Die Gartenlaube (1884)/Heft 6

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Da fahren Hunger und Durst zusammen,“ bemerkte im folgenden Schlitten der dicke Referendar Golling zu dem Lieutenant von Rost und blies behaglich den Rauch einer feinen Cigarre in die kalte Winterluft. Sie hatten keine Damen im Schlitten, die Beiden, hatten vielleicht auch keine gewollt. Lieutenant von Rost vertrat hier die Stelle des ewig Weiblichen, er hatte ein Taschentuch um den Arm gebunden und handhabte einen riesigen dunkelrothen Fächer mit vielem Geschick.

„Na, bei einer Schlittenpartie ist es ja noch zu ertragen; die guten Büffets in der Burg sind ein tröstlicher Hintergrund,“ gähnte der Lieutenant.

„Herr Gott, der gute Mann wird doch nicht so wahnsinnig sein und etwa ernsthafte Absichten –?“ fragte der Referendar.

„Eh, was weiß ich?“ gähnte wiederum der Officier, „’s ist seine Sache. Daß der Alte nichts hat, weiß er so gut, wie wir Alle.“

„Er macht’s ein Bischen arg, lieber Rost, und – nebenbei – er ist Gemüthsmensch.“

„Ja, wer wäre das nicht! Aber hierbei hört eben die Gemüthlichkeit auf,“ erklärte der Lieutenant und ließ mit einer Gesichtsverzerrung den Kneifer fallen, mittelst dessen er angelegentlich das vor ihnen fahrende Paar betrachtet hatte.

Moritz fuhr zu allerletzt mit einer hübschen jungen Frau. Er war verdrießlich und suchte beständig mit den Augen nach Frieda und Else.

„Fräulein von Hegebach ist ziemlich weit vorn, Herr von Ratenow, Bernardi fährt sie. Nicht wahr, er ist viel in Ihrem Hause? Ich bin befreundet mit einer Schwester von ihm; der Vater war ja wohl früher hier Kreisphysicus? Er soll jetzt in B. eine große Praxis haben, aber weiter – glaube ich – nichts. Die vielen Kinder – Sie wissen, Herr von Ratenow.“

„Ich kenne seine Familienverhältnisse ganz genau,“ erwiderte Moritz verstimmt. Er fühlte sehr gut, was man ihm andeuten wollte.

„Ach so! Verzeihen Sie, bester Herr von Ratenow,“ bat die junge Frau und sah ihn groß an. „Nun, dann wußten sie ja auf der Burg, daß er keineswegs eine gute Partie sei.“

Indessen herrschte auf der Burg ein wahrer Höllentumult, wie die alte Frau von Ratenow ärgerlich zu Tante Lott sagte. Im Speisezimmer wurden die Tafeln gedeckt und der Gärtner schleppte das halbe Gewächshaus in die Halle, wo man tanzen wollte. Frieda hatte die Trauer pünktlich am 1. Januar abgelegt; nun war es das erste große Fest heute, und zwar ein improvisirtes. Sie war gestern Abend aus einer Gesellschaft gekommen mit dieser Idee und hatte heute in aller Tagesfrühe sämmtliche Hände und Füße des Hauses in Bewegung gesetzt.

„Laß mich nur in Frieden,“ erklärte Frau von Ratenow der Schwiegertochter, „schicke mir die Kinder, damit sie Euch nicht im Wege sind; das ist Alles, was ich dabei thue.“

In Frieda’s Schlafzimmer lag die elegante blaßblaue Seidenrobe bereit für heute Abend, mit jedem Stückchen, was die junge Frau für ihre Toilette brauchte.

Oben in Elsa’s Stübchen hatten zwei alte Frauenhände das einfache weiße Battistkleid zurecht gelegt, welches das junge Mädchen zu Weihnachten geschenkt bekommen; und die zwei kleinen Goldkäferschuhchen standen, schmal wie die eines Kindes, auf dem Tische vor der alten Dame. Hier und da hatte sie eine rosa Schleife angenäht, mit wahrer Seligkeit; es war doch auch keine Kleinigkeit, das Pflegekindchen zum ersten Male zum Tanze zu führen. Sie hatte sich dann selbst in das Grauseidene geworfen, hatte die Lampe angezündet und sich einen Roman von Hackländer geholt. Nun wartete sie auf Else, um ihr behülflich zu sein, denn es galt, rasch Toilette zu machen.

Allmählich wurde es ruhiger unten; man war fertig mit den Vorbereitungen, die Stille vor dem Sturme war eingetreten. Und nun klangen die Schlittenglocken von draußen – das waren sie, Moritz, Frieda und Else mit der ganzen Gesellschaft.

Es dauerte kaum ein paar Augenblicke, und die leichten Schritte des jungen Mädchens kamen den Corridor hinauf, die Thür wurde aufgemacht – da stand sie auf der Schwelle, roth und wie außer Athem.

„Guten Abend, mein liebes, kleines Tantchen!“ rief sie und schlang beide Arme um den Hals der alten Dame. Es wehte mit ihr ein ganzer Strom wunderfrischer, kühler Schneeluft in das Gemach.

„War es schön, Maus? Hast Du Dich gut unterhalten? Komm, trink Deinen Thee.“

Aber das junge Mädchen dankte hastig; sie lief rasch in ihr Schlafzimmer und dort stand sie eine ganze Weile im Finstern und vergaß Hut und Mantel abzulegen.

Tante Lott kam herzu, um zu helfen.

„Aber, Else, da stehst Du noch, und es ist die höchste Zeit zum Ankleiden!“ Sie holte Licht und nahm dem Kinde die Sachen ab. „Ja, was hast Du denn, Else, weinst Du gar?“

[90] Sie blieb stumm und begann sich anzukleiden, aber es wollte heute gar nicht recht gehen mit dem Frisiren, die zitternden Hände machten wohl dreimal die schweren Flechten wieder auf, und die Rose wollte gar nicht ihren Platz finden.

