Die „gute alte Zeit“

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Autor: Karl Biedermann
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Titel: Die „gute alte Zeit“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, 39, S. 146–148, 640–643
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[146]

Die „gute alte Zeit“.

Von Karl Biedermann.


I.


Der sehnsüchtige Ruf nach der „guten alten Zeit“, der gerade jetzt wieder häufiger vernommen wird, ist durchaus nichts Neues. Auch erklärt sich diese Erscheinung auf sehr natürliche Weise aus dem Gange des menschlichen Lebens selbst, wie er zu allen Zeiten war und zu allen Zeiten sein wird. Für viele, ja, man kann wohl sagen, für die meisten Menschen ist das tägliche Leben ein beinahe ununterbrochener „Kampf um’s Dasein“. Auch wer nicht eigentlich Noth leidet, ist doch von Sorgen und Mühen, von Anstrengungen und Entbehrungen selten ganz frei. Da ist es denn kein Wunder, wenn so Mancher sich aus dieser mühe- und sorgenvollen Gegenwart heraus gern in einen Zustand versetzt, den seine Phantasie ihm als einen von solchen Mühen und Sorgen, wenigstens vergleichsweise, freien vorspiegelt, sei es, daß er den Spuren Chamisso’s folgt, wenn dieser singt: „Ich träume als Kind mich zurücke“, oder daß er das thut, was Schiller in den Versen an deutet: „Es reden und träumen die Menschen viel von besseren künftigen Tagen.“ In beiden Fällen ist es weniger der Gegenstand des „Träumens“, als das „Träumen“ selbst, was dem Menschen ein glückliches Vergessen der Gegenwart bereitet, ungefähr so, wie der wirkliche Traum uns in eine andere Welt versetzt, als die, in der wir wachend uns befinden. Erscheint uns doch in unserm eigenen kleinen Leben das Vergangene meist in einer gewissen verklärenden Beleuchtung, entweder weil das hinter uns liegende Schwere nicht ebenso auf uns drückt, wie das gegenwärtige, oder weil die glückliche Ueberwindung von Leiden und Sorgen uns eine gewisse Befriedigung hinterläßt. Dieses Gefühl überträgt dann leicht der Einzelne von sich auf die ganze Gattung.

Diese psychologische Beobachtung stimmt uns duldsam gegen die Lobredner einer sogenannten „guten alten Zeit“, weil wir sehen, daß dieselben nur einer allgemeinen menschlichen Eigenthümlichkeit oder, wenn man will, Schwäche ihren Tribut zollen; aber sie gebietet uns zugleich Vorsicht in Bezug auf die Urtheile, welche aus einer solchen Stimmung heraus einestheils über die Vergangenheit, anderntheils über die Gegenwart gefällt werden. Schon der erwähnte Umstand, daß es zu allen Zeiten Schwärmer für eine frühere Zeit und Tadler der Gegenwart gegeben hat, muß uns gegen eine derartige rückwärts gewendete Lebensauffassung argwöhnisch machen, denn wir können vermuthen (und die Erfahrung bestätigt dies), daß, wenn den Jetztlebenden die Zeit ihrer Eltern und Großeltern als eine bessere erscheint, es diesen Letzteren ebenso gegangen sein wird.

Jedenfalls ist eine solche Schwärmerei viel weniger tadelnswerth, als jener leider heutzutage so verbreitete und fast zu einer Art von Modekrankheit gewordene Pessimismus, der nirgends, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart noch in der Zukunft, etwas findet, was ihm das Herz erwärmen und die Seele füllen könnte.

Bedenklich wird die Anpreisung der „guten alten Zeit“ erst dann, wenn sie verbunden ist mit einer ungerechten Bemäkelung oder Verdammung der Gegenwart, und wenn sie sich versteigt zu der Forderung einer Wiederherstellung früherer Zustände oder einer Zurückschraubung der Gegenwart in eine abgethane, überlebte Vergangenheit.

Wir sind nicht so blind eingenommen für die Gegenwart, nicht so befangen in dem Gedanken, „wie wir’s so herrlich weit gebracht“, daß wir nicht gern bereit sein sollten, zu einer unparteiischen Vergleichung der heutigen Zustände mit früheren die Hand zu bieten. Zu dem Ende wollen wir eine möglichst unbefangene, auf Thatsachen gegründete Umschau halten über alle wichtigeren Gebiete unseres öffentlichen und unseres Culturlebens, um zu erkennen, ob wirklich das „Sonst“ so viel besser war als das „Jetzt“.

Wir beginnen mit dem umfassendsten dieser Gebiete, dem Reiche. Hier haben wir es leicht, denn wo in allen den verflossenen Jahrhunderten fände sich ein Zustand des deutschen Reiches, dem wir nicht den gegenwärtigen als einen nicht blos ebenbürtigen, sondern in den wichtigsten Beziehungen überlegenen mit Stolz und Zuversicht gegenüberstellen dürften? Mit wie glänzenden Namen auch unsere älteste deutsche Kaisergeschichte prangen, wie kraftvolle Persönlichkeiten sie aufweisen möge, einen Heinrich I. und Otto den Großen, einen Heinrich III. und Friedrich Barbarossa, dennoch war unter keinem selbst dieser unstreitig tüchtigsten der alten Beherrscher Deutschlands der Gesammtzustand des Reichs und der Nation auch nur annähernd ein so befriedigender, wie heutzutage unter unserem ehrwürdigen Kaiser Wilhelm I.

Was unserem heutigen Kaiserthume einen so unbestreitbaren Vorzug vor allen seinen Vorgängern sichert, das ist der breite und feste nationale und volksthümliche Unterbau, auf dem es ruht. Die ehemaligen deutschen Kaiser waren auf den guten Willen ihrer Vasallen angewiesen, von denen jeder naturgemäß nach möglichstem Machtbesitze für sich und nach möglichster Unabhängigkeit vom Reiche strebte – unser heutiges Kaiserthum hat die tiefsten Wurzeln seiner Kraft in der Zustimmung und Mitwirkung der ganzen Nation und ihrer gesetzlichen Vertretung im Reichstage. Nur sich selbst würde eine heutige Reichsregierung es zuzuschreiben haben, wenn dieses wirksamste Mittel einer kräftigen Einheitsgewalt ihr versagte. Unser heutiges Kaiserthum verzichtet auf den zweifelhaften Ruhm eines „Schirmvogtes der Kirche“, aber es braucht eben deshalb auch, sobald es nur will, streng in den Grenzen seiner weltlichen Befugnisse sich haltend, keine Eingriffe in diese seitens einer kirchlichen Macht zu dulden. Nach außen begehrt unser heutiges Kaiserthum nicht den gleißenden Schein einer angeblichen Oberherrlichkeit über fremde Länder oder der Einmischung in ihre Geschicke; zufrieden mit der ehrenvollen und angesehenen Rolle, welche die öffentliche Meinung von ganz Europa freiwillig ihm anweist, ist es selbstlos bemüht, den maßgebenden Einfluß, der dadurch ihm zufällt, im Interesse des Friedens, der Gerechtigkeit und der Wohlfahrt des eigenen, aber auch der andern Völker zu verwerthen.

