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Die Gartenlaube (1884)/Heft 39

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[637]

No. 39.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


„Fanfaro.“

Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Ereme schritt in fluchtähnlicher Eile nach ihrem Schlafgemach. Sie hatte im Gartensaal vor der Statue der Athene plötzlich das Gefühl gehabt, als sei sie nicht mehr allein, als trete ein Fremdes an sie heran und ziehe sie gewaltsam von ihrer Betrachtung ab.

Unheimlich berührte sie der Zwang. War es die Entrüstung über die dreiste Verfolgung des verwegenen Ulanen, die in ihren Nerven nachzitterte? War es ein drohendes Unheil, das ihre Seele ahnte? Doch was hatte sie noch zu fürchten? Was konnte ihr noch genommen werden? Sie war die Einsame, die keinen Lebenden mehr liebte und von keinem geliebt wurde.

Sie begab sich zur Ruhe.

Aber bis in den Traum verfolgten sie trübe Vorstellungen. Sie hörte klagende Stimmen. Athenerinnen waren es, die mit gramvoll gefurchten Stirnen gleich Niobiden durch die Straßen flohen. Auch ihr Herz war wie zusammengeschnürt. Lanzenstarrende Schaaren jagten unter wilden Klängen heran und schlossen die Stadt ein, und nun tönte der Jammerruf, Poseidon habe die heilige Salzquelle versiegen lassen. Laut schmetterte es in ihr Ohr: „Wehe, verlechzet und trocken sind Meerpferd’ sowohl als Delphine.“

Entsetzt fuhr sie aus dem Schlafe auf.

Es war heller Tag.

Gezeter und Getöse schallte vom Universitätsplatz herauf. Sie warf das Morgenkleid über und trat an das Fenster.

Vor ihr im rosigen Frühlicht lag das Steinbassin des Universitätsbrunnens mit seiner Gruppe von Meerungeheuern. Aber kein Wasserstrahl entsprang mehr ihren emporgestreckten Rachen. Und ringsum standen zankend die Mägde mit Eimern und Wasserbütten, und in den Fenstern lagen die Studenten, qualmten ihre langen Morgenpfeifen und lachten der Noth der Philister. Sie hatten nächtlicher Weile den uralten ewig neuen Witz gemacht, die Brunnenröhren zu verstopfen.

Ereme’s unholder Traum verflog. Sie ging an ihre Toilette.

Kaum hatte sie jedoch die schweren blauschwarzen Flechten mit goldnem Pfeil befestigt, da schallte lebhaftes Gespräch aus dem weiten Hausflur herauf. Eilig knüpfte sie die Gürtelschnur des Hauskleides und stieg die breite Treppe hinab.

In der Thür, die in den Garten führte, stand der grauhaarige Diener, die grüne Gießkanne in der Hand, vor der Tante und Dorchen, der Köchin, welche eben das Kaffeeservice nach dem Plätzchen unter den Orangenbäumen tragen wollte.

Als Ereme zwischen den geschnitzten Karyatiden, welche die Treppenpfeiler trugen, erschien, rief der Diener sehr aufgeregt ihr zu: „Gnädiges Fräulein, diese Nacht hat gewiß Einer Citronen mausen wollen im Garten. Wahrscheinlich ist der Spitzbube verjagt worden; denn es fehlt nichts. Aber an der Mauer sind Fußspuren im Kies.“

Die Krause am Morgenhäubchen der Tante richtete sich drohend gegen Dorchen: „Hoffentlich hast Du Dir nicht einen Schatz angeschafft? Du weißt, ein solcher wird hier im Hause ein für allemal nicht statuirt. Bedenke: wenn Dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht.“

„Wenn es nun aber gute Buben sind?“ murmelte Dorchen im Abgehen.

Dann nahmen die Damen Platz am Frühstückstische, der unter einem nach griechischem Brauch ausgespannten Schattentuch hergerichtet war, und die Tante vertiefte sich behaglich in das Körbchen mit frisch gebackenen Waffeln.

Ereme schlürfte zerstreut aus einer kleinen Schale ihren Kaffee, der so stark, schwarz und süß für sie bereitet wurde, wie sie ihn im Café „Zum schönen Griechenland“ in Athen gewohnt worden war. Sie fühlte sich unangenehm berührt durch die Entdeckung, die wunderbar mit dem unheimlichen Gefühl übereinstimmte, das sie gestern Abend aus dem Gartensaal vertrieben hatte. Ihr Blick kehrte immer wieder zu der Fußspur zurück, die der sorgsame Diener nicht verwischt hatte. Sie war sehr energisch eingeprägt von einem schmalen Fuß mit feinem Absatz. Konnte sie von dem Geliebten eines Dienstmädchens, einem derben Sohn aus dem Volk, oder einem gewöhnlichen Dieb herrühren?

Da blitzte Etwas im Kies. Sie hob es auf.

Es war ein zierliches eisernes Rädchen mit stark gezähntem Rand und in der Mitte durchbohrt.

„Sollte dies ein altes Geldstück aus Deiner Münzsammlung sein, das mit dem Staubtuch herausgeschüttelt worden ist?“ fragte die Tante.

Ereme verneinte. „Nur die Spartaner bezahlten mit Eisen; aber es war nicht gemünzt, es lag in Barren.“

Die Tante betrachtete den Fund. „Es sieht aus wie das Rädchen zu den Fastnachtskuchen. Bewahre es auf. Wer weiß, wozu es gut ist. Vielleicht findet sich einmal, wenn wir gar nicht mehr daran denken, der Gegenstand, zu dem es gehört.“

Das Kaffeestündchen war vorüber.

Die Frau Doctor begab sich in ihr weites Parterrezimmer hinter das Wirthschaftsbuch, und Ereme beschloß, sich der Ordnung ihrer aus Griechenland mitgebrachten Kunstschätze und Alterthümer zu widmen. Sie stieg in die obere Etage hinauf. Eine Hälfte derselben nahmen die hohen kühlen Säle der Bibliothek ein.

[638] Eine mächtige braune Flügelthür führte in dieselbe. Die Wände waren mit dunkel gebeizten schlichten Eichenholzregalen bekleidet. Die Bücher, an denen eine gelehrte Familie seit zwei Jahrhunderten gesammelt hatte, reihten sich auf ihnen an einander, vom alten in vergilbtes Schweinsleder gebundenen Folianten an bis zu der Broschüre, die gestern die Druckerei verlassen hatte. Leichte transportable Treppen standen in den Ecken, um den Weg in die oberen Regionen zu vermitteln. Auf den Bücherborten leuchteten in Marmor, Gyps und Erz die Bilder von den äußern Hüllen der Denker, deren Geist die Bände unter ihnen erfüllte. Dazwischen erhob sich hier und da die schlanke Säule einer antiken Lampe, auf geflügelten Klauen ruhend, ein mit Edelrost überzogener Räucheraltar. Die mächtige Tafel in der Mitte bedeckte ein Gobelinteppich, und den Sessel davor krönte die Eule, die Gefährtin des einsamen Forschers in nächtlicher Stunde.

Ereme legte das kleine Eisenrad in eine antike Schale von gelblichem Marmor, die mit Curiositäten gefüllt war. Dann öffnete sie den reichgeschnitzten Schrank, der die Kupferwerke enthielt.

Obenauf lag die Abbildung des Giebelfeldes vom Parthenon, welches die Geburt der Athene darstellte. Die Mittelgruppe war bereits zertrümmert, als das Kunstwerk abgezeichnet wurde; aber in der einen Ecke tauchte wohlerhalten das Gespann des Sonnengottes aus den Fluthen empor, kaum gebändigt von Helios’ starker Hand, und strebte der Göttin des reinen Gedankens zu.

Und die steinernen Wellen kräuselten sich vor Ereme’s in Träumerei versinkenden Augen, Lichtfunken huschten darüber hin, und ein schlanker Reiter theilte unentwegt die Wogen und schaute mit übermüthigem Lächeln über sie hinweg.

Sie fuhr auf. Wieder war sie bei dem Punkte, wo sie seit gestern stets ankam, mochten ihre Gedanken einen Weg einschlagen, welchen sie wollten.

Sie hatte sich unzählige Mal schon gesagt, daß das Reiterstück des Ulanen für sie gar keine Bedeutung zu haben brauchte; sie war sich bewußt, daß sie kalt und stolz die empörende Dreistigkeit abgewiesen hatte, und damit konnte sie das kleine Abentener in den Lethe versenken. Aber wenn sie eben damit fertig zu sein glaubte, sah sie ihn wieder vor sich, sah sie immer wieder die schöne Bewegung, mit der er die Zügel hob, als das Wasser dem Pferd an den Hals stieg. Wie er sich dreist in ihren Weg gedrängt hatte, so drängte er sich in ihre Gedanken und war nicht daraus zu vertreiben.

Von solchen Betrachtungen unterbrochen, rückte die Arbeit langsam vor. Der lange Sommertag begann sich zu neigen, ehe jede Merkwürdigkeit an den ihr gebührenden Ort kam. Dann aber litt es sie nicht länger in dem eingeschlossenen Raume. Sie kleidete sich zu einem Spaziergang um.

Die Tante konnte sie nicht geleiten. Aus der Küche erscholl Hammerschlag, und ein Dampf von flüssigem Metall entquoll ihr, als schmiede Hephästos Waffen; es war indeß nur ein Klempner, der die Einmachebüchsen zunietete.

„Aber Tantchen, wer soll denn das Alles essen?“ fragte Ereme, die langen Reihen überblickend.

„Vorsehen ist besser denn Nachsehen,“ lautete die Antwort.

„Eine ganze Schwadron könnte davon satt werden,“ kicherte Dorchen.

Die Tante warf ihr einen strafenden Blick zu, und Ereme wandte sich mißbilligend ab.

Sie athmete auf, als das Gewühl der Stadt hinter ihr lag und der Wald seine hohen Hallen über ihr wölbte. Langsam wandelte sie bergauf.

Die Sonne vergoldete sinkend die Wipfel der alten Eichen; aber hier im Schatten der mächtigen Bäume spielten ihre Strahlen nur als matte Lichter. Wie riesige Schilde hielten die Laubkronen die leuchtenden Pfeile von den saftigen Gräsern, den blauen Blüthentrauben des Ehrenpreises und den weißen zarten Waldlilien ab, die zwischen den starken Wurzeln aufgesproßt waren. Zaunkönige, Rothkehlchen und Finken sangen mit hallenden Stimmen ihr Abendlied, und fernher tönte der Ruf des Pirol.

Mit gerötheten Wangen kam sie auf dem freien Platz an, auf dem sich das Kriegerdenkmal erhob. Noch umsäumte die Sonne mit goldenen Linien den schwarzen Adler auf der hohen Säule. Um den Sockel waren Trophäen errichtet von erbeuteten Kanonenrohren; aufwuchernder Epheu schlang sich darüber hin. Aus einem ehernen Mund, der vor nicht langer Zeit Tod und Verderben gespieen hatte, flog ein Meisenpärchen ein und aus, das ihn unschuldsvoll für ein Astloch ansah. Und ein leuchtender Tagfalter gaukelte um die Tafeln, welche die Seitenwände der Säule schmückten und die Namen der gefallenen Söhne des Stückes deutscher Erde trugen, auf die der Riesenadler herabschaute.

Erschöpft ließ Ereme sich auf einer der Ruhebänke nieder, die neben dem Denkmal aufgestellt waren. Ihr Blick glitt über das Meer von Wipfeln hinweg, das von der Kuppe des Berges überragt wurde, hinaus in das hügelige Land. In bläulichem Duft verdämmerte es in der Ferne. So nebelig verschwammen die Umrisse der Berge in Griechenland nicht. Klar, wie die röthlich angestrahlte Wolke ihr gegenüber vom Himmel sich abhob, stiegen die röthlichen Felsen, die auf ihres Vaters Grab herabschauten, aus der blauen Meerfluth. Und hatten die alten Hellenen nicht Recht, wenn sie sagten, daß die reine Atmosphäre die Sinne schärfe, den Geist erhelle, die Seele heiter stimme? Dort war der freie Flug ihrer Gedanken durch nichts gehemmt gewesen, hier schienen die Nebelschleier, welche die Thäler füllten und um die Höhen webten, auch ihre Seele zu umhüllen, daß sie sich selbst nicht mehr ganz verstand.

Da tönte in Blätterflüstern und Vogelsang ein dumpfer Hall. Ein Häher, der Wächter des Waldes, kreischte. Gespannt richtete sie sich auf und lauschte.

Jetzt hörte sie ein Pferd schnauben. Ihr Athem stockte; sie wußte, welcher Reiter im nächsten Augenblick um den Bergvorsprung biegen werde, der den heranführenden Weg verbarg.

Da hielt er schon unter der letzten Eiche.

Sie erhob sich, und auch Bartenstein fuhr überrascht empor, als er sie hochaufgerichtet neben der Siegessäule stehen sah. Aber während sie wie gebannt regungslos verharrte, schwang er sich schon leicht aus dem Sattel.

Gewaltsam faßte sie sich und stieg langsam, ohne ihn anzusehen hernieder.

Da, als sie an ihm vorüberschreiten wollte, wandte er sich schnell, ergriff einen über den Weg sich streckenden Eichenast und bog ihn kräftig herab, sodaß ihre Schritte von dem grünen, herb duftenden Zweige gehemmt wurden.

„Warum wollen Sie fliehen, gnädiges Fräulein?“ fragte er mit ehrerbietiger Verneigung.

Sie war so überrascht von seiner Kühnheit, daß sie, statt stumm auszubiegen und weiter zu gehen, erwiderte: „Ich suchte die Einsamkeit.“

„Und auch dahin folgt Ihnen der Ulan, den Sie mit Ihrem Zorne beehrt haben,“ sagte er in halb bedauerndem, halb scherzendem Tone.

Er sprach ihr aus der Seele. Aber sie antwortete kühl: „Zorn? Gegen den Fremdling?“

„Fremdling?“ wiederholte er das ungebräuchliche Wort, das ihm wie einem alten Trauerspiele entnommen erschien, und einen Augenblick spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen. „Fremdling? Den Sie doch geschnitten haben,“ setzte er hinzu.

„Geschnitten?“ wiederholte nun sie, als glaubte sie nicht recht gehört zu haben, da sie den Ausdruck in dieser Bedeutung nicht kannte.

„Gewiß,“ bestätigte er. „Wenn auch nur durch einen Blick. O, ein Blick kann sehr viel sagen. Er kann verletzen und auch einen magnetischen Rapport herstellen. Manchmal auch beides zugleich.“

Sie schaute ihn stolz zurückweisend an.

„Da ist er wieder, der kalte Strahl,“ fuhr er fort. „Bewundern Sie, daß ich ihm Stand halte.“

Ereme wandte empört die Augen ab. „Es bedarf keines großen Muthes der Schutzverwaisten gegenüber,“ entgegnete sie mit bebender Stimme.

Er ließ den Zweig emporschnellen. „Nein, der Stich ging zu tief für eine harmlose Plänkelei. Aber ich bin schuld, ich habe angefangen. Und ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Gestatten Sie, daß ich das Versäumte nachhole: Rittmeister von Bartenstein.“

Sie sah ihn mißtrauisch an. Kein Zug seines Gesichtes zeigte mehr den Ausdruck von Uebermuth. Er stand vor ihr in der achtungsvollen eleganten Haltung, wie der Herr im Salon vor der Dame steht, und sie konnte nicht anders als seine Vorstellung mit einem leichten Neigen des Hauptes erwidern.

„Und nun bitte ich wegen der Störung um Gnade,“ fuhr er rasch, aber in unbefangenem Tone fort.