„Es ist ja gut, es sitzt ja sehr schön!“ meinte Tante Lott. „Du bist doch sonst nicht so eitel.“

Ja sonst, gute Tante Lott. Sie hatte ja keine Ahnung, für wen sich das Kind dort schmückte.

Endlich stand sie fertig.

„Tante Lott, mir ist heute so angst!“ Sie zitterte wirklich nervös.

„Ja, was fehlt Dir, Kind? Du bist kalt geworden im Schlitten.“

„Nein, nein, komm nur, Tante!“

„Willst Du nicht ein paar Tropfen Eau de Cologne nehmen, Else?“

Sie antwortete nicht, sie stand schon wieder regungslos, und ihre Augen sahen seltsam verklärt in das leere Nichts. Ihren Namen meinte sie wieder zu hören – „Else!“ und noch ein paar einfache Worte: „Glück! Was ist denn Glück, wenn nicht dieser Augenblick?“

Seine Stimme hatte so wunderbar geschwankt dabei. Von den Eltern hatte er ihr gesprochen auf der Heimfahrt, wie gut und wie lieb die Mutter, wie sie ihn so gern auf seiner Geige spielen hörte. Der Vater habe sie auch einst gespielt; er erinnere sich gar wohl, wie er, ein kleiner Junge, in der Dämmerung auf dem Schooße der Mutter gesessen, andächtig lauschend, während der Vater spielend auf und ab geschritten sei im Gemach. Zuweilen habe er dann den Bogen sinken lassen und sei herüber gekommen, um Mutter und Kind zu küssen. Ach ja, die kleine Geige habe schon viel Glück gesehen, darum singe sie auch gar so süß. – Ach, Glück! Was ist Glück, wenn nicht dieser Augenblick?

Und ihre Hände lagen plötzlich in einander, und Else hatte weinen müssen; und unter Thränen lachte doch das junge Herz und betete und jubelte, und über ihnen breitete sich der funkelnde Sternenhimmel aus.

„Else, komm, ich bitte Dich!“ flehte Tante Lott, „ich glaube, wir sind die Letzten.“

Sie folgte der grauen Seidenschleppe wie im Traume; ihr bangte, daß sie ihn wiedersehen sollte da unten im hellen Kerzenlicht, und doch schlug ihr Herz schwer und voll.

In der glänzend erleuchteten Halle und den anstoßenden Salons wogte schon Alles durch einander; in Moritzen’s Zimmer waren Spieltische aufgestellt und Frau von Ratenow hielt bereits eine Whistkarte in der Hand. Sie sprach mit einem älteren Herrn, als Else zu ihr trat, um ihr die Hand zu küssen. Die alte Dame starrte sie einen Augenblick frappirt an, das Mädchen war ja bildschön heute Abend; beinahe scheu strich sie über die Wangen und folgte ihr mit den Augen, als sie durch die bunte Menge schritt, den Kopf ein klein wenig gesenkt und doch so stolz, die köstliche Gestalt in dem knappen weißen Kleide, durch das Hals und Arme rosig schimmerten. Neben Annie Cramm blieb sie stehen. Die junge Dame schaute sonderbar verdrießlich und spitz unter dem Kranze weißer Maßliebchen hervor; in ihrer fliederfarbenen Toilette mit der überreichen Garnitur von Spitzen und gleichen Blumen sah sie aus, als habe ein Kleiderkünstler eine Wachsfigur in das Schaufenster gestellt, um für ein neues Costüm Reclame zu machen. Es war Alles so ausgesucht an ihr, von den blaßlila Atlasschuhen bis zum Spitzenfächer aus kostbaren Points und dem Schmetterlinge aus Brillanten, der so leuchtend und prätentiös sich auf dem bescheidenen Halse der jungen Dame wiegte.

„Was das für eine Takelage ist, die jetzige Mode!“ murmelte Frau von Ratenow; „ich wundere mich, daß die Annie Cramm tanzen kann in diesen festgeschnürten Röcken. Hilf, Himmel, und wie es aussieht!“

Die ersten Töne des Walzers waren durch den Saal gebraust, wie elektrisirt hatten sich die Paare zusammengefunden; es war ein prächtiges Bild in dem reichen Rahmen.

„Wo ist Else, Lottchen? Ich sehe sie nicht mehr,“ fragte die alte Dame.

„Dort, dort!“ rief die Angeredete, die eben hinzugetreten war. „Ratenowchen, das Kind tanzt nicht, sie fliegt!“ rief sie in Ekstase und nahm die Lorgnette, dem Lieblinge mit entzückten Augen folgend.

„Da ist noch Lust an der Sache, meine Gnädige,“ bemerkte der alte Herr mit goldener Brille; „mein Gott ja, achtzehn Jahre!“

„Sagen Sie, bester Justizrath,“ fragte Frau von Ratenow, „sind Sie nicht Anwalt des Bennewitzer Hegebach?“

„Ich habe den Vorzug, gnädige Frau.“

„Nun –?“

„Nun, der Major ist abgewiesen mit seiner Klage, natürlicher Weise.“

„Versteht sich,“ nickte Frau von Ratenow; „weiß er es schon?“

„Heute wird es ihm zugeschickt worden sein, gnädige Frau. Ich bin übrigens neugierig, wie es wirkt.“

Frau von Ratenow sah dem Sprecher plötzlich ganz besorgt in das Gesicht. „Glauben Sie, daß er sich dabei beruhigt?“

„I bewahre,“ erwiderte der Gefragte. „So lange der alte Rappelkopf noch Athem hat, so lange kräht er auch.“

Der Tanz war beendet, man zog sich in die Nebenzimmer zurück oder auf die reizenden Plätzchen unter den Lorbeerbüschen und der Orangerie. Bernardi hatte Else in Frieda’s kleines Boudoir geführt; das Mädchen suchte die Herrin desselben, um ihr ein wenig die Pflichten der Wirthin erleichtern zu helfen. Es war Niemand dort, bis auf die zwei kleinen blonden Mädchen, die in ihren sehr kurzen weißen Kleidern auf der Chaiselongue der jungen Frau über eines von Mamas schönen Büchern gerathen waren. Frieda’s große Dogge saß verständnißvoll dabei.