Mag also immerhin auch in unserem jetzigen deutschen Reiche noch nicht Alles so sein, wie Mancher wünscht oder träumt, daß es sein sollte, so müßte doch Der ein schlechter Kenner der Geschichte sein, der unsere heutigen, im Innern wohlgeordneten, nach außen gesicherten, auf der freien Mitwirkung der Nation beruhenden öffentlichen Zustände vertauschen möchte mit irgend einer früheren Periode des deutschen Reichs, selbst in seiner besten Zeit, geschweige denn in jener Zeit des Verfalles, von dem Goethe seine Studenten in Auerbach’s Keller singen läßt: „Das liebe heil’ge röm’sche Reich, wie hält’s nur noch zusammen?“ oder mit dem deutschen Bunde trostlosen Angedenkens.

Die Vorstellung von einem „patriarchalischen“ Verhältnisse zwischen Fürst und Volk, womit man so gern eine frühere Zeit schmückt, hat jedenfalls etwas Anmuthendes. Allein auch hier geht es uns leicht wie in vielen andern Dingen: wir sehen in der magischen Beleuchtung einer zum Theil fernen Vergangenheit nur die Lichtseiten und nicht auch die Schatten. Unter den früheren deutschen Landesherren zählt gewiß mit Recht zu den besten, wohlmeinendsten, volksthümlichsten im 16. Jahrhunderte „Vater August“ von Sachsen, im 18. Karl August von Weimar. Und doch bestand unter „Vater August“ in Sachsen jenes grausame Gesetz, wonach ein Wildfrevel (selbst wenn er vielleicht nur aus Nothwehr von dem armen Landmanne begangen war, dessen Fluren das übermäßig gehegte Wild verwüstete) beim ersten Male mit Staupenschlag, im Wiederholungsfalle mit harter Arbeit in den Bergwerken oder mit Galeerenstrafe gebüßt wurde! Und doch war auch der Freund Goethe’s, Karl August, so sehr von der „noblen Passion“ der Jagd eingenommen, daß selbst dieser sein von ihm hochgeschätzter Vertrauter und Minister Goethe noch nach fast zehnjährigem innigen Verkehre nur schüchtern seinen fürstlichen Freund daran zu erinnern wagte, wie schwer das Land unter dem hohen Wildstande leide! Es war eben damals in den herrschenden Kreisen eine allverbreitete und als selbstverständlich betrachtete Ansicht, daß Land und Volk nur um des Fürsten willen da sei, daß jede Beschränkung, die der Fürst seinen eigenen Launen und Leidenschaften auferlege, jede Wohlthat, die er seinen Unterthanen erweise, von diesen wie eine unverdiente Gnade mit gerührtem Danke hingenommen, das Gegentheil wie ein unabwendbares Geschick [147] ertragen werden müsse. Daher erregte es in der öffentlichen Meinung einen so großen Jubel, in den höfischen Kreisen aber eine so schlecht verhehlte Mißempfindung, als Friedrich der Große und seinem Beispiele folgend Joseph II. öffentlich erklärten, daß sie das Verhältniß zu ihren Völkern ganz anders auffaßten, als die meisten ihrer fürstlichen Zeitgenossen, als sie anerkannten, daß der Fürst nicht blos Rechte, sondern vor Allem Pflichten habe, als sie sich „Diener des Staats“ und „Verwalter des Volkes“ nannten. Welch trauriges Armuthszeugniß war es doch für jene ganze Zeit, daß man es als einen besonderen Vorzug der Regierung Friedrich’s II. rühmen mußte: „es gebe Richter in Berlin“, das heißt unabhängige und unparteiische Richter, welche nöthigenfalls auch gegen Mächtige und Vornehme die Unschuld in Schutz nähmen! Wie „patriarchalisch“ ging es doch zu in jenen vielen deutschen Ländern, wo mißliebige Persönlichkeiten durch einen einzigen Federzug des Fürsten auf die Festung geschickt und – ohne Urtel und Recht – zu vieljähriger, wohl gar lebenslänglicher Kerkerhaft verdammt wurden! Wie „patriarchalisch“, wenn Landesväter ihre Landeskinder als Kanonenfutter an die Engländer verkauften, um die aufstrebende Freiheit der nordamerikanischen Colonien zu ertödten! Wie „patriarchalisch“, wenn der Despotismus solcher kleinen Tyrannen womöglich noch überboten ward von dem Despotismns eines weithin gebietenden Präsidenten oder Amtmanns, wie das Schiller in „Kabale und Liebe“, Iffland in seinen „Jägern“ mit grellen, aber leider nur zu wahren Farben geschildert haben!

Und selbst bei den besten Absichten, ja trotz eifriger Anstrengungen einzelner wohlwollender Regenten war und blieb der ganze damalige Gesellschaftszustand mit einem schweren Makel behaftet, mit dem Makel der persönlichen und wirthschaftlichen Unfreiheit des zahlreichsten Bestandtheils der Bevölkerung, des ganzen ehrenwerthen Bauernstandes. Wahrhaftig, wenn nichts Anderes unserem Jahrhundert ein Anrecht verliehe, auf den Namen eines vorgeschrittenen gegenüber früheren Jahrhunderten, schon dieses Eine würde dazu genügen: die Befreiung der kleinen ländlichen Bevölkerung von den Fesseln und Lasten des Feudalunwesens und die Herstellung einer allgemeinen Gleichheit der Stände vor dem Gesetze!