[639] „Ich muß ohnedies an den Heimweg denken,“ antwortete sie. „Es ist spät geworden.“

„Dann gestatten Sie wohl, daß ich Sie begleite,“ sagte er schnell. „Es wird wirklich schon dämmerig im Walde.“

Sie wollte ablehnen; aber sie fand nicht gleich die Worte dafür dem harmlosen Tone gegenüber, mit dem er seine Begleitung wie selbstverständlich antrug, und ehe sie nur einen Gedanken fassen konnte, hatte er schon sein Pferd am Zügel genommen und sich ihr ohne Weiteres angeschlossen.

Ritterlich paßte er seinen Schritt ihrem stolzen langsamen Gange an. Und wenn er gestern im hellen Sonnenlichte vor allen Menschen keck und dreist gewesen war, so ging er heute am hereindunkelnden Abend im einsamen Walde um so ehrbarer neben ihr, hob die überhängenden Zweige aus ihrem Pfade empor und ließ ihr die Mitte des Weges, während er mit seinem Rosse auf einer schmalen Linie weiter schritt, ohne den Saum ihres Schleiers oder ihr Gewand mit der leisesten Berührung zu streifen.

Die Lichter auf dem Waldboden erloschen, der rosige Schein an den dunklen Blattrosetten verglomm. Auf dem thaufeuchten Wege falteten sich die Kleeblätter zusammen, schlossen die Maßliebchen ihre weißen Wimpern. Die Vogelstimmen verstummten eine nach der andern. Schon strich eine Eule mit lautlosem Fluge vorüber; es dünkte Ereme ein schlechtes Zeichen, daß der Vogel der Athene von links kam.

Bartenstein’s Blick glitt prüfend über seine stumme Gefährtin auf dem stillen Waldpfade. Ihr weißes Kleid strich wallend über den moosigen Boden hin. Das reiche dunkle Haar lag in einem schlichten griechischen Knoten im Nacken; eine lange Locke hatte sich daraus gelöst und ringelte sich über ihre Schulter herab. Der Kopf der Gemme, die ihr Kleid schloß, war nicht reiner geschnitten, als das marmorweiße Profil.

„Woran denken Sie?“ fragte er plötzlich mit lauter Stimme, als müsse er einen Zauber brechen, der geheimnißvoll um ihn seine Schlingen zog.

Sie bezwang sich und suchte auf seinen unbefangenen Ton einzugehen. „Ich dachte daran, daß ich schon einmal von Cavallerie escortirt worden bin. Auf unserem Ausfluge von Athen nach Eleusis begleiteten uns zum Schutze gegen die Räuber griechische Husaren.“

Er sah sie überrascht an. „An griechische Husaren dachten Sie?“ forschte er gespannt. „Waren Officiere dabei?“

Sie zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht. Wie hätte auf jenem Wege nur ein Blick, ein Gedanke an die Menschen von heute streifen können? Wir fuhren auf der heiligen Straße hin, welche noch die Spuren der Geleise trägt, die einst für die Wagen der Götterbilder in den Felsenboden gehauen wurden. Hier und da ragte ein altes Grabdenkmal am Wege empor. Dann nahm uns der heilige Oelwald der Athene auf, dessen älteste Bäume noch die Blüthe Griechenlands gesehen haben. Auf dem steinigen trockenen Boden standen sie, vom Alter verkrümmt und verwachsen, vom graugrünen schmalen Laube nur dürftig umflattert. Fast versiegt schleppte sich der ehemals stolz rauschende Bach Kephissos zwischen ihnen dahin, und der eintönige Gesang der Cikaden erfüllte wie eine Todtenklage den Wald.“

Bartenstein hatte sichtbar gefesselt ihr zugehört; aber die unnahbare Ruhe, die aus ihren Zügen sprach, die kunstvoll gefügte Rede reizten ihn, und je mehr ihr ganzes Wesen seiner Natur einen Zwang auferlegte, um so energischer wehrte er sich dagegen.

„Da haben wir es hier freilich besser,“ antwortete er mit der größten Ungebundenheit, indem er sich fröhlich umsah. „Welch frischer grüner Rasen! Wie viele Blümchen drin! Der Teufel mag wissen, wie sie heißen. Und was sind die Eichen für stramme Kerle!“

Ereme war entrüstet über diese naturwüchsige Sprache. Abweisend entgegnete sie: „Mir erscheint diese Landschaft arm gegen die griechische.“

„Arm gegen das steinige ausgedörrte Land?“ rief er ungläubig.

„Ja, wohl dominirt dort der Stein, das Unvergängliche,“ antwortete sie, unwillkürlich in Eifer gerathend, weil ihr Heiligstes angetastet wurde. „Schroff und leuchtend steigt er aus den ewig bewegten Wellen empor, drängt er den vergänglichen Schmuck der Pflanzenwelt zurück, als wolle er sagen: Ich brauche euch nicht; in mir selbst schlummert ewiges Leben, wenn ich nur die Hand finde, die mich dazu erweckt. Und er hat sie gefunden bei einem Pheidias, einem Praxiteles. Andere Völker pflanzten Haine um ihre heiligen Stätten, die Griechen schufen Haine von schimmernden Marmorbildern um ihre Tempel.“

„Ein Hain von Statuen,“ rief er, sich schüttelnd, „von denen jede in alle Ewigkeit in derselben Pose dasteht, nur daß sie nach und nach Kopf und Glieder verlieren, die nicht wieder wachsen wie die Blätter am Baume!“ Und er murmelte noch weitere Worte für sich; ihr schienen sie zu lauten: „ich lobe mir etwas Lebendiges;“ aber sie traute ihren Ohren nicht.

Mit einer kleinen, Aufmerksamkeit heischenden Geste, wie er sie noch nie bei einer Dame der Gesellschaft gesehen hatte, und die ihm doch sehr gefiel, fuhr sie fort: „Selbst vor den letzten Ueberresten jener Schöpfungen, ja, vor dem Klange der alten Namen erscheint Alles, was unsere Zeit hervorgebracht und gethan hat, klein und epigonenhaft.“

Die Uebertreibung, die in den Worten lag, verletzte ihn wieder. „Einbildung!“ sagte er unmuthig.

„Sie wollen sagen,“ verbesserte sie ihn, „daß die Ideenverbindung die Trümmer uns schön und erhaben erscheinen läßt.“

Er lachte auf. „Ich ziehe die Schönheit vor, über die ich nicht vorher nachdenken muß, um ihre Reize zu ergründen, sondern bei der ich mir gleich etwas wünsche.“

„Wünsche wären jener versunkenen Welt gegenüber vergeblich,“ entgegnete Ereme. „Sie führt nur zu ernster Betrachtung und dient uns als Vorbild, wie wir unser Leben zu gestalten haben, daß es unter unserer Hand zu einem Kunstwerke werde.“

Jetzt riß ihm die Geduld. Vor ihnen lichtete sich der Wald, schon drang der Heuduft der Wiesen herein, und das schöne Mädchen neben ihm mit den korallenroten Lippen, zwischen denen so elfenbeinweiße Zähne schimmerten, hielt ihm noch immer einen Vortrag wie ein alter Professor einem jungen Studenten. Das war nicht die Stellung, die der Frau dem Manne gegenüber zukam.

Mit dictatorischem Ton, als ertheile er Instructionsstunde, sprach er: „Ihr Leben macht mir allerdings einen sehr künstlichen Eindruck, gnädiges Fräulein. Aber das wird nun am längsten gedauert haben. Das Schicksal, wie es der Frau bestimmt ist, wird an Sie herankommen. Dann werden Sie Ihre Lebensbildhauerei bei Seite werfen und sich dem Manne fügen, der es unternimmt, Sie zu einer deutschen Hausfrau zu erziehen.“

Mit maßlosem Staunen sah sie ihn an. Er nickte ihr bekräftigend zu und blickte tief in die schönen empörten Augen.

Da schürzten sich ihre Lippen spöttisch. „Glauben Sie, daß das einem Manne so leicht gelingen würde?“

„Leicht oder schwer,“ antwortete er hochfahrend, „ein rechter Mann setzt Alles durch, was er will.“

„Wenn seine Kraft dazu ausreicht,“ antwortete sie mit leisem Hohn.

In seinen Augen glimmte ein Funke auf.

„Das Wenn läßt sich kein Mann ungestraft bieten,“ sagte er drohend und fuhr dann in leichtem Tone fort: „Doch da sind wir am Ausgang des Waldes, Sie bedürfen meines Schutzes nicht mehr.“

Er grüßte, war im Sattel, und dort flog er auf seinem Goldfuchs dahin, als gelte es einen Siegeslauf.

Ereme starrte ihm sprachlos nach. War es Traum oder Wirklichkeit, daß ein Mann ihr mit solchem Blick und Ton zu nahe getreten war, so vermessene Worte zu ihr gesprochen hatte? Fürchtete er denn nicht das Walten der Nemesis, die jeden Frevelmuth unerbittlich straft?

O! Warum war sie nicht gestern, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ihres Weges gegangen? Warum hatte sie ihm heute geantwortet, seine Vorstellung angenommen, seine Begleitung geduldet und endlich die Welt, die so erhaben über der seinen war wie die Iliade über dem Kutschkelied, gegen ihn verteidigt, statt stolz zu schweigen? Warum war sie überhaupt nicht zu Hause geblieben? Ja, warum?


Melanie von Seebergen bewohnte eine Flucht von Zimmern, welche, beim Umbau des Klosters zu einem Damenstift, aus einer Reihe von Zellen hergerichtet worden war, indem man Wände herausnahm und Thüren einfügte. Noch immer gaben die dicken Mauern, niedrigen Decken und tiefnischigen Fenster den Räumen [640] einen klösterlichen Anstrich, der aber durch Melanie’s Geschmacksrichtung wie verklärt erschien.

Die blauen seidenen Vorhänge warfen ein mildes Licht; vor den Fenstern wiegten sich in Muschelampeln Passionsblumen und ließen ihre graziösen Ranken mit den sammetartigen Sternenblüthen herabsinken; trauliche Gruppen von Causeusen und Fauteuils waren in den Ecken zusammengestellt; Tische und Consolen schmückten Vasen von altem Meißner Porcellan, deren fächerförmig gestaltete Kelche weiße Lilien füllten, die durch ihren Duft an dämmerige Kreuzgänge, an stillen Verzicht gemahnten.

In gutem Licht standen auf schlanken Gueridons zierliche Staffeleien mit Kupferstichen von Melanie’s Lieblingsbildern. Es waren Raphael’s Poesie, welche die Schwingen entfaltet, die Lyra an’s Herz drückt und von geflügelten Genien begleitet wird, und die Philosophie desselben Meisters, ein ernstes Weib, das auf einem sphinxgeschmückten Sessel sitzt, der, unbequem und hart wie jeder Thron, die Wolken niederdrückt, auf denen er ruht. Wie Lastträger mit geduckten Köpfchen tragen kleine Boten die Weisheit in die Welt hinaus.

Während Melanie am Frühstückstisch ihre Chocolade löffelte, dachte sie bewundernd, wie treffend der große Maler diese Gestalten charakterisirt hatte, die beide die ewige Wahrheit suchen, die eine im beflügelten Aufschwung, die andere im Grübeln und Sinnen. Sie hegte an der Zweckmäßigkeit dieses letzteren Weges, seit der Doctor Gerhard sie in sein Streben einweihte, bescheidene Zweifel.

Da weckte sie Darling aus ihren Gedanken, indem er sein Vorderpfötchen auf den gesteppten seidenen Aermelaufschlag ihres Peignoirs legte. Auch der Liebling befand sich noch im Negligé; sein seidenweiches Haar war in viele dünne Zöpfchen geflochten, selbst über seine braunen Augen, mit denen er sie auffordernd ansah, hingen solche herab. Sie verstand den Blick, band ihm die Serviette um und setzte ihm seine Morgenmilch in einer Krystallschale auf dem Fußbänkchen vor. Dann wurde Darling von der Zofe zum Frisiren entführt, und der alltägliche Kampf zwischen beiden entspann sich; denn Darling fürchtete, wie andere verzogene Lieblinge auch, Schwamm und Kamm.

Melanie streckte sich behaglich auf ihrer Chaiselongue aus. Sie nahm ein Buch, das ihr von der Zofe mit der Chocolade überbracht worden war, aus seiner Umhüllung.

Auf die erste Seite hatte Doctor Gerhard, der Autor, mit seiner gleichmäßigen saubern Handschrift – eine solche gehört jetzt auch bei den jungen Gelehrten zur guten Erziehung – eine Widmung für sie geschrieben, in welcher er sie seiner unwandelbaren Verehrung und Freundschaft versicherte. Darunter stand der Titel: „Die Wahrheit über das Wesen der Liebe.“

Sie blätterte mit einem Ausdruck von nachsichtigem Spott in dem Büchlein. Mit dem Eifer des Archäologen hatte der Verfasser zusammengestellt, was die Philosophie aller Völker über das Wesen dieser bis jetzt unüberwindlichen Macht gefabelt und ergrübelt hatte, von Uranfang an bis auf die neueste Zeit. Und er war zu dem Resultat gekommen, daß der Mensch, der unerschrocken die Tiefen des eignen Ichs durchforscht, im Stande sei, die Gewalt des Unbewußten zu brechen, das in der Liebe sich geltend macht.

Sie ließ das Buch sinken.

(Fortsetzung folgt.)

Die „gute alte Zeit“.

Von Karl Biedermann.[1]

Wohl mag im Ganzen die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo der beschwingende Geist der Reformation noch lebendig, zugleich der Geist des deutschen Bürgerthums noch ungebrochen kräftig war, als eine Periode ehrbarer Sitte anzusehen sein. Dennoch aber – wer sollte es glauben? – fehlte es auch damals nicht an Klagen über angebliche Verschlechterung der Sitten ganz so, wie heutzutage! Und zwar ist der, welcher solche Klagen erhebt, kein Geringerer als der treffliche Kenner und Darsteller zeitgenössischer Zustände, Hans Sachs, er, der getreue Sohn des mit Recht von ihm und auch anderwärts hochgepriesenen Nürnberg!

Hans Sachs kleidet diesen Ausfall auf seine Zeit in ein scherzhaftes Gewand. Er sei, so erzählt er, dem Teufel begegnet, dieser habe ihm geklagt, daß die Hölle wegen der großen Menge von Bösen, die sie aufnehmen solle, zu eng werde und er eine neue bauen müsse.

Mit feiner Ironie stellt sich Hans Sachs darüber verwundert. Es sei doch, sagt er, gerade jezt in aller Hinsicht auf Erden so gut bestellt. Darauf entwirft er ein scheinbar äußerst glänzendes Bild aller Stände, von den obersten bis herab zu den untersten.

Nachdem er Papst, Kaiser, Fürsten, Adel, Geistlichkeit durchmustert, kommt er auch auf das bürgerliche Gemeinwesen, auf Handel und Verkehr, auf das Gewerbe, auf Haus und Familie, auf Sitte und Frömmigkeit zu sprechen und läßt sich darüber etwa folgendermaßen aus:

„Die bürgerliche Obrigkeit sieht nur auf den gemeinen Nutzen ohne allen Eigennutz. Es findet keine Münzverschlechterung statt. Kein falscher Eid wird geschworen. Unbeirrt durch Furcht, unbestochen durch Geschenke, sprechen die Gerichte nur nach Recht und Gesetz.

