Die Gartenlaube (1884)/Heft 38

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 38.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


„Fanfaro.“

Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Als der Abend dämmerte, legte der Philosophenhain sein Festgewand an. In den Bosquets von blühendem Jasmin, unter den Akazien glühten Lampions auf, das Borkenhaus, in welchem die Restauration sich befand, wurde mit Reihen von brennenden Lämpchen illuminirt, ein Zelt für die Musik war aufgeschlagen und mit Fahnen in den Farben Deutschlands, Preußens und des Herzogthums geschmückt. Bald schmetterten die Trompeten den Einzug der Gäste aus dem „Tanhäuser“.

Eine gewählte Gesellschaft füllte allmählich die breiten Lindengänge und nahm Platz unter den Gruppen von Silberpappeln, Edeltannen und Rotheichen, auf deren verschieden gefärbten Blättern das Licht der Lampen spielte, die auf den Tischen brannten. Kellner eilten geschäftig hin und her und trugen Limonade und Eis für die Damen, das gesellschaftsfähig gewordene Bier für die Herren auf.

Der Oberst des Ulanenregiments, eine stramme Gestalt mit rundem rothen Gesichte und klugen, etwas zugekniffenen Augen, ließ einen Feldherrnblick in die Runde gehen. Am Eingange erschien soeben der jetzige Rector Magnificus, ein namhafter Jurist, der durch seine Reden im norddeutschen Parlamente und im Reichstage die Rechtsverhältnisse des neuen Reiches hatte ordnen helfen.

Zu gleicher Zeit schritten die beiden stattlichen Herren auf einander zu und tauschten Gruß und Händedruck wie die Repräsentanten zweier Mächte, die sich alle Rücksicht erweisen, aber kein Titelchen ihrer Rechte vergeben wollen.

Dann faßte der Oberst seine jungen Officiere scharf in’s Auge. Unter den Kastanien dicht neben der Restauration schaarten sie sich eben zusammen, die Mützen keck auf das rechte Ohr gedrückt, die Schnurrbärte in den sonnenverbrannten Gesichtern lang ausgezwirbelt, mit Wespentaillen und an den Stiefeln hohe Hacken.

Ihr ungenirtes Geplauder schallte zu ihm herüber. „Wer war denn die abenteuerliche Dame, die allein im Felde herumstrich und vor Bartenstein in den Kahn retirirte? Kronheim, Sie müssen es wissen; Sie haben es mit angesehen.“

Kronheim, der hübsche schwarzbärtige Officier, der dem Reiterstücke so aufmerksam zugeschaut hatte, antwortete: „Sie würden gut thun, nicht zu laut zu sprechen. Die Dame gehört einer alten Professorenfamilie an.“

„Ich danke. Also nicht die Heroine vom Sommertheater?“

„Bewahre; die spielt heute.“

„Wie lange dauert denn der Zauber hier?“

„Um elf Uhr liegt Alles in den Federn; dann können wir immer noch das Souper der Truppe in der Theatertaverne mitmachen.“

Schalen mit duftenden Walderdbeeren, die vorüber getragen wurden, gaben dem Gespräche eine andere Wendung. „Bowle machen!“ riefen die jungen Helden wie aus einem Munde. „Sect her!“

Der herantretende Oberst vereitelte den fröhlichen Plan. „Wollen Sie hier einen Stammtisch gründen, meine Herren?“ fragte er ironisch. „Dort in der Laube sitzen die jungen Damen. Also vorwärts! wenn Sie sich auch einmal langweilen. Dafür sind Sie Officiere; das gehört zu den Pflichten Ihres Standes.“

Stumm machten die Herren „links schwenkt“. Die Säbel hochgehakt, gingen sie vorsichtig wie auf Eiern dem befohlenen Ziele zu; denn Säbelrasseln und Sporenklirren ist nicht mehr guter Ton.

Der Oberst spähte in die Laube hinein, die von Jelänger-jelieber übersponnen war, um dessen süß duftende Blüthen große graue Nachtfalter surrten. Junge Mädchen in lichten Sommertoiletten plauderten darin mit Studenten, die durch ihre dreifarbigen Bänder als Angehörige vornehmer Corps bezeichnet wurden. Sein Töchterchen fehlte in der jungen Schaar.

Dort spazierte der blonde rosige Backfisch mit einer Busenfreundin gleichen Alters durch einen dämmerigen Seitengang, und des Vaters feines Ohr vernahm: „Er ist durch den Fluß gesprengt, natürlich auf dem ‚Sturmvogel‘, dem Goldfuchs; denn dieses Kraftstück hätte keines von seinen anderen Pferden durchsetzen können. Die feinen Kunststücke, zum Beispiel, daß er die Casinotreppe hinauf reitet, führt er mit dem Mohrenschimmel, dem ‚Koh-i-noor‘ auf. Was für schöne Namen haben seine Pferde! Denke Dir: Papas neuer Brauner heißt Pomuchelskopp. Wie furchtbar!“

„Elsa!“ ries der Oberst, und ein energischer Wink wies sie in den Kreis, in dem ihre Mama saß. Er kehrte ebenfalls an den großen Mitteltisch zurück, um den sich verheirathete Officiere und Professoren mit ihren Frauen reihten.

Hier hatte auch die Stiftsdame Melanie von Seebergen Platz genommen. Das große Stufenjahr für die Jugend der Frau, das dreißigste, lag schon einige Zeit hinter ihr. Doch war sie eine der seltenen Erscheinungen, von denen das Alter sich um so bescheidener fern hält, je freundlicher es gebeten wird, näher zu [622] kommen. Das anziehende feine Gesicht mit dem matten Teint zeigte noch kein Fältchen, kein Silberfaden zog sich durch die lichtbraunen Scheitel, welche ein duftiges, mit Flieder geschmücktes Capotehütchen umschloß.

Mit einer kleinen Filetarbeit, einem Fliegennetze aus Purpurseide für Darling, beschäftigt, ließ sie das Gespräch an sich vorüber summen von Bonnen und Kleiderproben, Rennpferden und Vordermännern. Zuweilen klang auch ein interessantes Wort dazwischen.

„Nein, der Name Bartenstein ist nicht von den Barden der alten Germanen abzuleiten,“ erklärte der berühmte Mitarbeiter des Grimm’schen Wörterbuches einer jungen Amerikanerin, „und das t ist nicht alte Orthographie, sondern in seinem guten Recht. Barte heißt Beil, Streitaxt, und das Geschlecht hat gewiß zu allen Zeiten mehr vom Dreinschlagen gehalten, als vom Singen und Sagen.“

Stumm hörte Miß Smith ihm zu.

„Also von sehr altem Adel,“ flüsterte ihr ziemlich vernehmbar die Dame in’s Ohr, unter deren Schutz sie in der Gesellschaft erschien. Es war die Frau eines jungen Bankiers, die so viel Weiß, Roth und Schwarz für ihr Gesichtchen verwendete, daß sie den Spitznamen „die deutsche Fahne“ erhalten hatte.

Die Officiere lächelten über das Gespräch. Das ganze Regiment wußte, daß es für Miß Smith Sport war, einen Officier des siegreichen Kriegsheeres zu erobern, und daß sie speciell Bartenstein erkoren hatte.

Dann theilte an der andern Seite des Tisches ein viel genannter Aesthetiker mit: „Doctor Gerhard hat wieder eine scharfsinnige Abhandlung geschrieben: ‚Die Wahrheit über das Wesen der Liebe‘.“

„Ist er so erfahren in diesem Punkte?“ fragte der Oberst und blinzelte Melanie schelmisch an.

Sie lächelte gelassen. „Ich glaube, daß er die Liebe nur aus Büchern und Hörsälen kennt.“

Die Gemahlin des Obersten, eine Dame von vornehm reservirter Haltung und maßvoller Verbindlichkeit, kam weiteren Neckereien ihres Gatten zuvor. Sie sind befreundet mit ihm, Fräulein von Seebergen?“ fragte sie.

„Ja,“ antwortete Melanie. Der Verkehr mit der Jugend ist für uns alternde Frauen immer von hohem Werthe. Er erhält uns in Verbindung mit der heutigen Welt und schlägt eine geistige Brücke in die Zukunft.“

„Da kommt der Autor und wird uns gleich selbst von seinem neuesten Werke erzählen,“ sagte der Oberst. „Denn er rückt natürlich auf seinen ‚abonnirten Platz‘ los.“ So wurde der Stuhl neben Melanie bezeichnet, den Doctor Gerhard stets einzunehmen pflegte.

Die Stiftsdame wandte sich um. Da stand der junge Gelehrte vor ihr, tadellos gekleidet wie immer, die blonden Scheitel sorgfältig frisirt, einen Cylinder von neuester Façon in der Hand.

„Ich bin gespannt zu erfahren, ob ich mit Ihren Ansichten über die wahre Liebe übereinstimmen werde,“ redete Melanie ihn an.

In seine feinen blassen Züge trat ein Ausdruck von Pedanterie. „Nun, was verstehen Sie darunter?“ examinirte er, während er seinen „abonnirten Platz“ wirklich einnahm.

„Die Liebe zwischen zwei Menschen, die von Uranfang für einander bestimmt sind und einzig in ihrer Vereinigung Ruhe und Glück finden können,“ antwortete Melanie.

Er lachte überlegen. „Die veraltete Lehre von Eros und Anteros. Wie kann eine Dame sich zu derselben bekennen, die wie Sie auf der Höhe der Bildung steht und unsere modernen Schriftsteller liest?“

„Ich lese sie, aber ich lasse sie mir nicht zu nahe kommen,“ erwiderte Melanie. „Ich halte es mit den alten Dichtern, deren Worte die Seele beflügeln, während die Weisheit der neuen Schriftsteller sich uns wie ein Mühlstein um den Hals hängt.“

„Man muß die Wahrheit ertragen können, auch wenn sie schwer wie ein Mühlstein ist,“ sagte der Doctor großartig.

„Meine Herrschaften,“ rief der Oberst, jetzt streiten sich Herz und Verstand. Das ist höchst interessant,“ und er rückte seinen Stuhl herum.

Die Gesellschaft horchte auf. Die jungen Mädchen, welche mit Officieren und Studenten um das große Rosenrondell promenirten, blieben stehen.

„Die Forschungen der Wissenschaft haben ergeben,“ sprach Doctor Gerhard, „daß die Lehre von der einzigen wahren Liebe ein Hirngespinnst ist. Wir verlieben uns Alle ein Dutzendmal.“

Der Oberst lachte in seinen martialischen Schnauzbart. „Ob nicht immer solch ein solider Kauz sich gern für einen Don Juan ausgiebt!“

„Wie Flammen verlodern,“ fuhr Doctor Gerhard in seinem Vortrage fort, so erlischt die Liebe zu einem Individuum und entzündet sich auf’s Neue für ein anderes.“

„Sie meinen also,“ fragte Elsa, „daß jeder Herr sich in jede Dame verlieben kann? Wenn aber nun ein großer Altersunterschied vorhanden ist?“

Der Doctor sah sie verwirrt an.

„Zum Beispiel,“ erilärte sie. „Wenn Er schon eine Schwadron führt, und Sie soll durchaus noch die Selecta besuchen.“

„St!“ machte der Oberst.

Elsa spülte ihre Aufregung mit einem Glase Selterswasser und Himbeersaft hinunter. Der Doctor docirte, seinen tadellos gantirten Zeigefinger erhebend, weiter: „Einen bestimmten Geschmack hat natürlich jeder Mensch; aber diesem entspricht nicht nur ein Individuum, sondern Hunderte, die das Thema seiner Wünsche und Neigungen variiren. Man kann als erwiesen feststellen, daß die Gegensätze sich anziehen, um sich zu ergänzen. So werden ein Mann, dem die That näher steht, als der Gedanke, und ein Weib von feiner geistiger Organisation einander zustreben; andererseits wird der Denker eine praktische Frau suchen, wenn sie auch sonst das Capitol gerettet haben könnte.“

Melanie sah ihn mit sanften Mondscheinaugen an. „Das wäre also Ihr Fall.“

Er neigte zustimmend das Haupt. „Wir Männer der Wissenschaft suchen Ruhe, Behagen, eine warme Stube, ein gutes Diner. Geist brauchen unsere Frauen nicht; den haben wir selbst.“

Der Oberst fixirte lächelnd den jungen Gelehrten, dessen Brillengläser unverwandt auf Melanie’s sympathische Gestalt gerichtet waren:

„In der Theorie mögen Sie Recht haben. Aber solche Sätze erweisen sich stets als hinfällig, wenn man sie auf einen bestimmten Fall anwenden will.“

„Ich finde diese Auffassung sehr frivol,“ sagte die Frau des hochangesehenen Professors der Theologie, die einen groben Strumpf für eine Wohlthätigkeitsanstalt strickte. „Jede Ehe kann Gutes fördern, wenn die Gatten nur einig sind im Vertrauen auf den Herrn.“

Doctor Gerhard ließ sich auf keinen Streit mit ihr ein; denn die theologische und philosophische Facultät konnten sich nun einmal nicht mit einander verständigen.

Die Gattin eines Rittmeisters, eine ernste Westpreußin, sah ihn vorwurfsvoll an. „Und ich begreife nicht, wie man über seine heiligsten Gefühle so öffentlich sprechen kann.“

„Aber die Liebe ist ja das interessanteste Capitel im Leben,“ Lachte eine junge Wittwe, die bereits das dritte Jahr Trauer trug, weil schwarzer Krepp ihr gut stand. „Nur finde ich es komisch, daß man den Geschmack in ein System bringen will.“

„Der meinige richtet sich auf einen Großen, Schlanken, Brünetten, einen Reiter!“ verkündete Elsa.

Ihre Mutter schlug seufzend die Augen gen Himmel. Ermuthigt durch Elsa’s Vorgehen griffen auch die anderen jungen Mädchen begeistert in die Debatte ein. „Ich liebe blond!“ „Ach, blond oder schwarz, wenn ein Herr nur sonst nett ist.“ Da die Sache wissenschaftlich erörtert wurde, meinte man, daß man sich nicht zu geniren brauche.

Die jungen Herren dagegen lachten und schwiegen sich aus über die Richtung ihrer Neigungen.

Wie kann man nur so mißverstanden werden!“ rief Doctor Gerhard verzweiflungsvoll in das Gezwitscher über schlanke Gestalten, schöne Augen, weiße Zähne und Schnurrbärte hinein; aber seine Stimme verhallte ungehört.

Erst eine aufsteigende Raketengarbe machte der Erörterung ein Ende. Das Publicum wendete sich dem Feuerwerke zu, in dessen Lichtglanz lebende Bilder auftauchten, welche die verschiedenen Geschmacksrichtungen vorführten.