Else setzte sich auf eins der niedrigen Fauteuils neben die Kinder und begann mit ihnen zu plaudern. Die Aelteste legte das Buch auf ihre Kniee. Es war ein wunderliebliches Bild, und sie fühlte, wie seine Blicke bewundernd auf ihr ruhten. Sie sah empor, und ihre Augen fanden sich, bis sie, tief erröthend, wieder die Wimpern senkte.

„Nun fangen wir bald zu lernen an,“ sagte das junge Mädchen und strich der Aeltesten das Haar aus der Stirn.

„Ich kann schon lesen, Tante Else, paß’ auf!“ Und das Kind las, mit dem kleinen Finger auf die Buchstaben zeigend, die Unterschrift eines Bildes:

„Die Minne überwindet alle Ding –
Du lügst! sprach der Pfenning.“

Else betrachtete das Bild; es war eine Illustration zum „Altdeutschen Witz und Verstand“. Ein Brautzug stieg die Stufen zur Kirche hinauf, der junge Patricier führte die prächtig geschmückte Braut, die ganze stattliche Sippe der Beiden wogte hinterdrein. Abseits davon stand ein Mädchen in ärmlicher Kleidung, keinen Schmuck als zwei lange blonde Zöpfe tragend; sie hatte dem Zuge den Rücken gewandt, die Schürze vor das Gesicht geschlagen und weinte. Bernardi sah über Else’s Schultern auf das Blatt.

Die kleine Blonde fragte, ob dem Onkel das Bild gefalle? Er antwortete nicht.

„Bernardi, oh – auf ein Wort,“ schlug plötzlich die Stimme des Lieutenants von Rost an sein Ohr. Er schritt über den weichen Teppich dem Cameraden nach.

„Was willst Du, Rost?“ fragte er im Nebenzimmer.

„Bernardi,“ sagte der Officier und nahm den Kneifer aus dem Auge, „Du und ich, wir haben immer ein ehrlich Wort von einander vertragen können; ich spreche es auch heute wieder: Gehe auf Urlaub eine Weile, oder laß Dich versetzen oder heirathe meinetwegen die Annie Cramm –“

Bernardi wurde blaß bis in die Lippen. „Du mußt Dich deutlicher erklären, Rost.“

„Deutlicher? Gern – Du hast Schulden, mon ami, wenn auch keine leichtsinnigen, Du hast weder Erbonkel noch -Tante, und Dein Alter besitzt alles mögliche Schätzenswerthe, nur keine irdischen Güter. Noch deutlicher?“ setzte er fragend hinzu. „Schwer verständlich scheint Dir allerdings Manches zu sein, sonst hättest Du aus Ratenow’s höchst gezwungener Haltung Dir gegenüber längst die allgemeine Ansicht herauslesen können, die über Deine Beziehungen zu diesem gastfreien Hause cursirt. – Ich weiß allerdings nicht, wie weit Du bist, und ob Du noch zurücktreten kannst; meiner Theilnahme für den Fall, daß dies nicht mehr möglich, bist Du sicher.“

[91] Er ging ohne ein Wort meiter an dem Cameraden vorüber und trat zu Else, die noch immer das Geplauder der Kinder anhörte; das Buch hatte sie auf den Tisch gelegt, sie war schon wieder mitten in ihren glückseligen Gedanken.

„Ich habe die Ehre dieses Tanzes, gnädiges Fräulein,“ sagte der junge Officier, und mit einigen Scherzworten führte er sie in den Saal.

Bernardi war in peinlichster Stimmung zurückgeblieben; er drängte sich mit finsterer Miene durch die folgenden Zimmer in die Halle nach und blieb in der .Thür stehen, just neben Moritz. Wahrhaftig, der sonst so liebenswürdige Mann benahm sich auffallend kühl gegen ihn. Soweit war es also doch, daß die Spatzen auf dem Dache davon erzählten! Er grübelte, den Schnurrbart streichend, über seine ganze Verwandtschaft nach – Rost hatte Recht, eine Erbtante oder ein -Onkel war nicht vorhanden.

„Oho, mein Herr Oberst!“ schlug plötzlich Frau von Ratenow’s Stimme an sein Ohr, „das ist Ansichtssache.“ – Es war so laut und drohend gesprochen.

Er wandte sich um und sah in das Zimmer des Hausherrn hinein. Die alte Dame in ihrer schweren seidenen Robe saß dem Regimentscommandeur am nächsten Whisttische gegenüber, sie gab eifrig Karten, und ihr Gesicht hatte genau den strengen Ausdruck, der ihr eigen war, wenn sie sich zum Streite rüstete, eine ihrer Meinungen zu verfechten.

„Das sind Ansichten,“ wiederholte sie, „meine sind es nicht! Ich habe denn doch schon zu viel Unglück aus dieser sogenannten Anständigkeit entspringen sehen – ich will Ihnen gleich ein Beispiel erzählen.“

Sie war fertig mit dem Geben der Blätter und legte ihre gefalteten Hände auf die Karten. Bernardi schien es plötzlich, als spreche sie jetzt nur deshalb so laut, weil sie ihn eben dort an der Thür erblickt hatte. Unwillkürlich nahm er eine aufmerksame Haltung an.