Das Gemeindewesen, das städtische wenigstens, ist ein Glanzpunkt des deutschen Mittelalters. Wer möchte nicht mit freudiger Genugthuung zurückblicken auf jene großen, blühenden Gemeinwesen, welche einst der Stolz Deutschlands im In- und Auslande waren? – auf jenes Nürnberg, von dem Aeneas Sylvius in seiner „Germania“ rühmt, daß seine Bürger „besser wohnten, als die Könige Schottlands“; auf jenes Straßburg, die Bildungs- und Wirkensstätte so vieler bedeutender Geister; auf jenes Mainz, das seines Reichthums wegen „das goldene“ genannt ward; auf jenes Köln, welches ganz allein der Heeresmacht des jungen Königs Heinrich widerstand, als dieser sich wider seinen Vater, den Kaiser Heinrich IV., empörte; endlich auf jene großen Städtebündnisse, das rheinische, das schwäbische, um deren Gunst und Bundesgenossenschaft Fürsten und Adel warben, vor Allem auf jene seegewaltige Hansa, welche mit ihren Kriegsschiffen die Ostsee beherrschte, die skandinavischen Reiche zittern machte, dänische Könige ein- und absetzte und mit ihren Factoreien von London bis Nowgorod den Handel aller nordeuropäischen Länder beherrschte? Wenn irgend eine, so möchte, scheint es, diese Zeit der Macht und Blüthe deutschen Bürgerthums als eine wirklich „gute“ zu rühmen sein. Nur schade, daß dieser eine helle Glanz so viele und so dunkle Schatten neben sich hat! Nur schade, daß das deutsche Kaiserthum, statt sich auf die starke und nachhaltige Kraft des freien Bürgerthums zu stützen, gegen dasselbe Partei nahm für den Adel und die Fürsten, denen dieses Bürgerthum und seine Macht ein Dorn im Auge war! Nur schade, daß deutsche Kaiser so gänzlich ihr eigenes und das Interesse des Reiches vergessen konnten, daß sie, wie ein Friedrich II. von Hohenstaufen und ein Karl IV. von Luxemburg, Verbote erließen gegen die Bündnisse der Städte unter einander und gegen die Uebersiedelung der vom Adel gedrückten Landbevölkerung in das freimachende Weichbild der Städte!

Unser heutiges Gemeindewesen aber, und nicht blos das städtische, sondern auch das ländliche, ist nicht mehr, wie damals, ein nur auf sich angewiesenes, von den maßgebenden Factoren des Staatswesens angefeindetes Element; es ist ein organisches Glied unseres Reichs- und Staatskörpers, welches dieser sorgsam hegt und schirmt und welches dafür wieder ihm immer neue befruchtende Kräfte zuführt. Wir haben auch nicht für unsere Städte ähnliche innere Krebsschäden zu fürchten, wie die, an denen jene einst so blühenden Gemeinwesen im alten Deutschland krankten und theilweise zu Grunde gingen. Es giebt heutzutage keine selbstherrlichen, sich selbst ergänzenden Magistrate mehr; es giebt nicht mehr jene schroffen Gegensätze von Patricierthum und Handwerkerthum, an deren leidenschaftlichen, oft gewaltthätigen Parteikämpfen mehr als eine Stadt sich verblutete. Der Grundsatz bürgerlicher und politischer Gleichberechtigung, der freilich manchem Anhänger der „guten alten Zeit“ ein Gräuel ist, verhindert die Unterdrückung der einen Classe durch die andere, und die friedliche Ausgleichung der Ansichten zwischen Regierenden und Regierten in den geordneten Formen öffentlicher Debatte behütet uns vor ähnlichen gewaltsamen Ausbrüchen schwer gedrückter Bevölkerungen, wie sie damals so häufig waren.

Treten wir aus den weiten Räumen des öffentlichen Lebens herein in die engen des Hauses und der Werkstatt! Nirgends mehr, als hier, klagen die Lobredner der Vergangenheit über das Verschwinden einer besseren alten Zeit, und doch ist nirgends mehr als hier Vorsicht geboten in Prüfung der Berechtigung solcher Klagen. Es ist wahr, das deutsche Gewerbe und insbesondere das Kunstgewerbe stand im Mittelalter theilweise auf einem Höhepunkte, von dem es später tief herabsank und zu dem es erst jetzt wieder mit rühmlichem Eifer emporstrebt. Mit einer von schmerzlichem Beigeschmack nicht freien Bewunderung blicken wir auf die kunstvollen alten Arbeiten, mit denen einst ein Nürnberg, ein Augsburg und andere deutsche Städte den Weltmarkt versorgten und beherrschten, Arbeiten, die für das heutige Geschlecht zur Nachahmung anspornende, aber noch immer nicht gänzlich erreichte Muster sind. Allein unsere Rückwärtsstreber auf wirthschaftlichem Gebiete irren, wenn sie meinen, diese Blüthe deutschen Kunstgewerbes sei das Erzeugniß jenes beschränkten und beschränkenden Zunftgeistes gewesen, den sie so gern uns als einen Segen für unser Handwerk anpreisen möchten.

Das deutsche Zunftwesen zeigt uns im Laufe seiner Entwickelung eine doppelte Seite: eine befreiende und eine beschränkende. Bei ihrer Entstehung und noch eine längere Zeit hindurch hatten die „Einigungen“ oder Innungen der Handwerker in den Städten lediglich den Zweck und die Wirkung, die bis dahin unfreien hörigen Handwerker zu freien, selbstständigen Bürgern zu erheben, auch wohl ihnen eine gewisse Gleich- oder Mitberechtigung neben dem Patriciat zu erringen. Beides gelang, das Erstere dauernd, das Andere wenigstens theilweise oder zeitweilig, und das Gefühl dieser selbsterrungenen persönlichen und wirthschaftlichen Freiheit, der berechtigte Stolz des Bürgers und Meisters auf die eigene Kraft – das war es, was den damaligen deutschen Gewerbtreibenden einen höheren Schwung gab, dem Gewerbe selbst aber neben andern mitwirkenden günstigen Umständen jene Gediegenheit und jene Vollkommenheit der Ausführung verlieh, die wir heut noch bewundern.

Aber sonderbar! Selbst aus jener Zeit kräftigster Entfaltung des deutschen Gewerbes in den großen Reichsstädten ertönen fast wörtlich genau dieselben Klagen über erdrückende Concurrenz im Handwerk, über leichtsinniges Sichherandrängen zur Meisterschaft, über Pfuscherei und Verschleuderung der Waaren, die wir heut so oft mit Bezug auf unsere jetzigen Zustände hören müssen. Ein wohlbekannter Sittenschilderer des 15. und 16. Jahrhunderts, der Verfasser der satirischen Dichtung: „Das Narrenschiff“, Sebastian Brant, der in Straßburg, einem Hauptsitze kräftigen und blühenden Bürgerthums, lebte und schrieb, hat eines der vielen Bilder, in denen er die Thorheiten und Schwächen seiner Zeit geißelt, überschrieben: „Das Gesellenschiff“. Darin nun heißt es:

„Kein Handwerk steht mehr in sei’m Werth;
Es ist all’ übersetzt, beschwert.
Jeder Knecht Meister werden will,
Deß’ sind in allem Handwerk viel.
Mancher zur Meisterschaft sich kehrt,
Der nie das Handwerk hat gelert (gelernt).
Einer dem Andern nimt das Brod,
Und bringt sich selbst damit in Noth.
Weil man die Arbeit giebt gering,
So sudelt man jetzt alle Ding.“

[148] Sollte man nicht meinen, man hörte eine der vielen landläufigen Reden auf einem unserer gewerbfreiheitsfeindlichen Handwerkertage? Jedenfalls zeigt dieses Beispiel recht schlagend, wie ganz anders derartige Zustände in der Nähe aussehen, als aus der Ferne!