Ein Rudel durch einander prasselnder Schwärmer beleuchtete junge Mädchen, welche zum Zwecke besserer Aussicht, unterstützt [623] von Studenten, auf Stühle stiegen, und andere, denen die jungen Officiere eingefangene Glühwürmchen in die Locken setzten. Die besorgten mütterlichen Rufe: „Bella!“ „Stella!“ „Hedi!“ „Betty!“ wurden übertönt von dem Fauchen eines sich aufschwingenden Tourbillons, der den Lieutenant Kronheim zeigte, wie er mit kühnem Blicke Miß Smith beobachtete, welche ihrerseits die Augen unverwandt nach dem Eingange des Gartens gerichtet hatte.

Jetzt flammte bengalisches Feuer auf. Da trat plötzlich Bartenstein in den Lichtkreis und kam mit raschen elastischen Schritten heran. Einen Augenblick wandten sich Aller Augen ihm zu, als er zuerst mit unerschütterlichem Diensternste den Commandeur begrüßte und dann mit einem Augenblitze die Gesellschaft überflog und sich verneigte.

Selbst die gelassene Melanie ließ sich zu den Worten hinreißen: „Ein Wunderwerk von einem Manne! Unbändig schön und trotz der großen Schönheit interessant.“

Gerhard verbarg ein leichtes Gähnen.

Melanie bemerkte es nicht. Sie saß still wie ein Naturforscher, der das Spiel der Falter um die gefährliche Flamme beobachten will. Im Schein einer Schaar Leuchtkugeln, die, von Fallschirmchen getragen, in der Luft hängen blieben, sah sie, wie die Brillanten in den Ohren und am Chemisette von Miß Smith zu funkeln und Strahlen zu schießen begannen, wie Elsa keine Ruhe auf dem Stuhle hatte, aber von dem lachenden Vater am dicken blonden Zopfe festgehalten wurde, und wie Bartenstein, der allein stand, seine Augen gespannt, forschend von einer Gruppe zur andern gehen ließ.

„Wen er nur sucht?“ sagte sie.

„Die wahre Liebe,“ lachte ironisch der junge Gelehrte.

„Spotten Sie nur,“ antwortete Melanie. „Ich bin überzeugt, daß das Thema seiner Neigung nicht Hunderte variiren, sondern daß er die Sehnsucht nach einem großen Herzensschicksale, nach einer wahren Liebe in sich trägt.“

Gerhard wurde gereizt. „Sie sehen ihn in viel zu poetischem Lichte. Wir modernen Männer erwarten die Liebe nicht wie ein Wunder. Ein Lebemann wie Bartenstein nimmt dieselbe als eine Zerstreuung hin, über die er nicht weiter reflectirt. Ein Philosoph,“ fuhr er hochmüthig fort, „findet sein Vergnügen darin, die Kunstgriffe zu durchschauen, zu belächeln, mit denen der große Zauberkünstler Weltwille ihn zu täuschen sucht. Ueber den Kopf wächst sie Beiden nicht.“

Melanie sah ihn mit sanftem Vorwurfe an. „Wenn die Menschen wirklich dächten und fühlten, wie sie sprechen, dann hätte Ereme Clusius Recht, daß sie sich von ihnen zurückzieht.“

Mit einer stürmischen Bewegung wandte Bartenstein sich zu ihnen. „Pardon,“ sagte er, „darf ich Sie bitten, noch einmal den Vornamen zu sagen? Ich habe sie nur die Clusia nennen hören.“

Die Ueberraschung ließ Melanie einen Augenblick verstummen; dann erwiderte sie: „Ereme, die Einsame. Ihr Vater nannte sie so, weil seine junge Frau, die er sehr geliebt hat, kurz nach der Geburt des einzigen Kindes, meiner lieben Freundin, starb.“

Bartenstein horchte auf. „Sie sind befreundet mit ihr?“

Melanie sah mit Staunen die lebhafte Spannung, welche sich in seinen Zügen spiegelte.

Eine Schaar junger Mädchen fluthete an Doctor Gerhard heran. „Herr Doctor, was versteht die Philosophie unter unglücklicher Liebe?“

„Wenn sie einseitig ist?“ fragte ein blasses Blondinchen, das den ganzen Abend nach dem Senior der Westfalen mit dem großen Schmiß im Gesichte gelugt hatte.

„Wenn es am Commißvermögen fehlt?“ forschten die mit den Glühwürmchen im Haare.

„Wenn Er Pech hat und durch das Examen fällt?“ seufzte eine langjährige Studentenbraut.

Ganz entsetzt sprang Gerhard auf, um Licht in diese Geistesnacht zu bringen.

„Erlauben Sie, Herr Doctor?“ fragte Bartenstein, den frei gewordenen Stuhl ergreifend. „Sie gestatten, gnädiges Fräulein?“

Der Doctor gab mit langem Gesichte seinen „abonnirten Platz“ preis, und Melanie gestattete dem Rittmeister, denselben einzunehmen.

An der andern Seite des Tisches avancirte Miß Smith, bis sie Bartenstein gegenüber saß. Dieser grüßte stumm und schob ganz unbefangen die Lampe, die in der Mitte des Tisches stand, so, daß ihr großer Schirm ihm wieder Deckung vor ihren Blicken bot.

Was mag er wollen? fragte sich Melanie.

Ziethen kam schneller aus dem Busche heraus, als sie dachte. „Warum sieht man Fräulein Clusius nie in der Gesellschaft?“ fragte er. „Die junge Dame verkriecht sich ja wie eine Eule im Winkel.“

„Diese Bezeichnung dürfte nur deshalb gestattet sein,“ suchte Melanie seine ungebundene Redeweise einzudämmen, „weil die Eule der Vogel der Pallas Athene ist, für welche Ereme eine große Vorliebe hegt.“

„Also hat die junge Dame gelehrte Schrullen?“ lachte Bartenstein erregt. „Nun, die wollen wir schon austreiben.“

Melanie sah ihn betroffen an. „Das klang ja ganz drohend.“

„Sie hat mich beleidigt,“ erwiderte er.

„Wie wäre das möglich?“ fragte Melanie. „Haben Sie Ereme kennen gelernt?“

„Nein; aber ihr Benehmen hat mir gezeigt, daß ihr die nöthige Achtung vor dem deutschen Soldaten fehlt,“ antwortete er mit sichtlicher Gereiztheit.

„Ereme lebt im Geiste ganz in der antiken Welt,“ entschuldigte sie die Freundin. „Ihr Vater wurde ‚der letzte Hellene‘ genannt.“

„So muß man ihren Geist nach Deutschland zurückführen, wohin er gehört,“ versetzte er mit Nachdruck.

„Sie wollen also einen kleinen Eroberungskrieg anfangen,“ versuchte Melanie die Sache scherzhaft zu wenden.

Aber er ging nicht auf den heiteren Ton ein. „Es ist kein Eroberungskrieg, wenn man dem Vaterlande wiedergewinnt, was ihm gehört, mag es eine alte Provinz sein oder ein junges Mädchen,“ entgegnete er starrköpfig.

„Es wird Ihnen nicht an Zeit fehlen, Ihren Feldzugsplan zu entwerfen,“ sagte Melanie heiter; „denn Sie werden so bald keine Gelegenheit finden, meine Freundin kennen zu lernen, wenn Ihnen nicht der Zufall zu Hülfe kommt.“

„Oder ich ihm,“ antwortete er zuversichtlich lachend und klopfte mit dem einen Sporn, dessen Rädchen durch verdächtiges Klirren anzeigte, daß es im Stifte gelockert sei, an das eiserne Stuhlbein.

Eine Rakete fuhr empor: die deutsche Kaiserkrone stand in Brillantfeuer strahlend gleich einem leuchtenden Sternbild in der Luft. Mit feierlichen Klängen stimmte die Musik das „Heil dir im Siegerkranz“ an.

Ein lang anhaltender Applaus folgte. Am begeistertsten schwenkte seinen Hut ein weißhaariger Professor im altdeutschen Rock mit kleinem Stehkragen und einer Knopfreihe. Es war ein ehemaliger Burschenschafter, der in der Jugend für das einige Deutschland geschwärmt, zur Zeit der Demagogenverfolgung im Gefängniß dafür gelitten hatte, nun aber als Greis der Erfüllung seines Jünglingstraumes zujubelte.

Dann packte das Musikcorps seine Instrumente ein und marschirte ab. Die Zuhörer brachen auf.

Die jungen Officiere schlugen eiligst den Weg nach dem Sommertheater ein, die Studenten zogen in ihre Kneipen. Langsam wandelnd verließ Gruppe auf Gruppe den Garten.

Als Melanie, in ihrer grauen Hülle wie eine Silbermotte schimmernd, gefolgt vom Diener des Stiftes, den Heimweg antrat, eilte der junge Philosoph ihr mit langen Schritten nach.

„Ob Doctor Gerhard wirklich diese reife Schönheit heimzuführen gedenkt?“ sagte die Frau des Rectors der Universität zu ihrem Gatten.

„O nein,“ entgegnete dieser hoheitsvoll. „Sie ist für ihn nur das Ohr, das seine noch nicht gehaltenen Vorlesungen aufnimmt.“

„Wer weiß, meine Herrschaften!“ flüsterte eine boshafte Stimme. „Wir leben im Zeitalter der Renaissance; da stehen alle Antiquitäten hoch im Preise.“ Das scharfe Profil des Physiologen verschwand in der Dunkelheit.

„Aber Papa!“ klagte Elsa und steckte ihre Hand zutraulich in den Arm des Obersten. „Herr von Bartenstein hat den ganzen Abend nur mit der Alten gesprochen.“

Der Oberst führte sein Töchterchen hinweg. „Liebes Kind, ich kann Bartenstein nicht befehlen, mit wem er sich unterhalten soll. Die Seebergen ist allerdings hoch in die neunundzwanzig; aber erstens sieht sie noch gut genug aus, und dann wissen solche Damen die Männer viel besser zu behandeln, viel mehr auf ihre [624] Interessen einzugehen als Ihr jungen Dinger, die Ihr immer Ritterdienste verlangt und dafür nichts seid als jung. Das ist wenig mit Liebe. Uebrigens habt Ihr Mädchen Euch nicht die Herren auszuwählen, die Euch gefallen, sondern abzuwarten, bis Ihr gewählt werdet. Das kannst Du Dir so gut hinter die Ohren schreiben wie der Goldfisch, den die ‚deutsche Fahne‘ ausführt. Sie saßen heute zusammen höllisch auf dem Trocknen. Am wenigsten läßt ein Bartenstein sich erobern. Das ist ein ganzer Mann. Und ich freue mich, daß dieser schneidige Officier als Einschub in unser Regiment gekommen ist. – So, nun geh in’s Bett, Kleine, und schlafe aus. Für heute hast Du Dummheiten genug gemacht.“

„Ja, damit stimme ich ganz überein,“ seufzte seine Gattin, während sie in die dämmerigen Promenadenwege hinausschritten.

Bartenstein ging allein nach Hause.

Der weiche Westwind trug den herben Duft vom Eichenwald in die engen Straßen; über den steilen Dächern spannte sich der Sternenhimmel aus. Das Leben der Stadt verstummte allmählich. Nur aus dem Keller, wo die Rhenanen einen Commers hielten, schallte: „Deutschlands Söhne, laut ertöne Euer Vaterlandsgesang!“ und von der Straße, in der der Oberst wohnte, klang der Schritt der ablösenden Wache herüber und das Commando; „Achtung!“

Als er am Universitätsplatz angelangt war, machte er Halt vor einem Hause, das dem Standbild des Kurfürsten gegenüber lag. Im Schein der einzeln brennenden Gaslaternen glänzte der goldene Name Clusius auf der Gedenktafel und das Kreuzchen, das seinen Todestag bezeichnete. Breite Steinstufen führten zu der Hausthür empor, an welcher ein blitzender Klopfer in Gestalt des dreiköpfigen Cerberus hing. Die Fenster im Parterre waren mit zierlichen Eisengittern verwahrt, alle aber erschienen mit ihren gleichförmig niedergelassenen Rouleaux wie streng geschlossene Augen. Kein Lichtschein schimmerte an der ganzen Fronte.

„Sie scheint mit den Hühnern in’s Bett zu gehen,“ murmelte Bartenstein vor sich hin, während er an dem Haus entlang schritt bis zur Ecke, die es bildete. In der Seitenstraße, die hier hinabführte, dämmerte Lichtschein. Er bog hinein und stand vor dem Hofthor des alten Hauses, dessen Steinpfeiler mit großen Kugeln gekrönt und dessen Flügel mit eisernen Stacheln bewehrt waren. „Wie eine Festung,“ murmelte Bartenstein. Aber an das Thor schloß sich eine Mauer, über die er bei seiner schlanken Höhe hinweg sehen konnte. Aus den Parterrefenstern des Seitenflügels, der sich in den Garten hinein zog, kam der Lichtschein. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, kein Eisengitter versperrte die Fenster.

„Echt kleinstaatlich und kleinstädtisch,“ dachte Bartenstein. „Vorn bis an die Zähne bewaffnet und befestigt und an der Rückseite Alles offen.“

Eine Dame glitt mit einer Leuchte in der Hand durch das Zimmer. Nein, sie ging nicht mit den Hühnern in’s Bett. Sie war noch ganz in Toilette.

Es kämpfte etwas in ihm. Er zögerte einen Augenblick; dann flüsterte er ungeduldig, als weise er einen Einwurf zurück: „Ach, was da!“ Noch einmal sah er sich rasch um. Im nächsten Augenblick sprang er geräuschlos über die Mauer hinweg.

Drüben blieb er stehen und recognoscirte mit scharfem Blick das Terrain. Er befand sich in einem kleinen fremdartig eingerichteten Garten. Bäumchen in Kübeln faßten symmetrisch vertheilt einen weiten glatten Kiesplatz ein. In seiner Mitte plätscherte ein Brunnen ebenfalls von Bäumen umgeben. Ein Streiflicht, das aus den erleuchtetem Fenstern fiel, zeigte ihr falbes Laub; aber es waren keine Weiden, sondern Oelbäune, wie er sie im südlichen Frankreich gesehen hatte. Sie überwölbten steinerne Bänke mit sehr steilen Lehnen. Und es roch überall wie Orangenblüthen. Ein Fenster des Gartensaales ihm gegenüber war geöffnet.

Dort stand Ereme und hob eine kleine Lampe, deren Form an die Mondsichel erinnerte, hoch empor. Das Licht fiel hell auf ihr Antlitz. Es war einer Gruppe von Palmen zugewendet, hinter der sich eine Statue halb verbarg. Die junge Dame, die er heut Nachmittag so bleich im Kahn gesehen hatte, konnte also auch rothe Wangen haben, der herb herabgezogene Mund verstand reizend zu lächeln, die Augen, deren geringschätziger Eisesblick selbst in der Erinnerung ihn empörte, waren befähigt, etwas ihr Liebes innig anzustrahlen! Und sie hatte eine brillante Figur! Der erhobene Arm, von dem der weite Aermel eines mit bunter Stickerei umsäumten, betroddelten griechischen Jäckchens zurückgefallen war, zeigte eine schön gerundete Form, der Gürtel, in Gestalt einer Spange umschloß eine schlanke Taille, und der Fuß, auf dessen türkischen goldstrotzenden Pantöffelchen das Licht der Lampe blitzte, war fein und schmal. Eine solche Toilette für das Haus konnte man sich gefallen lassen. Das sah auch nicht so großartig aus wie der in stolzem Faltenwurfe umgeschlungene weiße Plaid, in dem er sie am Flusse erblickt hatte.