„Sie war meine Freundin, Herr Oberst; Sie haben sicher den Major von Welsleben gekannt und seine Frau? Na, sehen Sie, die hatten sich kennen und lieben gelernt, als sie, verzeihen Sie – Beide noch nicht recht trocken waren hinter den Ohren. In den Jahren denkt man nicht an die Prosa des Lebens, wollen Sie sagen, Herr Oberst? Gut, dann soll man die jungen Leute aufmerksam machen, daß es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, aus ihren Mondscheinidyllen von ‚Ein Herz und eine Hütte‘ aufzuwachen, sich im wirklichen Leben umzusehen und zu erkennen, daß man von Liebe und Rosenduft nicht allein existirt. Nun, sie verlobten sich, es ward ein endloser Brautstand, er ein verdrießlicher Mann, sie ein nervöses Mädchen, bis der Prediger schließlich elne traurige Ehe einsegnete. – Jetzt kommt’s, Herr Oberst! Sehen Sie, Sie behaupteten vorhin, der natürliche Anstand würde ihn dazu gezwungen haben, sich mit dem Mädchen zu verloben, da er ihr so offen gezeigt, daß er sie liebe? Ein verkehrter Anstand, mein Herr! – Mein alter Jochen, der zweiunddreißig Jahre in meinem Hause ist, zu den Klügsten gehört er gerade nicht, sagte eines Abends zu mir, als er die Tafel deckte: ‚Gnädige Frau, das Tischtuch will absolut nicht passen; ziehe ich es nach oben, fehlt es unten, schiebe lch es dorthin, guckt oben der Tisch vor; ich quäle mich nun schon eine ganze Stunde mit dem Dings.‘ So ist’s geworden bei Welsleben’s; ihr ganzes Leben lang haben sie das Tischtuch hin und her gezogen, aber gereicht hat es nie. Es kamen Kinder, es wurde immer knapper, es kamen die Anforderungen von allen Ecken und Enden, Freude war längst nicht mehr im Hause, und wenn die Klingel ertönte, dann schrak die Hausfrau ängstlich zusammen, weil sie meinte, es sei wieder eine der ach! so oft schon präsentirten und nie bezahlten Rechnungen. Die Frau borgte sich elend und siech; na, und er fand mehr Geschmack, als ihm gut war, am Wirthshaus. Nun frage ich Sie, mein Herr, wo –“

Bernardi hörte das Letzte nicht mehr; er stand plötzlich vor Frieda und bat sie um eine Extratour. Sie dankte; „Mein lieber Bernardi, erbarmen Sie sich über Fräuleln Cramm –“. Er machte eine Verbeugung und verließ den Saal.

Else’s braune Augen suchten Etwas. Lieutenant Rost wußte ganz genau, was es war; die Kleine that ihm unsäglich leid, so leid ihm überhaupt etwas thun konnte. Er hätte gern Bernardi ein paar tausend Thälerchen anhexen mögen, damit diese kleinen schmalen Füße auf seinem Lebensweg neben ihm trippeln konnten. „Auf Ehre, sie war reizend!“

Bernardi war indessen mit fast stürmischer Hast in dem großen Gartenweg auf und ab geschritten. „Wenn Du noch zurückkannst,“ – die Worte klangen ihm in den Ohren. Ihm schwindelte, es war ihm, als hätte er den, der dies gesprochen, erwürgen mögen. Aber freilich, sie hatten Alle Recht, und das war eben das Teuflische. Ob er noch zurücktreten konnte ohne einen Eclat? Ja, er brach noch nicht sein Wort, kein ausgesprochenes Wort – in einer Stunde vielleicht wäre es gesagt gewesen. Und dennoch, tausendmal hatte sie es in seinen Augen lesen müssen, wie er es in ihren klaren braunen Kinderaugen gelesen, daß sie sich herzinnig gut einander.

Freilich, welche Aussichten! Die Schilderung der alten Dame war so entsetzlich trostlos, so furchtbar wahr, eine elende Perspective! – Er strich sich die Haare aus der Stirn; eine Melodie war ihm plötzlich eingefallen, einfache Worte:

„Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind!“

und er sah wieder das Bild, das er vorhin gesehen, und das weinende Mädchen nahm Else von Hegebach’s Gestalt an.

Nein, er konnte doch nicht mehr zurück, und er wollte nicht mehr zurück, er hätte nicht leben können, wenn Else von Hegebach ihn für einen Wortbrüchigen, für einen Elenden ansehen mußte. Er hatte ihre Hand in der seinen gehalten in der vollen Seligkeit des Augenblicks, und er dachte zu heilig von der Liebe, zu hoch von den Frauen – es mußte einen Ausweg geben, schlimmsten Falls nahm er den Abschied. Er ging plötzlich mit großen raschen Schritten zurück in das Haus und durch den Saal in das Spielzimmer.

„Gnädige Frau,“ er machte eine Verbeugung vor der alten Frau von Ratenow, „darf ich Sie um eine kurze Unterredung bitten?“. Er sprach leise und sah ruhig in das kluge Antlitz, das sich erstaunt zu ihm wandte.

Sie antwortete nicht gleich, aber sie legte die Karten hin. „Gehen Sie hinüber in mein Wohnzimmer, ich komme nach,“ erwiderte sie ebenso leise. Es war gut, daß die Andern sich so laut unterhielten und daß die Musik eben wieder einsetzte.

Frau von Ratenow sah ihm nach, wie er eben durch die Portieren verschwand. „Da haben wir’s,“ sagte sie zu sich. – „Bester Herr Gerichtsrath, übernehmen Sie für ein Viertelstündchen meine Karten? So! Ich danke Ihnen!“ Und sie folgte, den Weg durch den Tanzsaal wählend, dem jungen Officier in ihr Zimmer. Es war nur durch eine rasch angezündete Kerze erhellt und aus dieser Dämmerung schaute ein ernstes blasses Gesicht zu ihr herüber.

„Nun, lieber Bernardi?“

„Gnädigste Frau, Sie sprachen vorhin ein hartes Urtheil über – das –“, er stockte.

„Ich weiß schon, was Sie meinen,“ nickte sie, „Sie wollen mich doch nicht etwa zu einem Widerruf zwingen?“

Das klang wie scherzend, aber ihre Augen blickten ernsthaft, fast strenge.