Verhielt es sich nun schon so zu jener Zeit, wo nachweislichermaßen das deutsche Handwerker- und Bürgerthum in vollster Kraft dastand, wo die Zusammenschließung der Gewerbe in Zünften noch weit mehr eine befreiende und anfeuernde, als eine beschränkende und lähmende Wirkung übte, wie vollends dann, als diese letztere Wirkung in den Vordergrund trat, als gegen den Verfall des Bürger- und Handwerkerthums man Rettung suchte in einer immer mehr verschärften Absperrung der Gewerbe gegen einander und Ausschließung jeder Mitbewerbung junger, rüstigerer Kräfte! Und welches waren die Wirkungen dieser Gebundenheit der Gewerbe? Darüber belehrt uns der treffliche Kenner vaterländischer Zustände, Justus Möser, wenn er klagt: „Alle deutsche Waare hat dermalen etwas Unsolides.“

War es denn aber auch etwa ein für die Gesammtheit heilsamer Zustand, wenn noch bis vor etwa 30 Jahren in Leipzig, einer Stadt von damals schon mehr als 60,000 Einwohnern, nur 32 Bäcker und nur 4 Apotheken das Recht hatten, die Bedürfnisse des Publicums zu befriedigen? Oder wenn in der baierischen Residenz München gewisse Eßwaaren (die sogenannten Kräpfel oder Pfannkuchen) nicht zu haben waren, weil die Bäcker zwar das Privilegium hatten, den Teig, nicht aber auch die, nur den Conditoren zustehende Fülle zu bereiten? In dem Archiv der Kramerinnung zu Leipzig liegen ungefähr 700 Actenstücke: davon handeln wohl 600 von nichts als von Streitigkeiten dieser Kramerzunft bald mit den Schneidern, bald mit den Tuchmachern, bald mit den Apothekern, mit den Italienern etc. – über angebliche Verletzungen ihrer „Privilegien“. Da wird durch alle Instanzen hindurch processirt um ein paar Loth Seide, welche ein Schneider unbefugter Weise, soll verkauft haben! Da dauern einzelne solche Processe nicht blos Jahre, sondern Jahrzehnte! Da übersteigen die Kosten des Streites den Werth des Streitobjectes oft um das Drei- und Vierfache! Da wird eine kostbare Zeit der Innungsvorstände, der Obrigkeit, der Gerichte, ja bis hinauf zu den höchsten Landesbehörden, in solchen Streitigkeiten verschwendet! Oder war es etwa dem Handel, und der Landwirthschaft förderlich, wenn wegen des Leipziger Stapelrechts der Wollproducent seine Wolle nicht direct dem Fabrikanten in der nächsten Stadt, verkaufen, sondern sie erst 10, 12 Meilen weit nach Leipzig fahren und der Fabrikant sie erst wieder von dorther beziehen mußte, wobei die Spesen 20, 25 oder mehr Procent der Waare verschlangen; wenn der Elbhandel brach lag, weil alle Güter nur auf den vorgeschriebenen Straßen über Leipzig vertrieben werden durften?

Ein anderes vielbeliebtes Thema unserer mit der Gegenwart unzufriedenen Fanatiker der Vergangenheit ist die angeblich größere „Familienhaftigkeit“ früherer Zeiten. Auch auf diesem Gebiete ist mit allgemeinen Redensarten und vorschnell aus einzelnen Vorgängen gezogenen Schlüssen viel gesündigt worden: Wir sind gewiß weit entfernt, unsern Altvordern den Ruhm schmälern zu wollen, daß im großen Durchschnitt ihr Familienleben ein gesundes, wohlgeordnetes, inniges gewesen sei. Zu allen Zeiten war, dem Himmel Dank, in Deutschland „das Haus“ der sichere Hort, wohin sich deutsches Gemüth, deutsche Ehrbarkeit, deutsche Treue flüchteten, so oft in anderen Kreisen des Lebens diese edelsten Güter verkümmert oder gar verschwunden schienen. Aber wir bestreiten es, daß nicht auch noch heut das „deutsche Haus“ in der Mehrzahl der Fälle diesen alten Ruhm bewahre. Ja wir sind so kühn, zu behaupten, daß mindestens gegen die letzten Jahrhunderte (das 17. und 18.) gerade hierin ein zweifelloser Fortschritt eingetreten ist.

Man bedenke, unter Anderem nur das Eine: wie sah es damals mit dem Familienleben in der sogenannten „guten“, das heißt vornehmen Gesellschaft, namentlich aber an den Höfen aus? Man lese nur die zahlreichen Memoiren aus jenen Kreisen selbst (gewiß unverdächtige Zeugnisse!), mit ihren sehr offenherzigen Schilderungen der dort herrschenden Ansichten und Sitten – die Denkwürdigkeiten der Markgräfin von Bayreuth, die Memoiren des Herrn von Pöllnitz, die Saxe galante, die Briefe der Lady Montague, und man wird ein ganz anderes Bild erhalten, als das einer im Punkte der Sittlichkeit „guten“ Zeit. Und selbst in vielen Kreisen des Bürgerthums, wenigstens des wohlhabenderen, stand es damit kaum besser. Wie die höfischen Kreise sich über die bürgerliche Moral hinwegsetzen zu dürfen glaubten, so nahmen auch die „Honoratioren“ oder „Patricier“ in den großen Städten ein ähnliches Privilegium der Leichtfertigkeit für sich in Anspruch, indem sie meinten, die strengere Sitte, namentlich auch des Hauses, sei höchstens für den kleinen Bürger, den Handwerker, gut genug. Besonders Leipzig hatte in dieser Hinsicht in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht den besten Ruf. Goethe, der bekanntlich 1765 bis 1768 hier studirte, spricht in Briefen an Freunde von „dem verfluchten Leipzig, wo ein junger Mann so schnell wegbrennt wie eine Pechfackel“. Der berüchtigte Bahrdt, dessen Jugend um zehn Jahre später fällt, erzählt Dinge, die uns merkwürdige Begriffe von dem Familienleben dieser Stadt in damaliger Zeit geben. Zahlreiche Flugschriften, wie „Leipzig im Profil“, „Leipzig im Taumel“, „Leipziger Allerlei“,: „Vertraute Briefe über Leipzig“, „Freie Anmerkungen über Leipzig, Berlin und Prag“ etc., malen dieses unerquickliche Bild mit großem Behagen weiter aus, und selbst die wenigen Gegenschriften, welche Leipzig in Schutz nehmen, wissen kaum etwas Anderes anzuführen, als daß es hier nicht schlimmer sei, als in anderen großen Städten. Von Wien gesteht Karoline Pichler, eine geborene Wienerin, daß es dort erst im 19. Jahrhundert mit der Sittlichkeit etwas besser geworden, und von Hamburg weiß Friedrich Perthes, der in seinen jungen Jahren (zu Ende des 18. Jahrhunderts) dort lebte, auch nicht, viel Tröstlicheres zu melden.