Aber wen stellte die verteufelte Figur dar, die sie so verliebt anschaute? Wenn doch die verdammte Lampe hell brennte! Freilich, was konnte man von einem Beleuchtungsapparat verlangen, der gewiß schon vor zwei Jahrtausenden gebraucht worden war! Das schien das einzig annehmbare Alter hier zu sein. Jetzt meinte er zu sehen, daß das Ding einen Helm auf dem Kopfe trug. War es einer der Helden des letzten Krieges? Was saß auf dem Helm? Ein Adler? Oder eine baierische Raupe? Himmelkreuzdonnerwetter!

War er laut geworden? Hatte er sich bewegt? Oder war ein Lüftchen durch das Fenster gefächelt? Das Lämpchen erlosch. Er hörte eine Thür sich schließen und zog sich wieder zurück.

(Fortsetzung folgt.)

Bilder von der Ostseeküste.

Ein Ausflug in’s Forstrevier Ibenhorst.0 Mit Illustrationen von Robert Aßmus.

Der nach Tilsit bestimmte Dampfer ließ am Bollwerke in Königsberg zum dritten Male die Glocke erschallen, die Dampfpfeife gellte, und schnell glitt er zwischen zahlreichen Fahrzeugen und Flößen munter den Pregel hinauf; bald war das alte Königsberg außer Sicht und immer stiller wurde es an den Ufern; wie herrlich frischte der Morgenwind auf, wie erquickte er Leib und Seele nach der wochenlangen Pein von 30° R. und dem ätzenden Staube der Residenz!

Nach mehrstündiger Fahrt war Forsthaus Ibenhorst erreicht, das heiß begehrte Ziel hoher und höchster Priester Dianens. Zum Verständnisse unserer Leser wollen wir zunächst erwähnen, daß auf dem preußischen Forstreviere Ibenhorst noch ein erheblicher Bestand an Elchwild vorhanden ist und gehegt wird, um dieses reckenhafte Wild vor seinem gänzlichen Untergange in Deutschland zu schützen, was es aus eigener Kraft nicht kann. Selbstverständlich steht auch der Abschuß der Hirsche unter strengster Controlle und wird als ein so erlesenes waidmännisches Vergnügen betrachtet, daß häufig die Prinzen des Berliner Hofes, in früherer Zeit auch König Wilhelm selbst, sich daran betheiligen, wie denn auch jüngst Prinz Wilhelm seinen fürstlichen Freund, den Kronprinzen Rudolf von Oesterreich, zu einer solchen Jagd für Mitte September eingeladen hat.

Das Elchwild, dessen historische Vergangenheit wir in Nr. 43 des Jahrg. 1881 geschildert, bietet eine interessante Parallele zu dem Alpensteinwild. Während im Südwesten von Mitteleuropa das letztere nur durch energischen Schutz von königlicher Hand vor der gänzlichen Ausrottung bewahrt werden kann, ist die Existenz des Elchwilds im Nordosten an dieselbe Bedingung geknüpft: entzieht nämlich der König von Italien den Steinböcken in den grajischen Alpen seinen Schutz, so werden sie ein ebenso baldiges Ende finden, wie die Elche in Ostpreußen, wenn der königliche Jagdherr ihnen sein Interesse versagt. Beide Wildarten erliegen der Cultur, dem Eigennutze des Menschen und unbezähmbarer Jagdlust, [625] letzterer besonders der Alpensteinbock, welcher in seinem unwirthlichen Heim auf den höchsten Graten starrer Gebirgszüge doch wahrlich die materiellen Interessen der Menschen nicht schädigt, wie es freilich das Elchwild thut, weshalb es nicht ohne Berechtigung angefeindet wird. Beide Wildarten haben ferner einen Feind im Aberglauben, nach welchem gewisse Theile von ihnen als medicinische Heilmittel früher in großem Rufe standen und mehr oder weniger noch stehen; die Erzbischöfe von Salzburg hielten ganze Reihen von Steinwildpräparaten in ihrer Apotheke auf Lager, verwertheten sie zu hohen Preisen und rieben dadurch das Steinwild fast bis zur Vernichtung auf, und noch heute werden in einem geistlichen Berliner Stifte Ibenhorster Elchwildhufe zu Pulver geraspelt und gegen die fallende Sucht angepriesen und verwandt.

Elchwild im Kampfe mit Wölfen.
Originalzeichnung von Friedrich Specht.

Betrachtet man die Gestalt des Elchwilds, so möchte man meinen, sie sei ein Gemisch verschiedenster Thiergestalten, ohne jedoch bestimmte Aehnlichkeit mit einer andern zu haben.

Steht man einer Elchkuh gegenüber (wir vermeiden hier absichtlich alle Jagdausdrücke), so erinnern Kopf und Gesichtsausdruck an ein Kameel, mit dem auch die Farbe sehr übereinstimmt; sieht man den Kopf im Profile, so meint man, ein kolossaler Esel stecke sein würdiges Haupt aus dem Busche; die Stellung der hohen Beine zum Rumpfe erinnert an ein Pferd; erblickt man nur den Rumpf, so ähnelt dessen Farbe täuschend einem Wildschweine; die Stellung der Hörner entspricht der eines Stiers, denn sie schwingen sich seitlich aufwärts. Mustert man aber eingehend das Thier in seiner Gesammterscheinung, so hat es mit keinem Aehnlichkeit, und der starke Hirsch mit seinem kolossalen Schaufelgeweih und dem mächtigen Kinnbarte ist ein Unicum, wohl geeignet zu imponiren und unter Umständen sogar Furcht einzuflößen, denn er steht über zwei Meter hoch auf seinen Hufen, kann eine Schwere von zehn Centnern, selbst darüber erlangen, und es giebt Geweihe, die bis sechszig Pfund wiegen. Es ist ein reckenhaftes Ueberbleibsel der Vergangenheit und paßt in unsere Verhältnisse wie etwa eine Rothhaut in eine europäische Residenz.

Wie die meisten reckenhaft angelegten Individuen der höheren Thierwelt, ist auch das Elch gewöhnlich friedfertig, und man kann ohne Scheu an einem starken Elchhirsche vorübergehen; wird es aber durch Gefahr oder Verwundung gereizt und bedrängt, sind die Hirsche zur Fortpflanzungszeit erregt oder haben die Kühe noch junge und hülflose Kälber, dann sind sie unberechenbar und eine Begegnung mit ihnen ist nicht unbedenklich. Eine Elchkuh mit dem Kalbe, welche nicht Neigung zeigt sich zu trollen, wird man kluger Weise in großem Bogen zu umgehen haben, und erlaubt das die Oertlichkeit nicht, so kehrt man am besten um. [626] Ehe man sich dessen versieht, stürmt sie zum Angriffe heran, und wehe Dem, auf welchen die langen scharfen Hufe herniederschlagen! Einem Forstaufseher zerstampfte eine solche Elchkuh den ihm werthen Hund in wenigen Augenblicken zu einer formlosen Masse. Der Verwalter des Ibenhorster Reviers, Oberförster Axt, fuhr einst im Revier auf einem beiderseitig von tiefen breiten Gräben begrenzten Wege, als plötzlich eine Elchkuh erschien, deren zurückgelegte Ohren nichts Gutes verhießen; der sofort bewirkte schnelle Trab der Pferde half nichts, denn die langen Beine des Elchs jenseit des Grabens schafften noch besser; Zuruf und Peitsche brachten die Pferde bald in langen Galopp – auch umsonst: das Elch galoppirte mit; die Gefahr wuchs bedenklich, denn nach kurzer Strecke mußte das Elch den Weg erreichen, da sprang der Lehrling während schnellster Fahrt vom Wagen und mit starkem Peitschenknalle dem boshaften Thiere entgegen: das half, es stutzte und trabte zu seinem Kalbe zurück.

Mondscheinnacht auf dem Kurischen Haff.

Wie schon angedeutet, bedient sich das Elch als äußerst wirksamer und gefährlicher Waffen seiner Vorderläufe, und nicht nur die Kuh, sondern auch der Hirsch, wenngleich dieser auch von seinem Geweih Gebrauch macht. In welcher Weise die Elche sich ihrer grimmigsten Feinde, der Wölfe entledigen, veranschaulicht das von Fr. Specht naturwahr gezeichnete Bild auf S. 625. Wüthend zerstampft die Kuh den am Boden liegenden hinterlistigen Angreifer, während dessen feiger Geselle vor den drohenden Geweihhieben des Hirsches Reißaus nimmt. Die schweren, mit sehr scharfen Kanten versehenen Hufe verursachen furchtbare Verwundungen, und noch nach dem Tode des Gegners trampelt und stampft das wüthende Thier auf dessen Cadaver herum. Zum Stoße nach vorn, wie der Edelhirsch, kann der Elchhirsch sein seitwärts abstehendes Geweih zwar nicht gebrauchen, aber umsomehr zu furchtbaren Schlägen durch Schwenken des Kopfes.

Das Elchwild entnimmt seine Nahrung viel weniger dem Boden, als dem Baum- und Strauchwuchs, denn infolge seiner hohen Füße, des hohen Widerrists und kurzen Halses kann es mit dem Maul nur schwer an den Boden gelangen; von Bodengewächsen liebt es ganz besonders die Kuhblume (caltha palustris Lin.), seine Lieblingsnahrung aber ist und bleibt die Werftweide, nach welcher es meilenweit wandert; sonst nimmt es auch andere Weiden und Weichhölzer an und von Nadelhölzern lieber die Kiefer als die Fichte. Es folgt hieraus, daß das Elchwild der Landwirthschaft weniger schädlich ist und, wenn es in ein Roggenfeld geräth, weit mehr durch Zertreten der Saat schadet als durch Abfressen, dagegen im Ganzen und Großen mit der modernen Forstwirthschaft sich schlechterdings nicht verträgt.

Fahrt von der Weide.

Was seinem Maul an Zweigen und Blättern der ihm angenehmen Nahrungsgewächse erreichbar ist, frißt es ab und verschrotet daumenstarke Laubholzzweige mit Wohlbehagen; daß es bei seiner Höhe sehr weit hinaufreichen kann, bedarf keiner Betonung, und dabei leistet ihm die unförmlich große Oberlippe, so ungeeignet sie zum Grasen am Boden ist, zum Fassen von Zweigen vortreffliche Dienste, da sie sich rüsselähnlich verlängert, und will auch diese nicht mehr ausreichen, auch wenn sich das Elch auf den Hinterfüßen erhebt, so reitet es die jüngeren Stämme nieder, frißt sie zu Stumpfen ab und bricht sie natürlich oft ganz um. Die Nadelhölzer verbeißt es rundum, und welche wunderlichen Formen diese dadurch annehmen, zeigt unser Bild auf S. 625.

Daß solche urwüchsige Thiere entsprechende Oertlichkeiten erheischen, liegt auf der Hand, und solche bietet das Ibenhorster Revier, wie schwerlich ein anders; es liegt auf dem Delta, welches die Ausflußströme der Memel, hauptsächlich Ruß und Gilge, bilden; auf dem Höhenboden vorherrschend mit kräftigem Nadelholz bestanden, schließen sie sich an weit auf der Niederung ausgedehnte Erlenbrüche, auf welche bis in’s Haff hinein große Weiden- und Rohrwerder folgen, während nach dem Nordosten sich meilenweit öde Hochmoore erstrecken. Auch die angrenzenden Forstreviere Dingken und Tawellningken haben ähnliche Verhältnisse, und ihre große räumliche Ausdehnung könnte Hunderten von Elchen sichere Heimstätten gewähren – wenn es eben keine Menschen dort gäbe; denn mag die Bevölkerung immerhin dünn sein, für die Ansprüche der Elche ist sie schon viel zu dicht.

Die Zunahme der Bevölkerung und die mit ihr verwachsene intensivere Cultur, das heißt eingehendere Ausnutzung des Bodens, werden den Elchen immer mehr Raum abgewinnen, und tritt über kurz oder lang die Ansiedelung der großen Hochmoore in’s Leben, wie z. B. auf dem Rupkalwer Moor, so ist von Stund an das Schicksal der Elche besiegelt, denn ohne diese können sie nicht bestehen. Man denke sich unter diesen Hochmooren keine schönen, grünen Weideflächen, es sind mit sehr kärglichen Torfgewächsen, Flechten und Moosen bedeckte Einöden, welche selbst im Sommer eine mehr graubräunliche als grüne Färbung zeigen; stellenweise ist der Boden fest, stellenweise tief versumpft, daher nur mit Vorsicht zugänglich, und selbst den Naturfreund vermögen sie kaum zu erwärmen, denn Alles auf ihnen und um sie, Pflanzen- und Thierwelt, ist ärmlich und eintönig. Aber diese Moore sind im Spätherbst und Winter die Vorrathskammern und Tummelplätze der Elche; dort finden sie die ihnen erhaltene und zusagende [627] Nahrung in Weiden- und sonstigem Gestrüpp, und während zur Sommerszeit das Auge unstet über diese Oeden schweift, vergeblich einen Ruhepunkt suchend, sieht man an Winterabenden die Hünengestalten der Elche in ihrem Thun und Treiben über das Moor zerstreut, vermischt mit zahlreichen graziösen Rehen als lieblichen Gegensatz.

Wie anders dagegen zeigen sich Wald und Werder in ihrem grünem frischen Sommergewande, wie singt, flötet, pfeift, kreischt und quarrt es bunt durch einander vom grünen Zweig, von der blauen Woge, aus dem dichten Schilf- und Binsenwuchs der Sümpfe! Der Wanderfalk schießt wie ein Pfeil durch die sonnige Luft, der See-Adler zieht majestätisch seinem Horst zu, die Weihen schaukeln sich über dem Rohr in verderblicher Absicht Nester zu plündern; die Kraniche trompeten und rennen spielend durch einander, und die jungen Uhus dort im Erlenbruch kreischen nach Fraß. Aus dem dichten Grase ertönt ein minutenlang anhaltender schwirrender Ton, oft von verschiedenen Stellen her; man könnte ihn für das Geigen von Grillen halten, und doch klingt es viel weicher und schöner; es sind Heuschreckensänger oder Schwirrer, kleine niedliche Vögelchen, welche mit diesem Trillern in das große Freudenconcert von tausend und aber tausend Kehlen einstimmen. Ueber den Werdern kreischen zahllose Möven und Seeschwalben und flattern ängstlich über unserem Kahn, der sich in dem Gewirr von Millionen weißer und gelber Nymphäen, die hier in wunderbarer Größe und Schönheit prangen, festgefahren hat; auf ihren großen Blättern stehen paarweise die kaum flüggen Jungen der besorgten Schreier über uns und sehen ungeduldig den Fischchen entgegen, welche die Alten ihnen zutragen wollen, woran sie aber durch unser Zögern verhindert werden.

