausschluß der Walfischbai, welche seiner Zeit von den Engländern annectirt wurde. Auf unserer Karte sind der ursprüngliche Besitz und die neueste Erwerbung besonders markirt.
Das herrliche Panorama, welches in der Biafrabucht das Kamerungebirge und der Pik von Fernando Po den Augen der Reisenden darbietet, haben wir in unserem Artikel „Kamerun“ (Nr. 37) geschildert, und heute sind wir in der Lage, beide Gebirgslandschaften nach Originalaufnahmen unseres Mitarbeiters, des Afrikareisenden Dr. Pechuel-Loesche, unseren Lesern vorführen zu können. Die höchste Gipfelmasse des Kamerunstockes wird von den Eingeborenen Mongo Ma Lobah, das ist „Götterberg“, genannt und bildet zwei dicht an einander liegende Krater des ehemaligen Vulcans Kamerun. Während wir am Fuße des Berges der üppigsten tropischen Vegetation begegnen, wird das kahle Haupt des „Götterberges“ oft von Schnee bedeckt, und auf seinen mittleren Höhen herrscht das gesunde Klima unserer gemäßigten Zone. Vom Schiffe aus, welches von Südwesten her kommt, schweift der Blick über die tiefblaue Meeresfläche und trifft zunächst auf die mächtigen, von unserem Standpunkte aus einer langen dunklen Linie vergleichbaren Urwälder, welche die Küstenniederungen bedecken und sich weit landeinwärts bis über die Vorberge, bis zur mittleren Höhe des Götterberges hinanziehen, der sein stolzes Haupt in königlicher Majestät über das Meer [668] und das seine Flanken umlagernde schwere Ballengewölk erhebt. Das kleine Seitenbild zeigt den Clarence Pik auf Fernado Po; im Vordergrunde sehen wir Gummiranken, Palmkerne und mancherlei tropische Gewächse, welche der fruchtbare Boden dieses schönen Eilandes zeitigt.
Die Niederwaldbahn. (Mit Abbildung S. 668.) Einige Tage vor Pfingsten wurde die Bergbahn von Rüdesheim nach dem Niederwald hinauf dem öffentlichen Verkehre übergeben. Dicht oberhalb des Adlerthurmes in Rüdesheim, welcher vielen unserer Leser durch die wenn auch einfache, so doch anmuthige Form seiner Zinnen in der Erinnerung sein wird, befindet sich die Wartehalle der Zahnradbahn mit ihrem geräumigen Perron, dessen Rückseite durch die freundlichen Anlagen des sogenannten Verschönerungsplatzes begrenzt ist.
Von diesem am Ufer des Rheins belegenen Ausgangspunkte führt die Bahn in mäßiger Steigung durch die Mitte der Stadt, um gleich hinter derselben in scharfem Anstiege die Richtung nach der auf der Höhe sichtbaren Germania zu nehmen. Liebliche Fernsichten steigen allmählich dem Auge des Fahrgastes auf, in wechselnden Umrissen dehnt sich der glänzende Spiegel des Rheins mit seinem smaragdenen Inselschmucke, überragt von der gewaltigen Bergeinfassung des Binger Ufers, von dessen steiler Höhe die Rochuscapelle aus mittelalterlicher Zeit herübergrüßt. Immer höher hinauf treibt den Zug die rastlose Arbeit der ehernen Zähne, tiefer sinken die weinumrankten Hügel im Osten, und leuchtend erheben sich dahinter die lachende Pfalz und der blühende Rheingau; aus dem Kessel im Süden erhebt selbst Bingen die Spitzen seiner Burgen und Kirchen, und in der Ferne thürmt der ehrwürdige Donnersberg sich empor. Schon drängen die einzelnen Bilder zusammen, um sich zu dem herrlichsten Gemälde unseres Deutschland zu vereinigen, – da umschattet die Blicke plötzlich das grüne Blättermeer des duftigen Buchenwaldes.
Am Tempel rastet der Zug, eine zierliche Halle in würdiger Ausstattung, versteckt im Waldesgrün, nimmt den Ankömmling zu kurzer Sammlung auf, und wenige Schritte bringen ihn hinaus auf das vorspringende Plateau, welches die gewaltigen Postamente des Denkmals trägt.
