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Ein untergegangener Dichter

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Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: Ein untergegangener Dichter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 272
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Biographie von Johann Christian Günther
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Ein untergegangener Dichter.

Am 24. September des Jahres 1715 wurde in der alten schlesischen Stadt Schweidnitz eine neue Tragödie unter dem Titel „Die von Theodosia bereu’te Eifersucht“ durch die dortige Schuljugend aufgeführt. Der Verfasser derselben war selbst noch ein Schüler Namens Johann Christian Günther, der Sohn eines Arztes aus dem benachbarten Striegau. Von Jugend auf zeigte der von der Natur auch körperlich sehr reich begabte Knabe einen unwiderstehlichen Wissensdrang und Neigung zum Dichten, wogegen der strenge, durch mancherlei Mißgeschick verbitterte Vater vergebens ankämpfte. Das deutlich ausgesprochene Talent erwarb ihm jedoch einen Gönner in der Person des Doctor Thiem zu Schweidnitz, der in großmüthiger Weise für ihn sorgte. Christian erfüllte in vollstem Maße die von ihm gehegten Erwartungen; er machte die bedeutendsten Fortschritte und fand trotz seiner Jugend die größte Anerkennung, so daß ihm eine glänzende Zukunft zu lächeln schien. Bei seinem Abgange von der Schule zur Universität hatte er die genannte Tragödie geschrieben, welche seine Lehrer für würdig erklärten, öffentlich aufgeführt zu werden. Der zum Theater umgewandelte Saal faßte kaum die Zahl der Zuschauer, unter denen sich der würdige Magistrat der Stadt, der Oberprediger und fromme Liederdichter Benjamin Schmolk und viele adlige Familien aus der Umgegend befanden. Mit großer Theilnahme verfolgte das auserwählte Publicum den Gang der Handlung und besonders das Geschick der schönen Kaiserin Eudoxia, der Gemahlin des eifersüchtigen Theodosius, welcher die Unschuldige eines geheimen Einverständnisses mit seinem edlen Rath Paulinus verdächtigt und diesen hinrichten läßt. Zu spät überzeugt sich der grausame Kaiser von seinem Irrthum, indem Eudoxia, vor ein Gericht gebracht, sich von jedem Verdacht reinigt und im Glanze der Tugend siegreich aus der Prüfung hervorgeht. Mit himmlischer Milde vergiebt sie ihm zwar, aber sie verläßt ihn, um sich in ein Kloster nach Jerusalem zurückzuziehen. – Von tiefster Wirkung waren ihre rührenden Klagen, welche folgendermaßen lauteten:

„Ich seh’ die Wetter schon am Himmel streiten,
Den der Verleumdungs-Dunst mit dicken Wolken schwärzt,
In welchen Blitz und Schlag mit Donnerkeilen scherzt,
Gott, meiner Väter Gott! der Du den Frommen lohnest,
Ich halte Deiner Hand in Allem gerne still
Und weigre, hat Dein Zorn was über mich verhangen,
Mich auch für diesmal nicht, die Strafe zu einpfangen,
Die ich vielleicht verdient; doch denk an Deine Huld,
An Deine Vater-Treu und gieb mir stets Geduld,
Die väterliche Zucht mit Freuden anzunehmen
Und sonder Murren mich Dir also zu bequemen,
Wie es Dein Wille fügt und mein Gehorsam heißt.“

Kein Auge blieb thränenleer und selbst der ehrwürdige Oberprediger nickte beifällig mit dem Kopfe und stimmte in den allgemeinen Beifall ein, der am Schlusse dem jugendlichen Dichter zu Theil wurde. Dieser mußte nach der Vorstellung auf der Bühne

[277]

Günther mit seiner Leonore auf dem Friedhofe.
Originalzeichnung von C. Raupp.