Kurisches Fischerhaus.

Wir schieben den Kahn leise an das Ufer und schleichen so still, als Wasser und Schilf dies gestatten, in den Werder hinein; mein Begleiter bleibt stehen und deutet dorthin: richtig, da steht der starke Elchhirsch, dessen Geweih im Bast wie zackige Keulen aussieht, und mustert uns mit seinem melancholisch-trägen Auge; ist es Dummheit, Trägheit oder, wie beim Keiler, trotzendes Kraftgefühl, was ihn die Flucht vor seinem Erzfeinde vergessen läßt? Nur Kopf und Hals sind vor dem kolossalen Schilf- und Graswuchs zu sehen; endlich wendet er sich langsam um, bleibt aber nach einigen Schritten nochmals gaffend stehen – thörichter Recke, wie leicht bist du zu fällen!

Nur das Jägergefühl, dich erlegt zu haben, kann zur Jagd auf dich reizen! Nun bricht und plätschert es laut durch Rohr und Schilf: es ist ein Trupp Elche, der hier gelagert hat, und das leise Schleichen in unserer Nähe bedeutet uns, daß ein Reh es vorzieht, sich unserer bedenklichen Nähe zu entziehen; in dem hohen Graswuchse ist es sicher, weil unsichtbar. Schwärme von Wildenten, Strandvögeln, Kiebitzen hasten umher – überall frisches, pulsirendes Leben! Die Luft ist sonnig und wolkenlos, und doch segeln dort Wölkchen so fein wie Duft und Nebel mit Windeseile hin! Dem Laien schwer erklärlich; das eine bleibt plötzlich stehen, verändert seine Gestalt, verdichtet sich, zerstreut sich wieder und segelt weiter: es sind Staare, die dem Nachtquartier im Rohr zustreben; den einen Flug hatte ein Falke angegriffen, daher die Verdichtung durch das Zusammendrängen der Vögel und das wilde Auseinander- und Vorwärtsstieben nach dessen Entfernung.

In dichten Massen von Tausenden fallen sie in das Rohr ein, welches unter ihrer Last sich beugt und bricht; unter betäubendem Lärm drängen, stoßen und necken sie sich unter einander; jeder neu angekommene Schwarm wird mit ungeheuerem Jubel bewillkommnet und erst die hereinbrechende Nacht macht dem Höllenspectakel ein Ende. Wer glaubt im Binnenlande, daß unser lieber Staarmatz wirklich verderblich sein könne? In der That ist er es dort, denn er macht stellenweise die Rohr-Ernte ganz illusorisch, indem die vielen tausend Mätze, während sie sich niederlassen, die Stengel brechen. – Draußen auf dem Kurischen Haff sind zahlreiche Fischerboote in vollster Thätigkeit und jener helle Höhenzug, der wie ein leichtes Gewölk aussieht, ist die Kurische Nehrung; dort liegt auch Schwarzort, ein neu aufgethanes Seebad, welches in diesem Jahre schon einige zwanzig wirkliche Badegäste gehabt haben soll; interessanter aber als durch diese, ist es durch seine großartige Bernsteinbaggerei.

Wir rudern in den Skirwithstrom hinein, auch hier eigenartiges Leben! Jener schwerfällig herausegelnde Kahn voll von Menschen, Vieh und Hausgeräth, eine wahrhaftige Arche Noah, bringt seine Insassen heim vom Markt in Heydekrug, und dieses kolossale Gefährt, zwei an einander gebundene, hoch mit Heu beladene Kähne, wird nur von Weibern gehandhabt, die den Männern hier in keiner Arbeit nachstehen; sie unterhalten sich laut mit den Insassen der Arche Noah und scheinen Bemerkungen zu machen über die weihevollen Passagiere jenes Kahns, welche einer frommen Betversammlung zusteuern.

Jenes Pferd dort im Kahn, welches uns mit seinen munteren Augen so aufmerksam mustert, wird von einem Weibe von der Weide heim gerudert, da es auf einem anderen Wege nicht nach Hause gelangen kann; es geht hier eben Alles zu Wasser, in Freud und Leid, Jung und Alt, Mensch und Vieh. Soweit man sieht: Wasser und Wiesen mit zahlreichen Viehheerden, gegen welche die kleinen Ackerfelder fast verschwinden. Vor allen Häusern Kähne und Fischernetze als Wahrzeichen des vorherrschende Gewerbes; wie eigenthümlich ist die Giebelverzierung dieser lithauischen Fischerhäuser! Nirgends werden die beiden Pferdeköpfe mit den darauf stehenden Vögeln fehlen, und wo man sie vermißt, da hat sich wohl Einer angebaut, der sich mehr dünkt, ein Moderner, dem dieses alte Wahrzeichen zu bäuerisch erscheint.

Aus jenem Hause dringt der Rauch aus Thüren und Fenstern, denn es hat keinen Schornstein; es ist ein sogenanntes Rauchhaus, dessen Bewohner auf die Wohlthat eines rauchabführenden Schlots im Interesse ihrer Fischernetze verzichten, welche durch die Räucherung an Haltbarkeit gewinnen. Aus diesen Rauchhäusern rührt auch wohl das Gerücht her, daß in gewissen Dörfern die Leichen geräuchert würden, wenn Wind und Wetter, oder Frost und Schnee ihre Beerdigung nicht zuließen!

Es ist eigenartig schön auf diesem Stück Erde, und trotz der zahllosen Bremsen und Stechmücken trennt man sich nur ungern von dem Forste an der Kurischen Nehrung.

O. v. Riesenthal.
[628]
Der Blumenschmuck ägyptischer Mumien.
Von G. Schweinfurth.


Unser Zeitalter ist durch einen beständigen Kampf mit den Schranken des Raumes sowie durch das Bestreben gekennzeichnet, die verborgensten Naturkräfte den Zwecken des menschlichen Daseins dienstbar zu machen; aber bei der großartigen Beständigkeit der Natur vermag der Mensch nur wenig. Zwar werden Landengen gespalten und die höchsten Gebirge durchbohrt; wirksamer jedoch, um sich bequeme Verkehrswege zu schaffen, modelt die Natur an den Formen des Erdballs im einzelnen Regentropfen, denn ihr Werk ist nicht an das Zeitmaß gebunden, das der Mensch nach Tagen und nach Jahren berechnet. Die Zeit aber ist unüberwindlich. Mit ihren gewaltigen Tritten löscht sie das Dasein von Eintagsfliegen aus so gut wie die Maulwurfsarbeiten der Menschheit, sie verwischt die Erinnerung an ganze Reihen von Völkern, über deren Wanderungen und Wandelungen oft kaum deutlichere Spuren berichten, als jene Fährten, die vor undenkbaren Jahrhunderten räthselhafte Thiere der Vorwelt in den weichen Ufersand der Flüsse eintraten und die nunmehr für ewig dem Felsen eingeprägt erscheinen. In Zeiträumen, die dem

Blumengewinde von der Rückseite.

Blumengewinde von der Mumie Ramses II., bestehend aus Mimusops-Blättern und Blumenblättern des blauen Lotus (½ natürlicher Größe).
Originalzeichnung von Prof. G. Schweinfurth.

Menschen ungeheuer erscheinen, die aber kaum nachweisbare Veränderungen in der Fortentwickelung des Erdballs aufzuweisen haben und daher nur wenig in der Geschichte des letzteren bedeuten, verwischt sich die Erinnerung an das Dasein jener zahllosen Geschlechter, die von der ersten Menschwerdung bis zum frühesten Culturbeginne auf einander folgten, zu einem inhaltsleeren Blatte oder hüllt sich in so dichte Nebelschleier, daß auch das schärfste Auge des Forschers sie nicht zu durchdringen vermag.

Im Kampfe wider die Hindernisse des Raumes und der Zeit hat das Menschengeschlecht indeß auch Erfolge aufzuweisen, und solche begegnen uns am deutlichsten im alten Wunderlande am Nil, in Aegypten. Dreiundzwanzig Jahrhunderte sind verstrichen, seit das Auge eines Herodot sich daselbst in Andacht senkte vor der Ehrfurcht gebietenden Fülle uralter Zeugen der Vergangenheit, und heute noch ragen dort bergegleich und unverkürzt im Laufe der Jahrtausende die Pyramiden in den Himmel, während die tiefen Felsschachte der alten Gräber uns Einblicke eröffnen in schwindelnde Abgründe der Zeit.

Hier haben die alten Aegypter in zahllosen Steininschriften, Papyrusrollen und Bildwerken aller Art uns den Entwickelungsgang ihrer reichen Ideenwelt im Laufe der Geschlechter erschlossen und in dem ebenso mannigfachen als umfangreichen Bestattungspomp ihrer Todten, die sie zur Fortsetzung ihres Daseins im Jenseits mit allen Dingen ihres auf Erden gewohnten Haushalts, sei es in Substanz, sei es durch symbolische Vertretung im Bilde umgaben, Proben zur Schau gestellt, die uns ihre Häuslichkeit vergegenwärtigen, sodaß wir, diese Zeugen an der Hand und dem Fluge unserer Einbildungskraft folgend, nur hineinzugreifen haben „in’s volle Menschenleben“, wie es sich vor hundert Menschenaltern an den Ufern des Nils bewegte.

Seit Jahrhunderten wühlt nun die neugierige Epigonenzeit in diesen Vorrathskammern unseres Wissens, und immer neue und überraschendere Funde gelangen an’s Tageslicht. Die Geschichte der ägyptischen Ausgrabungen hatte ihre besonderen Glanzpunkte zu verzeichnen, wenn es dem Forscher gelang, ein von der Habsucht früherer Generationen noch unberührt gelassenes Heiligthum zu erschließen und der Kunde vom Alterthum mit einem Schlage neue und ungeahnte Horizonte zu öffnen.

Derartiger Glanz umstrahlte die Schritte des ersten Entdeckers, als vor 65 Jahren Belzoni den Eingang zu dem prachtvollen Königsgrabe fand, das heute seinen Namen trägt, als Mariette das Serapeum mit seinen kolossalen Apissarkophagen aufdeckte. Nie aber ist ein denkwürdigerer Fund gemacht worden als derjenige, welcher am 6. Juli 1881 unserem Landsmanne Emil Brugsch, einem Bruder des großen Aegyptologen, zu Theil wurde. Ganze Geschlechter der größten und berühmtesten Könige des alten Aegyptens erstanden da im engen Grabschachte nahe beim Tempel Der-el-bahari zu Theben vor seinen staunenden Blicken. Unter den vierzig Mumien aus königlichem Geschlechte, die sich hier vorfanden, glänzten so erlauchte Namen wie die eines Amosis, eines Thutmosis, eines Amenophis, eines Sesostris auf den Brustschildern ihrer leibhaftigen Körper. Ein König der gegen das 9. Jahrhundert vor Christus über Theben während einer Periode des Niedergangs herrschenden zweiundzwanzigsten Dynastie hatte die in ihren von Dieben erbrochenen Grabhallen nicht mehr vor Plünderung sicheren Mumien seiner großen Vorgänger in das erwähnte Grabversteck von Der-el-bahari bringen lassen, nachdem einige derselben in neue Särge gethan und ihnen ein erneuter Bestattungspomp zu Theil geworden war. Hier in dem tiefen Grabstollen, der mit der Außenwelt durch einen natürlichen und leicht zu übersehenden Felsriß in Verbindung gesetzt war, wurden die königlichen Särge niedergesetzt und mit einer Menge von Opfergaben und ähnlichen Dingen aufgespeichert. Araber aus der Umgegend waren in neuester Zeit in das seit 3000 Jahren unentweiht gebliebene Versteck gerathen und hatten zu plündern angefangen. Allein die durch sie in den Handel gebrachten Beutestücke lenkten bald die Aufmerksamkeit der Kenner auf den räthselhaften Fund, und endlich gelang es, die glücklicher Weise nur aus wenigen Theilnehmern, den Gebrüdern Abd-er-Rassul, bestehende Bande zum Geständniß zu bringen, bevor noch größerer Schaden angerichtet werden konnte.

Dieser großartige Gräberfund hat für die Kenntniß des Culturlebens der alten Aegypter eine besondere Bedeutung durch die Fülle von natürlichem Blumenschmuck, der an den Mumien angebracht war und der sich in so vollkommener Weise erhalten hat, daß die botanische Untersuchung der dreitausendjährigen Blatt- und Blüthentheile nichts zu wünschen läßt.

In mannigfaltiger Gestalt haben sich pflanzliche Reste aus dem ägyptischen Alterthum bis auf unsere Tage erhalten. Zunächst [629] sind dieselben zahlreich unter den Opfergaben vertreten, die mit dem Sarge in die Grabkammer eingeschlossen und daselbst auf dem Fußboden in Thonnäpfen und Schalen von verschiedener Gestalt, in Körben und anderen Behältern niedergesetzt wurden. Auf diese Weise wurde bisher eine Menge von Früchten (Feigen und Sykomoren, Granatäpfel und Weintrauben, Pinienzapfen, Datteln, Dom- und Argunpalmfrüchte etc.) erhalten, ebenso Getreideproben von verschiedenen Arten Weizen[1] und Gerste, Breiklumpen von Hülsenfrüchten (Linsen) nebst einzelnen Körnern derselben (Saubohnen und Cajanbohnen) und Gerstenbrod, letzteres nach Art der altrömischen mola salsa als Opfer in Breiform auf Schalen dargereicht, aufgefunden, dazu Farben, Harze, Droguen und Arzneimittel der verschiedensten Art, die alle Licht verbreiten halfen über die Culturpflanzen des alten Aegyptens und die Handelsbeziehungen zwischen diesem Lande und den benachbarten Gebieten von Asien oder Europa. Die dem Todten mit in das Grab gegebenen Stücke von Hausgeräthen und anderen Erzeugnissen des alten Kunstfleißes liefern ein zahlreiches Beweismaterial für das Vorhandensein gewisser Arten Textilstoffe, die bei der Korbflechterei, bei Herstellung von Garn und Geweben, von Netzen und Stricken Verwendung fanden. Zahlreich sind auch die Holzarten, die sich an den hier aufgestellten Särgen, Truhen und Schachteln, an den Figuren, Stühlen, Kämmen, musikalischen Instrumenten, kurzum an den verschiedenartigsten Geräthschaften erkennen lassen.

Mumie mit den Blumengewinden restaurirt, in den äußeren Binden Lotusblumen.
Originalzeichnung von Prof. G. Schweinfurth.