Nirgends giebt es Wucher, noch Betrug, nirgends gefälschte Kaufmannswaare, überall nur rechtes Maß und Gewicht. Jedermann hält Treu und Glauben. Kein Schuldner läßt seinen Bürgen im Stich. Kein Handwerker feindet den andern an, sucht ihm seine Kunden abspenstig zu machen oder seine Gesellen zu verhetzen; alle machen sie preiswürdige Waare. Auch giebt es nur friedfertige Ehen; nirgends ist Zank und Hader; alle Frauen sind ihren Männern unterthan, alle Kinder ihren Eltern gehorsam. Die ganze Jugend ist tugendreich und gottesfürchtig, die jungen Männer sind bescheiden und ehrbar. Von Hoffahrt, Luxus, Ueppigkeit keine Spur. Arm und Reich wetteifert in Gottesfurcht und Pflichttreue, dergestalt, daß sie alle sofort in den Himmel eingehen könnten.“

Kaum aber hat er diese Rede geendet, da fährt der Teufel ihn zornig an:

„Du verlogener Mann! Von Alledem, was Du da behauptest, ist kein Wort wahr. Und wo Du mir nicht alsbald zehn Zeugen bringst, daß Du nicht gelogen, mußt Du mit mir zur Hölle fahren.“

Hans Sachs, in großer Angst, sucht und sucht nach Zeugen, aber Niemand will Zeugniß für ihn leisten, denn Alle behaupten: „was er gesagt, sei nicht wahr.“

Es fällt uns nicht ein, aus dieser satirisch-humoristischen Erzählung des poetischen Schusters von Nürnberg etwa schließen zu wollen, er habe die Zustände seiner Vaterstadt wirklich

[641]

Wahlagitatoren.
Nach dem Oelgemälde von H. Schaumann.

[642] als so getrübte angesehen, wie es nach diesem ironischen Lobe derselben scheinen könne. Wir wissen, wie der ehrliche Hans Sachs sich gern über einzelne Schwächen seiner Zeit lustig machte, gerade weil er das sichere Bewußtsein hatte, daß es im Ganzen doch eine gute, tüchtige Zeit sei. Aber gänzlich aus der Luft gegriffen kann jene Anzweifelung gewisser Verhältnisse im Handwerk, in der Familie, in der Rechtspflege etc. doch auch nicht sein. Und so werden wir vielleicht das Richtige treffen, wenn wir aus dieser schalkhaften Erzählung des ehrlichen Hans Sachs die Moral entnehmen: es gab in jener Zeit, wie in jeder, neben Gutem auch minder Gutes, neben vielen löblichen Erscheinungen auch einzelne minder erfreuliche. Da dem aber so ist, so soll man auch unsere Zeit nicht darum, weil in ihr nicht Alles vollkommen ist, sogleich mit Stumpf und Stiel verdammen!

Uebrigens zeigt doch auch die nüchterne historische Forschung, daß in der That selbst in jener so gerühmten Zeit keineswegs Alles Gold war, was so scheint. Die Chroniken des 14., 15., 16. Jahrhunderts sind voll von Beispielen der gräulichsten Verbrechen, die häufigen geistlichen Vermahnungsschreiben aus jenen Zeiten führen bittere Klage über weit verbreitete Sittenverderbniß aller Art. Wir besitzen eine neuere Zusammenstellung urkundlichen Materials zur Sittengeschichte Deutschlands vom 13. bis in’s 16. Jahrhundert unter dem etwas sonderbaren Titel: „Das Kloster, weltlich und geistlich, meist aus der älteren deutschen Volksliteratur“, herausgegeben von Scheible. Das Werk ist, wie ein Kloster, in „Zellen“ eingetheilt. Die Zellen 21 bis 24 behandeln speciell unser Thema, die „gute alte Zeit“, und zwar mit dem Beisatz: „geschildert in historischen Beiträgen zur nähern Kenntniß der Sitten, Gebräuche, der Denkart vornehmlich des Mittelstandes in den genannten drei Jahrhunderten, nach alten Druck- und Handschriften“. Man hat es hier also mit lauter ganz bestimmten, thatsächlichen, deutlichen Beweisen, nicht etwa (wie so oft bei den Lobrednern der Vergangenheit) mit bloß allgemeinen, unbewiesenen Behauptungen zu thun. Der Herausgeber faßt schließlich seine culturhistorischen Ermittelungen in folgender Betrachtung zusammen:

„Man machte sich sonst hohe Begriffe von der Unschuld und Sittsamkeit der guten Voreltern – wohl nur auf das Wort der Eltern und anderer bejahrter Leute aus einer früheren Generation – ohne sich die Mühe zu nehmen, diese schönen Gemälde eines goldenen Zeitalters näher zu beleuchten. Der neuesten Zeit war es vorbehalten, die Sitten der Vorzeit mit ihren wahren Farben zu schildern. Bei aller Vorliebe für die guten, alten, kräftigen Zeiten können wir uns doch nicht verhehlen, daß unsere Altvordern in Hinsicht der Sittsamkeit, Mäßigkeit, Sparsamkeit und in anderen häuslichen und geselligen Tugenden vor unserer so verschrieenen neueren Zeit keinen großen Vorsprung hatten, wofern sie uns nicht ähnlich waren, ja in einigen Punkten vielleicht hinter uns zurückstanden.“

Zu ganz dem gleichen Resultate gelangt ein andrer namhafter Culturforscher der deutschen Vorzeit, der berühmte Verfasser der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, Gustav Freytag. In der Vorrede zu diesem Werke spricht er sich so aus:

„Vergebens sucht der Deutsche die gute alte Zeit! Auch ein frommer Eiferer, der Hegel und Humboldt als die großen Atheisten verdammt, auch der conservative Grundherr, der für die Privilegien seines Standes mit den Mächten der Gegenwart hadert, auch sie würden, in eines der früheren Jahrhunderte zurückversetzt, zuerst ein maßloses Staunen, zuletzt einen Schauder vor ihrer Umgebung empfinden. Was sie von jener Zeit begehren, das würde sie elend machen, und was sie jetzt gedankenlos oder grollend von unserer Bildung empfangen, es würde ihnen so sehr fehlen, daß sie über den Mangel verzweifelten.“

Wenn man, um die Verderbtheit der heutigen Zeit zu kennzeichnen, sich auf die Verbrecherstatistik bezieht, so müssen wir daran erinnern, daß sowohl die Entdeckung als die Veröffentlichung von Verbrechen heutzutage mit ganz anderen Mitteln und darum nach ganz anderen Maßstäben vor sich geht, als vordem. Man kann darauf rechnen, daß namentlich von jenen gräulichen Verbrechen, die jedesmal unser ganzes menschliches Gefühl erzittern machen, uns nicht leicht eines von der Tagespresse erspart wird, während in früherer Zeit sicherlich eine Menge solcher theils unentdeckt blieb, theils nur in engstem Kreise bekannt wurde.

Ganz ähnlich, wie mit der Sittlichkeitsstatistik, verhält es sich mit einer andern Erscheinung, die auch oft irrthümlicher Weise zum Nachtheil der Gegenwart ausgelegt wird. Das ist das massenhafte Material von Klagen und Beschwerden über allerhand sociale Mißstände und schlechte Behandlung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, unbillige Herabdrückung der Löhne, Verkümmerung des Arbeitsverdienstes, materielle Noth und daher entstehendes Siechthum ganzer Bevölkerungen u. dergl. m. Wer solche Klagen in unseren Tagesblättern fort und fort liest oder in unseren Ständesälen hört und damit die Organe der Presse oder Denkwürdigkeiten und andere Schriften aus einer früheren Zeit vergleicht, wo er ähnliche Klagen nicht findet, der könnte leicht auf die Vermuthung kommen: dieser ganze sociale Nothstand sei etwas Neues, unserer Wirthschaftsperiode Eigenthümliches, sei ein Symptom und eine Frucht des Abfalls von der „guten alten Zeit“. Sehr richtig hat aber schon der berühmte englische Geschichtschreiber Macaulay darauf hingewiesen, daß nicht die Thatsache jener socialen Uebelstände neu sei, sondern nur die Kenntnißnahme davon; daß derartige Zustände auch früher bestanden, daß aber damals in der Regel Niemand davon Notiz genommen habe.

In der That, wenn jetzt über die Noth der arbeitenden Classen mehr gesprochen und geschrieben wird (und, setzen wir hinzu, auch mehr zu deren Linderung geschieht), als früher, so bekundet dies nicht ein Wachsthum der Noth, vielmehr nur ein Wachsthum der Humanität, welche sich dieser Noth annimmt. Auch ist unser heutiges Arbeiterproletariat, welches, wenn schon mühsam und kümmerlich, doch mit eigener Kraft sich durch’s Leben schlägt, jedenfalls weniger schlimm, als jenes vagabundirende, bettelnde, auch wohl stehlende und raubende Proletariat, welches in früheren Zeiten zu Hunderten die Landstraßen unsicher machte, Dörfer und Städte brandschatzte.

Noch in einem speciellen Punkte der Lebensführung pflegen die Lobredner der Vergangenheit gegen unsere heutige Zeit Klagen zu erheben, im Punkte des Luxus und der Verschwendung. Aber auch diese Klagen sind nicht neu, und sie waren früher wohl mehr gerechtfertigt, als heute. Die „Luxusordnungen“ aller Art, welche vordem von Obrigkeitswegen erlassen wurden, um der übertriebenen Ueppigkeit und Verschwendung im Essen und Trinken, in Kleidung und Putz zu steuern, reichen zurück bis in’s 15. Jahrhundert; sie ziehen sich dann wieder (nach kurzer Unterbrechung) von der Mitte des 16. bis an’s Ende des 17. Jahrhunderts; sie wiederholen sich immer öfter, ein Beweis, wie wenig sie halfen, und sie hören nur darum zuletzt auf, weil man sich überzeugt hat, daß damit doch nichts ausgerichtet werde. Selbst das half nichts, als der Rath in Leipzig 1699 erst die Mägde, die gegen das Verbot Spitzen, Tressen, Schleppen etc. trugen, auf’s Rathhaus citirte und ihnen durch den Rathsvogt „den Plunder abtrennen“ ließ, dann die gleiche Operation an den Handwerkerfrauen und zuletzt sogar an den vornehmen Kaufmannsfrauen vornahm.

Das Jahresbudget eines Hamburger Kaufmanns aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts berechnete die moralische Wochenschrift „Der Patriot“ zu mehr als 10,000 Thalern (30,000 Mark) für’s Jahr, nach damaligem Geldwerthe eine enorme Summe. Darin kommen Posten vor wie: 900 Thaler für ein neues Bett; 600 Thaler eine goldene Repetiruhr für die Frau; 150 Thaler Spielgeld für dieselbe; eine Puppe aus Holland für die Tochter im Preise von 100 Thalern; ein Gastgebot von 30 Personen zu 240 Thalern; dem Sohne (der noch in die Schule geht!) „zu seinem Plaisir, wenn er in Gesellschaft geht und l’Hombre spielt“, 40 Thaler, demselben eine Uhr 36 Thaler – dagegen dem Beichtvater zu Neujahr statt der sonst üblichen 4 Ducaten „wegen der schlechten Zeit“ nur 4 Thaler. – Im Frankfurter Intelligenzblatt“ von 1723 ward ein Luxusbett zu 750 Thalern ausgeboten. Gewöhnliche Bürger in einer kleinen Stadt trugen Sammtaufschläge und breite seidene Borten auf den Mänteln, Bürgersfrauen mehrfache goldene Ketten, Handschuhe, mit Gold und Perlen gestickt. Bei einer adligen Hochzeit wurden 80 Eimer Wein ausgetrunken. Gastgebote zu 280 Personen bei großen Hochzeiten waren polizeilich erlaubt. Hochzeiten, Kindtaufen, ja auch Leichenfeiern wurden durch viele Tage hindurch mit Essen und Trinken begangen. Ein Herr v. Schömberg in der Pfalz hinterließ 22 Prachtanzüge. Ein Verein gegen Luxus in Braunschweig, 1618, aus Adligen bestehend, machte aus: Keiner solle dem Andern bei Zusammenkünften mehr als acht Essen vorsetzen; Keiner solle ein Kleid tragen, das mehr als 200 Thaler koste. [643] Es war nichts Seltenes, daß, wie Justus Möser klagt, schon Schulmädchen goldene Uhren bekamen.

Unsere Kinderbälle, auf denen Knaben und Mädchen sich wie Erwachsene geberden, sind nichts Schönes, aber auch nichts Neues. Man betrachte nur die Bilder der geputzten Kinder und lese ihre Gespräche in „Weiße’s Kinderfreund“, der doch zu den Schriften gehört, welche die Zurückführung der Erziehung zu größerer Natürlichkeit und Einfachheit sich zum Zwecke setzten.

Unsere Trachten – bei Männern und Frauen – wenn auch bisweilen unschön, sind doch im Vergleiche mit denen des 17. und 18. Jahrhunderts unendlich einfacher, natürlicher, sittsamer und minder kostspielig geworden. Selbst die übertriebensten heutigen Damenmoden reichen nicht entfernt an die thurmhohen Toupets, die verkünstelten Taillen, die Schönpflästerchen im Gesichte und andere Thorheiten unserer Aeltermütter; unsere ärgsten Stutzer sind unendlich einfacher gekleidet, als die Incroyables einer früheren Zeit mit Galadegen, Chapeaubas, langem Stock mit goldenem Knopf, goldener Dose, Stutzperrücke, galonirtem, buntseidenem Rock, langer Schoßweste, Escarpins oder Schnabelschuhen mit goldenen Schnallen.

Man klagt endlich über den „Materialismus“ unserer Zeit, der, wie man meint, den „Idealismus“ einer früheren Zeit ertödtet habe. Man beruft sich darauf, daß unsere Jugend, auch unsere studirende, in nüchterner Berechnung nur hastig nach einer „Versorgung“ strebe, nur das dazu Nothwendige, viel weniger das zu einer idealen Bildung Gehörige in’s Auge fasse, daß die Sucht nach materiellem Gewinne und Genusse Alles beherrsche, daß selbst das höchste Lebensverhältniß, die Ehe, viel häufiger aus diesem Gesichtspunkte, als aus dem idealen einer wahren Herzensneigung behandelt werde. Wir weisen diese Klagen nicht schlechthin von der Hand, aber wir warnen auch hier vor einem einseitigen und vorschnellen Urtheile. Was den Wettlauf nach Versorgungen betrifft, so war er zu den Zeiten unserer Aelter- und Urälterväter wohl kaum geringer, als heute, nur mit dem Unterschiede, daß der Weg dazu, der heute durch eine Reihe von Prüfungen mühsam erschlossen wird, damals großentheils ein leichterer, freilich auch viel weniger sauberer war, denn er ging nur zu oft durch allerhand Hinterthüren der Gunst, Protection, auch wohl Bestechung. Speculationsheirathen waren früher nicht seltener, als heute; angesehene Gelehrte des vorigen Jahrhunderts bekennen sich zu solchen in ihren Selbstbiographien mit einer Offenheit, die für uns Heutigen etwas Verletzendes hat; außerdem sprachen die damaligen Väter sich fast allgemein das Recht zu, über Herz und Hand ihrer Töchter lediglich nach derartigen äußeren Rücksichten zu verfügen. Das Streben nach Erwerb endlich war jener älteren Zeit gerade so eigenthümlich wie der heutigen, nur daß die Mittel der Bereicherung damals ebenfalls oft viel weniger löbliche waren, weil auch im Wirthschaftsleben Begünstigung und Bevorrechtung, Monopol, Privilegium und andere äußerliche Factoren eine größere Rolle spielten, als die freie, tüchtige Selbstthätigkeit des Einzelnen.