Prüfen wir, wodurch es in diesem Punkte besser geworden ist, so werden wir auf eine Wahrnehmung geführt, die freilich den meisten Lobrednern der „alten Zeit“ in ihren Kram wenig paßt. Offenbar nämlich war es das Erstarken der öffentlichen Meinung und das sich immer mehr ausbreitende Bewußtsein allgemeiner Gleichheit, was jenen „noblen Passionen“ der vornehmeren und wohlhabenderen Classen einen heilsamen Dämpfer aufsetzte.



[640]

Die „gute alte Zeit“.

Von Karl Biedermann.[1]

Wohl mag im Ganzen die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo der beschwingende Geist der Reformation noch lebendig, zugleich der Geist des deutschen Bürgerthums noch ungebrochen kräftig war, als eine Periode ehrbarer Sitte anzusehen sein. Dennoch aber – wer sollte es glauben? – fehlte es auch damals nicht an Klagen über angebliche Verschlechterung der Sitten ganz so, wie heutzutage! Und zwar ist der, welcher solche Klagen erhebt, kein Geringerer als der treffliche Kenner und Darsteller zeitgenössischer Zustände, Hans Sachs, er, der getreue Sohn des mit Recht von ihm und auch anderwärts hochgepriesenen Nürnberg!

Hans Sachs kleidet diesen Ausfall auf seine Zeit in ein scherzhaftes Gewand. Er sei, so erzählt er, dem Teufel begegnet, dieser habe ihm geklagt, daß die Hölle wegen der großen Menge von Bösen, die sie aufnehmen solle, zu eng werde und er eine neue bauen müsse.

Mit feiner Ironie stellt sich Hans Sachs darüber verwundert. Es sei doch, sagt er, gerade jezt in aller Hinsicht auf Erden so gut bestellt. Darauf entwirft er ein scheinbar äußerst glänzendes Bild aller Stände, von den obersten bis herab zu den untersten.

Nachdem er Papst, Kaiser, Fürsten, Adel, Geistlichkeit durchmustert, kommt er auch auf das bürgerliche Gemeinwesen, auf Handel und Verkehr, auf das Gewerbe, auf Haus und Familie, auf Sitte und Frömmigkeit zu sprechen und läßt sich darüber etwa folgendermaßen aus:

„Die bürgerliche Obrigkeit sieht nur auf den gemeinen Nutzen ohne allen Eigennutz. Es findet keine Münzverschlechterung statt. Kein falscher Eid wird geschworen. Unbeirrt durch Furcht, unbestochen durch Geschenke, sprechen die Gerichte nur nach Recht und Gesetz.

Nirgends giebt es Wucher, noch Betrug, nirgends gefälschte Kaufmannswaare, überall nur rechtes Maß und Gewicht. Jedermann hält Treu und Glauben. Kein Schuldner läßt seinen Bürgen im Stich. Kein Handwerker feindet den andern an, sucht ihm seine Kunden abspenstig zu machen oder seine Gesellen zu verhetzen; alle machen sie preiswürdige Waare. Auch giebt es nur friedfertige Ehen; nirgends ist Zank und Hader; alle Frauen sind ihren Männern unterthan, alle Kinder ihren Eltern gehorsam. Die ganze Jugend ist tugendreich und gottesfürchtig, die jungen Männer sind bescheiden und ehrbar. Von Hoffahrt, Luxus, Ueppigkeit keine Spur. Arm und Reich wetteifert in Gottesfurcht und Pflichttreue, dergestalt, daß sie alle sofort in den Himmel eingehen könnten.“

Kaum aber hat er diese Rede geendet, da fährt der Teufel ihn zornig an:

„Du verlogener Mann! Von Alledem, was Du da behauptest, ist kein Wort wahr. Und wo Du mir nicht alsbald zehn Zeugen bringst, daß Du nicht gelogen, mußt Du mit mir zur Hölle fahren.“

Hans Sachs, in großer Angst, sucht und sucht nach Zeugen, aber Niemand will Zeugniß für ihn leisten, denn Alle behaupten: „was er gesagt, sei nicht wahr.“

Es fällt uns nicht ein, aus dieser satirisch-humoristischen Erzählung des poetischen Schusters von Nürnberg etwa schließen zu wollen, er habe die Zustände seiner Vaterstadt wirklich [642] als so getrübte angesehen, wie es nach diesem ironischen Lobe derselben scheinen könne. Wir wissen, wie der ehrliche Hans Sachs sich gern über einzelne Schwächen seiner Zeit lustig machte, gerade weil er das sichere Bewußtsein hatte, daß es im Ganzen doch eine gute, tüchtige Zeit sei. Aber gänzlich aus der Luft gegriffen kann jene Anzweifelung gewisser Verhältnisse im Handwerk, in der Familie, in der Rechtspflege etc. doch auch nicht sein. Und so werden wir vielleicht das Richtige treffen, wenn wir aus dieser schalkhaften Erzählung des ehrlichen Hans Sachs die Moral entnehmen: es gab in jener Zeit, wie in jeder, neben Gutem auch minder Gutes, neben vielen löblichen Erscheinungen auch einzelne minder erfreuliche. Da dem aber so ist, so soll man auch unsere Zeit nicht darum, weil in ihr nicht Alles vollkommen ist, sogleich mit Stumpf und Stiel verdammen!

Uebrigens zeigt doch auch die nüchterne historische Forschung, daß in der That selbst in jener so gerühmten Zeit keineswegs Alles Gold war, was so scheint. Die Chroniken des 14., 15., 16. Jahrhunderts sind voll von Beispielen der gräulichsten Verbrechen, die häufigen geistlichen Vermahnungsschreiben aus jenen Zeiten führen bittere Klage über weit verbreitete Sittenverderbniß aller Art. Wir besitzen eine neuere Zusammenstellung urkundlichen Materials zur Sittengeschichte Deutschlands vom 13. bis in’s 16. Jahrhundert unter dem etwas sonderbaren Titel: „Das Kloster, weltlich und geistlich, meist aus der älteren deutschen Volksliteratur“, herausgegeben von Scheible. Das Werk ist, wie ein Kloster, in „Zellen“ eingetheilt. Die Zellen 21 bis 24 behandeln speciell unser Thema, die „gute alte Zeit“, und zwar mit dem Beisatz: „geschildert in historischen Beiträgen zur nähern Kenntniß der Sitten, Gebräuche, der Denkart vornehmlich des Mittelstandes in den genannten drei Jahrhunderten, nach alten Druck- und Handschriften“. Man hat es hier also mit lauter ganz bestimmten, thatsächlichen, deutlichen Beweisen, nicht etwa (wie so oft bei den Lobrednern der Vergangenheit) mit bloß allgemeinen, unbewiesenen Behauptungen zu thun. Der Herausgeber faßt schließlich seine culturhistorischen Ermittelungen in folgender Betrachtung zusammen:

„Man machte sich sonst hohe Begriffe von der Unschuld und Sittsamkeit der guten Voreltern – wohl nur auf das Wort der Eltern und anderer bejahrter Leute aus einer früheren Generation – ohne sich die Mühe zu nehmen, diese schönen Gemälde eines goldenen Zeitalters näher zu beleuchten. Der neuesten Zeit war es vorbehalten, die Sitten der Vorzeit mit ihren wahren Farben zu schildern. Bei aller Vorliebe für die guten, alten, kräftigen Zeiten können wir uns doch nicht verhehlen, daß unsere Altvordern in Hinsicht der Sittsamkeit, Mäßigkeit, Sparsamkeit und in anderen häuslichen und geselligen Tugenden vor unserer so verschrieenen neueren Zeit keinen großen Vorsprung hatten, wofern sie uns nicht ähnlich waren, ja in einigen Punkten vielleicht hinter uns zurückstanden.“

Zu ganz dem gleichen Resultate gelangt ein andrer namhafter Culturforscher der deutschen Vorzeit, der berühmte Verfasser der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, Gustav Freytag. In der Vorrede zu diesem Werke spricht er sich so aus:

„Vergebens sucht der Deutsche die gute alte Zeit! Auch ein frommer Eiferer, der Hegel und Humboldt als die großen Atheisten verdammt, auch der conservative Grundherr, der für die Privilegien seines Standes mit den Mächten der Gegenwart hadert, auch sie würden, in eines der früheren Jahrhunderte zurückversetzt, zuerst ein maßloses Staunen, zuletzt einen Schauder vor ihrer Umgebung empfinden. Was sie von jener Zeit begehren, das würde sie elend machen, und was sie jetzt gedankenlos oder grollend von unserer Bildung empfangen, es würde ihnen so sehr fehlen, daß sie über den Mangel verzweifelten.“

Wenn man, um die Verderbtheit der heutigen Zeit zu kennzeichnen, sich auf die Verbrecherstatistik bezieht, so müssen wir daran erinnern, daß sowohl die Entdeckung als die Veröffentlichung von Verbrechen heutzutage mit ganz anderen Mitteln und darum nach ganz anderen Maßstäben vor sich geht, als vordem. Man kann darauf rechnen, daß namentlich von jenen gräulichen Verbrechen, die jedesmal unser ganzes menschliches Gefühl erzittern machen, uns nicht leicht eines von der Tagespresse erspart wird, während in früherer Zeit sicherlich eine Menge solcher theils unentdeckt blieb, theils nur in engstem Kreise bekannt wurde.

Ganz ähnlich, wie mit der Sittlichkeitsstatistik, verhält es sich mit einer andern Erscheinung, die auch oft irrthümlicher Weise zum Nachtheil der Gegenwart ausgelegt wird. Das ist das massenhafte Material von Klagen und Beschwerden über allerhand sociale Mißstände und schlechte Behandlung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, unbillige Herabdrückung der Löhne, Verkümmerung des Arbeitsverdienstes, materielle Noth und daher entstehendes Siechthum ganzer Bevölkerungen u. dergl. m. Wer solche Klagen in unseren Tagesblättern fort und fort liest oder in unseren Ständesälen hört und damit die Organe der Presse oder Denkwürdigkeiten und andere Schriften aus einer früheren Zeit vergleicht, wo er ähnliche Klagen nicht findet, der könnte leicht auf die Vermuthung kommen: dieser ganze sociale Nothstand sei etwas Neues, unserer Wirthschaftsperiode Eigenthümliches, sei ein Symptom und eine Frucht des Abfalls von der „guten alten Zeit“. Sehr richtig hat aber schon der berühmte englische Geschichtschreiber Macaulay darauf hingewiesen, daß nicht die Thatsache jener socialen Uebelstände neu sei, sondern nur die Kenntnißnahme davon; daß derartige Zustände auch früher bestanden, daß aber damals in der Regel Niemand davon Notiz genommen habe.

In der That, wenn jetzt über die Noth der arbeitenden Classen mehr gesprochen und geschrieben wird (und, setzen wir hinzu, auch mehr zu deren Linderung geschieht), als früher, so bekundet dies nicht ein Wachsthum der Noth, vielmehr nur ein Wachsthum der Humanität, welche sich dieser Noth annimmt. Auch ist unser heutiges Arbeiterproletariat, welches, wenn schon mühsam und kümmerlich, doch mit eigener Kraft sich durch’s Leben schlägt, jedenfalls weniger schlimm, als jenes vagabundirende, bettelnde, auch wohl stehlende und raubende Proletariat, welches in früheren Zeiten zu Hunderten die Landstraßen unsicher machte, Dörfer und Städte brandschatzte.

Noch in einem speciellen Punkte der Lebensführung pflegen die Lobredner der Vergangenheit gegen unsere heutige Zeit Klagen zu erheben, im Punkte des Luxus und der Verschwendung. Aber auch diese klagen sind nicht neu, und sie waren früher wohl mehr gerechtfertigt, als heute. Die „Luxusordnungen“ aller Art, welche vordem von Obrigkeitswegen erlassen wurden, um der übertriebenen Ueppigkeit und Verschwendung im Essen und Trinken, in Kleidung und Putz zu steuern, reichen zurück bis in’s 15. Jahrhundert; sie ziehen sich dann wieder (nach kurzer Unterbrechung) von der Mitte des 16. bis an’s Ende des 17. Jahrhunderts; sie wiederholen sich immer öfter, ein Beweis, wie wenig sie halfen, und sie hören nur darum zuletzt auf, weil man sich überzeugt hat, daß damit doch nichts ausgerichtet werde. Selbst das half nichts, als der Rath in Leipzig 1699 erst die Mägde, die gegen das Verbot Spitzen, Tressen, Schleppen etc. trugen, auf’s Rathhaus citirte und ihnen durch den Rathsvogt „den Plunder abtrennen“ ließ, dann die gleiche Operation an den Handwerkerfrauen und zuletzt sogar an den vornehmen Kaufmannsfrauen vornahm.