Die interessantesten Zeugen der alten Flora sind indeß im Innern der intact bis auf unsere Tage erhalten gebliebenen Mumiensärge anzutreffen. Hier finden sich theils einzelne Blüthen des Lotus in den äußeren Binden des Mumienconvoluts steckend, theils ganze Sträuße und Bündel von Pflanzenzweigen zu Seiten der Mumie, zwischen dieser und der inneren Sargwandung eingezwängt. Bei anderen Mumien fanden sich Kränze, die in der Art zusammengesetzt und geflochten erscheinen, wie wir sie als Opfergaben auf den bildlichen Darstellungen der Alten angebracht finden. Am häufigsten ist jedoch der den Mumien zu Theil gewordene Blumenschmuck in Gestalt langer und vielverzweigter Gewinde angebracht. Diese bedecken die Brust in concentrischen Reihen vielfach über einander gelegt und scheinen am Nacken zusammen geknüpft worden zu sein. Mumien aus späterer Zeit, namentlich die aus der griechisch-römischen Epoche, sind schließlich durch einen Stirnkranz von Oellaub gekennzeichnet.

Diese Blatt- und Blumengewinde spielen unter dem Namen „Kranz der Rechtfertigung vor dem Richterstuhl des Osiris“ eine große Rolle im ägyptischen Todtenbuche, und Dr. W. Pleijte hat sie zum Gegenstande einer gelehrten Abhandlung gemacht, die in diesem Jahre zu Leyden im Druck erschien. Der Kranz der Rechtfertigung ward dem Verstorbenen beim Eingang in die Unterwelt im Westen zu Theil. Da stand ein Sykomorenbaum, und in ihm wohnte die Himmelsgöttin Nut, die den Todten tränkte, benetzte und vermittelst ihres Lebenssaftes zu neuem Sein erweckte.

Die eigenthümliche Zusammensetzung und Gestalt, durch welche die Mumienguirlanden gekennzeichnet sind, erfordern bei der wichtigen Rolle, die sie in der Symbolik der alten Aegypter spielten, eine eingehendere Beschreibung. Der knappe Spielraum, welcher zwischen Mumie und innerer Sargwandung übrig blieb, gestattete keine Unterbringung von Blumengewinden nach unserer Art. Dieselben mußten flach aufliegen und durften nicht dick ausfallen. Zu solchem Behufe wurden nur Blätter von lederartiger Textur genommen und der Quere nach zweimal gefaltet, sodaß je vier Blattspreiten über einander zu liegen kamen und kleine Päckchen hergestellt wurden, die gleich lang und breit waren. Man bevorzugte Blätter der ägyptischen Weide und solche von Mimusops, der Persea der alten Schriftsteller, die noch heute im tropischen Afrika ihre Heimath hat und vom Lande Punt (Somaliküste) bereits in alten Zeiten nach Aegypten eingeführt wurde, wo man sie in den Tempelgärten eigens anbaute, die aber in der nachrömischen Zeit aus dem Lande verschwand. Die beschriebenen Blattpäckchen wurden auf Streifen zerrissener Dattelpalmblätter an einander gereiht und dienten als Agraffe für kleine Blüthen, wie z. B. von Nilakazien, Saflor und Sesbania, vom orientalischen Rittersporn, von Ackermohn, Kornblumen u. dergl., oder für Blumenblätter, die aus dem weißen und blauen Lotus, den Teichrosen des Nils und anderen für den Zweck zu umfangreichen Blüthen herausgerissen waren, indem letztere von den gefalteten Blättern klammerartig festgehalten wurden. Wenn die Blätter zu groß waren, wurden dieselben der Länge nach in zwei Stücke gerissen, die Hälften für sich gefaltet und zur Einfügung der Blüthen und Blüthentheile wie die ganzen verwandt. Feine Dattelblattstreifen, der Länge nach durch die ganze Reihe als Naht verlaufend, befestigten zum Schluß das ganze flachaufliegende Gewinde.

Diese altägyptischen Blumengewinde erinnern in der Art, wie sie zusammengesetzt und auf der Brust der mit ihnen zu schmückenden Mumie angeordnet erscheinen, an manchen Metallschmuck, der sich in verschiedenen Ländern des Orients bis auf den heutigen Tag erhalten hat, indem die zungenförmig herabhängenden Lotusblätter die Stelle von Fransen, Grelots, Klöppeln, Glöckchen, Kölbchen und ähnlichen Anhängseln einnehmen, welche an solchen Zierketten angebracht zu sein pflegen.

Der symbolischen Richtung entsprechend, die sich bei allen mit dem Todtencult der alten Aegypter zusammenhängenden Gebräuchen kund giebt, begnügte man sich bei den Mumien der Mittelclassen oft mit einer bildlichen Darstellung der erwähnten Gewinde. Da sieht man sie in greller Farbenpracht auf die starklackirten Särge gemalt. Wirklicher Blumenschmuck fand sich bis jetzt nur an den Mumien der vornehmsten Personen, zumeist solcher von königlichem Geblüt.

Die Zierlichkeit und Anmuth der ägyptischen Blumengewinde ist von mehreren Schriftstellern des classischen Alterthums gerühmt worden. Plinius gedenkt ihrer und Athenäus, der selbst in Aegypten geboren, erwähnt in seinen Tischgesprächen die aus blauen Lotusblumen zusammengesetzten Gewinde. Von Agesilaus, dem Spartanerkönige, erzählt Plutarch, daß bei seinem Besuche Aegyptens diese Guirlanden ihn dermaßen entzückten, daß er davon etliche mit nach Hause nahm.

Was nun den Zustand der Erhaltung anlangt, den die verschiedenen Pflanzentheile, aus denen die Gewinde bestehen, zu erkennen geben, so hat die Zeit, dank ihrer Absperrung von der äußeren Luft, in den dichtverschlossenen Mumienkästen und in den tiefen Felsenstollen der Gräber, wo eine constante Trockenheit und eine durch die mittlere Jahrestemperatur gebotene Gleichmäßigkeit der Spannungsverhältnisse jeden äußeren Luftwechsel unmerklich machen mußte, nur wenig über sie vermocht. Im Inneren unerbrochener Mumiensärge befinden sich diese Zeugen der altägyptischen Flora in keinem schlechteren Zustande, als solcher an Exemplaren [630] aus alten, aber wohlgepflegten Herbarien unserer Zeit zu erkennen ist, wennschon die letzteren nur so viel Jahre zählen als erstere Jahrhunderte. Wäre nicht durch den Transport der Särge und ihre Oeffnung großer Schaden angerichtet worden, so befänden sich diese Pflanzentheile noch heute in demselben Zustande wie in Folge des Trockenwerdens wenige Tage nach der Einsargung der Mumien.

Die äußerst brüchigen zarten Blatt- und Blüthentheile mußten beim Herausnehmen der Mumie und namentlich bei der Durchsuchung derselben nach Schmuckgegenständen, Papyrusrollen u. dergl. in zahllose Trümmer zerfallen. Was ganz erhalten blieb, ließ sich durch Aufweichen in Wasser ebenso gefügig behandeln, wie heutige Herbariumexemplare. Die Blätter und Blüthen konnten alsdann bis in die feinsten Einzelheiten untersucht, ausgebreitet und von neuem getrocknet werden, um in gepreßter Form zwischen Papier dauernd vor weiterer Zerstückelung geschützt zu sein.

Blumengewinde von der Mumie Amenhotep I., bestehend aus Weidenblättern und Blüthen der Nil-Akazie (½ natürlicher Größe).
Originalzeichnung von Prof. G. Schweinfurth.

Die auffälligste Erscheinung, welche sich beim Betrachten dieser tausendjährigen Pflanzenproben aufdrängt, ist die Farbenerhaltung vieler Blüthen. Diese giebt sich namentlich im röthlichen Violet des orientalischen Rittersporns zu erkennen, der die Guirlanden auf der Brust des großen Aahmos I. (Amosis) zierte, ebenso in dem der vorderasiatischen Kornblume, mit welcher die Mumie der Prinzessin Nsi-Chonsu von der zweiundzwanzigsten Dynastie geschmückt war, ferner im Roth der Blüthen des Ackermohns und des Saflors, die beide sich in diesen Gewinden vorfanden. Auch hat sich der grüne Farbstoff unverändert in den Blättern der Wassermelone erhalten, die bei der Mumie eines Priesters der genannten Dynastie lagen.

Zustand der Mumie Amenhotep I. beim Gräberfunde von Der-el-bahari am 6. Juli 1881.
Nach einer Photographie von Emil Brugsch-Bey.

Häufig bereits ist die Frage aufgeworfen worden, ob nicht etwa diese alten Gräberfunde Thatsachen zu Tage fördern könnten, die auf die Veränderlichkeit der Arten innerhalb eines Zeitraums von zwei- bis viertausend Jahren hindeuten würden. Wer sich mit geologischen Forschungen abgegeben und namentlich die neueren Formationen der Tertiärzeit im Hinblick auf ihre organischen Einschlüsse zum Gegenstande seiner Untersuchungen gemacht hat, wird einem Zeitraume von der angedeuteten Ausdehnung keinen großen Einfluß auf die Veränderlichkeit der Arten oder des Florenbestandes innerhalb einer bestimmten Gegend zuerkennen mögen. Zudem ist eine wirklich vollkommene Identificirung von Exemplaren beschränkter Zahl in Bezug auf den Artcharakter stets eine Aufgabe, die geringe Befriedigung verspricht.

Indeß mag die Thatsache genügen, daß bisher noch keine einzige Pflanzenart unter diesen Funden nachzuweisen gewesen ist, die nicht mit einer der heute bekannten auf’s Bestimmteste in Uebereinstimmung zu bringen war. Die auf solche Weise für die Flora des alten Oberägyptens vor einigen tausend Jahren festgestellten Pflanzenformen gehören entweder Arten an, die heute noch daselbst wildwachsend angetroffen werden, oder solchen, deren Cultur das heutige Klima dieser Gegend nicht die geringsten Hindernisse in den Weg legen würde. Mehrere Arten, wie z. B. der Ackermohn, finden sich nicht mehr in Oberägypten, wohl aber an der ägyptischen Küste bei Alexandria; andere, wie der Rittersporn, die Kornblume und die syrische Stockrose, fehlen der ägyptischen Flora und müssen von den Alten aus Asien eingeführt und in Gärten cultivirt worden sein. Man kann aber annehmen, daß in jedem Falle eher die veränderten Culturverhältnisse des Bodenbaus an dieser Verschiedenheit Schuld haben, als ein in der Zwischenzeit stattgehabter Klimawechsel, für den keinerlei durchgreifende auf dem Gebiete der organischen Natur oder der Bodengestaltung nachgewiesene Thatsache anzuführen ist.


Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)


22.

In Weimar eilte Karl August sofort Goethe aufzusuchen; gegen den Freund wollte er sich aussprechen, das stand fest! Aber – er hatte Goethe’s Urlaubsgesuch ganz vergessen – das Gartenhaus am Stern stand leer, Goethe war Tages zuvor nach Ilmenau abgereist.

Welche Wandlung in seinem Empfinden! Eigentlich war ihm jetzt Goethe’s Abwesenheit gar nicht unlieb. Der Freund hätte ihn auslachen, verspotten, möglicher Weise verhindern können, auf Saint Germain’s Vorschläge einzugehen. Das, was er selbst dem Grafen entgegnet hatte, wollte er jetzt nicht gern auch von einem Andern hören, denn er schwelgte in der Hoffnung, Außerordentliches gefunden zu haben und noch erleben zu sollen! Das heimliche Ausspinnen der empfangenen Eindrücke hatte ihm schon die Freiheit der Auffassung geraubt, er wünschte glühend keine Enttäuschung zu erleben und ward täglich froher, als der Mond sich rundete, die Jagdeinladung vom Landgrafen eintraf, der Freund aber noch nicht zurückkam.

Im Schloßpark zu Barchfeld spazierten einige Tage später zwei fürstliche Herren. Der Landgraf Adolf von Hessen-Philippsthal-Barchfeld, ein stattlicher Officier, der in holländischen Diensten stand, unterhielt sich im Gehen mit seinem Gast, dem Herzog Karl August. Derselbe war, nur von seinem Reitknecht begleitet, zu Mittag von Eisenach aus angekommen, der Jagdeinladung des Landgrafen endlich Folge zu leisten.

Graf Saint Germain befand sich als Gast, sammt einigen anderen Herren vom Kasseler Hofe, in Barchfeld. Ohne einer früheren Begegnung zu erwähnen, hatte er sich dem Herzoge vorstellen lassen und in seinem Benehmen den Hofmann, den Cavalier und geistreichen Gesellschafter herausgekehrt. Allerdings waren ihm bei Tafel scheinbar absichtslos Andeutungen entschlüpft, die auf weit zurückliegende Lebensverhältnisse hindeuteten. Fast erschrocken suchte er dann diese Mittheilungen zu bemänteln, wie Jemand, der sich selbst auf einer Unvorsichtigkeit oder zu großen Offenherzigkeit ertappt, und da keiner der Herren nachforschte oder erstaunt schien, ließ auch Karl August die Dinge gehen, glühte [631] aber vor Neugier, nach Tisch seinen Wirth im Vertrauen zu fragen, was von dem merkwürdigen Manne eigentlich zu halten sei.

Die ersehnte Stunde, sich ungestört über Saint Germain zu erkundigen, war jetzt endlich gekommen. Die Herren unterhielten sich zwanglos, wo und wie sie wollten.

Der Herzog gesellte sich seinem Wirthe. Er nahm den Arm des würdigen, etwas steifen Herrn und war froh, daß sich keiner der andern Gäste ihnen anschloß. Lebhaft sagte er, als sie mit einander eine Allee hinab gingen:

„Ich bitte Eure Liebden dringend, mir nähere Auskunft über den merkwürdigen Mann zu geben, der heute mit uns speiste, ich meine den Grafen Saint Germain!“

„Ah der!“ erwiderte der Landgraf und nahm die Thonpfeife aus den Zähnen; „ja, der ist merkwürdig genug.“

„Nun, in wie fern? Woher stammt er? Was ist er? Was hat’s auf sich mit seinem übernatürlichen Alter?“

Der Landgraf lächelte, blieb stehen, sah dem Andern fast erschrocken in die Augen und sprach mit gemächlicher Ruhe:

„Eure Liebden verlangen etwas viel und obendrein auf einmal. Ja, wer alle die Fragen beantworte könnte!“

„Nun General, so beantworten Sie wenigstens eine!“ rief der Herzog mit brennender Ungeduld.