Wie dürfte man auch einem Jahrhunderte die Fähigkeit zu idealem Schwunge absprechen, das im Verlaufe zweier Menschenalter zweimal eine so allgemeine, so begeisterte patriotische Erhebung gesehen hat, wie die unseres Volkes 1812 bis 1813 und wiederum 1870 bis 1871? Und nicht geringer wohl ist die Kraft der Opferfähigkeit anzuschlagen, welche in unsern mancherlei innern politischen Kämpfen so Viele an ihre nationalen oder freiheitlichen Ideale Alles setzen ließ. Denn gewiß hat unser Uhland Recht, wenn er singt:

„Der Dienst der Freiheit ist ein schwerer Dienst;
Er trägt nicht Gold, nicht Ehrenstellen ein,
Er bringt Verbannung, Kerker, ja den Tod.
Und doch ist dieser Dienst der höchste Dienst!“

Welche „materiellen“ Beweggründe hätten denn wohl jene mehr als 600 Männer 1848 nach Frankfurt am Main geführt, die dort in schwerer, mühevoller und undankbarer Thätigkeit ein ganzes Jahr lang an einer Neugestaltung Deutschlands arbeiteten? Oder welche „materiellen“ Beweggründe lassen jetzt Jahr für Jahr viele Hunderte einen kostbaren Theil ihrer Zeit und ihrer Kraft den Geschäften des Reichs und der Einzelstaaten widmen? Mit wie schweren materiellen Opfern mußten jene wackeren Schleswig-Holsteiner, die Jahrzehnte lang für deutsches Recht und deutsche Nationalität kämpften und litten, mußten jene verfassungstreuen Kurhessen, die sich der Willkürherrschaft eines Hassenpflug nicht beugen wollten, ihre Ueberzeugungstreue büßen! Und selbst die Vielen, welche ihr deutsches Vaterland verlassen und in die Verbannung wandern mußten, weil sie ihre Freiheitsideale auf Wegen gesucht hatten, welche sie mit den bestehenden Gesetzen und deren Vollziehern in Conflict brachten – ihr Vorgehen kann man tadeln, aber des Idealismus, wenn auch eines irregehenden, wird man sie schwerlich bar erklären können.

Uebrigens wollen wir doch nicht vergessen, daß wir Deutsche lange Zeit hindurch etwas allzu viel Idealisterei getrieben haben, daß es uns bitter noth that, aus einem bloßen „Volke von Denkern und Dichtern“ endlich eine Nation zu werden, die auch in der realen Welt ihre Stellung behauptete, daß aber dazu eine etwas einläßlichere Beschäftigung mit praktischen und materiellen Interessen nicht zu entbehren war. Sollten wir dabei – wie das bei solchen Rückschlägen wohl zuweilen geht – etwas zu weit auf die andere Seite gekommen sein, so wird sich das schon wieder in’s rechte Gleichgewicht setzen. An Dichtern und Denkern haben wir auch jetzt keinen Mangel, und leicht dürfte das deutsche Volk unter allen Völkern noch immer das idealste sein.

Auch das „deutsche Gemüth“, diese köstliche Blüthe unseres Volksthums, hat wahrlich noch nicht Schaden gelitten und wird es hoffentlich auch ferner nicht! Wir schwärmen jetzt etwas weniger, als in der Periode der Empfindsamkeit; allein an echter Freundschaft und echter Liebe fehlt es auch heute nicht. Und ebenso wenig an echter Humanität! Allen Respect vor jenem Freunde des edlen Gellert, der, statt „das Rhinoceros zu sehen“, sein Achtgroschenstück einem Bettler gab; allein schwerlich braucht, dem gegenüber, die Gegenwart zu erröthen. Zählen doch die Gaben der Liebe, die bei jedem Leid – in der Nähe oder Ferne, im In- oder Auslande – nach allen Seiten hin und von allen Seiten her so reichlich fließen, jährlich nach Hunderttausenden, wenn nicht nach Millionen. Oder könnte man wirklich eine Zeit gefühllos nennen, welche in Kinderbewahranstalten, Volksküchen, Feriencolonien, Asylen für Obdachlose, in einer wohlorganisirten officiellen und freiwilligen Armen- und Krankenpflege, in der Errichtung von Spar-, Vorschuß-, Kranken- und Alterscassen und in noch vielen anderen ähnlichen Anstalten eine Fülle werkthätiger, schöpferischer Humanität entfaltet, die besser ist, als jene schönen Worte oder jene Thränen, durch die man früher häufig sich mit seinem Mitleid abfand?

Nein, unsere Zeit kann wohl eine Vergleichung aushalten mit jeder frühern. Wenn früher da und dort Einzelnes besser war, als heute, so ist wieder heute Anderes besser, als früher, vielleicht sogar mehr und Wesentlicheres. Wohl sollen wir ein offenes Auge haben für die Schwächen und Schattenseiten, die ganz gewiß unserer wie jeder Zeit anhaften, und sollen rüstig und unverdrossen die bessernde Hand anlegen, wo immer es noth thut. Nur muthe man uns nicht zu, das Frühere darum für das Vollkommenere zu halten, weil es eben das Frühere war, noch weniger aber, offenbar Ueberlebtes und nicht mehr Lebensfähiges künstlich in’s Leben zurückzugalvanisiren und dadurch mit dem unaufhaltsamen Culturfortschritte der Menschheit gewaltsam zu brechen. Vorwärts, nicht rückwärts! muß die Losung sein für unsere und für jede Generation, denn so nur gehorchen wir dem ewigen Gesetze der Menschheit und der Menschengeschichte.

Wir haben uns im Laufe dieser Betrachtungen wiederholt auf Zeugnisse zeitgenössischer Kenner und Beobachter der allgemeinen Culturzustände berufen: wir wollen dieselben auch mit einem solchen schließen, und zwar mit dem Zeugnisse eines Mannes, der drei Generationen an sich vorübergehen sah, der ein gut Stück des vorigen und mehr als die Hälfte des jetzigen Jahrhunderts erlebte, der nicht zu den Liberalen, sondern zu den Conservativen zählte, der in seinen religiösen Anschauungen eher der älteren Zeit nahestand, als der Gegenwart: des ehrwürdigen Ernst Moritz Arndt. Er ruft den einseitigen Lobrednern der Vergangenheit warnend zu:

„Weg mit Vormals, weg mit Weiland!
Thoren, laßt die Todten ruh’n!
Denn das Weiland war kein Heiland,
Und kein Satan ist das Nun.
Lebt mit den Lebenden fröhlich und frisch!
Solche nur ladet die Welt zu Tisch.“


[644]

Die Kalmücken.

Mit Illustrationen von Rob. Haug.

Kalmücken auf der Pferdejagd.

In den größeren Städten Europas ist jetzt eine aus drei Familien bestehende Kalmückenhorde zu sehen, und es wird daher den Leser interessiren, Näheres über dieses eigenthümliche Volk zu vernehmen, das in den weiten Steppen des europäischen Rußlands und Westsibiriens noch ein echtes Nomadenleben führt.

Vergebens späht das Auge in der Heimath dieses mongolischen Stammes nach Städten oder Dörfern. Unausgesetztes Wandern ist das vornehmste Lebensbedürfniß des Nomaden, und so errichtet er auf den Weidegründen, welche er besucht, nur flüchtige Lager, die rasch an einen andern Ort hinübergeschafft werden können. Hier bildet das leichte Zelt, Jurte genannt, das Haus des Kalmücken, welches in seiner äußeren Gestalt und inneren Einrichtung höchst einfach erscheint. Betten aus Filzdecken, einige Packsäcke, welche die bewegliche Habe der Familie bergen, die Utensilien des Hausherrn, wie Sattel, Reitzeug und Luntenflinte, daneben die dürftigen Küchengeräthe und in der Mitte die Feuerstelle mit allen ihren Annehmlichkeiten und Fatalitäten, das ist das gewöhnliche Bild des Innern der Jurte, welche nur durch einige an den Dachstangen aufgehängte Götzenbilder geschmückt wird.

Reich und Arm begnügt sich mit dieser Einrichtung; nur hat der Reiche größere Kessel und mehr Säcke. Der Inhalt der Letzteren besteht bei den Wohlhabenderen aus Zeugen, Fellen und Kleidungsstücken, bei den Armen meist nur aus Schafwolle und abgetragenen Lumpen. Allenthalben herrscht Unreinlichkeit und Unordnung; diese elenden Wohnungen schützen weder im Sommer vor Regen oder Wind, noch halten sie im Winter die Kälte ab; dennoch bewohnt der Kalmück seine Jurte in jeder Jahreszeit. Im Winter schüttet er Erde rings um dieselbe und legt an schadhaften Stellen des Daches neue Filzdecken auf. Trotz des ununterbrochen brennenden Feuers müssen sich die Bewohner doch noch in Pelze hüllen, um nicht zu frieren.

Die Kleidung der Kalmücken ist äußerlich so gleichmäßig wie ihre Wohnungen, und es wäre schwer Arm und Reich an den Kleidern zu unterscheiden. Freunde der menschlichen Gleichheit müßten sich in diesem Punkte wenigstens unter den Kalmücken außerordentlich befriedigt fühlen, denn kaum dürfte der Fall vorkommen, daß Einer „berstet vor Neid“ über die reichere Gewandung seines mehr begüterten Nachbars. Im allgemeinen tragen Alle ihre Kleidung, bis sie ihnen vom Leibe fällt; es hat also nur der ein stattliches Aussehen, welcher zufällig ein neues Kleid besitzt. Die Kinder laufen gar bis zum siebenten Jahre nackt einher; nur bei Kälte werden ihnen Schafpelze umgeworfen und Filzstrümpfe angezogen. Als Kopfbedeckung dient den Kalmücken eine schwarze Lammfellmütze, welche von den verheiratheten Frauen niemals abgenommen wird. Die Männer scheeren sich den Kopf bis auf eine kleine kreisrunde Stelle auf dem Scheitel, an der sie einen Zopf mit einem langen Zopfbehange und einer Quaste daran tragen. Frauen und Mädchen lieben die auch bei den Kaisaken üblichen Haarverzierungen, falsche Flechten aus Roßhaar. Die Männer gehen bei großer Hitze mit nacktem Oberkörper, die Frauen aber erscheinen stets bekleidet. Unterschiede zwischen Sommer- und Winterkleidung sind unbekannt. Im Gürtel führt der Kalmück einen Feuerstahl mit Schwammtasche nebst Messer, in den Stiefeln Pfeife und Tabaksbeutel.

Die Pfeife spielt eine große Rolle im Leben der Kalmücken; allgemeiner als bei ihnen ist das Tabakrauchen wohl nirgends verbreitet. Frauen und Kinder rauchen, ja die Mutter steckt sogar dem Säugling die Pfeife in den Mund. Kommt Besuch in die Jurte, so sind sämmtliche Anwesende alsbald beschäftigt, in tiefem Stillschweigen die Pfeife aus dem Stiefel hervorzuholen, zu stopfen und anzuzünden. Darauf beginnt ein allgemeines Ueberreichen der Pfeifen mit der gewöhnlichen Begrüßungsformel: „Nä tabysch bar?“ (was giebt’s Schlechtes?), worauf die stehende Antwort: „Tabysch jogula“ (Nichts) lautet.

Eine Weile hört man nichts als diese Worte, denn ein Jeder ist damit beschäftigt, die Pfeife des Andern auszurauchen und neu zu stopfen. Im Uebrigen behält bei solchen Zusammenkünften der „Kumys“, der aus gegohrener Stutenmilch bereitete Branntwein, das letzte Wort. Man trinkt, solange nur ein Tropfen von dem edlen Saft vorhanden ist; zuletzt sinkt Einer nach dem Andern auf der Stelle um, wo er sich gerade befindet, und Diejenigen, die nicht abgefallen sind, machen durch Geplauder einen schrecklichen Lärm. Nur die jungen Weiber und Kinder bleiben nüchtern, denn Frauen, die keine erwachsenen Kinder haben, dürfen sich, nach kalmückischen Begriffen von gutem Tone, nicht betrinken.

Die Kalmücken sind meistens mittelgroß, aber untersetzt und breitschulterig; ihre Gesichtszüge tragen den mongolischen Typus, etwas schiefliegende Augen, breite Backenknochen, nach hinten liegende Stirn und sehr flache Nase. Die Gesichtsfarbe ist nicht leicht zu beurtheilen, da der immerwährende Rauch der Jurte gelbbraun färbt und der Kalmück sich außerdem nur selten wäscht, daher auf der Haut ein dunkler Ueberzug entsteht, der nichts von der Hautfarbe erkennen läßt. Obwohl sie grundhäßlich sind, liegt in ihren Gesichtern doch ein kindlich gutmüthiger Zug, der Jedem Vertrauen einflößen muß und in der That durch ihr Benehmen nicht Lügen gestraft wird. Zu Fuß außerordentlich schwerfällig, wozu seine lange, dicke Pelzkleidung und der schleppende Gang nicht wenig beitragen, ist der Kalmück ein gewandter unerschrockener Reiter sowohl zu Pferd als zu Kameel, welch letzteren Thieres er sich hauptsächlich als Lastthieres bedient, wenn er seine Jurten abbricht, um einen anderen Lagerplatz aufzusuchen. Unsere Schlußvignette zeigt solche auf der Wanderung begriffene Kalmücken. Die Pferde wissen sie sehr geschickt mit einer Art Lasso einzufangen, und auch diese Operation führen wir im nebenstehenden Bilde vor. Merkwürdig ist, daß die Kalmücken sich nicht zu größeren Vereinigungen vergesellschaften, sondern meistens auf die eigene Familie beschränkt bleiben. Mit seinem nächsten Nachbar fühlt sich der Kalmück Eins, aber schon seine Stammesgenossen in weiterer Entfernung sind ihm Fremde; besitzt er doch nicht einmal einen Namen für sein Volk, denn Kalmück oder Tatar ist ihm von den Russen überkommen, und er wendet diese Benennung nur an, um sich vom Russen zu unterscheiden. Gewöhnlich aber nennt er sich blos nach dem Flusse, an dem er lebt, z. B. Tschuj-Kischi, das heißt Tschuja-Mensch. In der Nähe der Flüsse liegen nun in der Regel drei bis vier Kalmückenjurten im Gebüsche derart verborgen, daß man ihrer kaum gewahr wird.

Mehr noch als andere Nomadenvölker ist der Kalmück ein Nichtsthuer, der all des Lebens Müh’ und Plage den Weibern aufhalst, während er selbst in Essen, Trinken, Rauchen und Schlafen seine Zeit verbringt. Wenn wir von den Wolgakalmücken wissen, daß sie ihre Frauen mit einer seltenen Achtung behandeln, so hat dies auf den kalmückischen Tagedieb des Altai keinen Bezug. Nur im Herbste hängt er die Flinte um und streift mehrere Wochen auf Schneeschuhen im Gebirge umher, um die für die Steuern nöthigen Felle zu beschaffen. Im Sommer besucht er seine Freunde und Bekannte und labt sich am edlen Kumys. Man kann als gewiß annehmen, daß während des Sommers fast die ganze Bevölkerung des Altai nur selten nüchtern wird. Seiner Meinung nach führt indeß der Kalmück ein herrliches Leben und hat von seinem Standpunkte aus vollkommen Recht, denn keine Sorge drückt ihn und kein Wunsch nach irgend einer Veränderung steigt in ihm auf. Hat er keine Kleidung oder keine Speise, so erhält er sie vom reicheren Nachbar, denn sämmtliche Bewohner einer Gegend bilden ja gleichsam eine Familie, und der Reiche ist nur reich, um alle ihn umgebenden ärmeren Faulenzer mitzufüttern. Dieser im höchsten Grade ausgebildete Communismus ist besonders bei jenen Kalmücken im Schwange, die sich noch am meisten in dem sogenannten „Naturzustand“ befinden; der Kalmück dieser Gesittungsstufe stiehlt nicht, weil er keine Bedürfnisse hat, kennt weder Lug noch Trug, weil es in seinen Bergen nichts zu verheimlichen giebt und er viel zu träge ist, sich zu verstellen.

Ueber ihre Gottheit selbst haben die Kalmücken nur eine ganz unklare Vorstellung; nach ihrer Angabe giebt es zwei Hauptgottheiten, eine gute, den „Uelgän“, von manchen „Tengri Chan“ (Himmelsfürst) oder „Pajana“ genannt, und eine böse Gottheit „Erlik“, „Kösmös“ oder „Schaitan“. Diese Namen sind den Nachbarvölkern entlehnt, Erlik den Mongolen, Schaitan den mohammedanischen Turkstämmen; auch verehren sie Berge und Flüsse als Herren des sie ernährenden Landes, endlich die Seelen der Vorfahren.