erscheinen und wurde von allen Anwesenden mit lautem Zuruf begrüßt. Manches anwesende adlige Fräulein und manche Patriciertochter blickte freundlich und mit sichtbarem Wohlgefallen auf den talentvollen, feurigen Jüngling mit den dunklen, blitzenden Augen und den angenehmen interessanten Zügen, welche von der Freude des ersten Triumphs schön geröthet und gleichsam verklärt waren. Sein Auge aber suchte unter all’ den holden Mädchen nur die Geliebte, der er längst sein Herz geschenkt. Er hatte sie auf dem Lande in einer befreundeten Familie kennen gelernt und nach manchen Kämpfen ihre Neigung gewonnen. Sie selbst besaß poetisches Talent und ein hohes Interesse für Bildung und Wissenschaft. Frühzeitig hatte Leonore Jachmann ihre Eltern verloren und lebte in dem Hause ihrer Stiefeltern, welche von der Liebe zu dem angehenden Studenten nichts wissen wollten und [278] nimmer zu der Verbindung mit dem ganz mittellosen Jüngling ihre Einwilligung gegeben hätten. Nur im Geheimen durften sich die liebenden sehen; der Ort ihrer verborgenen Zusammenkünfte war der Kirchhof, wo Leonorens Eltern unter dem grünen Rasen schlummerten.

Dorthin lenkte auch heute Günther nach der Vorstellung seiner Tragödie in der Abenddämmerung die Schritte, um von seiner Leonore auf längere Zeit Abschied zu nehmen – es ist die Scene, die unsere Abbildung wiederzugeben versucht. Er fand sie am Grabe ihrer Eltern weinend. Sanft umschlang er die Geliebte und küßte die Thränen von ihren Wangen fort, indem er sie zu trösten suchte.

„Du wirst mich nur zu bald vergessen,“ klagte sie in bitterem Schmerz, „und dann bin ich verlassen. Ich habe keinen Menschen auf der weiten Welt außer Dir.“

„Bei Allem, was mir heilig ist,“ rief der Jüngling, „schwöre ich Dir ewige Treue. Nie werde ich wanken und von Dir lassen. Aber Du,“ setzte er ahnungsvoll hinzu, „wirst Du dem Drängen Deiner Stiefeltern widerstehen?“

„Gott ist mein Zeuge,“ sagte sie feierlich, „daß ich niemals einem anderen Manne angehören werde. Bei meiner Eltern Leichensteine gelobe ich Dir, nur Dir allein anzugehören. Ihr Geist möge uns umschweben und segnen!“

Günther nahm ihre Hand und steckte einen goldenen Ring an ihren Finger.

„Im Angesicht des Himmels verlobe ich mich mit Dir; fortan bin ich, nächst Gott, Dein Schutz und Schild. Harre in Geduld und Alles wird noch gut werden. Der Gedanke an Dich wird mir Kraft verleihen und mich zum Ziele führen.“

Unter Küssen und Liebesschwüren zog er sie an seine Brust und auf den grünen Rasen nieder. Die goldenen Sterne leuchteten dem glücklichen Paare und schmetternde Nachtigallen sangen ihnen das Lied der Liebe. Noch einmal preßte er Leonore an seine Brust, dann schieden sie tief bewegt und unter heißen Thränen. Mit den besten Vorsätzen bezog Günther die Universität zu Wittenberg und besuchte fleißig die Collegien, aber die Medicin, welche er zu seinem Studium gewählt, gewährte seinem feurigen Geiste nicht die gewünschte Befriedigung. Die Liebe zur Poesie verdrängte die trockene Fachwissenschaft; das freie studentische Wesen riß ihn unwillkürlich fort und verleitete ihn zu manchen Ausschweifungen, die bei seiner Jugend verzeihlich waren. Er fehlte nicht so leicht bei einem lustigen Gelage und statt Galen und Hippokrates vereinte er die Musen des Gesanges und schwärmte mit den fröhlichen Brüdern. Aber mitten im Strudel seiner Vergnügungen bewahrte er die Treue für Leonore. Uebertriebene Gerüchte von seinem liederlichen Leben waren in die Heimath und auch zu ihren Ohren gelangt. Er bat und beschwor sie, den Verleumdungen keinen Glauben zu schenken und ihm nach wie vor zu vertrauen. Leonorens Stiefeltern jedoch drangen in sie, einem reichen und angesehenen Manne, der sich schon früher um sie beworben hatte, ihre Hand zu reichen. Sie schrieb ihm und er warnte sie vor einem Treubruche, der sie und ihn verderben müsse. Mit düsteren Farben malte er ihr das unglückliche Loos an der Seite eines ungeliebten Gatten; er verwies sie auf das Beispiel seiner eigenen Schwester, welche in einer traurigen Ehe lebte. Diese war unglücklich verheirathet und dadurch so verbittert, daß sie das Glück des Bruders zu stören und durch ihre Ränke Leonore von ihm abwendig zu machen suchte. Auch Günther’s Vater, ein strenger, harter Mann, war mit einer solchen Verbindung und mit dem Betragen seines Sohnes keineswegs einverstanden. Das ungünstige Urtheil seiner nächsten Angehörigen, die übertriebenen Gerüchte von seinem Leichtsinn, die Bitten und Drohungen ihrer Stiefeltern bestürmten Leonore von allen Seiten und machten vereint zuletzt einen so tiefen Eindruck auf das arme, verlassene Mädchen, daß sie endlich nach manchem schweren Kampf dem ungeliebten Bewerber zum Traualtare folgte.