Als Vorbild für die technische Ausführung der Niederwaldbahn diente die Rigi-Zahnradbahn, welche nach dem System des Ingenieurs Riggenbach von diesem selbst erbaut ist und seit dem Jahre 1873 im Betriebe sich befindet.
Die Construction des Systems selbst ist bekannt. Die allgemein üblichen Schienengeleise der Eisenbahn finden auch hier Anwendung, jedoch mit dem Hinzufügen einer leiterartigen Mittelschiene, der sogenannten Zahnstange, deren enge Sprossen das unter dem Bauche der Maschine befindliche Zahnrad in gleichmäßiger Bewegung erklettert; zur sicheren Verbindung der Querschwellen sind dieselben überdies durch Langeisen mit einander verbunden. Alle Theile des Geleises sammt den Schwellen sind aus Stahl und Schmiede-Eisen zusammengefügt, die Zahnräder und das Getriebe der Maschinen aus dem unverwüstlichen Tiegelguß- und Bessemer-Stahl hergestellt. Innerhalb einer Fahrzeit von 14 Minuten erklimmt der Zug ohne sichtbare Anstrengung die beträchtliche Höhe.
Jeder Zug besteht aus der Maschine und zwei Wagen mit 90 bequemen Plätzen. Da der Aufstieg der Züge von Rüdesheim aus in Intervallen von 20 zu 20 Minuten erfolgen kann, auch für stärkeren Andrang des Publicums sowie für die Beförderung von Vereinen und größeren Gesellschaften stets mehrere Züge in Bereitschaft stehen, so ist die Bahnverwaltung in der Lage, erforderlichen Falles eine Anzahl von 5000 Personen tagsüber auf den Niederwald zu befördern.
Seit Eröffnung des Betriebes vom 1. Juni bis zum 15. September dieses Jahres sind 95,252 Personen zu Berg und 99,708 Personen zu Thal, zusammen also 194,960 Personen, in 5852 Zügen befördert worden. Den stärksten Verkehr brachten die Sonntage am 3. August und 14. September mit 4182 resp. 4156 Personen.
Den weitaus größten Theil der Besucher stellte natürlich das deutsche Vaterland, namentlich Mittel- und Süddeutschland. Von Ausländern erschienen zuerst in stattlicher Anzahl die Holländer, dann kam England mit Amerika und in der zweiten Hälfte des Sommers, seit 1870 zum ersten Mal in größeren Mengen, auch die Franzosen!
Zum 6. October 1884. An diesem Tage wurde vor 100 Jahren Albert Methfessel zu Stadt-Ilm geboren. Anfangs studirte er in Leipzig Theologie, ging jedoch bald zum Studium der Musik über. Ausgebildet durch den berühmten italienischen Sänger Ceccarelli, fand er 1810 in Rudolstadt Anstellung als Kammersänger. Später wohnte er in Hamburg, wo er die erste Liedertafel in Deutschlands Norden gründete. 1832 wurde er Hofcapellmeister in Braunschweig, welches Amt er nach 10 Jahren in Folge eines Gehörleidens niederlegen mußte. An seinem 80. Geburtstage erhielt er von der Universität Jena das Ehrendiplom eines Doctors der Philosophie. Er starb am 23. März 1869 zu Heckenbeck bei Gandersheim. Seine Lieder werden noch heute in jeder Liebertafel gern gesungen, und sein „Deutsches Commersbuch“ erfreut sich einer großen Verbreitung. (Vergl. Nr. 24, Jahrg. 1869 der „Gartenlaube“.)
Kleiner Briefkasten.
A. M. in H. Wir wissen aus zuverlässigster Quelle, daß W. Heimburg an der Dramatisirung ihres in der „Gartenlaube“ erschienenen Romanes „Ein armes Mädchen“ in keiner Weise mitgearbeitet hat, es sei denn, man wolle die Dichtung des Romanes selbst als eine „Mitarbeiterschaft an der Dramatisirung“ betrachten. Wohl aber hat die Dichterin die Erlaubniß zur Dramatisirung ertheilt.
[Inhaltsverzeichnis der Nr. 40/1884, hierher z. Zt. nicht übernommen.]