„Welche, Mynheer?“

„Welche Sie wolle, bleibe wir bei dem Alter!“

„Darüber können wir Gewisses nicht sagen. Thatsache ist, daß der Graf Details weiß, die eigentlich nur Zeitgenossen in der Weise berichten können. Es ist in Kassel jetzt Mode, respectvoll seinen Angaben zu lauschen und sich über gar nichts mehr zu wundern. Der Graf ist kein Renommist, kein zudringlicher Schmarotzer; er ist ein Mann aus der guten Gesellschaft und für die gute Gesellschaft, den an sich zu fesseln Jeden erfreut. Wenn er auch bei dem Chef unseres Hauses, dem regierenden Landgrafen Friedrich dem Zweiten nicht sonderlich angeschrieben ist, derselbe nennt ihn einen Mucker und Moralisten so steht er doch mit viele bedeutenden Männern in naher Beziehung und übt einen unerklärlichen Eindruck auf andere. Mein Vetter, der Landgraf Karl von Hessen ist ihm sehr gewogen, sie treiben eifrig Freimaurerei und allerlei dunkle Künste mit einander; Lavater schickt ihm Auserwählte. Er kann mit verschiedenen Stimmen und aus verschiedene Entfernungen sprechen, schreibt jede Handschrift, die er einmal gesehen, täuschend nach, soll mit Geistern und übernatürliche Wesen verkehren welche auf seinen Ruf erscheinen, ist Arzt und Geognost und besitzt, wie versichert wird, ein untrügliches Mittel, das Leben zu verlängern. Gründe genug, den Mann anzustaunen.“

Mit äußerster Spannung hatte der Herzog alle diese Mittheilungen von den Lippen des bedächtig redenden Landgrafen vernommen. In der That hätte Saint Germain den neuzugewinnenden Jünger an keine bessere Adresse weisen können, als an die des Landgrafen Adolf.

Mit einem wahren Fieber äußerster Spannung harrte der Herzog Karl August auf die weitere Annäherung des Wundermannes und auf das ihm in Aussicht gestellte Abenteuer. Er brauchte nicht lange darauf zu warten; sich dem Schlosse wieder zuwendend, sahen die beiden Männer den Vielbesprochenen mit dem Marquis de Luchet, dem Intendanten des Theaters und der Capelle, Günstling des allem Französischen zugethanen Landgrafen Friedrich von Hessen-Kassel, daher kommen.

Es machte sich sehr natürlich, daß der Marquis mit dem Landgrafen Adolf vorausging, während der Herzog, sich zu Saint Germain gesellend, folgte.

„Nun, Graf?“ fragte Karl August und sah dem Begleiter forschend in das ernste Gesicht.

„Sind Eure Durchlaucht heute Abend zu unserem Wagnisse bereit?“

„Mit Leib und Leben!“ rief der junge Fürst. „Sagen Sie nur, was ich thun soll!“

Ein befriedigtes Lächeln flog wie matter Sonnenschein über die düsteren Züge des Wundermanns, dann hub er an:

„Es ist meine bislang versäumte Pflicht, Serenissimus darauf aufmerksam zu machen, daß wir einem nicht ganz gefahrlosen Unternehmen entgegen gehen. Ein Wagniß ist’s, Sie in das Reich unterirdischer Mächte einzuführen, welches nur mir offen steht. Einem sterblichen Menschen dort Zutritt zu verschaffen, der weder mit den Gesetze jener geheimnißvollen Welt vertraut ist, noch furchtbare Möglichkeiten zu beurtheilen vermag, bleibt stets bedenklich. Eure Durchlaucht dürfen nie vergessen, daß von meiner Seite nur der eine Beweggrund vorliegt: Sie von dem Zusammenhange meines Wesens mit höheren Regionen zu überzeugen und dadurch Ihre Hingabe für mich – das heißt für meine edlen Bestrebungen - zu gewinnen. Ich fühle, daß ich Ihnen diese Probe schuldig bin, und ich werde dieselbe ablegen, koste es was es wolle! Der Zweifel muß zwischen uns aufhören, er muß vernichtet werden! Er hindert Sie, den Tempel der Erkenntniß und Vollendung zu betreten, zu dem Sie an meiner Hand gelangen sollen. Um nun bei dem beabsichtigten Unternehmen einige Sicherheit für Sie und für mich - denn auch ich wage viel! - zu finden, müssen Eure Durchlaucht sich genau meine Vorschriften merken, genau meinen Angaben und Forderungen Folge leisten. Sie werden mit verhüllten Augen den geheimnißvollen Ritt in den Vorhof des Hörselberges machen; Sie werden, wenn wir der Venus gegenüber stehen, kein Wort sprechen, damit wir nicht die gräßlichen Schemen der wilden Jagd aufscheuchen, welche uns zweifellos zu Tode hetzen würden. Stumm schauen Sie die Schrecken und die Herrlichkeit der Tiefe, stumm kehre Sie an meiner Hand zurück. Möglich, daß die gefangene Huldgöttin den Heros in Ihnen ahnt, der, gleich dem verlorenen Tanhäuser, ihr Seligkeit bereiten könnte, möglich, daß sie die rührende Sprache der Geberden an Sie richtet, daß sie Liebe, Licht, Freiheit erfleht; da heißt es stark bleiben, denn eine Unmöglichkeit ist’s, sie durch rasche That zu gewinnen. Vielleicht gelingt dies - wenn Sie es begehren sollten - auf einer späteren Stufe unseres Emporstrebens.“

Er hatte dies Alles halblaut, rasch und eindringlich gesprochen, und Karl August fühlte wieder, wie bei jenem ersten Zusammentreffen sich von einem Schwindel durchrieselt, in welchem das, was er bisher für möglich, das was er für unmöglich gehalten hatte, zu einem untrennbaren Chaos in einander floß. Seine lustige Spottsucht, sein derber Humor waren zum Schweigen gebracht; er wollte fragen, aber wo anfangen, da das beabsichtigte Unternehmen im Ganzen ein so durchaus fragwürdiges war? So brachte er nur die bescheidene Erkundigung nach der Zeit ihres Ausritts hervor.

„Um neun Uhr geht der Mond auf,“ erwiderte der Graf mit der Miene ernster Ueberlegung. „Wenn Sie etliche Luftvolten vertrage, so können wir binnen einer halben Stunde am Fuße der Wartburg oder des Hörselberges sein.“

„Luftvolten?“ fragte der Herzog erstaunt.

„Ah, ich vergesse! Durchlaucht wissen nicht, daß, während Sie nur die Empfindung haben, im Kreise zu reiten, wir mit jeder Wendung Meilen zurücklegen; auf andere Art kann ich die Gunst außerirdischer Fortbewegung keinem Sterblichen verschaffen. Unser geehrter Wirth, der Herr Landgraf, wird sich nach dem Souper mit den anderen Herren an den Spieltisch setzen; während man sich in das Cavagnote vertieft, bemerkt man unser Verschwinden kaum, und binnen ein bis zwei Stunde sind wir, wenn Alles glücklich geht, wieder aus dem Berge zurück. Bis Mitternacht liegt das wilde Heer unter dem Banne; wecken wir es mit keinem unvorsichtigen Laute, so sind wir ungefährdet.“

Der Herzog konnte zu alledem nur staunend den Kopf schütteln.

Gegen acht Uhr setzte man sich im Speisesaale zum Souper. Es wollte Karl August bedünken, als ob der Graf weniger unterhaltend sei als am Mittage; ein Zug feierlichen Ernstes lag zwischen seinen dunklen Brauen, und fest geschlossen waren die schmalen Lippen, verstohlen blickte er mehrmals auf seine Uhr.

Der Herzog befand sich in peinlicher Aufregung. Was sollte mit ihm geschehen? In welches Unternehmen hatte er sich eingelassen? War er das Opfer eines unerhörte Betruges oder der Auserwählte des erhabensten Geistes? Diese Fragen, innerlich zum hundertsten Male aufgeworfen, zerstreuten ihn immer wieder bei jedem Gespräche, auf das er einzugehen versuchte.

Endlich wurde die Tafel aufgehoben, plaudernd, rauchend trat man in das Spielzimmer. Die Partien fanden sich zusammen, der Herzog und Graf Saint Germain lehnten ab.

Ein paar Augenblicke standen sie noch hinter den Stühlen der Spieler, dann, als diese sich in ihr Vorhaben vertieften, winkte der Wundermann mit seinen gewaltigen Augen, und unter dem Einflusse einer seltsamen Empfindung, halb von Bangigkeit, halb von jubelnder Lust, folgte der abenteuersüchtige junge Fürst dem Voranschreitenden aus dem Schlosse.

[632] Als sie in den hell im Glanze des Vollmondes daliegenden Garten traten, schlug es vom Thurme die neunte Stunde.

„Gut,“ murmelte Saint Germain, „nun vorwärts!“

Quer den Park durchschreitend und denselben durch ein Seitenthürchen verlassend, gelangten sie auf eine Wiese, wo hinter dichtem Gebüsche ein Mann zwei Pferde hielt. Das eine trug statt des glatten englischen Sattels einen ungarischen Bock. Saint Germain bezeichnete dem Herzoge dies als für ihn bestimmt; da er mit verhüllten Augen reiten werde, könne er die Zügel nicht selbst führen und habe sich also am Sattelknopf zu halten.

Er warf dem Herzoge dann eine Kapuze über den Kopf, die nur Luftlöcher zum Athmen hatte, aber die Augen fest verhüllte, und half ihm beim Aufsitzen. Gehorsam setzte der blinde Reiter sich fest in dem geschweiften Sattel und ließ sich willenlos entführen. Er fühlte, daß auf seiner Seite der Graf ritt und sein Pferd am Zügel leitete. Bald setzten sie sich in Galopp; eine eigenthümlich schwindelnde Empfindung bemächtigte sich des Herzogs, als er so, ohne zu sehen, ohne Zügel zu fassen, in die Nacht hinaus jagte.

„Sitzen Sie fest!“ raunte ihm jetzt der Graf zu, „wir erheben uns zu einer Luftvolte, die uns um Meilen weiter führt.“

Es geschah, sie sausten im scharfen Kreise rundum. Schlugen wirklich die Pferde nicht mit den Hufen auf? Die Kapuze verhüllte das Ohr; es war dem jungen Fürsten in der That, als ob er fliege. So dauerte der Ritt nicht länger als eine halbe Stunde, und schier erschreckend vernahm er die Worte des Magus: „Wir sind am Ziele, dort liegt der Hörselberg!“

Man half ihm vom Pferde, er fühlte steinigen Boden unter sich, man führte ihn bergan. Er spürte, daß Gebüsch seine Hand streifte, und stützte sich, als man Halt machte, mit der Hand auf einen Felsblock; deutlich sah er im Geiste die bekannte Stelle, wo unter einer Felskante, die längs des sich steil in’s Thal absenkenden Berges hinläuft, des engen Hörselloches Spalte klafft. Man führte ihn noch ein paar Schritte weiter.

Der Hahnentanz.0 Nach dem Oelgemälde von H. Schaumann.

[633] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



„Treten Sie vorsichtig hinunter und stehen Sie fest“ flüsterte der Graf ihm zu; er that’s, sein Fuß berührte Leitersprossen; der Führer hielt ihn, und dann stiegen sie Beide langsam in die Tiefe.

Dumpfe Kellerluft, wie sie nur unter der Erde herrscht, umfing sie, sie standen auf festem Boden, und der Graf löste seinem Begleiter die hüllende Kapuze.

Karl August sah sich in einer trüb beleuchteten Höhle, in der das braunrothe Licht einer Pechfackel sich an hohen, nicht von Menschenhand gemeißelten Wölbungen brach. Dunkle Schlagschatten lagen in den Winkeln und fuhren in raschem Wechsel hin und her, sowie ein Luftzug die Flamme der Fackel bewegte.

Der Graf faßte die Hand seines Schützlings und schritt mit ihm vorwärts, ein felsiger Gang that sich auf, den man verfolgte, dann umfing sie eine geräumige Halle, von der sich Seitengrotten und Gänge in die Tiefe abzweigten; wieder steckten ein paar Fackeln in den Felsspalten, von denen der Graf die eine ergriff, worauf er vorsichtig leuchtend voranschritt. Ein starkes Rauschen schlug an das Ohr des Herzogs, und feuchte kühle Luft strömte ihm entgegen; der Gang wandte sich jetzt plötzlich, rohe Stufen führten zu einer Plattform empor. Er stand starr, staunend. Zu seinen Füßen ein wildes Bergwasser, schäumend, in Cascaden vorüber rauschend, drüben, jenseit des Wassers, eine Felswand — in der eine Stelle sich plötzlich erhellte. Es war, als thue eine Nische sich auf, von rosigem Licht erfüllt. In derselben stand ein goldenes Ruhebett, Purpurdecken waren darüber gebreitet, der Boden mit Rosen bestreut.

Auf dem Bette lag sanft hingelehnt eine Gestalt, sie richtete sich auf; „Frau Venus!“ raunte der Magus, aber der Herzog hätte dieser Weisung nicht bedurft.

Ja, das war ein Weib und doch eine Göttin! Unter einem strahlenden Diadem fiel aschblondes Haar herab und wallte in losen Wellen um den ganzen Körper, welchen ein weißes, griechisches Gewand hüllend umschloß und doch in seinen schlanken, vollen [634] Formen verrieth; ein goldener Gürtel raffte dasselbe zusammen. Und nun dies wunderbare Angesicht! Die großen Strahlenaugen, die reizvollen Züge, das kindliche Lächeln, ja das alles lebte, regte sich, athmete Schönheit und Liebe!

Frau Venus richtete sich von ihrem Lager auf und trat einen Schritt vor, sie warf das reiche Haar zurück; welch ein Arm, wie anmuthig jede Bewegung! Dann hob sie bittend die Hände, flehend streckte sie dieselben vor, drückte sie auf ihr Herz, endlich sogar warf sie sich auf die Kniee und breitete weit die Arme dem ganz im Schauen aufgehende jungen Fürsten entgegen.

Dieser brach in einen hellen Freudenlaut aus, der wie ein Jubelruf durch die dunklen Wölbungen hallte, und wäre in’s Wasser gesprungen, um zu der sinnbethörenden Erscheinung hinüber zu gelangen, wenn der Graf ihn nicht zurückgehalten hätte.

Kaum ertönte jener Aufschrei von den Lippen des Herzogs, so warf sich Frau Venus mit verhülltem Angesicht auf ihr Lager zurück, und ein donnerähnlicher Laut rollte durch die Felsengänge.

„Rasch, entfliehen wir!“ flüsterte der Graf. „Folgen Sie mir, eilen Sie, es gilt Hackelberg, dem wilden Jäger, zu entkommen!“

In stürmischer Hast riß er den fast besinnungslosen Gefährten, der noch einen letzten glühenden Blick auf das schöne Weib warf, hinter sich her, stülpte ihm in der vorderen Höhle die Kapuze über, drängte ihn vor sich die Leiter hinauf und stieg mit ihm in die Höhe.

Oben angelangt und die freie Luft spürend, athmete der Herzog tief auf.

„Gerettet!“ sagte der Graf. „Nun rasch zu Pferde und davon!“

Man saß auf, wie beim Komnen und kehrte in ganz derselben Weise zurück.