Die Nachricht von Leonorens Untreue erschütterte Günther auf das Furchtbarste; er sah sich in seinen heiligsten Empfindungen, in seinen reinsten Gefühlen verletzt und gekränkt. Sein Glaube wankte, sein Vertrauen war zerstört und sein namenloser Schmerz kannte keine Grenzen. Zorn und Wuth loderten in seinem Herzen, abwechselnd mit Trotz und kalter Verachtung, denen er in seinen Liedern aus jener Zeit den beredten Ausdruck lieh:

Ich habe genug!
Lust, Flammen und Küsse
Sind giftig und Süße
Und machen nicht klug.
Komm, selige Freiheit, und dämpfe den Brand,
Der meinem Gemüthe die Weisheit entwandt!

Um sein Leid zu betäuben, ergab sich Günther jetzt mit Absicht dem ausschweifendsten Leben; mit der ganzen Gluth seines sinnlichen Naturells stürzte er sich in den Strudel der wildesten Zerstreuungen, welcher über ihn zusammenschlug. Fortan kannte er keine Rücksicht, keinen Halt mehr, die weibliche Tugend war für ihn nur noch ein leerer Wahn, seitdem Leonore ihn so schwer getäuscht. Tobende Zechgelage, wüste Abenteuer, blutige Raufereien und Liebeshändel ohne Zahl und Wahl waren seine Mittel, um den nagenden Schmerz zu beseitigen. Der liebenswürdige edle Jüngling verwandelte sich in einen cynischen Wüstling, in einen unverbesserlichen Schlemmer. Günther’s Wesen neigte von jeher zum Extrem und in seinem Innern wohnten die himmlischen Geister dicht neben den Dämonen der Hölle. Diese triumphirten und unter ihrem versengenden Hauche welkten die herrlichen Keime einer selten schön angelegten Natur. Dennoch gab es Augenblicke, wo das bessere Princip wieder in ihm erwachte, wo die alten schönen Erinnerungen auf’s Neue auftauchten, und es bedurfte nur einer kräftigen und doch milden Freundeshand, um ihn zu retten. Die Nachricht, daß die untreue Leonore in unglücklicher Ehe lebe, erfüllte ihn nicht mit Schadenfreude, sondern mit tiefem Mitgefühl. Als ihr Kind schon wenige Monate nach der Geburt starb, tröstete er sie mit einem seiner schönsten und rührendsten Gedichte. Er schrieb an sie und erklärte, daß er sie nie vergessen werde.

Mit der Zeit wurde ihm selbst das wilde Leben in Wittenberg zur Last; er zog sich von seinen früheren Zechgenossen zurück und wollte nach Leipzig gehen, um seine vernachlässigten Studien wieder aufzunehmen. Seine zahlreichen Gläubiger hielten ihn jedoch mit Gewalt zurück und ließen ihn, da sie seine heimliche Entfernung befürchteten, festnehmen. In der höchsten Noth wandte er sich an seinen Vater und bat ihn zu befreien, indem er ihm ernstlich Besserung gelobte und in den rührendsten Worten seine Verzeihung erflehte. Dieser blieb jedoch unerbittlich und überließ hart und unversöhnlich den reuigen Sohn seinem traurigen Geschick. Mit Hülfe der alten Gönner in Schweidnitz, an die sich Günther wandte, und einiger in Wittenberg studirender Landsleute öffneten sich endlich die Pforten seines Kerkers, so daß er mit den besten Vorsätzen sich nach Leipzig wenden konnte. Hier war er ganz auf sich angewiesen, da er von Hause aus keine Unterstützung zu erwarten hatte. Durch Gelegenheitsgedichte mußte er sich den nöthigen Unterhalt zu verschaffen suchen und seine Muse arbeitete für Brod. Dennoch fand sein Talent bald Gönner und einflußreiche Freunde, darunter den kursächsischcn Historiographen und Hofrath Burkhardt Mencke, einen der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, der außerdem noch das große Verdienst hatte, die deutsche Sprache statt der damals üblichen lateinischen in der Wissenschaft angewendet zu haben. Er selbst war Dichter und sein Haus der Mittelpunkt aller poetischen und wissenschaftlichen Kräfte in Leipzig. Mit wahrhafter Humanität unterstützte er den armen Günther und sorgte väterlich für sein Fortkommen. Auf Mencke’s Veranlassung besang derselbe die Siege des tapferen Eugen gegen die Türken und den Frieden von Passarowitz in einem größeren Gedichte voll Begeisterung für den großen Helden. Sein Gönner war von dieser Arbeit so entzückt, daß er das Gedicht nach Wien an den Kaiser selbst schickte, in der Hoffnung Günther dadurch eine Anstellung als Hofpoet zu verschaffen. Diese erfolgte nun zwar nicht, dagegen fand das Gedicht die allgemeinste Anerkennung und Bewunderung. Ganz Deutschland wurde auf den Verfasser aufmerksam, dem von allen Seiten Beweise der Theilnahme zuflossen. In Breslau traten mehrere angesehene Männer zusammen und schickten Günther eine ansehnliche Summe, um ihn längere Zeit vor jeder Noth zu schützen. –