Im Allgemeinen kümmert sich das Volk wenig um diese überirdischen Wesen, und ihr ganzer Cultus besteht darin, daß man in jeder Jurte eine [645] geweihte Stelle für die verschiedenen Götzenbilder hat; auch vor der Jurtenthür baumelt zwischen zwei Stangen ein Strick mit bunten Lappen und Bändern zu Ehren der Götter. Damit denkt der Kalmück aber auch genug gethan zu haben, beten thut er nie. Erst wenn Unglück, Krankheit oder andere Leiden ihn drücken, erinnert er sich der Götzen, läßt er den kalmückischen Priester, den Schamanen, kommen, der mit Hülfe seiner Gebettrommel die Geister beschwört und den Urheber des Mißgeschicks zu erkennen sucht. Nachdem er diesen angeblich erfahren, beredet er sich mit seinen Geistern über die Abstellung des Uebels, welche durch Opfer von Pferden oder Schafen bewirkt wird. Entweder opfert man dem guten Geiste, den man um seine Hülfe anfleht, oder dem bösen, um durch die Gabe sich loszukaufen.

Kalmücken-Lager.

Das Fleisch der Opferthiere wird von den versammelten Gästen, die der Ceremonie beiwohnen, verzehrt, und nur die Haut mit den Knochen des Kopfes und den untern Extremitäten wird an der Stange des Opfergerüstes aufgehängt. Bei gefährlichen Bergpässen und Flußübergängen sind sogenannte „Obo“ errichtet, d. h. Steinhaufen, bei welchen der Vorübergehende dem Schutzgeiste ein Opfer bringt, indem er ein Steinchen, einen Zweig oder einige Haarbüschel aus der Mähne seines Pferdes auf den Steinhaufen wirft. An manchen Stellen werden solche Opfer an einem Baume aufgehängt. Alle diese religiösen Handlungen verrichtet aber der Kalmück ohne jegliche Andacht, ja selbst beim Beschwören der Geister durch die Schamanen sieht man die Anwesenden rund im Kreise scherzend und plaudernd sitzen, als ob die Handlung sie gar nicht berühre. Auch die Schamanen selbst scheinen die Sache nicht sehr ernsthaft zu nehmen, denn sie sind für kleine Geschenke gern erbötig, jedem Reisenden ihre Künste mit der Gebettrommel vorzumachen.

Russische Ansiedler dringen jetzt fortwährend mehr und mehr in die Gebiete der Kalmücken; in den weiten Steppen des europäischen Rußlands können diese sich der Berührung mit den Europäern nicht mehr entziehen; aber auch in Asien mehren sich die russischen Einwanderer, und das Häuflein der Kalmücken schmilzt mit jedem Jahre mehr zusammen, da sie sich allmählich auch mit den Eindringlingen vermischen. Die Bergkalmücken werden nach wenigen Jahrzehnten zu den untergegangenen Stämmen gehören, wie die zahlreichen Tatarenhorden, welche vor zwei Jahrhunderten den Nordrand des Altai bewohnten. Friedrich von Hellwald. 

Kalmücken auf der Reise.

0

[646]

Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)

Es gab noch mannigfache Erörterungen über jenes Abenteuer in der geheimnißvollen Grotte, und Goethe hielt dem Herzog gegenüber mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge.

„Sie sind der Lüge im Grunde ebenso abgeneigt wie ich,“ sagte er eines Tages mit freundschaftlichem Eifer. „Sie haben den schlichtesten Menschenverstand, mein lieber gnädiger Herr, Sie sind thätig, fertig, entschlossen und durchaus kein Schwärmer; warum nun hier von Allem absehen und sich einem Menschen gefangen geben, der Ihr Denken verwirrt, Ihr Vertrauen mißbraucht und dessen Zwecke man nicht kennt? Verlangen Sie Klarheit, Beweise, und halten Sie den närrischen Großkophta, bis er dieselben beibringt, fern.“

„Dir hilft weder Spott noch Tadel!“ rief seinerseits Karl August heftig. „Ich weiß, was ich sah, und mache damit, was ich will, und damit basta!“

Fast entzweit durch ihre völlige Meinungsverschiedenheit trennten sich die Freunde.

Der Herzog hielt sich Goethen in der nächsten Zeit ferner; er war mit seiner Erinnerung beschäftigt, behandelte das Verhältniß zu seiner Gemahlin mit noch größerer Gleichgültigkeit und entschloß sich endlich, an Saint Germain zu schreiben und ihn um Aufklärung, um ein nochmaliges Zusammenkommen mit der geheimnißvollen Schönen zu bitten.

Der Graf antwortete ausweichend, ablehnend und versicherte, wenn die Zeit gekommen sei, werde er von ihm hören. Endlich, in dem Verlangen, sich gegen einen Vertrauten auszusprechen, besuchte Karl August wieder den Freund.

Er saß an Goetheʼs Schreibtisch, auf welchem dessen aufgeschlagene Zeichenmappe lag, und blätterte. Indem er wiederum mit glühenden Farben jene holde Venus pries, ließ er mechanisch die Skizzen des Freundes durch seine Finger gleiten. Plötzlich schrie er laut auf, hielt ein Blättchen hoch, sprang empor, stürzte auf Goethe zu und rief:

„Sie ist’s! O Wolf, Freund, Mensch, woher hast Du dies?“

Es war die Portraitskizze Gretchen Slevoigt’s, welche Goethe einst vor dem Waldhäuschen genommen hatte. Goethe erschrak, „unmöglich,“ stammelte er.

„Matt, nicht blendend und göttergleich,“ murmelte der Herzog, „aber doch ihre unvergeßlichen Züge. Bist Du im Complot gegen mich? Sprich, was weißt Du und wo finde ich sie?“

Goethe überlegte. War es möglich, daß Gretchen – Nein – unmöglich; aber wenn sie es doch gewesen, wie konnte sie in diese seltsame Intrigue verwickelt worden sein? – Er mußte sie vor den Nachstellungen des heißblütigen jungen Fürsten bewahren, und vor allem durfte keine neue Scheidewand zwischen den Herzog und seine Gattin sich aufthürmen, er mußte Luise schützen, die ihn ohnehin den Verführer des Herzogs nannte. Nein, sie durfte, sie sollte nicht Recht haben mit diesem Vorwurf!

Karl August fuhr ungeduldig auf, als Goethe schwieg: „Du siehst, wie ich mich seit Monaten nach ihr sehne, Du weißt von ihr, sie ist ein sterblich Weib und mir nicht unerreichbar! Wolfgang, bist Du mein Freund, so beweise es jetzt, rede und hilf mir!“

Goethe lachte. „Woran denken Sie?“ sagte er schelmisch. „Wenn hier eine Aehnlichkeit vorliegt, so hat Ihre Schilderung meine dichterische Einbildungskraft befruchtet und meinem Stift divinatorische Gaben verliehen; machen Sie mir ein Compliment, aber verlangen Sie nicht, daß ich, ein zweiter Pygmalion, sogar diese Bleistiftskizze belebe.“

Zornig brach der Herzog auf: „Auch Du führst mich an! Aber laß mich, ich werde sie mir schon selbst aufsuchen.“

Er ging directen Weges zu Görtz – kannte er diesen doch als einen Feind und Widersacher Goethes. Darum stellte er sich in diesem Augenblicke gereizten Gefühls auf Seiten des Hofmarschalls.

Görtz empfing den seltenen Besuch in submissester Weise; als er einzelnen Andeutungen nach merkte, daß der Herzog auf Goethe nicht wohl zu sprechen sei, erhellten sich seine Züge noch mehr.

„Ich habe da Anfang Mai beim Landgrafen in Barchfeld eine höchst interessante Bekanntschaft gemacht, lieber Hofmarschall,“ sagte der Herzog endlich nicht ohne Verlegenheit. „Eine Bekanntschaft, die ich fortzusetzen wünsche. Es war dies ein Graf Saint Germain, der sich in Kassel aufhält; schreiben Sie dem Herrn und laden ihn in höflicher Weise zu uns ein.“

Görtz versprach, in kürzester Frist und so geschickt wie möglich dem Auftrage nachzukommen.

Als der Herzog gegangen war, setzte er sich an seinen Schreibtisch und verfaßte folgenden Brief:

„Triumph, lieber Graf! Ihre eminente Geschicklichkeit, Ihre Menschenkenntniß trägt den Sieg davon! Sie haben in jeder Hinsicht recht prophezeit; unser allergnädigster Herr ist total von Ihnen enchantirt und ladet Sie hiermit, in bester Form, durch mich ein, an seinen Hof zu kommen.

Sie sind in der That ein Wundermann, denn sein uns so unliebsamer, plebejischer Günstling geräth in’s Wanken; es bedarf nur noch einer kleinen Nachhülfe, eines Schachzuges Ihres bewunderungswürdigen Geistes, um den Frankfurter Advocaten, der sich in unsere Reihen drängte, total aus dem Sattel zu heben! Wollen Sie ihn jetzt offen bekämpfen, oder wollen Sie sich erst incognito hier umsehen, das Terrain persönlich recognosciren, die eine oder andere Mine gegen ihn legen und erst, wenn er gänzlich beseitigt ist, hervortreten, um, allerdings mit anderer Berechtigung, seinen Platz, also den eines allmächtigen Günstlings einzunehmen?

Dies alles muß ich Ihrem bewährten Scharfsinn überlassen. Rechnen Sie, wie bisher, ganz auf mich und eine kleine Elite gesinnungstreuer Aristokraten, von denen Sie vielleicht den einen oder andern durch Ihr Genie sich auch noch fester zu attachiren für zweckmäßig erachten werden.

Wie immer Ihr treuergebener
Graf Görtz. Hofmarschall.“ 

Die nach einiger Zeit auf diesen Brief eintreffende Antwort lautete:

 „Verehrter Graf!

Durchaus bereit mich weiter mit Ihnen und Ihren Gesinnungsgenossen zu associiren und sehr verbunden für die complaisante Einladung, werde ich mir erlauben, derselben später nachzukommen.

Vorläufig habe ich noch einen Besuch in Hanau zugesagt, wo ich den Landgrafen Karl bei seinem Bruder treffe, um mit ihm das System der stricten Observanz – der Regeneration des Freimaurerorden im aristokratischen Sinne – wofür Sie sich auch so lebhaft interessiren, auszuarbeiten.

Der Landgraf ist mir ein lieber, höchst sympathischer Gönner, und wenn er auch kein regierender Herr ist, so darf seine Stellung in Schleswig, wo dänische Dienste ihn fesseln, eine durchaus fürstliche genannt werden. Jedenfalls komme ich aber, bevor ich mich ganz für den Landgrafen entscheide, nach Weimar, befreie Sie von Ihrem verhaßten Eindringling und sehe mich dort genauer um. Vermuthlich werde ich vorziehen, dies erst incognito zu thun.

Empfehlen Sie mich Ihrem Gebieter ganz unterthänigst, und stellen Sie meinen Besuch für eine spätere Zeit in Aussicht.

Im Namen der Vorsicht, Verschwiegenheit und Klugheit grüßt Sie Ihr
St. G.“ 

So mußte sich also der Herzog noch einige Zeit gedulden, ein Aufschub, der ihm um so peinlicher wurde, als er vergeblich versuchte, den alten guten Ton mit dem Herzensfreunde anzustimmen.

Dieser litt ebenso unter der zwischen ihnen obwaltenden Kühle und mehr als einmal überlegte er ernstlich, ob es nicht doch gerathener sei, Karl August die volle Wahrheit zu enthüllen. Wenn er ihm sagte: Deine Venus ist eines Försters Kind im Walde, sie ist rein wie eine Blume, auf der noch der Thau liegt; schone sie, gieb sie ihrem Verlobten, mache sie nach ihrem Sinne glücklich, [647] und sei es selbst durch Edelsinn und Entsagung! Würde aber der junge Brausekopf, der mit heißen Lippen nach dem Becher des Genusses lechzte, jetzt schon im Stande sein, ihn zu verstehen? Würde er ihm folgen? Er wußte selbst, was Entsagung heißt. Würde aber Gretchen dem Herrn, dem Gebieter ihres Vaters widerstehen? Er wagte für Beide nicht gut zu sagen, denn er wußte, so hoch er auch den Freund hielt, daß sich des Herzogs Lust zu Abenteuern in letzter Zeit immer mehr gesteigert hatte. Konnte er nicht offen sprechen: Man hat Dir jenes Weib als Lockspeise vorgehalten, nun erkenne doch den Betrug! so blieben alle seine Warnungen vor dem Wundermanne wirkungslos und der Herzog in den Fäden, die ihn gefangen hielten. Daneben aber quälte ihn die Frage: hatte Gretchen wirklich die Venus gespielt, und wenn hier nicht eine Aehnlichkeit, eine Einbildung trog, wie war es möglich gewesen, sie dazu zu bestimmen?

Er mußte diesem Geheimnisse auf den Grund kommen - sobald als möglich.

Während nun der Herzog an einer quälenden Unruhe und Verstimmung litt und das Verhältniß der beiden Freunde getrübt blieb, bemühte sich Goethe, durch allerlei äußere Lustbarkeiten den Freund von seinen Gedanken an das erlebte Abenteuer abzuziehen und ihm die Zeit, von der er Heilung und Milderung der Spannung hoffte, sanft und heiter zu verkürzen.

Es ward immer abwechselnde Unterhaltung geplant, man sah sich täglich, und Karl August war noch viel zu jung und lebensfrisch, um durch jenes Abenteuer wirklich aller andern überdrüssig zu sein, vergaß gern auf Stunden, was ihn beunruhigte, und schloß sich von keiner Ergötzlichkeit aus. So erreichte denn auch Goethe zum Theil seinen angedeutete Zweck.

Im Juni hatte Goethe den großen Schmerz erlitten, seine einzige geliebte Schwester durch den Tod zu verlieren; aber er fand ein treues Herz, in welches er sein Weh ausschütten konnte, ja fast Ersatz für seinen Verlust in der geliebten Freundin. Manche ernste Unterhaltung führte die beiden eng verbundenen Seelen noch näher zusammen. Die tiefe düstere Welt des Schmerzes, das Leid in vielen Formen, Entsagung und strenge Selbstzucht waren die eigentlichsten Erfahrungsgebiete Charlottens, welche, mit einer zarten Gesundheit, an der Seite eines kühlen Gatten, bei dem Verlust ihrer Kinder und manchem andern Leid, auf sich selbst angewiesen, in sich die Kraft zum muthigen Ertragen gefunden hatte. Aber nicht allein sein trauriges Erlebniß theilte sie mit dem Freunde, auch das Geheimniß und die Abenteuer des Herzogs erfuhr sie, sowie Goethes abweichende Ansicht und das daraus entsprungene Mißbehagen zwischen den Unzertrennlichem

In dem behaglichen Stübchen Thusnelda’s im Witthumspalais versammelte sich schon seit längerer Zeit an jedem Sonnabend Morgen ein intimer Kreis, der eigentliche Kern jener Lustigen von Weimar. Regelmäßige Theilnehmer jener Matinées, welche sogar oft ein Blatt mit scherzhaften Berichten und Versen verfaßten, waren Goethe, Wieland, Knebel und Einsiedel.

Heute waren diese Vier mit dem kleinen Hoffräulein allein.

„Nun, Bruder Merlin, Du Zauberer,“ sagte Wieland zu dem geliebten jungen Freunde, „schwinge Deinen Stab, schütte Dein Füllhorn aus und sag an, was es zunächst geben soll!“

„Wir müssen,“ sprach Goethe, der jetzt wieder Herr aller Verstimmungen war, „eine Aufführung schaffen, die uns Rembrandt’sche Bilder liefert; die Frau Herzogin Amalie verlangt nach einem Beweis der außerordentlichen Wirkung des schroffen Helldunkels. Wir wollen ihr ein Abendfest in Tiefurt bereiten, mit Fackeln, brennenden Reisigbündeln und andern Feuern, das lauter Rembrandts giebt!“

Und nun entwickelte er seinen Plan, dem Alle freudig zustimmten.