Das Jahresbudget eines Hamburger Kaufmanns aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts berechnete die moralische Wochenschrift „Der Patriot“ zu mehr als 10,000 Thalern (30,000 Mark) für’s Jahr, nach damaligem Geldwerthe eine enorme Summe. Darin kommen Posten vor wie: 900 Thaler für ein neues Bett; 600 Thaler eine goldene Repetiruhr für die Frau; 150 Thaler Spielgeld für dieselbe; eine Puppe aus Holland für die Tochter im Preise von 100 Thalern; ein Gastgebot von 30 Personen zu 240 Thalern; dem Sohne (der noch in die Schule geht!) „zu seinem Plaisir, wenn er in Gesellschaft geht und l’Hombre spielt“, 40 Thaler, demselben eine Uhr 36 Thaler – dagegen dem Beichtvater zu Neujahr statt der sonst üblichen 4 Ducaten „wegen der schlechten Zeit“ nur 4 Thaler. – Im Frankfurter Intelligenzblatt“ von 1723 ward ein Luxusbett zu 750 Thalern ausgeboten. Gewöhnliche Bürger in einer kleinen Stadt trugen Sammtaufschläge und breite seidene Borten auf den Mänteln, Bürgersfrauen mehrfache goldene Ketten, Handschuhe, mit Gold und Perlen gestickt. Bei einer adligen Hochzeit wurden 80 Eimer Wein ausgetrunken. Gastgebote zu 280 Personen bei großen Hochzeiten waren polizeilich erlaubt. Hochzeiten, Kindtaufen, ja auch Leichenfeiern wurden durch viele Tage hindurch mit Essen und Trinken begangen. Ein Herr v. Schömberg in der Pfalz hinterließ 22 Prachtanzüge. Ein Verein gegen Luxus in Braunschweig, 1618, aus Adligen bestehend, machte aus: Keiner solle dem Andern bei Zusammenkünften mehr als acht Essen vorsetzen; Keiner solle ein Kleid tragen, das mehr als 200 Thaler koste. [643] Es war nichts Seltenes, daß, wie Justus Möser klagt, schon Schulmädchen goldene Uhren bekamen.

Unsere Kinderbälle, auf denen Knaben und Mädchen sich wie Erwachsene geberden, sind nichts Schönes, aber auch nichts Neues. Man betrachte nur die Bilder der geputzten Kinder und lese ihre Gespräche in „Weiße’s Kinderfreund“, der doch zu den Schriften gehört, welche die Zurückführung der Erziehung zu größerer Natürlichkeit und Einfachheit sich zum Zwecke setzten.

Unsere Trachten – bei Männern und Frauen – wenn auch bisweilen unschön, sind doch im Vergleiche mit denen des 17. und 18. Jahrhunderts unendlich einfacher, natürlicher, sittsamer und minder kostspielig geworden. Selbst die übertriebensten heutigen Damenmoden reichen nicht entfernt an die thurmhohen Toupets, die verkünstelten Taillen, die Schönpflästerchen im Gesichte und andere Thorheiten unserer Aeltermütter; unsere ärgsten Stutzer sind unendlich einfacher gekleidet, als die Incroyables einer früheren Zeit mit Galadegen, Chapeaubas, langem Stock mit goldenem Knopf, goldener Dose, Stutzperrücke, galonirtem, buntseidenem Rock, langer Schoßweste, Escarpins oder Schnabelschuhen mit goldenen Schnallen.

Man klagt endlich über den „Materialismus“ unserer Zeit, der, wie man meint, den „Idealismus“ einer früheren Zeit ertödtet habe. Man beruft sich darauf, daß unsere Jugend, auch unsere studirende, in nüchterner Berechnung nur hastig nach einer „Versorgung“ strebe, nur das dazu Nothwendige, viel weniger das zu einer idealen Bildung Gehörige in’s Auge fasse, daß die Sucht nach materiellem Gewinne und Genusse Alles beherrsche, daß selbst das höchste Lebensverhältniß, die Ehe, viel häufiger aus diesem Gesichtspunkte, als aus dem idealen einer wahren Herzensneigung behandelt werde. Wir weisen diese Klagen nicht schlechthin von der Hand, aber wir warnen auch hier vor einem einseitigen und vorschnellen Urtheile. Was den Wettlauf nach Versorgungen betrifft, so war er zu den Zeiten unserer Aelter- und Urälterväter wohl kaum geringer, als heute, nur mit dem Unterschiede, daß der Weg dazu, der heute durch eine Reihe von Prüfungen mühsam erschlossen wird, damals großentheils ein leichterer, freilich auch viel weniger sauberer war, denn er ging nur zu oft durch allerhand Hinterthüren der Gunst, Protection, auch wohl Bestechung. Speculationsheirathen waren früher nicht seltener, als heute; angesehene Gelehrte des vorigen Jahrhunderts bekennen sich zu solchen in ihren Selbstbiographien mit einer Offenheit, die für uns Heutigen etwas Verletzendes hat; außerdem sprachen die damaligen Väter sich fast allgemein das Recht zu, über Herz und Hand ihrer Töchter lediglich nach derartigen äußeren Rücksichten zu verfügen. Das Streben nach Erwerb endlich war jener älteren Zeit gerade so eigenthümlich wie der heutigen, nur daß die Mittel der Bereicherung damals ebenfalls oft viel weniger löbliche waren, weil auch im Wirthschaftsleben Begünstigung und Bevorrechtung, Monopol, Privilegium und andere äußerliche Factoren eine größere Rolle spielten, als die freie, tüchtige Selbstthätigkeit des Einzelnen.

Wie dürfte man auch einem Jahrhunderte die Fähigkeit zu idealem Schwunge absprechen, das im Verlaufe zweier Menschenalter zweimal eine so allgemeine, so begeisterte patriotische Erhebung gesehen hat, wie die unseres Volkes 1812 bis 1813 und wiederum 1870 bis 1871? Und nicht geringer wohl ist die Kraft der Opferfähigkeit anzuschlagen, welche in unsern mancherlei innern politischen Kämpfen so Viele an ihre nationalen oder freiheitlichen Ideale Alles sehen ließ. Denn gewiß hat unser Uhland Recht, wenn er singt:

„Der Dienst der Freiheit ist ein schwerer Dienst;
Er trägt nicht Gold, nicht Ehrenstellen ein,
Er bringt Verbannung, Kerker, ja den Tod.
Und doch ist dieser Dienst der höchste Dienst!“

Welche „materiellen“ Beweggründe hätten denn wohl jene mehr als 600 Männer 1848 nach Frankfurt am Main geführt, die dort in schwerer, mühevoller und undankbarer Thätigkeit ein ganzes Jahr lang an einer Neugestaltung Deutschlands arbeiteten? Oder welche „materiellen“ Beweggründe lassen jetzt Jahr für Jahr viele Hunderte einen kostbaren Theil ihrer Zeit und ihrer Kraft den Geschäften des Reichs und der Einzelstaaten widmen? Mit wie schweren materiellen Opfern mußten jene wackeren Schleswig-Holsteiner, die Jahrzehnte lang für deutsches Recht und deutsche Nationalität kämpften und litten, mußten jene verfassungstreuen Kurhessen, die sich der Willkürherrschaft eines Hassenpflug nicht beugen wollten, ihre Ueberzeugungstreue büßen! Und selbst die Vielen, welche ihr deutsches Vaterland verlassen und in die Verbannung wandern mußten, weil sie ihre Freiheitsideale auf Wegen gesucht hatten, welche sie mit den bestehenden Gesetzen und deren Vollziehern in Conflict brachten – ihr Vorgehen kann man tadeln, aber des Idealismus, wenn auch eines irregehenden, wird man sie schwerlich bar erklären können.