Der edle Mencke war jedoch mit diesem Erfolge noch keineswegs zufrieden und bemühte sich nach wie vor, die Zukunft seines Schützlings dauernd zu sichern. Hierzu bot sich eine glänzende Gelegenheit, indem an dem prachtliebenden Hofe zu Dresden für den verstorbenen Ceremonienmeister und Hofpoeten von Besser ein entsprechender Ersatz gesucht wurde. Menke, an den man sich zu diesem Zwecke gewendet hatte, schlug den ihm befreundeten [279] Günther vor. Dieser ging mit den besten Empfehlungen nach Dresden, wo sich ihm die ersten Kreise aufthaten. Seine einnehmende Persönlichkeit und sein anerkanntes Talent eröffneten ihm die besten Aussichten; er selbst war entzückt von dem Leben und Treiben der Residenz, wo unter dem verschwenderischen August ein Fest das andere drängte und täglich die glänzendsten Schauspiele sich dem Auge darboten. Alles hing jedoch für Günther von seiner Audienz beim Könige ab und von dem Eindruck, den er auf diesen machen würde.

Unglücklicherweise hatte er einen Mitbewerber um die einträgliche Stelle in der Person des schlechten Gelegenheitsdichters Ulrich König, der in alle Intriguen und Ränke des schlüpfrigen Hoflebens eingeweiht war. Derselbe lebte im vertrautesten Verhältnisse mit einer Opernsängerin, Jungfer Schwarz, welche es übernahm, ihren Galan von dem lästigen Nebenbuhler zu befreien. Da es ihr nicht an Connexionen und Verbindungen fehlte, so war es ihr nicht schwer gefallen, den Tag der Audienz zu erfahren. Hierauf und auf Günther’s Schwäche baute das würdige Paar seinen Plan, um ihn zu verderben. Zur bestimmten Stunde fand sich dieser pünktlich in den Vorzimmern des königlichen Schlosses ein. Da er längere Zeit warten mußte, ehe er vorgelassen wurde, bot ihm ein bestochener Bedienter freundlich ein Glas Wein an, der mit Brechtropfen gemischt war. Die Wirkung blieb nicht aus und als er zu dem König gerufen wurde, war er nicht mehr im Stande, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Mit Mühe nur gewann er die Thür, durch die er verzweifelnd fortstürzte. Seine Gegner verbreiteten das Gerücht, er sei betrunken gewesen, und natürlich konnte von seiner Anstellung nicht ferner mehr die Rede sein. –