24.

Ein schöner Augustabend versammelte also wieder die lustige Welt von Weimar in dem reizvollen Tiefurt, wo an den Ufern der Ilm das frischerdachte Singspiel von Goethe: „Die Fischerin“, aufgeführt werden sollte.

An einem sanft aufsteigenden Hügel der Gartenanlagen, unmittelbar am Flußufer, von wo man den Lauf der durch Wiesen sich hinschlängelnden Ilm vor sich sah, war mit Gartenbänken ein Amphitheater hergestellt, das die Gesellschaft aufnahm.

Die einzige Beleuchtung gab das mächtig lodernde Herdfeuer, über dem der Fischerin Kessel mit der Abendkost für die abwesenden Männer brodelte und an dem sie hantirte.

Die schöne Gestalt Corona’s, welche die Fischerin darstellte, nahm sich in der kleidsamen Tracht eines Fischermädchens, jetzt grell beleuchtet, dann in tiefem Schatten halb verschwindend, gar malerisch aus. Ihr Vortrag des Liedes vom Erlkönig war hinreißend in seiner dramatischen Vollendung, und ein leises Grauen, als werde nun noch viel Schauerliches kommen, überlief die Zuhörer.

Sie versteckte sich und die Männer traten auf.

Wieland gab einen recht behäbigen, gemüthlichen Vater, und Goethe war ein so feuriger Liebhaber, wie man ihn nur wünschen konnte. Sie spielten Beide ihre Rollen zur Zufriedenheit, und obgleich die Zuschauer wußten, daß Dortchen sich verborgen halte, brachte doch die Aufregung der Suchenden, das Herbeieilen der Nachbarn, das Rufen, das Auslaufen der Kähne, die Feuer an den Ufern eine lebhafte Spannung hervor.

Der folgende Chorgesang, vermischt mit dem Rauschen des Wassers, dem Flüstern der Blätter, den herüber schallenden Lauten der freien Natur, gab eine schöne Wirkung. Bald wechselnd, bald zusammen sangen die Nachbarn:

„Eilt nur geschwinde!
Lauft nach den Reusen!
Wohl blieb sie hangen,
Und zündet Schleifen,
Und brennet Fackeln
Und Feuer all!
Geschwind zu Schiffe!
Herbei die Stangen!
Sie aufzusuchen!
Sie aufzufangen!
Den Strom hinunter!
Habt Acht! Habt Acht!“

Die Freude des Wiedersehens, als Dortchen hervortrat, erleichterte Alle, und höchst befriedigt hörte man nach einigen lebhaften Scenen und Wechselgesängen den Schlußchor, in dem man sich mit der Heirath des Paares beschäftigte; der letzte Vers lautete:

„Was soll die Aussteuer sein?
Der Beifall soll die Aussteuer sein!
Kommt, wendet Euch zu ihnen,
Die unserm Spiele lächeln;
Was wir auch nur halb verdient,
Geb’ uns Eure Güte ganz!
Geb’ uns Eure Güte ganz!“

Freudiger Applaus, das erbetene Zeichen des Beifalls folgte stürmisch, und befriedigt erhob sich die Gesellschaft, um in heiterem Geplauder, in einem Spaziergange durch den jetzt schön illuminirten Park neue Freude zu suchen.

Der Zufall fügte es, daß Luise von Göchhausen in einem rosefarbenen Domino ihren kleinen Oheim, den Oberkämmerer von Göchhausen, erkannte. Da sie den alten Herrn seit einiger Zeit nicht besucht hatte und sich in ihrem Gewissen diese Vernachlässigung ihres einzigen Verwandten vorwarf, nahm sie seinen Arm und schlenderte mit ihm eine Allee hinunter.

„Wie befindet sich mein hochverehrter Onkel?“ fragte sie scheinbar mit großer Theilnahme.

„Ich hoffe bald der Sorge für meine Gesundheit gänzlich überhoben zu sein, chère nièce, entgegnete der alte Herr mit freudig bewegtem Tone.

Derartig hatte sich der stets besorgte Mann noch nie geäußert, und Luise sah ihn erstaunt aus ihrer Florbrille an.

Er trug die rosa Kapuze seines Dominos über den Kopf geschlagen, das saubere alte Gesicht sah in Heiterkeit strahlend darunter hervor, und die fahlen Augen gewannen einen lebendigen Ausdruck unter der schwarzen Halbmaske. Welch ein Glücksfall war dem alten Herrn widerfahren? Sie konnte sich nicht versagen, ihre neugierig theilnehmende Erkundigung fortzusetzen.

(Fortsetzung folgt.)

[648]

W. Heimburg.

Seit mehreren Jahren bereits gehört Wilhelmine Heimburg zu den Lieblingsautoren des lesenden Publicums, namentlich der Frauenwelt. In ihrer schlichten, aber von echtem poetischem Geiste durchwehten Erzählungsweise hat sie eine Reihe feinempfundener Novellen geschrieben, welche sich weit über das Niveau dessen emporheben, was unsere productionslustige Zeit hervorbringt, um ein kurzes, ganz unberechtigtes Dasein zu führen. Wie es wohlthuend berührt, wenn wir in einer Gemeinschaft von so und soviel ungebildeten, halbgebildeten oder verbildeten Menschen einer feinen, wahren, harmonisch entwickelten Natur begegnen, so empfindet der Literaturfreund ein ähnliches Gefühl des Behagens, trifft er auf Bücher, die einem liebenswürdigen Charakter zu vergleichen sind. Und liebenswürdig sind sie alle die Novellen, mit denen W. Heimburg uns beschenkt hat, liebenswürdig wie man sie selten findet in unserer nach Sensation und greller Abwechselung strebenden Zeit; frei von jedem Flitter modernen Aufputzes, voll Poesie, voll Einfachheit, Frische und Ursprünglichkeit. Die Stärke der Dichterin liegt nicht in der Composition, nicht im Ausmalen äußerlicher Conflicte, sensationeller Scenen und Situationen, – sondern die Bedeutung ihres großen Talentes wurzelt in der Innigkeit, in der frauenhaften Gemüthstiefe, mit der sie Seelenkämpfe und Herzensgeschichten lebenswahr und schlicht zu erzählen versteht.

Die Ausmalung des Frauencharakters ist ihre Force, wenn man so sagen darf. Sei es das junge innige Mädchen oder die alte treue Dienerin, sei es die kokette Salondame oder die Hausfrau von altem Schrot und Korn, immer stehen uns diese Gestalten in klaren Umrissen vor Augen, fein gezeichnet bis auf die kleinsten Züge, und immer schwebt über diesen tiefempfundenen Schilderungen der Hauch echter Poesie, fesseln uns hier und da schwermüthige an das deutsche Volkslied gemahnende Verse, wie denn überhaupt die Erzählungen, selbst in den glücklichsten Situationen, von einem Aeolsharfenton leiser Trauer und inniger Schwermuth durchzittert sind.

W. Heimburg.
Nach einer Photographie von Fritz Bornträger in Wiesbaden, für die „Gartenlaube“ auf Holz gezeichnet von R. Huthsteiner.

Wilhelmine Heimburg, ihr wahrer Name ist Bertha Behrens, wurde zu Thale am Harz geboren, wo der Vater als praktischer Arzt lebte, nachdem er ein Jahr zuvor daselbst seinen jungen Hausstand begründet hatte mit einer blauäugigen lieblichen Försterstochter, die er als Student auf einer Ferienreise kennen gelernt – die kleine Bertha war das erste Kind, das dem jungen Paare geschenkt wurde an einem köstlichen Septembertage. Durch die geöffneten Fenster rauschte die Bode ein Wiegenlied, flüsterte der Wald seine Grüße, und unter der Dorflinde sangen im Mondschein die Bursche und Mädchen beim Flachshecheln alte Volkslieder des Harzes.

Wie oft hat die Mutter das dem Kinde erzählen müssen!

Und an der Wiege saß eine Großmutter, wie es keine bessere wieder gegeben hat! – Das großelterliche Haus wurde denn auch, als der Vater zwei Jahre später, nach der Geburt eines Sohnes, Thale verließ und nach dem benachbarten Quedlinburg übersiedelte, um sich der militär-ärztlichen Carrière zu widmen, der Wohnsitz aller Jugendherrlichkeit. So oft als thunlich holte sich die Großmutter ihre kleine Enkelin, und dort, am Fuße des Roßtrappefelsens, trieb das Kind seine Spiele in sonnigen Sommertagen, im Walde und am Ufer der Bode. Und wenn die Herbststürme über die Berge tobten, der Regen gegen die Fenster des traulichen Forsthauses schlug und der Wald rauschte wie ein brandendes Meer, dann saß es sich herrlich im warmen Stübchen zu den Füßen der Großmutter, die so köstlich erzählen konnte. Wunderbar verwob sich Wirklichkeit und Dichtung vor den Augen des Kindes, da sprachen die Bäume und das Wasser, da gab es Elfen und Kobolde, und der wilde Jäger zog in den Sturmnächten über das einsame Haus, daß sich das Kind erschreckt an die Erzählerin schmiegte.

Dann kamen die Lehrjahre. Das Kind ward früh in die finstere Schulstube gesperrt, „weil es so gar viel fragte“. – Mit vier Jahren las sie schon, eine Musterschülerin ist aber nicht aus ihr geworden. Sie war beständig zerstreut, dachte an viel schönere Dinge, als der Lehrer sie vortrug, und vom Rechnen ist nie eine Spur in dem blonden Kopfe haften geblieben, es war neben dem schrecklichen Strickstrumpf das Verhaßteste, was es gab. Die einzigen Unterrichtsfächer, denen sie Geschmack, aber auch viel Geschmack, abgewann, waren: Deutsche Sprache und Literaturgeschichte. Nach der Confirmation hörte das Lernen leider noch immer nicht auf; die Privatstunden nahmen ihren Fortgang, und der Glanzpunkt derselben ist die Malstunde bei einem tüchtigen Landschafter. Das junge Mädchen besitzt keine Spur von Talent, statt dessen macht sie Unsinn, und die ganze Gesellschaft der Mitschülerinnen und Freundinnen lacht; der Herr Lehrer will ernst bleiben, aber vergeblich! Er setzt sich an ihren Platz, bringt die verunglückte „Studie“ in Ordnung und sagt: „Na, lachen Sie nur, Kind, lachen Sie nur!“

[649]

Erwischt.
Nach dem Oelgemälde von C. Raupp.

[650] Jetzt ist auch die Zeit der Jugendfreundschaften gekommen; es werden viel Gedichte gelesen, Tagebücher geführt und ewige Treue gelobt. Mutter und Großmutter aber sorgen, daß Waschen, Kochen und Plätten erlernt wird, und Großmutter spricht sogar vom Heirathen und erzählt von ihrer Jugendzeit, und wie der Großvater sie zuerst geküßt.

Eine Reise nach Arnstadt in Thüringen zu der Großmutter väterlicherseits ist ein Ereigniß. Das junge Mädchen hat „Goldelse“ gelesen, und nun promenirt sie stundenlang vor E. Marlitt’s Fenstern, ohne je die gefeierte Schriftstellerin zu erblicken; sie begegnet Willibald Alexis, der in seinem Rollstuhle an ihr vorübergefahren wird, und beginnt mit wahrer Begeisterung dessen vaterländische Romane zu lesen.

Im Jahre 1868 wird der Vater nach Glogau in Schlesien versetzt. Es ist ein schwerer Abschied von dem großelterlichen Hause, von den betrübten Freundinnen und der schönen, schönen Heimath.

In der kleinen Festung sieht sich die Familie sogleich in reges Gesellschaftstreiben hineingezogen. „Tanzen“ ist die Losung während der nächsten Jahre. Aber nun kommen ernstere Zeiten für das junge Mädchen. Vater und Bruder zogen mit in den Krieg nach Frankreich, und ein schweres Jahr mußte durchlebt werden, ehe die Sonne wieder heller strahlte. Beide kehrten glücklich heim, der Bruder, nunmehr Officier, stand ebenfalls in Glogau. Zwei Jahre blieb man dort noch beisammen, dann erfolgte die Versetzung nach Salzwedel in der Altmark; der Bruder ging nach Thorn.

Salzwedel, ein kleines Landstädtchen, machte auf das junge Mädchen zuerst einen trostlosen Eindruck; sie gesteht, sich in den ersten Monaten dort grenzenlos unglücklich gefühlt zu haben. Erst nach und nach lernte sie den stillen Zauber verstehen, der sich über die Mark breitet, über die weiten grünen Felder, die köstlichen Eichenwälder und über das kleine Städtchen mit dem schiefen Kirchthurm, den alterthümlichen Backsteinthoren und den alten Wällen und Mauern. Ruhig floß das Leben dahin, zumal am Krankenbette der Mutter. In jenen Stunden, da sie wachend im Nebenzimmer saß, ergriff das junge Mädchen zum erstenmale die Feder, und unter dem Weihnachtsbaum 1875 lag, anstatt einer langweiligen Kreuzsticharbeit, ein kleines beschriebenes Heft auf dem Platze des Vaters, betitelt: „Melanie, eine Novelle“.

Der gestrenge Papa soll sich sehr darüber gefreut haben. Er ließ es auch nicht fehlen an Aufmunterung zum Weiterarbeiten und sandte jenen ersten Versuch einer Zeitschrift zu, allerdings unter dem Protest der jungen Autorin. „Paß auf,“ behauptete sie, „man wird schreiben: stricken Sie lieber Strümpfe!“

Aber sie irrte sich; die Novelle wurde freundlich aufgenommen und erschien in der „Victoria“ bei Franz Ebhardt, der das große Talent sofort erkannt hatte.

Im Herbste desselben Jahres erkrankte das junge Mädchen schwer; noch in der Reconvalescenz schrieb sie das Buch, welches bestimmt war, sie in die Gunst des Publicums einzuführen und in allen Kreisen beliebt zu machen: „Aus dem Leben meiner alten Freundin“.

Der Vater schickte das Manuscript zuerst an die „Gartenlaube“. Es kam aber als nicht geeignet für ein Blatt, welches von acht zu acht Tagen erscheine, wieder zurück und wurde nun im Feuilleton der „Magdeburger Zeitung“ abgedruckt, später als Buch im Verlage von A. u. R. Faber. Die einfache Erzählung machte gradezu Aufsehen, und eines Tages erhielt die beglückte Verfasserin einen Brief von Ernst Keil, worin er ihr schrieb, daß er leider – damals zur Cur in Karlsbad – die reizende Erzählung nicht selbst gelesen, er würde sie sonst nie aus der Hand gelassen haben; daß er tief davon ergriffen sei und die Autorin ein für allemal bitte, Mitarbeiterin an der „Gartenlaube“ zu werden! Er nannte „die alte Freundin“ ein Buch voll süßberauschenden Reizes, voll stimmungsvoller Wehmuth, und fügte hinzu: „das darf Ihnen der Mann sagen, der Tausende von Manuscripten, und darunter manches Vortreffliche gelesen und der morgen die letzte Nummer des ersten Vierteljahrhunderts seiner Zeitschrift zusammenstellt!“ –

„Das war die schönste Stunde meines Lebens!“ sagte Wilhelmine Heimburg, als sie den Brief gelesen. Leider ist es ihr nicht vergönnt gewesen, Ernst Keil von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen.

So aufgemuntert schrieb sie in den folgenden Jahren die Erzählungen: „Lumpenmüllers Lieschen“, „Kloster Wendhusen“, „Ihr einziger Bruder“. Dazwischen jene kleinen stimmungsvollen Novellen, die in einem Bande vereinigt als „Waldblumen“ erschienen sind.