Uebrigens wollen wir doch nicht vergessen, daß wir Deutsche lange Zeit hindurch etwas allzu viel Idealisterei getrieben haben, daß es uns bitter noth that, aus einem bloßen „Volke von Denkern und Dichtern“ endlich eine Nation zu werden, die auch in der realen Welt ihre Stellung behauptete, daß aber dazu eine etwas einläßlichere Beschäftigung mit praktischen und materiellen Interessen nicht zu entbehren war. Sollten wir dabei wie das bei solchen Rückschlägen wohl zuweilen geht – etwas zu weit auf die andere Seite gekommen sein, so wird sich das schon wieder in’s rechte Gleichgewicht setzen. An Dichtern und Denkern haben wir auch jetzt keinen Mangel, und leicht dürfte das deutsche Volk unter allen Völkern noch immer das idealste sein.

Auch das „deutsche Gemüth“, diese köstliche Blüthe unseres Volksthums, hat wahrlich noch nicht Schaden gelitten und wird es hoffentlich auch ferner nicht! Wir schwärmen jezt etwas weniger, als in der Periode der Empfindsamkeit; allein an echter Freundschaft und echter Liebe fehlt es auch heute nicht. Und ebenso wenig an echter Humanität! Allen Respect vor jenem Freunde des edlen Gellert, der, statt „das Rhinoceros zu sehen“, sein Achtgroschenstück einem Bettler gab; allein schwerlich braucht, dem gegenüber, die Gegenwart zu erröthen. Zählen doch die Gaben der Liebe, die bei jedem Leid – in der Nähe oder Ferne, im In- oder Auslande – nach allen Seiten hin und von allen Seiten her so reichlich fließen, jährlich nach Hunderttausenden, wenn nicht nach Millionen. Oder könnte man wirklich eine Zeit gefühllos nennen, welche in Kinderbewahranstalten, Volksküchen, Feriencolonien, Asylen für Obdachlose, in einer wohlorganisirten officiellen und freiwilligen Armen- und Krankenpflege, in der Errichtung von Spar-, Vorschuß-, Kranken- und Alterscassen und in noch vielen anderen ähnlichen Anstalten eine Fülle werkthätiger, schöpferischer Humanität entfaltet, die besser ist, als jene schönen Worte oder jene Thränen, durch die man früher häufig sich mit seinem Mitleid abfand?

Nein, unsere Zeit kann wohl eine Vergleichung aushalten mit jeder frühern. Wenn früher da und dort Einzelnes besser war, als heute, so ist wieder heute Anderes besser, als früher, vielleicht sogar mehr und Wesentlicheres. Wohl sollen wir ein offenes Auge haben für die Schwächen und Schattenseiten, die ganz gewiß unserer wie jeder Zeit anhaften, und sollen rüstig und unverdrossen die bessernde Hand anlegen, wo immer es noth thut. Nur muthe man uns nicht zu, das Frühere darum für das Vollkommenere zu halten, weil es eben das Frühere war, noch weniger aber, offenbar Ueberlebtes und nicht mehr Lebensfähiges künstlich in’s Leben zurückzugalvanisiren und dadurch mit dem unaufhaltsamen Culturfortschritte der Menschheit gewaltsam zu brechen. Vorwärts, nicht rückwärts! muß die Losung sein für unsere und für jede Generation, denn so nur gehorchen wir dem ewigen Gesetze der Menschheit und der Menschengeschichte.

Wir haben uns im Laufe dieser Betrachtungen wiederholt auf Zeugnisse zeitgenössischer Kenner und Beobachter der allgemeinen Culturzustände berufen: wir wollen dieselben auch mit einem solchen schließen, und zwar mit dem Zeugnisse eines Mannes, der drei Generationen an sich vorübergehen sah, der ein gut Stück des vorigen und mehr als die Hälfte des jetzigen Jahrhunderts erlebte, der nicht zu den Liberalen, sondern zu den Conservativen zählte, der in seinen religiösen Anschauungen eher der älteren Zeit nahestand, als der Gegenwart: des ehrwürdigen Ernst Moritz Arndt. Er ruft den einseitigen Lobrednern der Vergangenheit warnend zu:

“Weg mit Vormals, weg mit Weiland!
Thoren, laßt die Todten ruh’n!
Denn das Weiland war kein Heiland,
Und kein Satan ist das Nun.
Lebt mit den Lebenden fröhlich und frisch!
Solche nur ladet die Welt zu Tisch.“



  1. Wir ergreifen mit Freude hier die Gelegenheit, noch einmal auf ein Werk unseres hochverehrten Mitarbeiters hinzuweisen, dessen Erfolg zwar ein bereits durch die Nothwendigkeit einer neuen Auflage bewährter, aber dem wahren Werthe desselben noch keineswegs voll entsprechender ist, denn Karl Biedermann’s Buch „1840 bis 1870. Dreißig Jahre deutscher Geschichte, vom Thronwechsel in Preußen 1840 bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums, nebst einem Rückblick auf die Zeit von 1815 bis 1840“ ist das einzige Werk unserer Literatur, welches von dieser Zeit gewaltigster innerer und äußerer Kämpfe und großartigster Ereignisse uns „ein wirklich gutes, wahrheitsvolles und glänzend geschriebenes Geschichtsbild“ darbietet. Wenn irgend Etwas geeignet ist, in unseren von politischen Parteikämpfen erregten Tagen Klarheit in die Köpfe und Wärme in die Herzen für die höchsten Güter unserer Nation zu bringen, so ist es die genaue Kenntniß des Menschenalters, das der Gründung des neuen deutschen Reichs vorherging; und wenn irgend ein Mann durch inneren und äußeren Beruf dazu befähigt war, ein solches Buch zu schreiben, so war es eben der Verfasser, der diese Zeit mit durchlebt und mit durchkämpft hat, – „der einst selbst um seiner charaktervollen Vortrags- und Schreibweise willen auf Jahre hinaus seine Professur (an der Universität Leipzig) verlor und dann im deutschen Parlament eine hervorragende Rolle spielte.“ „Dreißig Jahre“ sind ein deutsches Volksbuch, das in keinem deutschen Hause fehlen sollte. Karl Biedermann’s wohlgetroffenes Bildniß haben die Leser der „Gartenlaube“ im Jahrg. 1873, S. 579 erhalten, wo die „Führer der liberalen Abgeordneten in der Zweiten sächsischen Kammer“ dargestellt worden sind. Die Red.