Der Stolz und das Bewußtsein des unverschuldeten Mißgeschicks trösteten ihn jedoch bald über den Verlust seiner Aussichten. Zugleich erwachte in ihm die Sehnsucht nach der Heimath und nach Leonoren, die unterdessen Wittwe geworden war. Nach langer Abwesenheit kehrte er in das Elternhaus zurück, um seine Familie wiederzusehen. Hatte er auch nicht das Ziel seiner Wünsche erreicht, so trat er doch mit Ruhm bedeckt, als ein von ganz Deutschland genannter und anerkannter Dichter, seinem strengen Vater entgegen. Dieser aber blieb unversöhnt; er wollte von dem „Versemacher“, von dem „vagabundirenden Hungerleider“ nichts wissen und wies ihn grausam von seiner Thür, ungeachtet der Bitten der Mutter und Schwester. Tief erschüttert und von Neuem in seinem Glauben an die Menschheit wankend, suchte der arme Günther die Geliebte seiner Jugend auf. Es war ein schmerzlich freudiges Wiedersehen; Lust und Trauer wechselten wie Regenschauer und Sonnenschein. Leonorens blasse Wangen verriethen die schweren Leiden und Kämpfe ihrer Seele, aber die Schule des Unglücks hatte sie gereift und mild verklärt. Auf den stürmischen Liebesfrühling war ein sanfter stiller Herbst gefolgt. Hand in Hand saßen wieder die Liebenden, welche sich gegenseitig so viel zu verzeihen hatten und verziehen. Jedes maß sich die größte Schuld bei und suchte das Andere frei zu sprechen. Von der traurigen Vergangenheit war nicht mehr die Rede, sondern von den Hoffnungen der Zukunft. Der Anblick und tröstende Zuspruch Leonorens gaben dem Unglücklichen neue Kraft; er wollte sie verdienen, ihrer würdig werden. Selbst das Studium der Medicin, die ihm sonst so widerwärtig war, erschien ihm jetzt als ein Mittel, ihre Hand zu erwerben. Mit dem Entschlusse, nach Leipzig zurückzukehren, um dort den Doctorgrad zu erlangen, nahm er zum zweiten Male den zärtlichsten Abschied von der Geliebten seines Herzens.

Zunächst aber galt es, die nöthigen Geldmittel zur Ausführung seines Vorhabens sich zu verschaffen; weshalb er sich nach Breslau wandte, wo er alte Freunde und Gönner fand. Von allen Seiten wurde dem gefeierten Dichter die glänzendste Aufnahme zu Theil, welche seiner Eitelkeit schmeichelte. Leicht bewegt ließ er sich von Neuem von dem Strudel des Lebens fortreißen und vergaß im Genusse des Daseins seinen ernsten Zweck. Wie in Leipzig den edlen Mencke, so gewann er auch in Breslau einen väterlichen Freund in dem reichen und hochgebildeten Herrn von Breßler. Derselbe öffnete Günthern sein angesehenes Haus und auf dessen Zukunft bedacht, indem er ihn als Hauslehrer dem Grafen Schaffgotsch empfahl. Bald aber verscherzte Günther die Gunst seines Beschützers, dessen Eifersucht er vielleicht ohne seine Schuld erregte, da die junge, geistvolle Frau von Breßler, die selbst Dichterin war, sich für den talentvollen Poeten lebhaft interessirte. Böse Zungen besprachen das an sich reine und unverfängliche Verhältniß in gehässiger Weise, so daß Herr von Breßler sich veranlaßt sah, den Umgang mit Günther abzubrechen, ohne ihm jedoch seinen Schutz gänzlich zu entziehen. Er aber verließ Breslau und irrte, von nun an wieder den finsteren Mächten verfallen, zwecklos ohne Ziel von einem Ort zum andern, mit Sorge, Noth und Hunger kämpfend. Zu allem Ungemach trat noch Krankheit hinzu; sein kräftiger Körper drohte zu erliegen. An Leib und Seele zerrüttet, wähnte er sich von aller Welt verlassen und der Verzweiflung preisgegeben. In dieser Stimmung schrieb er an Leonoren den Scheidebrief seiner Liebe, indem er feierlich allen Ansprüchen auf ihre Hand und ihr Herz für immer entsagte.

Noch einmal jedoch schien das Glück dem armen Dichter zu lächeln; in seiner höchsten Noth lernte er einen Herrn von Rimptsch kennen, der sich für ihn lebhaft interessirte und ihm in dem Städtchen Kreuzburg die Stelle eines Arztes, für die allerdings Günther am wenigsten geeignet war, verschaffte. Um ihn zu einem regelmäßigen Leben zu gewöhnen, schlug ihm sein neuer Gönner eine Partie mit der Tochter seines Pfarrers Domoratius vor. Günther war schwach genug, darauf einzugehen, erhielt jedoch anfänglich von dem Mädchen und auch von dem Vater einen Korb. Erst auf wiederholtes Zureden des Herrn von Rimptsch entschloß sich Phyllis, welche schon einmal Braut gewesen und betrogen worden war, sich mit Günther zu verloben, unter der Bedingung, daß er sich mit seinem Vater zuvor versöhnen sollte. Es war wohl unbewußte Vorbedeutung, daß er seiner Braut einen Verlobungsring mit einem Todtenkopfe überreichte.