„Gnädigste Frau halten auch keine Ausnahme für möglich?“ fragte er.

„Nein!“ erwiderte sie kurz und setzte sich in den nächsten Stuhl.

„Auch nicht, wenn ein ehrlicher fester Wille sich mit einem Herzen voll echter Liebe verbindet?“

Er sprach tiefbewegt; die alte Dame sah zu ihm empor – fast mitleidig.

„Du lieber Himmel! Das haben sie ja Alle gedacht, und das glauben sie Alle; das ist so eine Honigtopfsrechnung, Bernardi, wie sie Verliebte so gern machen.“

„Ich würde den Abschied einreichen, gnädigste Frau. Es ist ja wahr, unser Stand verlangt soviel nach außen hin; es ist ein jammervolles Loos, das des armen Officiers! Ich würde es nie Else von Hegebach anbieten – ich –“

„Else von Hegebach?“ Frau von Ratenow erhob sich und trat in der rauschenden Seidenrobe auf den jungen Mann zu. „Wenn Sie Else von Hegebach meinen, so sage ich Ihnen, sie ist ein armes Mädchen und sie würde nie gestatten, daß ein Mann ihretwegen seine Carrière aufgiebt, um ein unzufriedenes verfehltes Dasein mit sich herumzuschleppen! Dazu ist sie viel zu bescheiden, mein bester Bernardi; und von Ihnen hege ich die feste Ueberzeugung, daß Sie ehrenhaft genug sind, einen solchen Vorschlag [92] nicht einem Kinde zu machen, das noch nicht weiß, was es bedeutet, sich zu binden für immer. Bis jetzt kannte sie die Noth des Lebens noch nicht.“

Sie hatte laut und heftig gesprochen und fuhr nun fort: „Glauben Sie denn, daß Sie, wenn Sie den bunten Rock ausgezogen haben, leben können wie ein Tagelöhner? Dazu verwöhnt sich die Welt heutzutage allzusehr schon von Jugend auf. Gehen Sie, Bernardi, ich hätte Sie nie für so unvernünftig gehalten.“

„Ich liebe Fräulein von Hegebach,“ erwiderte er und sah ihr fest in das erregte Gesicht.

„Jawohl – Sie haben sich so recht über Hals und Kopf hineingestürzt! Ich hab’s kommen sehen, leider!“

„Und ich werde wieder geliebt!“

„So?“ – Die alte Dame warf unmuthig ihre Haubenbänder zurück. „Was weiß so ein Kind von Liebe! Reden Sie mir davon nicht, Bernardi, in dem Alter hat man ja noch kein Urtheil, und wenn auch –“

„Und wenn auch?“ wiederholte er; „gnädige Frau, und wenn auch –?“

„Nun, sie wird’s vergessen, Bernardi! – Ach nein, nein,“ fuhr sie fort, „machen Sie doch keinen Unsinn! Ich will ja glauben, daß Sie sich in die Kleine verliebt haben, sie ist ein hübsches Mädchen, aber – daran sterben Sie nicht. Ich muß Sie alles Ernstes bitten, mein lieber Lieutenant Bernardi, diese Unterredung als beendet anzusehen. Es ist eine Unmöglichkeit, und weder Ihre Eltern noch Else’s Vater, weder ich noch mein Sohn, werden Freude daran haben. Ich kann keine Redensarten machen von – großer Ehre – und so weiter; Sie wissen, ich schätze Sie als einen liebenswürdigen Cavalier, Bernardi, als einen Ehrenmann; machen Sie das Kind nicht unglücklich! Ich meine es gut mit Ihnen und mit ihr.“

„Ich breche kein gegebenes Wort bei Fräulein von Hegebach; es sei ferne von mir, ihr Unglück zu wollen. Nehmen Sie meinen Dank, gnädigste Frau.“

Er verbeugte sich formell und wollte der Thür zuschreiten.

„Halt, Bernardi, so gebe ich Sie nicht frei!“ rief Frau von Ratenow, und das Funkeln ihrer Brillanten flog wie ein Leuchten durch das dämmerige Gemach bei der raschen Wendung. „Erst das Versprechen, daß Sie sich dem Kinde nicht mehr nähern wollen!“

„Ich werde sobald als möglich die Stadt verlassen, gnädige Frau.“

„Ich danke Ihnen, lieber Bernardi!“

Und als sich die Thür hinter ihm geschlossen, stand sie noch eine ganze Weile auf derselben Stelle, gesenkten Hauptes. Dann fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen.

„Verzeihen Sie, meine Herrschaften,“ sagte sie ein paar Minuten später im Spielzimmer, „ich bin wieder zu Ihrer Disposition. Wie? Schlemm sind wir geworden, Herr Justizrath?“

Und der Abend und die Nacht vergingen; sie hatten noch einmal getanzt zusammen. Er sei sehr lustig gewesen, der Herr Lieutenant Bernardi, meinten die jungen Damen; die Herren behaupteten, er habe dem Champagner etwas mehr zugesprochen, als jüst nöthig. Er hatte sich eine rosa Schleife, die ihm vor die Füße wehte, als Else vorbei tanzte, in die Tasche gesteckt, er hatte noch einmal die zitternden Mädchenhände fest in die seinen gepreßt, und er war dann zurückgetreten mit der ritterlichsten Verbeugung, ohne noch einmal in die feuchten sehnsüchtigen Augen zu blicken; und draußen auf der Straße hatte er seinen Arm in den des Lieutenants von Rost geschoben.

„Um Himmels willen noch nicht nach Hause!“ erklärte er mit lauter Stimme, und dann war der ganze Trupp der Unverheiratheten in ihr Stammlocal gezogen.