Im Jahre 1879 lernte sie Theodor Storm kennen, für den sie seit langer Zeit eine verehrungsvolle Schwärmerei hegte.

Die Mutter, Schwägerin und sie wollten nach Wyk ins Seebad reisen, mußten aber in Husum übernachten, weil das Dampfboot erst am andern Mittag abging. Verschiedentlich lenkte das junge Mädchen ihre Schritte in die enge Gasse, wo das Haus des Dichters stand, aber vor Herzklopfen vermochte sie nicht einzutreten; sie kam immer wieder unverrichteter Sache in das Hotel zurück und fuhr auch richtig ab, ohne Storm gesehen zu haben. Auf der Ueberfahrt nach Wyk lernte sie eine Verwandte des Dichters kennen und diese vermittelte eine Unterredung mit dem gefeierten Autor. Er nahm die junge Schriftstellerin sehr freundlich auf. Eine Erinnerung, auf die W. Heimburg stolz ist; und sorgsam wird der Brief des Dichters aufbewahrt, in dem er sich lobend über „Die alte Freundin“ ausspricht.

Im Jahre 1880 wurde der Vater nach Frankfurt am Main versetzt. Von dem stillen Salzwedel wurde ihr der Abschied schwerer, als sie es für möglich gehalten. Der Dichterin wollte es überdies in Frankfurt nicht behagen. Während der kurzen Zeit ihres dortigen Aufenthaltes flüchtete sie aus der „überheizten“ Atmosphäre, wie sie die Frankfurter Luft nannte, in die Schweiz oder an den Rhein. Die große Stadt mit ihrem hundertfältigen Lärm und Trubel lähmte sie völlig, Arbeiten am Schreibtisch schien ihr unmöglich; wie konnte ihr die nöthige innere und äußere Ruhe kommen in jenem Menschengewirr und gesellschaftlichen Treiben, bei den Spaziergängen auf überfüllten Promenaden!

Bald siedelte die Familie nach Arnstadt über, wo Verwandte derselben leben. Aber hier gefiel es beiden Eltern durchaus nicht. So kam man auf den Gedanken, es mit Dresdens Umgebung zu versuchen, mit Kötzschenbroda, wo die Großstadt und ihre Genüsse sich mit der Stille des Landlebens einen. In Kötzschenbroda schrieb sie ihre reizende Erzählung „Ein armes Mädchen“, welche ebenfalls in der „Gartenlaube“ erschien und ihren Ruf als liebenswürdige und fesselnde Erzählerin noch fester gründete.

Möge die Feder W. Heimburg’s uns noch viele jener Erzählungen bringen, die nichts anderes scheinen wollen, als was sie sind: einfache Herzensgeschichten, voll echter Weiblichkeit und ursprünglichen Zaubers, fern von jeder Launenhaftigkeit und Excentricität. Wir werden ihr gern und willig folgen. B. R.     


Vom Herd der Seuche.[2]

Schon lange wußte man, daß der Feind verkappt durch die Provinzen schlich, aber wie um ihn zu versöhnen, gab man ihm gute Worte, nannte ihn mit freundlicheren Namen wie Gastritis, Kolik, Cholerine.

Wir Badegäste von Spezia und seinen Umgebungen zählten staunend die Quarantäneschiffe aus Marseille und Toulon, die seit Juni zu vielen Dutzenden in unseren Golf einliefen und gegen die die Bürgerschaft von Spezia vergebens demonstrirt hatte. Hier und da verlautete schon von einem Todesfall, aber die Kunde wurde immer schleunigst dementirt. Freilich, wenn man sich alsdann an Ort und Stelle begab, konnte man ein Haus von Militär umstellt sehen und erfahren, daß seine sämmtlichen Bewohner als choleraverdächtig in die Festung abgeführt seien, aber der Kranke war nichts destoweniger an einer Indigestion oder an den Folgen der Trunksucht gestorben. Einen Einwohner von Spezia nach der Cholera fragen, hieß ihn geradezu beleidigen. Die Bürgerschaft, die für dieses Jahr die Fremdensaison ruinirt sah, aber doch noch immer auf einen Aufschwung hoffte, wetteiferte mit den Behörden im Vertuschen. Doch ließ man es nicht an Vorkehrungen fehlen, das Carbol floß buchstäblich in den Gassen, und im Uebereifer riß man das alte Pflaster auf, eine Maßregel, die vielleicht den schweren Ausbruch vom 22. August befördern half. Auch unser kleines San Terenzo wollte das Seinige thun und zündete jeden Abend große Feuer an, von denen sich ein dichter mit Desinfectionsstoffen geschwängerter Rauch halbe Stunden lang beklemmend über die Ortschaft lagerte.

Für uns Badegäste war die Cholera zunächst nur ein pikanter Unterhaltungsstoff, der dem Müßiggang des Landlebens Würze gab. Man tanzte, als stehe der Weltuntergang vor der Thür. Feste wurden veranstaltet, [651] Regatten und Feuerwerk, eine muntere glänzende Gesellschaft drängte sich auf der sandigen Marina, die Etablissements von San Terenzo waren jeden Abend mit bunten Lampen erhellt, und wie ein Echo unserer Feste trug uns die Welle die fernen Walzertöne von den „Bagnetti“ von Lerici herüber, die wie ein erleuchtetes Feenschloß in den Wassern lagen und ihre Lichter weithin im Meere spiegelten. Aber drohend blickten die schwarzen Kolosse der Quarantäneschiffe zwischen der Palmaria und Portovenere wie ein Memento mori in unsere Feste hinein.

Täglich versicherte uns die Presse, daß wir uns noch niemals einer so blühenden Gesundheit erfreut hätten – und das zu einer Zeit, als die Citta di Napoli, die vor dem Varignano lag, wie Augenzeugen später erzählten, schon bis zu fünfzehn Erkrankungsfällen im Tag zählte. So oft hinter dem Lazareth auf dem Varignano Rauch aufstieg, sah man sich bedeutungsvoll an, denn es war von „wohlunterrichteter Seite“ versichert worden, daß dort die Leichen der in Quarantäne Gestorbenen verbrannt würden; da aber die officiellen Bulletins schwiegen, blieb bis Ende August alles ruhig.

Plötzlich veränderte sich jedoch das Bild. Auf eine mehrtägige drückende Schwüle folgten zwei Gewitter mit kurzem, aber heftigem Regen, daß das Wasser in Lachen stehen blieb, und es wurde herbstlich kalt.

„Nun wird der Wurm im Süßwasser ertrunken sein,“ meinte zwar das Volk, aber ein plötzliches Zittern ging durch die Gemüther, eine Traurigkeit wie vor einer nahenden Gefahr. Von allen Seiten hörte man Klagen über plötzliches Unwohlsein.

„Wer sich fürchtet, stirbt zuerst,“ sagte mir ein neapolitanischer Matrose und machte sichtliche Anstrengungen, sich nicht zu fürchten, indem er sein Hufeisen an der Uhrkette zur Abwehr gegen jegliche Ansteckung vorkehrte. Mit Befriedigung horchte das Volk auf den unablässigen Kanonendonner von den Forts, denn es herrscht hier der Glaube, daß man gegen die Seuche mit Pulver und Blei zu Felde ziehen könne. Aber noch wußte man nicht, was in Spezia geschehen war.

Als ich am Morgen des 23. August beim Thee saß, trat meine Wirthin ein und sagte besorgt: „Wie kommt es, daß heute früh das Dampfboot nach Spezia nicht abgegangen ist?“

Als ich zur Antwort gab, es werde wohl noch nicht an der Zeit sein, stimmte sie mir so eifrig und mit so diplomatischem Gesicht bei, daß ich sofort mißtrauisch wurde. Auf der Straße standen die Arsenalarbeiter, die vergeblich auf das Dampfboot von Lerici gewartet hatten, das sie nach Spezia bringen sollte. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten geheimnißvoll. Mir versicherten sie natürlich einstimmig, daß das Boot nicht fahren könne, weil die Maschine verdorben sei.

Nur durch List konnte ich hoffen, die Wahrheit zu erfahren, deshalb trat ich zu einer Gruppe junger Leute und fragte:

„Sollten denn die Nachrichten wahr sein, die ich erhalten habe?“

Nun erfuhr ich, daß die Krankheit mit Heftigkeit in Spezia ausgebrochen, die Stadt cernirt, die Schifffahrt eingestellt, Arsenal und Fabrik geschlossen seien.

Ich trat in die Apotheke, wo ich die ganze Badegesellschaft beisammen fand. Man berathschlagte, was zu thun sei, und kam überein, ruhig an Ort und Stelle zu bleiben, bis uns die Gefahr drohe, auf dem Landweg abgeschnitten zu werden.

Aber Mittags, als ich mich eben zu Tisch setzen wollte, kam ein Bekannter hereingestürmt mit der Nachricht, die Sanitätscommission von Sarzana habe beschlossen, auf der Magrabrücke eine Sperre gegen Lerici und San Terenzo zu errichten, die sofort in Kraft treten solle. Wenn ich mich zu augenblicklicher Abreise entschließe, so könne er mir bei einer aus Lerici flüchtenden Familie einen Platz im Wagen verschaffen, denn es bleibe mir gerade noch Zeit, mit dem Zug, der um zwei Uhr von Sarzana abgeht, nach Florenz zu entkommen, ehe die ganze Bahnstrecke geschlossen werde.

Während wir noch unterhandelten, rief uns ein jammervolles Geschrei von der Marina her an’s Fenster. Ein Nachen war angekommen mit einem jungen Mann an Bord, der Tags zuvor nach Spezia gefahren war und jetzt zu seiner Familie nach San Terenzo zurückkehren wollte. Die Mutter, eine Wittwe, die vor kurzem ihren Mann verloren hatte, stand in ihren Trauerkleidern auf der Landungsbrücke, um den Sohn zu umarmen, und wurde dort von den Carabinieri festgehalten, die dem Boot die Landung wehrten.

Alles Volk war zusammengerannt, die Weiber weinten und schrieen mit der Mutter, während das Boot sich mit langsamen Ruderschlägen vom Ufer entfernte. Da raffte die Frau sich plötzlich auf, eilte nach der zweiten Brücke, rief das Boot zurück und stieg selber an Bord, von der jammernden Tochter vergeblich zurückgehalten, um sich mit dem Sohn in der verpesteten Stadt einschließen zu lassen.

Dieser Anblick bestimmte meinen Entschluß. Ich warf die wichtigsten meiner Effecten in den Koffer, und begleitet von der Trägerin des Gepäcks und meinem alten Freund, dem Schiffer Giacomo, eilte ich die steile Höhe des Solaro hinauf, auf die jetzt die Augustsonne in voller Mittagsgluth niederbrannte. Oben erfuhr ich, daß der Cordon bereits gezogen und der Wagen, welcher mich mitnehmen sollte, mit Hinterlassung alles Gepäcks in wilder Hast abgefahren sei. Auf gut Glück gingen wir auf dem Weg nach Sarzana weiter, in der Hoffnung, dem leeren Wagen vielleicht auf dem Rückweg zu begegnen.

Am Canale del Guercio stieß ich auf einen Grenzwächter, der mir eine amtliche Verfügung vorlas, wonach es noch den ganzen Tag über möglich sein sollte, von San Terenzo her die Magrabrücke gegen Vorweisung eines Gesundheits-Certificats von dem Syndikus von Lerici zu passiren. Ich begriff sofort, daß es zu spät sei, mir einen solchen Schein zu verschaffen, denn bis ich nach San Lorenzo zurückgekehrt, von dort nach Lerici übergefahren war und von der Behörde mein Attest erhalten hatte, war der Zug von Sarzana längst abgegangen und die Station vielleicht bereits geschlossen, wie es in Wahrheit später geschah.

Während ich rathlos auf meinem Gepäck inmitten der Landstraße saß, zogen ganze Processionen flüchtender Bauernfamilien aus den benachbarten Ortschaften, wie Bagnola, Piteli etc. vorüber, die Weiber, mit riesigen Säcken voll Schiffszwieback auf dem Kopfe und die unvermeidlichen Knoblauchguirlanden über der Schulter (der Knoblauch gilt hierzuland für ein Schutzmittel gegen die Seuche). Alle flohen nach den Bergen, um sich dort in niederen Strohhütten mit ihrem Vieh zusammen zu sperren. Ich erfuhr nun, daß diese Auswanderung schon seit vielen Tagen dauerte und daß das Landvolk längst von Spezia her Unheil gewittert hatte, da es den amtlichen Versicherungen nicht traute. Es wurde erzählt, daß die Bauern in dem Gebirge von Lucca, die den Feind von Garsagnana her erwarteten, sogar auf eigene Faust gehandelt und ihre Straßen durch Holz, alte Möbel und Fässer verbarricadirt hätten.

Andere Flüchtlinge kamen von der Magrabrücke zurück, wo man ihnen den Durchgang verwehrt hatte, und stauten sich mit den Nachziehenden. Diese Leute konnte man alle mit ganz wissenschaftlicher Miene von dem „Insect des Signor Cocche“ (Koch) reden hören.

Endlich rumpelte eine viersitzige Vorväterkutsche den Solaro herauf, und ich erkannte Signor B., einen Bildhauer aus Carrara, der auf dem Bocke neben dem Kutscher saß. Als Herr B. meiner ansichtig wurde, ließ er sogleich halten und bot mir einen Platz im Wagen bei seiner Familie an. Er war so glücklich gewesen, sich zeitig ein Attest für sich und die Seinigen zu verschaffen, und hoffte auch mich durch den Posten auf der Magrabrücke durchzuschmuggeln. Wir zwängten uns, so gut wir konnten, zusammen, und mein Freund Giacomo, der mich nicht verlassen wollte, ehe er mich in Sicherheit wußte, kletterte mit seinem kranken Beine auf die Imperiale. Als wir uns der verhängnißvollen Brücke näherten, kroch Giacomo vom Wagen herunter, ging auf den Brigadier zu und wollte ihm mit seemännischer Offenheit den Fall auseinandersetzen. Herr B. aber, den die Nähe der Entscheidung plötzlich inspirirte, fuhr dazwischen, indem er den Soldaten zurief: „Haltet den Mann zurück! Hier hat Niemand zu passiren, als ich und meine Familie. Es ist wahr, daß ich ihm noch den Miethzins schuldig bin, aber jetzt habe ich keine Zeit zu verlieren.“

Giacomo stand völlig versteinert, der Brigadier, gleichfalls verblüfft über den vermeintlichen Zank, trat an den Wagen heran und besichtigte den Schein, der auf den Signor B. „con quattro persone di famiglia“ („mit vier Personen der Familie“) lautete.

„Hier sind außer Ihnen fünf Personen,“ sagte der Brigadier den Kopf hereinsteckend.

„Können Sie nicht lesen?“ rief Herr B. wie außer sich. „‚Quattro persone e la figlia‘ (‚Vier Personen und die Tochter‘) heißt es ja!“

Und ehe der Brigadiere Zeit hatte, sich über eine so auffallende Formel zu verwundern, rasselte der Wagen über die Magrabrücke – und wir waren auf dem Gebiete von Sarzana.