Das Verhältniß mit Phyllis dauerte nur kurze Zeit; das Bild Leonorens mochte ihn wohl von ihrer Seite scheuchen. Er war nicht mehr für ein ruhiges, bürgerliches Leben geschaffen; wieder ergriff er die Flucht und irrte unstät umher, bald ein Unterkommen bei verschiedenen Herrn von Adel suchend, bald vor den Thüren der Gutsbesitzer und Landgeistlichen als Bettler pochend. So kam im Spätherbst noch einmal der verlorene Sohn in das Vaterhaus. Sein Anblick flößte den Seinigen Schrecken und Entsetzen ein; nur mit Mühe ließ sich seine Schwester bewegen, ihn einige Tage versteckt zu halten, da er dem Vater nicht unter die Augen treten durfte. Er wandte sich schriftlich an ihn in einem herzzerreißenden Gedichte, welches zu dem Bedeutendsten gehört, was Günther geschrieben hat. Der Anfang lautet:

„Und wie lange soll ich noch, Dich, mein Vater! selbst zu sprechen
Mit vergeblichem Bemühn, Hoffnung, Glück und Kräfte schwächen?
Macht mein Schmerz dein Blut nickt rege, o so rühre dich dies Blatt,
Das nunmehr die letzte Stärke kindlicher Empfindung hat!
Fünfmal hab ich schon versucht, nur dein Antlitz zu gewinnen,
Fünfmal hast du mich verschmäht!“

Seine Bitten waren umsonst, der harte Vater ließ ihm sein Haus für immer verbieten. Günther aber machte noch einen Versuch, gegen den Willen des Grausamen einzudringen. Elend und gebrochen, mit gefalteten Händen trat er ihm entgegen, auf den Knieen seine Verzeihung anflehend; der Vater aber stieß ihn mit eisener Unbarmherzigkeit zurück, während die kranke Mutter im Bette ihre Hände verzweifelnd rang und die Schwester sich weinend zwischen Beide stürzte. Furchtbar tönte der Fluch des Vaters in den Ohren des Ausgestoßenen, der, wie von Furien gepeitscht, in dunkler, stürmischer Nacht, unter Regen, Schnee und Wind auf der Landstraße weiter irrte, bis er zu Tode erschöpft in Jena anlangte. Ein schleichendes Fieber warf ihn auf das Krankenlager, aber Wochen lang noch zögerte der Tod, den müden Dulder zu erlösen. In diesen bangen Tagen erwachte Günther’s ganze edle Natur, läuterte sich seine Seele von den irdischen Schlacken, richtete er seine Blicke auf die Ewigkeit. Voll Ergebung bereitete er sich auf sein nahes Ende vor, keine Klage, kein Vorwurf entschlüpfte seinen Lippen, sein Herz war voll milder Vergebung, sein Geist voll Sehnsucht nach dem Göttlichen. Die Muse, um die er so schwer gelitten, war ihm allein treu geblieben und tröstete ihn in der bitteren Todesstunde. Wie der Schwan im Sterben, sang auch der Dichter im Angesicht des Grabes seine schönsten und reinsten Lieder, auf deren Schwingen er sich zum Himmel hob. Er selbst setzte sich die folgende Grabschrift:

„Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte,
Daß seine Dichterkunst zur Reife kommen sollte.
Mein Pilger, lies geschwind, und wandre deine Bahn,
Sonst steckt dich auch sein Staub mit Lieb’ und Unglück an.“

[280] Günther starb am 15. März 1732 in seinem noch nicht vollendeten achtundzwanzigsten Lebensjahre, „ein Dichter im vollen Sinne des Wortes,“ wie ihn Goethe nennt, der über ihn das Urtheil fällt: „Ein entschiedenes Talent begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtniß, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß Alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen und zwar im gemeinen, wirklichen. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zustände durch’s Gefühl zu erhöhen, und mit passenden Bildern, historischen und fabelhaften Ueberlieferungen zu schmücken. Das Wilde und Rohe daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter, oder wenn man will, seiner Charakterlosigkeit. Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben, wie sein Dichten.“

Max Ring.