Vor der Seitenpforte des Barchfelder Schloßparks entfernte Saint Germain die Hülle, welche des Herzogs Haupt bedeckte; heller Mondschein lag wie vorhin auf den Kieswegen, den Rasenstecken und zartbegrünten Bosquets des Gartens, nur stand der Mond höher als vorhin, und jetzt schlug es zehn Uhr vom Thurm des Schlosses.

„Sie sind wirklich ein Wundermann, Graf, in einer einzigem Stunde mich das erleben zu lassen!“ rief der Herzog tief erschüttert. „Wenn ich sie, dies entzückendste Weib, das mein Auge je geschaut, nicht jetzt noch deutlich, unauslöschlich, unvergeßlich vor mir sähe, ich könnte mir einbilden, ich habe hier auf der Gartenbank gelegen und im Mondschein geträumt, so wunderbar war dies Erlebniß!“

Als die beiden Männer wieder in das von Tabakswolken erfüllte Spielzimmer traten, erkannten sie aus der andern Herren Anrede, daß man ihre längere Abwesenheit gar nicht bemerkt habe.

Der Herzog ging zur Seite; verdrossen schlug er die Arme unter, winkte Saint Germain zu sich und sagte:

„Jetzt fordern Sie, bestimmen Sie, machen Sie mit mir, was Sie wollen; alles Andere widert mich an, nichts hat Reiz als sie! Schaffen Sie mir jene Huldgöttin, Ihre Venus!“

„Durchlaucht müssen Geduld haben,“ erwiderte der Wundermann kühl. „Ich erlaubte mir schon früher die Bemerkung, daß dies ein sehr schwieriges, weitaussehendes Unternehmen sein würde.“


23.

Ganz erfüllt von dem Abenteuer in Barchfeld, das er sich immer auf’s Neue vergeblich als auf natürlichem Wege zugegangen vorzustellen versuchte, kam der Herzog, wenige Tage später, wieder in Weimar an.

Saint Germain hatte sich während ihres weiteren dortigen Zusammenseins von ihm fern gehalten, hatte dem Drängen und den ungeduldigen Fragen des erregten jungen Fürsten Ablehnung und ein Vertrösten auf später entgegengesetzt, und war endlich mit den anderen Herren nach Kassel zurückgekehrt.

Jetzt war auch Goethe von Ilmenau heimgekommen, und nun ertrug Karl August es doch nicht länger, sein wunderbares Erlebniß vor dem Freunde zu verbergen; er suchte ihn, ganz erfüllt von jenen wunderlichen Dingen, in seinem Gartenhause auf. Sie saßen mit einander auf dem Altan, und der Herzog erzählte ganz genau seine Erlebnisse; sowohl das am Morgen der Auerhahnjagd auf dem Kohlberge bei der Wartburg, wie auch den seltsamen Ritt von Barchfeld aus und sein köstliches Begegniß mit der Huldgöttin.

Staunend folgte der ruhige, scharfsinnige Hörer diesem langen Bericht. Er warf Fragen dazwischen und rief lachend, daß man doch, trotz vieler scheinbaren Beweise, nicht an übernatürliche Dinge glauben könne!

„Nach und nach sage ich mir das selbst,“ erwiderte der Herzog lebhaft; „wenn ich nun auch bei ruhigem Blut nicht mehr an Saint Germain’s Faxen vom Fliegenkönnen, von Luftvolten, von losgelassener wilder Jagd und dergleichen glaube, so bleibt doch immer noch genug übrig, um meine Phantasie mit dem Tausendkünstler und seinen Leistungen zu erfüllen. Du stehst kühl außerhalb jener Ereignisse, Du blickst darauf, ich blicke hinein; so war und bin ich mit allen Sinnen gefesselt. Es kommt auch viel zusammen, um mich gefangen zu nehmen! Ich kenne ja die Gegend am Hörselloch wie meine Stube, und ich sage Dir: jeder Schritt traf zu! Wie aber willst Du zu Pferde, in kaum einer halbe Stunde, von Barchfeld nach dem Hörselberge gelangen? Du kennst doch auch die Entfernungen und weißt, daß es ein respectabler Ritt von mehreren Stunde ist.“

„So hat der Betrüger sich in der Nähe etwas Passendes gesucht. Sie sagen, er sei Geognost; er schlug zuerst vor, Sie in den Kyffhäuser zu führen, vermuthlich hat irgend eine von ihm entdeckte Schlucht, Höhle oder ein alter Schacht ihm den Plan eingegeben, Sie durch jene Komödie von seiner übernatürlichen Kunst zu überzeugen. Und wohlberechnet war’s, Ihnen als Lockmittel ein schönes Weib zu zeigen.“

„Deutlich sehe ich nur, daß er ein höchst geschickter Improvisator ist, von dem sich viel Hübsches erwarten ließe. Ich wollte doch, man könnte seiner habhaft werden, ihn an Weimar fesseln!“

„Dürfte er nicht ein gefährliches Spielzeug sein?“

„Was willst Du? Soll ich mich vor dem Charlatan fürchten?“ Karl August lachte laut auf. „Er taxirt mich zu billig, wenn er denkt, mir Sand in die Augen zu streuen; aber zu meinem Vergnügen seine Künste nutzen, warum nicht? Und dann, Freund, wie soll ich ohne ihn die Venus finden? Ich sage Dir, daß unter allen Weibern, die ich kenne, kein solch entzückendes Geschöpf existirt, wie ich es gesehen habe! Dieser Mantel sanft gewellten, mattblonden Haares war an sich ein Wunder!“

„Toilettekünste, theatralische Schaustellung, vielleicht ein hübsch ausgestatteter Automat,“ warf der Freund mit Achselzucken ein.

Der Herzog fuhr auf.

„Strafe meine Augen nicht Lügen, es sind die scharfen und wohlgeübten eines Jägers; nicht eine Linie ihres ebenmäßigen Gesichts, kein Blick ihres großes, blaue Auges, kein Lächeln der sanft geschwellten Lippe, kein Athemzug, keine Bewegung des göttliche Leibes, der doch von ebensolchem Fleisch und Bein war wie der unsere, ist mir entgangen. Nie sah ich ihresgleichen und ewig werde ich mich nach ihr sehnen!“

Es half Goethe nichts, dagegen zu streiten. Er gerieth allmählich in Hitze und verdarb es dadurch ganz. Wäre er ruhiger zu Werke gegangen, so würde er sich vielleicht den alten Einfluß auf des Herzogs Stimmung bewahrt haben. Hier trat die Verschiedenheit ihrer Naturanlage aber schroff gegen einander, und so fehlte für den Augenblick von beiden Seiten das richtige Verständniß. Karl August hatte nichts dagegen, sich etwas vorgaukeln zu lassen, wenn es ihn amüsirte und sobald Genuß dabei herauskam. Goethe haßte jede Art von falschem Schein. Hielt er doch vorzugsweise auf Wahrheit. Auch zählte er acht Jahre mehr als der feurige junge Fürst, der in den Brausejahren der Entwickelung stand und noch nicht ernstlich an eine Begrenzung dachte.

(Fortsetzung folgt.)
[635]
Der Hahnentanz.
(Mit Illustration S. 632 und 633.)

Hellauf! Juhuh!“ tönt der gellende Jauchzer des Burschen, der mit seinem Mädel den Reigen springt im Hahnentanz. Ob er sich wohl schon Gedanken darüber gemacht hat, warum gerade ein Hahn da droben sitzt, in dem bändergeschmückten Korb auf dem seltsamen Gerüst? Schwerlich! Witze hat er vielleicht schon über den Gockeler gemacht, ziemlich derbe Witze wahrscheinlich; aber über Sinn und Herkunft des Herrschers vom Hühnerhof da droben hat er so wenig nachgedacht als darüber, warum auf dem Kirchthurm überm Knopf ein vergoldeter Gockelhahn sich im Winde dreht und nicht etwa eine silberne Ente. So ist’s eben und so ist’s gewesen, seit die ältesten Leute sich’s denken können. Damit Basta! „Hellauf! Juhuh!“

Eine ärgere Langweilerei gäb’s nicht für einen Bauernbuben, als wenn man ihm erklären wollte, woher seine Bräuche kommen, was etwa für uralter Sinn noch darin stecke. Aus Höflichkeit, hört er vielleicht dem wohlweisen Stadtherrn eine Weile zu, aber schon zuckt’s um seine Mundwinkel, schon läßt er einen verstohlenen Blick seitwärts nach seinem Kameraden oder nach seiner Tänzerin laufen, dessen Sinn ohne Worte verstanden wird und wörtlich übersetzt auf Schwäbisch lautet: „Descht a’ Lalle[2], a’ g’schtudirter! Moi’t dear, miar wöllet wissa’, was en seine Büacher stôht? Miar tanzet um den Gockeler ond staußet ’s Wasser ra, daß patscht, ond nôche zahla’ mer en Schoppa’! Isch et wôhr, Kathre’? Hellauf, Juh!“

Wir Gebildeten, wie wir uns nennen, haben sie fast völlig eingebüßt, diese sinnenfreudige Unmittelbarkeit, die einfach und frischweg am Festtag genießt, ohne sich über Warum und Woher den Kopf zu zerbrechen, wie sie am Werktag sich schindet und plagt, ebenfalls ohne zu fragen, warum? Und wenn wir nicht gerade Maler oder Poeten sind, die am schönen Schein sich freuen, so können wir’s auch den noch vorhandenen Volksbelustigungen gegenüber schwer lassen, nach Herkunft und Bedeutung zu fragen, und wir sind königlich entzückt, wenn wir die Spuren eines Brauches oder Festes bis in die graueste Urzeit hinein verfolgen und etwa auf den altgermanischen Mythus zurückführen können.

„Sagen Sie: in diesem Hahnentanz steckt doch gewiß noch ein Stück Edda?“ fragte mich einmal aus Anlaß des Schaumann’schen Bildes ein sonst recht liebes und gescheidtes Mädchen, das nur etwas viel gelernt hat. Merkwürdigerweise sieht sie der jungen Dame auffallend gleich, welche auf dem genannten Bilde, rechts vom Beschauer, Beutel und Fächer so zierlich hält, ohne daß der mißvergnügte Festhammel im Vordergrund mehr Notiz davon nehmen würde, als von dem Locken der Kindsmagd.

Ich neigte mich respectvoll vor dieser schwierigen Frage, und all mein bischen germanistische Weisheit zusammennehmend, holte ich in möglichst gelehrtem Tone aus:

„Mit der Edda, mein liebes und verehrtes Fräulein, ist es leider so eine Sache. Wir verehren sie als die allerälteste Urkunde des Glaubens unserer Väter und ersterben in sothaner Ehrfurcht auch vor jenen Bestandtheilen derselben, welche so gewiß den Namen Zopf verdienen, wie das, was den Musikanten auf unserem Bild über den Nacken baumelt oder dem zur Zeit in der Luft schwebenden Helden, dessen civile oder militärische Bedeutung im Staate des Herzogs Karl Eugen von Württemberg vorläufig dahingestellt sein mag. Ebenso freilich muß ich vorderhand auch dahingestellt sein lassen, wie viel in Ihrer Edda Dichtung christlicher Priester und wieviel Aufzeichnung altheidnischer Lieder ist. Ich eile, zu unserem Hahn zu kommen. Hähne krähen allerdings in der Edda zu wiederholten Malen, zuweilen in recht entscheidenden Augenblicken, beispielsweise vor der Ihnen sicherlich und nicht blos durch Richard Wagner bekannten Götterdämmerung. Ob wir die letztere bisher richtig verstanden haben oder ob der von den Herren vom Fach hartnäckig todtgeschwiegene G. A. B. Schierenberg Recht hat, welcher dieselbe als das ,Gottesgericht über Roms Sieggötter’ deutet und die Wurzeln der Eddasage im Teutoburger Walde findet – darüber müssen Sie einen Gelehrten fragen! Wir bleiben bei unsern Hähnen. Diese setzt die Sage gern als Wächter auf heilige Bäume und es ist nicht undenkbar, daß man im germanischen Alterthum auch in Wirklichkeit es gern gesehen hat, wenn sie dort wie der Auerhahn aufbäumten, daß man überhaupt bei dem noch bescheidenen Stand der Geflügelzucht es ihnen überlassen hat, sich auf Bäumen für die Nacht niederzulassen.

Sicherlich war der Hahn ein geachtetes, wonicht heiliges Thier, und sicherlich stand er auch in Beziehung zu heiligen Bäumen. Deswegen wohl sitzt er heute noch auf unsern Kirchthürmen. Im Volksbrauch erscheint er wiederholt auf der Spitze eines Bäumchens, so insbesondere bei Erntefesten, bei denen Bäumchen und Hahn den letzten Garbenwagen zieren. Mit der Ernte und dem Ernteschlusse hat der Hahn überhaupt vielfach zu thun, und da an die letzte Garbe sich jederzeit religiöse Pflichten und Bräuche knüpfen, so wird wohl auch hier der Hahn irgendwie geheiligter Herkunft sein. Der Hahnentanz aber fällt, wo er noch Brauch ist, meist in die Zeit des Ernteschlusses, der schwäbischen ,Sichelhenket’, wohl auch ,Schnitthahn’ oder ,Erntehahn’ genannt – und so werden Sie schwerlich fehlgehen, wenn Sie in dem galgenartigen Gerüste, um das der Hahnentanz sich dreht, den etwas verweltlichten Nachkommen irgend eines altheiligen Baumes sehen wollen und in dem Hahn da droben, der in starkem Unbehagen zuweilen ein verlegenes Kikeriki in das Jauchzen der Tanzenden mischt, den ziemlich verbauerten Abkömmling des goldgekämmten Hahnes Fialar, der in der Edda die Asen zum Kampfe der Götterdämmerung weckt – falls dieser nicht einfach das Ernteschluß- und Herbstfest bedeutet, das dem Quintilius Varus im Jahre 9 verhängnißvoll wurde.“

Meine junge Freundin machte ein so ernsthaftes und belehrtes Gesicht, daß ich rasch aus meiner gelehrten Rolle fiel und sagte: „Ich will aber damit durchaus keine genügende Erklärung des Hahnentanzes gegeben haben!“

„Nicht?“ erwiderte sie. „Dann sind Sie ein bescheidener Gelehrter!“

„Bitte, gar keiner!“ gab ich zurück, sie aber frug getrost weiter: „Und was ist denn Ihre Erklärung für das Wassergefäß, das der Bursche beim Hahnentanz herunterstoßen muß, wenn seine Tänzerin ihn kraftvoll emporschwingt? Wasser spielt doch auch eine Rolle in der Mythologie?“

Nun wurde mir’s heiß, und wenn mir’s heiß wird bei allzu klugen Fragen, so kann ich ein klein wenig Bosheit nicht unterdrücken. Ich stellte daher die Gegenfrage: „Waren Sie schon auf dem Schäferlauf in Markgröningen und haben Sie dort schon einen Bauernburschen gefragt, warum er vor Beginn des Hahnentanzes sein Schnupftuch um’s Knie bindet?“

„Hat das symbolische Bedeutung?“ fragte sie rasch und harmlos.