Auf dem Bahnhofe war der ganze Zug mit Flüchtlingen aus Spezia überfüllt, denn die Behörden hatten so alle Hände voll zu thun gehabt mit falschen Maßregeln, daß sie darüber die einzig richtige vergaßen, den Bahnhof von Spezia sogleich abzuschließen. Während man alle Ausgänge der inficirten Stadt zu Wasser und zu Lande schon am Morgen mit Truppen abgesperrt und sogar die noch gesunden Nachbarorte mit in den Cordon eingeschlossen hatte, war die Bahnlinie völlig frei geblieben. Die Flüchtlinge hatten den Bahnhof gestürmt und sich in den nächsten Zug gestürzt, gleichviel wohin es ging. Schon in der Nacht waren 480 Arbeiter, die man im Arsenale eingeschlossen hatte, ausgebrochen und hatten sich zum Theil zu Fuß in die angrenzenden Provinzen gerettet. Im Coupé traf ich unter den andern Flüchtlingen von Spezia die Schwester eines deutschen Dichters. Sie erzählte mir, daß sie Tags zuvor einen Mann vor ihrem Hause hatte zusammenstürzen und sterben sehen und daß die Leiche den ganzen Tag über in der Hitze auf der Straße liegen geblieben war. Ihre Reisegefährten bestätigten dies und sprachen von anderen ähnlichen Fällen. Als ein mitreisender Canonicus, der in Carrara mit einem Billete nach Pisa eingestiegen war, diese Unterhaltung hörte, zog er die Zipfel seiner Soutane fest um den Leib und empfahl sich auf der nächsten Station mit der Versicherung, am Ziele seiner Reise zu sein. In Pisa, wo der Wagenwechsel nach Florenz stattfindet, wollte mir ein kopfloser Schaffner den Austritt aus dem Coupé verwehren, weil ich mit „Verdächtigen“ zusammengesessen hätte. Nach langem Hin- und Herreden ersuchte ich ihn endlich, mich auf dem Perron Luft schöpfen zu lassen, worauf er bereitwilligst die Thür öffnete, und so entkam ich auf das nächste Geleise und gelangte in den Zug, der nach Florenz bestimmt war.

Auf jeder Station, die wir passirten, empfingen uns schweflige Dämpfe, ganz Italien schien an jenem Abende in ein einziges großes Desinfectionslocal verwandelt. Als wir zwischen den rebenumwundenen Olivenfeldern hinfuhren und die reine, dünne toscanische Luft einsogen, rief plötzlich einer von unseren Reisegefährten:

„Armes, schönes Land, wer weiß, ob wir dir nicht heute Abend den Todeskeim eingeschleppt haben!“

Mir wurde es eng um’s Herz, und ich mußte denken, daß die berüchtigte Cernirung von Nola, als in jener Stadt im Anfang dieses Jahrhunderts die orientalische Pest ausgebrochen war, eine weisere und menschlichere Maßregel gewesen sei, als unsere Scheinquarantäne.

Nun blieb uns nichts mehr zu überstehen, als die Durchräucherung auf dem Bahnhofe von Florenz, die schon auf der ganzen Fahrt die Phantasie der Passagiere beschäftigt hatte. Wir machten uns auf eine ganze Reihe unbequemer Proceduren gefaßt, erwarteten, wie eine delphische Priesterin auf betäubende Dämpfe gesetzt oder zum Mindesten mit Blasebälgen durchschwefelt zu werden wie ein Rebstock. Aber nichts von dem Allem geschah, wir wurden einfach durch Carabinieri in ein Local geführt, das stark mit Chlorkalk und Carbol parfümirt war. Ein allgemeines Gelächter brach aus. Viele wollten an der Thür stehen bleiben und sich die [652] Nase zuhalten, aber ein höflicher Carabiniere ersuchte die Herrschaften, gütigst näher hinzuzutreten und tiefer einzuathmen. Wenn auch diese Vorkehrung sich als Desinfection nicht sehr wirksam erweisen dürfte, so hatte sie doch das Gute, daß sie die niedergedrückten Passagiere zur Heiterkeit stimmte, was ja auch ein Schutzmittel gegen die Ansteckung sein soll.

Am Ausgange des Perrons wurden endlich die Reinen von den Unreinen gesondert, und wessen Billet den Stempel von Spezia trug, der wurde in einen geschlossenen Wagen gesetzt und, mit einem Carabiniere auf dem Bocke, durch die volkreichsten Straßen der Stadt nach dem Lazareth geführt.

Ich selber fand mich um neun Uhr Abends in Freiheit und stürzte mich mit den Meinigen, die seit einer Stunde vor dem Ausgange auf mich gewartet hatten, in den nächsten Fiaker wie ein Missethäter, der mit knapper Noth der Justiz entronnen ist. J. K.     


Blätter und Blüthen.

Zur neuen Reichstags-Wahlbewegung hat ein politischer Künstler uns mit einem Bilde (S. 641) überrascht, aus welchen man weit mehr heraus studiren kann, als man auf den ersten Anblick anzunehmen geneigt ist. Vor Allem ist seelischer Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gruppen, und damit muß ein Haupterforderniß guter Composition und Agitation als erreicht angenommen werden. Abermals sind nämlich die seltenen Tage angebrochen, wo der gemeine Mann zu staunen pflegt über die außerordentliche Freundlichkeit, mit welcher er plötzlich von verschiedenen Seiten her behandelt wird, von denen er dies sonst nicht gewöhnt ist. Wollen wir uns nicht mit freuen über das Lächeln und Schmunzeln des verblüfften Arbeiterhäufleins, dem zu Liebe ein gar feiner städtischer Herr den ersten besten Arbeitskarren als Rednerbühne benutzt für „das liebe treue Volk“? Und wie leutselig ist der andere vornehme Herr von behaglicher Aeußerlichkeit, der hier den beim kargen Mittagsbrod sizenden Tagelöhnern und ihren Weibern und Töchtern seine frommen politischen Ermahnungen vorträgt!

Der Redner auf dem Karren ist übrigens nicht schlecht versorgt, dem hinter ihm füllt ein Anderer das Glas aus dem Weinkrug, der doch wohl mitwirken soll, daß die Wahlrede nicht nur feuriger aus dem Munde des eifrigen Agitators heraus-, sondern auch geläufiger in die Ohren der erquickten Zuhörer hineingeht. Das gute Fortkommen des hohen Redners ist ebenfalls vorgesehen; wartet nicht auf der Brücke die stattliche Equipage, welche den Sieger des geflügelten Wortes in Triumphe weiter fährt, nachdem Programme und Wahlzettel glücklich in die Taschen der Arbeiter untergebracht sind? Nicht bedeutungslos scheint auch die thierische Zugabe um des versöhnenden Contrastes willen angebracht: linker Hand treibt ein Kind seine Enten in’s Wasser, und rechter Hand spielt der Karrenführer auf der Deichsel hockend mit seinem Hund auf des Gaules Kruppe. Beide sind offenbar unschuldig an Allem, was für die ohne Zweifel „volksfreundlichsten Parteien“ des künftigen Reichstags hier geleistet worden ist.


Erwischt. (Illustration S. 649.) Wir bitten den Leser, sich beim Anblick dieses Strandbildes kein Grauen anwandeln zu lassen, sondern aus den freudigen Gesichtern der beiden Kinder am Ufer die Beruhigung zu schöpfen, daß hier von keiner Lebensgefahr die Rede sein kann, weil dazu die Hauptsache fehlt: das Leben. Was da angeschwommen kommt und an das Ufer gespült wird, ist kein Kind; das schwere Köpfchen eines solchen wäre längst untergesunken; es ist der große Papiermachekopf einer stattlichen Puppe, die natürlich mit beweglichen Gliedmaßen und Augen, als vornehme Dame mit langem Schleppenkleide prangt. Und letzteres war ihr Glück, als sie in’s Wasser fiel, denn an dem nachwallenden Gewande konnte der kecke Junge sie mit dem Reisigstecken richtig erwischen, um sie an’s Land zu retten. Die Kinder werden sich schwerlich nach den Paragraphen 265 und 322 des Reichsstrafgesetzbuchs richten, welche die Strandungsangelegenheit ordnen, sondern nach der ihnen begreiflicheren Gewohnheit des alten Strandrechts verfahren und mit ihrer Freude den „Strand segnen“, wie einst dort der Pfarrer in den Stranddörfern von der Kanzel gethan.

Der Künstler des Bildes, nach welchem unsere Illustration hergestellt wurde, ist Karl Raupp in München, welcher sich durch seine Chiemseedarstellungen einen hochgeachteten Namen erwarb und den die „Gartenlaube“ schon seit zwanzig Jahren zu den Ihrigen zählt. Im Jahre 1864 brachten wir sein Bild „Der Kaisersoldat“, 1865 „Günther mit seiner Leonore auf dem Friedhof“, 1871 „Stürmische Heimfahrt auf dem Chiemsee“, 1876 den „Abschied vom Friedhof“, 1878 „Am Ammersee“, sämmtlich, wie alle seine Werke „mit der Landschaft zu einheitlicher Stimmung verbundene Genrebilder von breitem, flottem Vortrag und glänzendem Colorit.“

Raupp ist am 2. März 1837 in Darmstadt geboren, war 1856 bis 1858 Zögling des Städel’schen Instituts zu Frankfurt am Main und dann bis 1866 Schüler Piloty’s auf der Münchener Akademie. Nachdem er mehrere Jahre als Professor der Malerei an der Kunstschule zu Nürnberg thätig gewesen, kehrte er nach München zurück. Hier vollendete er unter Anderem seinen Antheil an den Illustrationen des Prachtwerkes „Aus deutschen Bergen“ (Wanderungen im Bayerischen Gebirg und Salzkammergut), mit Schilderungen von H. von Schmid und Stieler.


Zur Bekämpfung der Clavierseuche. In seinem überall mit Beifall aufgenommenen Artikel über die Clavierseuche (vgl. Nr. 35) hat Professor Hanslick einen Tonmoderateur erwähnt, der den Spieler in den Stand setzt, den Ton jedes Claviers beliebig abzudämpfen, sagt aber selbst, daß er ihn nicht genauer kennen gelernt. Vielleicht auch ist dieser Apparat nicht praktisch genug gewesen, um sich größere Geltung zu schaffen, wir erwähnen deshalb hier einer anderen Erfindung, von der wir Kenntniß erlangt haben.

In Dresden hat neuerdings die Pianofortefabrik Apollo unter Direction von Oscar Laffert eine Anregung zu einer Vervollkommnung dieser Idee gegeben: sie versieht ihre Pianinos mit einem Tonabdämpfungsapparat, dem sogenannten „stummen“ Zuge. Bei Anwendung dieses „stummen“ Zuges wird der Clavierton speciell für Uebungszwecke fast bis zur Unhörbarkeit abgedämpft. Im Princip ist die neue Einrichtung des Apollo-Pianinos nach dem früher bekannten sogenannten „Fagottzuge“ herausgebildet worden. Herr O. Laffert fand in dem alten Fagottzuge mit seinem Tuchstreifen, der sich zwischen die Saiten und die Hämmer legte, einen Anhalt für seine einfache Einrichtung, den Clavierton möglichst abzudämpfen. Mit einem nur einfachen Tuchstreifen ist es freilich nicht gethan. Dabei kommt eine zu geringe Dämpfung, eine nur sordinenartige Klangfarbe heraus, auch wird dabei der Einzelton nicht ganz rein angegeben, sondern es klingt ein störender Beiton (durch Berührung des Nebentons erzeugt) mit. Der „stumme“ Zug des Apollo-Pianinos giebt zunächst in einem wolligen Filzstoffe für jedes einzelne Saitenchor einen separaten Dämpfungslappen, der mit einer Intonirnadel nach der für Hammerköpfe gültigen Norm behandelt wird. Hinter diesem Separatlappen sind dann weitere Tuchstreifen von immer größerer Härte angebracht, um weitergehende Dämpfung des Tones zu bewirken. Will man den Ton noch mehr abdämpfen, so kann man sich des üblichen Pianozuges besonders bedienen. Dann erstirbt das Claviergetön in ein leises Flüstern, ebenso wohlthuend für den übenden Spieler wie für die Nebenwohnenden, die gar nicht mehr belästigt werden. Das Innenwerk des Claviers wird durch Anbringen des „stummen“ Zuges in keiner Weise verändert, auch die Spielart nicht beeinträchtigt. Der rücksichtsvolle Spieler schiebt, bevor er die Uebungen beginnt, den unter der Spiellade befindlichen Riegel, durch welchen der „stumme“ Zug gestellt wird, seitwärts und spielt geräuschlos, selbst aber jeden Ton genau hörend, ohne die Nachbarn im Geringsten zu stören. Noch ein Extravortheil ist für den Besitzer eines Pianinos mit dem Anbringen des „stummen“ Zuges verbunden: Saiten und Hämmer werden weit langsamer abgenutzt, als beim ungedämpften Clavierspielen, weil durch die dicken (mehrfachen) Tuchstreifen, die sich zwischen Saiten und Hämmer legen, die Reibungen unschädlicher werden.

Natürlich bietet die neue Apollo-Einrichtung nur den Anfang oder die Anregung zu technischen Vervollkommnungen. Intelligente Clavierfabrikanten werden noch Manches daran vervollständigen. Jedenfalls ist aber schon etwas damit gewonnen. Möge die Technik weiter auf der heilbringenden Bahn fortschreiten und dem allgemein empfundenen Uebel des Clavierlärms entgegenwirken!
Dresden. B. S.     


Auflösung des magischen Tableaus: „Die Schwalben“ in Nr. 38. Man zieht vorerst von jeder Schwalbe eine Senkrechte auf die mit Buchstaben bezeichneten Punkte an der Basis des Bogens, liest hierauf alle jene Senkrechten resp. die Buchstaben der Reihe nach von links nach rechts, welche auf die größten Schwalben gezogen sind, hierauf jene der 2., 3. und endlich der 4. der kleinsten Schwalben ab, wodurch der Satz entsteht: „Wir sehen uns wieder“.S. Atanas.     




[Inhaltsverzeichnis von Nr. 39/1884, hierher z. Zt. nicht übernommen.]



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

manicula Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.

Die Verlagshandlung.0



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Wir ergreifen mit Freude hier die Gelegenheit, noch einmal auf ein Werk unseres hochverehrten Mitarbeiters hinzuweisen, dessen Erfolg zwar ein bereits durch die Nothwendigkeit einer neuen Auflage bewährter, aber dem wahren Werthe desselben noch keineswegs voll entsprechender ist, denn Karl Biedermann’s Buch „1840 bis 1870. Dreißig Jahre deutscher Geschichte, vom Thronwechsel in Preußen 1840 bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums, nebst einem Rückblick auf die Zeit von 1815 bis 1840“ ist das einzige Werk unserer Literatur, welches von dieser Zeit gewaltigster innerer und äußerer Kämpfe und großartigster Ereignisse uns „ein wirklich gutes, wahrheitsvolles und glänzend geschriebenes Geschichtsbild“ darbietet. Wenn irgend Etwas geeignet ist, in unseren von politischen Parteikämpfen erregten Tagen Klarheit in die Köpfe und Wärme in die Herzen für die höchsten Güter unserer Nation zu bringen, so ist es die genaue Kenntniß des Menschenalters, das der Gründung des neuen deutschen Reichs vorherging; und wenn irgend ein Mann durch inneren und äußeren Beruf dazu befähigt war, ein solches Buch zu schreiben, so war es eben der Verfasser, der diese Zeit mit durchlebt und mit durchkämpft hat, – „der einst selbst um seiner charaktervollen Vortrags- und Schreibweise willen auf Jahre hinaus seine Professur (an der Universität Leipzig) verlor und dann im deutschen Parlament eine hervorragende Rolle spielte.“ „Dreißig Jahre“ sind ein deutsches Volksbuch, das in keinem deutschen Hause fehlen sollte. Karl Biedermann’s wohlgetroffenes Bildniß haben die Leser der „Gartenlaube“ im Jahrg. 1873, S. 579 erhalten, wo die „Führer der liberalen Abgeordneten in der Zweiten sächsischen Kammer“ dargestellt worden sind. Die Red. 
  2. Wir verdanken diese interessante und charakteristische Schilderung der Cholerapanik in Italien einer Freundin unseres Blattes, welche sich während dieses Sommers in Italien aufhielt und den Ausbruch der Seuche in dem Badeorte Spezia und dessen Umgebung miterlebte. D. Red.