„Na,“ fragte Dolling den Lieutenant von Rost, und deutete auf Bernardi, der sich überlaut mit einem älteren Cameraden unterhielt, als gelte es eine innere Stimme zu betäuben, „was hat es gegeben?“

„Eh,“ erwiderte der Angeredete, „er ist in der Krisis, wird’s wohl durchmachen.“ – –

„Ach Tante, schlaf noch nicht,“ bat Else. Sie hatte das Morgenkleid angezogen und saß auf dem Bettrand der alten Dame.

„Mein Liebling, schütt’ es aus, Dein Herz,“ sagte die wunderliche verschrobene Tante mit dem kinderguten Herzen.

„Ich habe ihn so unsäglich lieb!“ flüsterten die frischen Mädchenlippen. Dann sprach sie nicht mehr; die Beiden drückten sich nur stumm die Hand.

(Fortsetzung folgt.)




Staarblindheit.

Von Dr. J. Hermann Baas (Worms).

Wenn ein Deutscher über eine rechte Sache schreibt, verfährt er bekanntlich am liebstell in größter Ordnung und beruft sich dabei noch gern auf Autoritäten. Je größer diese sind, desto besser!

Vor allen Dillgen giebt er demgemäß eine Begriffsbestimmung dessen, worüber er schreiben will, und findet dafür gewichtige Beispiele in Menge: hat doch sogar ein Goethe im „Faust“ (im einleitenden Monologe) diesen zuerst ausführlich – sich selbst definiren lassen! Wir dürfen also wohl auch auf die Verzeihung des Lesers hoffen, wenn wir hier, natürlich im Kleinen, dieses Verfahren nachahmen und an der Spitze unserer Darlegung eine kurze Begriffsbestimmmung davon geben, was man denn unter „Staar“ zu verstehen hat, um so mehr, als die tägliche Erfahrung lehrt, daß in Laienkreisen fast überall darüber große Unklarheit herrscht.

„Staar“ nennt man im Allgemeinen jede bedeutende und dauernde Schwächung des Sehvermögens, sobald sie die Neigung hat, fortwährend zuzunehmen und zuletzt, wenn ihr nicht Einhalt geboten wird oder geboten werden kann, zur Erblindung zu führen. Ein Merkmal ist noch wichtig, nämlich das, daß man am äußeren Auge lange Zeit hindurch oder auch für immer nichts Krankhaftes wahrnimmt, daß der verhängnißvolle Proceß also im Innern des Auges unheimlich, allmählich und verborgen sich abspielt. Man unterscheidet, im Anschluß an die uralte Volksauffassung, die freilich der neueren Wissenschaft ganz und gar nicht mehr genügt, immer noch zwischen grauem, grünem und schwarzem Staar. Die Gefährlichkeit dieser Formen aber taxirt man von jeher nach derselben Reihenfolge, wie wir sie hier aufführen. Es sei aber sogleich bemerkt, daß die Schwere dieser Uebel vielfach überschätzt wird: ist doch der graue Staar fast immer heil- oder vielmehr operirbar; auch von dem grünen, wenn er rechtzeitig erkannt wird, gilt in den meisten Fällen dasselbe: nur der schwarze führt, wenn auch viel seltener, als früher, auch heute noch oft genug zum nahezu vollkommenen oder gar zum vollständigen, dauernden Verluste des Sehvermögens. Näheres wird sich aus dem Folgenden ergeben.

Der „graue Staar“, der häufigste von allen, hat seinen Sitz in der Augenlinse und heißt deshalb auch wohl kurzweg der Linsenstaar. Er ist nichts weiter, als eine Trübung, ein Undurchsichtigwerden jenes Gebildes. Durch ihn wird die Pupille, die im gesunden Zustande bekanntlich immer tief schwarz ist, grau – daher der Name der Krankheit! Sie ist vorzugsweise eine Folge des höheren Alters und eine Erscheinung, die man mit dem Grauwerden der Haare recht wohl vergleichen darf, nur daß sie nicht so häufig und so regelmäßig auftritt, wie dieses. Die schweren Folgen derselben entspringen aber nur der Stelle, an der sie sich zeigt. Uebrigens ist das Leiden nicht ausschließlich, wie meistens geglaubt wird, ein solches der späteren Lebensjahre, sondern kommt sogar angeboren, selbst erblich vor und entwickelt sich noch oft genug in den Jünglings- und Mannesjahren, wenn auch allerdings viel seltener, als bei Greisen. Man darf demnach wohl sagen, auch dieses Uebel verschont kein Alter und kein Geschlecht!

Mit Rücksicht auf das Sehen aber kann der graue Staar als ein blos mechanischer Verschluß der Pupille, als eine Art Verstopfung, die den Lichteintritt in das Auge verhindert, betrachtet werden. Wird also dieser graue Pfropf, den die trübgewordene Linse bildet, herausgenommen – das einzige Heil- und sicherste Operationsverfahren! – so kann das Licht wieder eintreten und

[93]

Pharisäer und Zöllner.
Nach einem Oelgemälde von Moritz Röbbecke.

[94] das Sehen wird dadurch wieder möglich. Wenn man die entfernte Augenlinse dann nur durch eine äußere, starkbrechende Glaslinse (Fig. 1, c) ersetzt, das heißt den Operirten eine sogenannte Staarbrille tragen läßt, so ist sogar ganz scharfes Sehen wieder möglich, weil durch eine solche das Bild der äußeren Gegenstände (a b) wieder genau auf die Netzhaut (c d) geleitet wird.

Fig. 1.