„Gewiß!“ erwiderte ich; aber nun verrieth mich mein ehrliches Gesicht, sie merkte die Bosheit und sagte spitzig:

„Ich war überhaupt noch nie in Markgröningen.“

„Das thut mir leid,“ gab ich zur Antwort, „denn in diesem abseits von der Bahn gelegenen schwäbischen Städtchen steht gewissermaßen die Wiege württembergischer Landeshoheit; auch die Reichssturmfahne ist von dort in’s württembergische Wappen gekommen, und für den Freund alter Städte bietet das Städtchen in seiner Art noch heute viel Anheimelndes, ganz abgesehen von Schäferlauf und Hahnentanz.“

Nun war meine liebe Kleine schon wieder versöhnt, denn dem Zauber des Alterthümlichen widersteht ja heutzutage kein gebildetes weibliches Gemüth mehr.

„Ach, wie interessant!“ sagte sie; „da ist’s gewiß Markgröningen, was dem Maler unseres Bildes als Hintergrund vorgeschwebt hat?“

„Was und wieweit ihm etwas ,vorgeschwebt’ hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Seine Skizzen und Motive werden sehr bestimmter localer Art sein. Markgröningen kenne ich genau, von dem ist nichts auf dem Bild; eher etwas von Urach, das auch einen Schäferlauf hat, oder von Teinach, wo der Hahnentanz noch lebt – doch, da müßten Sie den Maler selbst fragen.“

„Ach, erzählen Sie mir von Markgröningen, vom Schäferlauf – und,“ fügte sie etwas kleinlaut bei, „was ist’s denn mit dem Taschentuch der Bursche beim Hahnentanz? Auf unserem Bilde ist nichts dergleichen zu sehen.“

„Von Markgröningen und vom Schäferlauf ein andermal, liebes Fräulein! Heute nur so viel, daß auch dieser Schäferlauf nach Ernteschluß, am Feiertage Bartholomäi, stattfindet, und daß unter den verschiedenen Belustigungen, welche sich an den eigentlichen Schäferwettlauf schließen, auch der Hahnentanz seine Stelle findet. Was aber die genannten Schnupftücher angeht, so werden sie zu dem einfach praktischen Zwecke um’s Knie gebunden, damit die Tänzerin, welche den Tänzer nach dem Wassergefäße emporzuschwingen hat, eine festere Handhabe findet. An dem kranzumwundenen Arme des Hahnengalgens ist, wie Sie auch auf dem Bilde sehen, eine Art Klappe oder auch ein an Schnüren baumelndes Brettchen angebracht, worauf das Wassergefäß steht. So oft nun beim Rundtanze ein Paar unter diesem Gefäße angelangt ist, hüpft es auf der Stelle so lange, bis der Schwung gefunden wird, welcher den Tänzer emporschnellt, sodaß er mit dem Kopfe an die Klappe oder an das Brettchen stößt und das Gefäß herunterwirft. Ob sich der Inhalt desselben über das schwingende Paar selbst oder über das nächste Paar ergießt, hängt ganz von der jeweiligen Gewandtheit der Paare ab; am Gelächter und Jubel der Zuschauer fehlt es in keinem Falle, und drollige Scenen bleiben namentlich dann nicht aus, wenn durch das oft vergossene Wasser der Boden, auf dem der Halt beim Schwunge zu suchen, allmählich ,glitschig’ geworden ist. Hat der Jubel lange genug gedauert, so thut das Preisgericht seinen Spruch: den Preis, den Hahn sammt Korb, etwa auch einen Festhammel, erhält das Paar, welches am häufigsten, gewandtesten und zierlichsten das Wasser geworfen hat.

Was nun Sinn und Ursprung dieses Wasserstoßens sein mag, weiß ich nicht. Ich glaube, wir suchen Sinn und Bedeutung in manchem Brauche, der einfach dem lieben lustigen Unsinne der fröhlichen Jugend seinen Ursprung verdankt und nichts ist, als eine heitere Kinderei. Aber das weiß ich, welchem Paare auf unserem Bilde ich als Preisrichter unzweifelhaft den Sieg zusprechen würde! Das ist das herrlich frische Pärchen, das dort links hinter dem geschwungenen Dreispitz des vorderen Tänzers hervorkommt. Wenn dies Paar an der Schwungstelle ist, wird’s noch ganz anders aussehen, als jetzt, da jenes Mittelding zwischen Amtsschreiber und beurlaubtem Musketier über den Schultern seiner nicht mehr ganz jugendlichen Tänzerin schwebt. Meine Ansicht theilt wahrscheinlich auch der fidele alte Geiger, der dort unter dem Hahnenbaume über den Weinkrügen sitzt und streicht. Was der listig sentimentale Guitarrespieler daneben für einen Geschmack hat, ist eine andere Frage. Darüber vollends erlaube ich mir keine Muthmaßung, was etwa Serenissimus zu denken geruhen mag, welcher mit „seinem Frauenzimmer“ im Hintergrunde erscheint und die Bücklinge der Stadtgewaltigen huldvoll entgegen nimmt, dafern er nicht gnädigst an denselben vorbeisieht. Aber so viel ist sicher, daß mit dem Ende des Hahnentanzes der Festtag noch nicht aus ist! Mit Sonnenuntergang geht es auf’s Rathhaus, und dort geht Schmaus und Tanz weiter die ganze Nacht. Selbst die Honoratioren des Städtchens verschmähen es nicht, sich unter die Tanzenden und Trinkenden zu mischen. Möchten Sie auch mitthun, verehrtes Fräulein?“

„Ich weiß doch nicht,“ sagt sie etwas nachdenklich.

„Ich möchte Ihnen auch nicht unbedingt zureden. Wenn’s einmal heißt:

,Lustig Bäsle,
Lupf’ dei Gläsle!’

– ich bin nicht ganz sicher, wie Sie sich dabei zurechtfinden würden.“

Carl Weitbrecht.
[636]
Blätter und Blüthen.

Eugenie Marlitt! – „Abermals ein neues Quartal vor der Thür, und noch immer nicht Marlitt?“ So hören wir im Geist die vorwurfsvollen Fragen unserer Leser. Sie hatten ein Recht zu diesem Unwillen, so lange ihnen über die beklagenswerthe Ursache, warum wir noch immer nicht mit dem Abdruck des schon längst angekündigten neuen Romans unserer gefeierten Mitarbeiterin E. Marlitt beginnen konnten, keine Mittheilung gemacht worden war. Das kann aber erst jetzt geschehen, wo jede Besorgniß über die Gefahr, in welcher unsere Freundin und ihr Werk sehr lange Zeit schwebten, vollständig beseitigt ist.

Der neue Roman „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“ war im vorigen Sommer schon so weit gediehen, daß die Verfasserin, in voller geistiger Rüstigkeit sich der Arbeit freuend, uns die baldige Beendigung derselben zusichern konnte. Da kam ein Unglückstag dazwischen. Unsere bekanntlich schon seit Jahren an Rheumatismus leidende Dichterin muß, wenn sie die Aussicht von den oberen Räumen ihres schönen Heims genießen will, sich eines Tragstuhls bedienen. An einem sonnigen, zum Genuß der Aussicht lockenden Julitage (es war der 28.) sollte ein neuer derartiger Stuhl zum ersten Male benutzt werden, und da geschah es, daß die Kranke durch einen unglücklichen Zufall von demselben herabgeschleudert wurde und bei diesem Sturze mit der vollen Wucht des Körpers auf das rechte Knie fiel.

Der große Schmerz und die Erschütterung, die den ganzen Körper betroffen hatte, ließen das Schlimmste befürchten. Wochen lang dauerte der Schmerz am Knie, durch die geringste Bewegung oder Berührung oft bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Auch als nach und nach das Schmerzgefühl sich linderte, blieb die Kranke an das Lager gefesselt, und Monate lang untersagte der Arzt ihr jede geistige Beschäftigung. Dazu stellte sich noch ein katarrhalisches Magenleiden ein, so daß die Genesung unserer armen Freundin nur langsam fortschritt. Erst im Laufe dieses Sommers erfreute uns die Nachricht, daß das Leiden weit genug überwunden sei, um unserer vielgeprüften Dichterin zu gestatten, wenigstens einige Stunden des Tages wieder an dem so heißersehnten Schreibtische zuzubringen, und am 4. September konnte E. Marlitt mit frischen und festen Zügen uns schreiben: „Meine neue Arbeit wächst täglich, und ich kann Ihnen das feste Versprechen geben, daß sie Mitte oder Ende November pünktlich in Ihren Händen sein wird.“

Wir sind überzeugt, daß diese Nachricht von allen Freunden der „Gartenlaube“ mit der warmen Theilnahme begrüßt wird, welche sie seit achtzehn Jahren der Dichterin und ihren Schöpfungen gewidmet haben. Für die vielen Anfragen nach dem Verbleib der neuen Marlitt’schen Erzählung möge diese Nachricht zugleich als nunmehr gewiß vollkommen genügende Antwort gelten.


General-Feldmarschall Herwarth von Bittenfeld. †. Mitten in den Festjubel der Sedanfeier schallte die Trauerbotschaft von dem Tode eines der ältesten und verdienstvollsten deutschen Heerführer, des Generalfeldmarschalls Herwarth von Bittenfeld, der zu Bonn in der Nacht vom 1. zum 2. September verstorben ist. Zwar war es dem bereits im Jahre 1796 geborenen General nicht beschieden, in dem glorreichen Kriege von 1870 auf 1871 neue Lorbeeren den alterworbenen hinzuzufügen, aber seine Waffenthat bei Alfen am 29. Juni 1864, die den glänzenden Schluß des schleswig-holsteinischen Krieges bildete, hat seinen Namen für ewige Zeiten in die Blätter der Geschichte eingetragen; er erhielt für diese Ruhmesthat den Orden pour le mérite, die höchste militärische Auszeichnung. Im Kriegsjahre 1866 führte der General die Elbarmee und trug zu der Entscheidung von Königgrätz in hervorragender Weise bei, nachdem er die siegreichen Gefechte bei Hühnerwasser und Münchengrätz geliefert. Er erhielt dafür den Schwarzen Adlerorden und später eine Dotation. Im Jahre 1870 wurde Herwarth von Bittenfeld zum Generalgouverneur des westlichen Deutschland (Bereich des siebenten, achten und elften Armeecorps) ernannt und 1871 unter Verleihung des Charakters als General-Feldmarschall zu den Officieren der Armee versetzt. Der Verstorbene hatte eine kernige, furchtlose Natur, die ihm die Liebe seiner Untergebenen erwarb und, in Verbindung mit seltener Willenskraft, seine großen militärischen Erfolge sicherte. Er war, volksthümlich im besten Sinne des Wortes, ein echter deutscher Mann, der sein gut Theil zur Einigung unseres Vaterlandes beigetragen. *     

Ein naiver Polizeimeister. Vor langen Jahren beehrte der verstorbene dänische Staatsminister Mösting die schleswig’sche Stadt H. mit seinem Besuch. Es lag ihm vor allem daran, sich davon zu überzeugen, wie es daselbst um die Handhabung einer kürzlich erlassenen allgemeinen Polizeiordnung stehe. An der Seite des Bürgermeisters die Straßen durchwandernd, fiel es dem hohen Beamten auf, daß die liebe Stadtjugend einen nach seiner Ansicht mehr als erlaubten Lärm vollführte. „Wer hat denn hier eigentlich die Straßenpolizei in Händen?“ fragte der Minister seinen Begleiter. „Die Polizei?“ erwiderte dieser verdutzt, „das weiß ich wirklich nicht; aber die fünfzig Mark habe ich dafür.“ Hmn.     


Nichts dahinter. Der Professor Zachariä in Braunschweig, ein seiner Zeit geschätzter, jetzt fast vergessener Dichter, war sehr eitel. Neben einem schönen Hanse mit prächtiger Einrichtung schaffte er sich auch eine Equipage an und ließ auf deren Thür ein Z malen. Als man das Lessing erzählte, meinte derselbe trocken:

„Er hätte wenigstens das Z von seinem Wagen weglassen sollen, denn wenn die Leute es bemerken, werden sie sagen: Es ist nichts dahinter.“ L. M.     

Allerlei Kurzweil.

Die Schwalben. Magisches Tableau von S. Atanas.

SWWUIEIHNEDRSEENR!


Auflösung des Scherz-Räthsels in Nr. 37: Taugenichts.


Auflösung des zweisilbigen Räthsels in Nr. 37:' Amtmann.

Kleiner Briefkasten.


B. P., neuer Abonnent. Gewiß steckte in dem Zeitalter der Kreuzzüge noch viel heidnischer Brauch; es ist Thatsache, daß einzelne Schaaren, die nach dem gelobten Lande zogen, eine Ziege und einen Gänserich an ihrer Seite hatten, weil diese Thiere – nach altheidnischer Vorstellung – vom göttlichen Geiste erfüllt, am besten den richtigen Weg zeigen könnten. Sie sind also mit Ihrer Behauptung, daß in der Zeit der Kreuzzüge sich das Christenthum am reinsten bethätigte, nicht im Rechte.

A. K. in Mainz. Die Saalburg bei Homburg ist von Drusus im Jahre 11 v. Chr. angelegt.

Edith R. in Dresden. Wir sind gern bereit, Ihnen brieflich die gewünschte Auskunft zu geben, weshalb wir um Angabe Ihrer genauen Adresse bitten.

Ein alter Abonnent in S. Schwindel.

M. G. A. in A. Derselbe Zeichner, von dem die übrigen Bilder herrühren.

Maly R. in K. C. Nein.

F. W. in Berlin, C. A. in Prag, L. v. G., L. Lt. Zrkf., L. C. in Cez., L. L. in Wien, L. Schr. in 'E.: Ungeeignet.


[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.

Die Verlagshandlung.     


  1. An dieser Stelle muß auf’s Entschiedenste der irrthümlichen, leider aber sehr weitverbreiteten Vorstellung entgegengetreten werden, daß diese mehrtausendjährigen Weizenkörner jemals zum Keimen gebracht worden seien. Die Riesenhalme von sogenanntem Mumienweizen, die das Florentiner Museum aufbewahrt, verdanken ihre Entstehung einer groben Mystification des betreffenden Gärtners. Ist die äußere Gestalt vieler Pflanzentheile auch unverändert geblieben, so kann doch das Gleiche nicht von der chemischen Natur der sie zusammensetzenden Stoffe gesagt werden, und dieser Umstand schließt jede Möglichkeit aus, daß auch die Keimkraft der uralten Getreidekörner sich unverändert erhalten konnte.
  2. Ungeschickter,unbeholfener Mensch.