Diese Entfernung der Linse aus dem Auge, die sogenannte Staaroperation, erfordert natürlich große Fertigkeit, wird aber durch verbesserte Operationsverfahren und sicherere Wundbehandlung heutzutage in der bei weitem überwiegenden Mehrzahl der Fälle erfolgreich ausgeführt. Sehr schmerzhaft ist die Operation nicht und gar von Gefährdung des Lebens durch dieselbe kann kaum die Rede sein, Gründe genug, daß die große Scheu vor derselben, wie sie noch vielfach herrscht, ganz unberechtigt erscheint, wenn jene auch an dem edelsten Sinnesorgane. (und gerade weil sie an diesem) gemacht wird. Das Lebensalter ist ebenfalls kein Hinderniß für ihre Ausführung, sobald der Staar nur „reif“, das heißt, wenn die Linse vollkommen trübe ist: sie kann bei kleinen Kindern sowohl, wie bei Hochbejahrten vorgenommen werden, wenn auch bei beiden verschiedene Verfahren eingehalten werden müssen. Das frühere Alter hat sogar den Vorzug, daß die verdunkelte Linse während dieses meist nur durch die Hornhaut hindurch (Fig. 2 m a) einfach angestochen zu werden braucht, worauf sie vermöge der mächtigen Lebensthätigkeit des kindlichen Organismns von selbst aufgesaugt wird und verschwindet. Wenn man also zuweilen in Zeitungen liest, der berühmte Profestor X. habe ein von Geburt aus blindes Kind, im 7. Lebensjahre z. B., so geschickt und schmerzlos operirt, daß es wieder sehe, so ist das durchaus nichts Wunderbares, ja nicht einmal etwas außergewöhnliches: ist doch gerade das dabei geübte einfache und leichte Verfahren schon seit uralter Zeit gebräuchlich gewesen, und bei den alten Indern, Aegyptern, Griechen, Arabern ebenso häufig, wie bei den Neueren durchgeführt worden.

Fig. 2.
a. getrübte Linse.

Nur mit dem Unterschiede, daß diese letzteren gerade in dem Atropin noch ein sicheres Mittel besitzen, die früher dabei vorhandenen Gefahren zu verhüten und abzuwenden. Dagegen im höchsten Alter werden diese letzteren jetzt durch die kürzere Nachbehandlungszeit, welche heute nöthig ist, und durch die technischen und hygieinischen Hülfsmittel, welche die Neuzeit geschaffen hat, bedeutend vermindert.

Wollten wir hier mehr als einige praktische Winke und Erklärungen über Dinge geben, die im Leben heute noch nicht genug bekannt sind oder beachtet werden, so müßten wir noch von den verschiedenen Formen des grauen Staars, dem Rinden-, Kern-, vorderen und hinteren Kapselstaar etc. sprechen; das wäre aber allzu lehrbuchmäßig für diese Stelle! Wir wollen deshalb nur noch die Bemerkung anfügen, daß ein Staarkranker sich nicht, wie es fast immer geschieht, mit einer Untersuchung behufs Feststellung seines Uebels begnügen und dann, wenn es ihm gut dünkt, die Operation in einer Klinik verlangen sollte; vielmehr ist es von wesentlichem Vortheil für den Erfolg der letzteren, wenn der Verlauf des Staares bis dahin stets überwacht wird. Denn es können sehr wohl Erscheinungen zu Tage treten, die besondere und nicht selten schleunige Hülfe nöthig machen, deren Versäumniß sich bitter rächen würde. –

Ein viel räthselhafteres und auch gefährlicheres Leiden, als der graue, ist der sogenannte „grüne Staar“, über den wir einige Worte sagen wollen.

„Dabei sieht wohl das Auge so grün aus, wie ein im Dunkeln leuchtendes Katzenauge?“ fragt, wer den Namen zum ersten Male hört, ganz sicher, und so fragt im Stillen wohl auch mancher Leser.

Nun ist aber bei diesem Uebel von irgend einer grünen Färbung am Auge oder von einem grünen Widerschein aus der Pupille gar keine Spur zu finden!

„Woher stammt denn aber diese sonderbare Bezeichnung?“

Ja, wer das sicher wüßte! Höchst wahrscheinlich ist dieselbe eine schlechte Uebersetzung des technischen Namens „Glaukom“, mit dem die Krankheit bei den Aerzten von jeher benannt ward. Eine sachgemäße Benennung aber giebt es überhaupt noch nicht, weil weder die Natur, noch der Sitz des Uebels in einem bestimmten Augentheil, noch die Ursachen desselben – die Einen glauben als solche eine Entzündung der Aderhaut, die Andern eine Störung durch Nerveneinfluß etc. annehmen zu müssen – genau erkannt und erforscht sind.

Fig. 3.
Vertiefung des Sehnerveneintritts in’s Auge (a) und Verkleinerung der vorderen Augenkammer (b) bei Glaukom. (Im Durchschnitt gesehen.)

Lange Zeit hat man gemeint, daß bei grünem Staar durch eine Ausschwitzung von Flüssigkeit in das Augeninnere der Innendruck, die Spannung desselben einfach vermehrt werde und daß dadurch alle Erscheinungen des Uebels und der schließliche Verlust des Gesichtes bedingt werden. Heute hält man das aber nicht mehr für unumstößlich richtig. Zwar sind in den meisten Fällen vermehrte, der des Steines sich nähernde Härte des im gesunden Zustande bekanntlich elastisch weichen Augapfels und Vertiefung des Sehnerveneintritts im Innern des Auges, sowie Verkleinerung der vorderen Augenkammer (Fig. 3 b) die Haupterscheinungen des Leidens. Diese sind außerdem verbunden mit Trübung des Sehvermögens, großer Schmerzhaftigkeit des Auges und dessen Umgebung, welche besonders des Nachts sich steigert, mit Unempfindlichkeit der sonst so empfindlichen Hornhaut (weiß doch Jedermann, wie weh ein Stäubchen im gesunden Auge thut!), Röthung und Thränenfluß; aber es giebt andererseits auch wieder Fälle, die ganz schleichend und ohne merkliches Härterwerden des Augapfels etc. bis zum verhängnißvollen Ende verlaufen. Doch für den Laien ist nur die „praktische“ Frage wichtig: was habe ich zu thun, wenn ich die eben genannten Erscheinungen an meinem Auge wahrnehme?

Die einfache und einzige Antwort, welche man für solchen Fall zu geben hat, ist die: Er consultire sofort einen tüchtigen Arzt – das sind ist Deutschland zum Glück fast alle! – und bitte ihn, eine gründliche Untersuchung seines Auges vorzunehmen!

Wird durch letztere festgestellt, daß „grüner Staar“ vorhanden ist, so bleibt in den bei weitem häufigsten Fällen die einzige, aber ganz ungefährliche, dazu fast nicht schmerzhafte Hülfe: das Ausschneiden eines Stückchens aus der Regenbogenhaut! – Durch dieses erst von dem berühmten Gräfe in den fünfziger Jahren gefundene Verfahren wird das vorhandene Sehvermögen alsdann erhalten und, wenn es etwa schon geschwächt war, oft genug wieder hergestellt, ohne dasselbe aber geht es unrettbar verloren!

Fig. 4.

Für den Patienten aber erwächst für die Folge aus dieser kleinen Operation fast kein anderer Nachtheil, als der, daß er statt einer runden Pupille eine solche von der Form, wie sie Fig. 4 versinnlicht, fortan besitzt, was doch dem unschätzbar großen Gewinne der Erhaltung des Sehvermögens gegenüber, das früher ohne dieselbe zweifellos verloren gegangen wäre, wahrlich nicht in Betracht kommen kann! Zudem bleibt der größte Theil der ausgeschnittenen Stelle noch durch das obere Lid verdeckt. Wir betonen deshalb nochmals ganz besonders: Ist grüner Staar constatirt, so zögere der Patient nicht einen Tag, die Operation ausführen zu lassen; denn jeder verlorene Tag verschlimmert die Aussichten, jeder gewonnene verbessert sie! Ist doch trotz der Entdeckung eines Arzneimittels, des Eserin, das in einzelnen Fällen nützt, ja heilt, auch heute noch die Gräfesche Operation das einzige sichere Heilmittel des grünen Staars geblieben! –

Für die Krankheitsgruppe, die man im täglichen Leben noch als „schwarzen Staar“ zu benennen pflegt, giebt es dagegen ein derartiges leider nicht! Alles, was in der neueren Augenheilkunde in Bezug auf Behandlung und Heilung desselben gewonnen wurde, ist verhältnißmäßig geringfügig und bleibt unsicher in Bezug auf den Erfolg.

Wir gehrauchten soeben die Bezeichnung „Krankheitsgruppe des schwarzen Staars“ und zwar mit bewußter Absicht. Denn [95] eine einheitliche oder, besser gesagt eine einzige Augenkrankheit, die man „schwarzen Staar“ ansprechen könnte, giebt es in der heutigen Krankheitslehre nicht mehr. Das, was man früher auch in den Lehrbüchern so benannte, hat sich nämlich mit Hülfe der neueren Untersuchungsmittel, zumal des Augenspiegels, schon beim Lebenden in eine recht stattliche Zahl von besonderen Krankheiten aufgelöst, sodaß die ärztliche Wissenschaft eigentlich gar nicht mehr vom „schwarzen Staar“ sprechen darf, sondern nur von ganz bestimmten Erkrankungen einzelner Theile des inneren Auges, welche das Bild desselben, falls ihrem Verlaufe kein Einhalt geboten wird oder geboten werden kann, in ihren Endstadien zuwege bringen. Einige derselben wollen wir nun im Folgenden besprechen und auch, soweit dies ohne Zuhülfenahme von Farben einigermaßen befriedigend geschehen kann, abbilden.

Die Organe, deren zahlreiche Krankheiten man als „schwarzen Staar“ früher zusammenfaßte, sind vorzugsweise der Sehnerv, die Netzhaut und die Aderhaut.[1]

Fig. 5.
Schwund des Sehnerven.
(Augenspiegelbild.)

Am häufigsten führt die Entzündung des Sehnerven zu solchem, wenn sie in Abzehrung übergeht; doch kann die letztere auch ohne vorhergegangene Entzündung sich entwickeln, zumal in Folge von Gehirn- und Rückenmarks-Erkrankungen, deren erste Erscheinung sie sogar nicht selten bildet. Durch die Abzehrung der Wurzel des Sehvermögeus geht dieses dann meistens rasch zu Grunde, wenn nicht durch den Gebrauch entzündungswidriger Mittel oder Anwendung von Strychnineinspritzungen in die Umgebung des Auges oder durch den elektrischen Strom dem traurlgen Leiden Stillstand geboten werden kann, was immerhin manchmal der Fall ist. Unerläßlich ist aber, soll die Aussicht auf Erfolg nicht alsbald ganz trügerisch werden, daß sehr früh die nöthigen Gegenmaßregeln ergriffen werden. In der Regel zögern derartige Kranke aber zu lange! Bei der Untersuchung mit dem Augenspiegel (vergl. den Artikel darüber in Nr. 7 1883) zeigt sich ein Bild, wie Fig. 5 es andeutet, wobei besonders die schneeweiße (seltener graue oder grünliche Farbe des im gesunden Zustande rosa gefärbten Sehnerven ein Hauptmerkmal bildet; mit dieser Entfärbung ist eine Vertiefung (Fig. 6 b) der regelrecht etwas gewölbten (vergl. die punktirte Linie a Fig. 6) Sehnerveneintrittsstelle verbunden!

Fig. 6.

Stellt die Abzehrung des Sehnerven meist ein zuerst im späteren Alter auftretendes erworbenes Leiden dar, so bildet dagegen eine andere Form des sogenannten schwarzen Staars, die von den Laien als „angeborene Nachtblindheit“ bezeichnet wird, weil die betreffenden Kranken anfänglich blos in der Dämmerung und im Halbdunkel der Nacht schlecht sehen, ein angeborenes Uebel. Es ist in sehr vielen Fällen eine Folge von Ehen unter nahen Verwandten und trifft nicht selten mehrere Glieder einer und derselben Familie. Bei dieser verhängnißvollen Krankheit bietet jedoch wenigstens der eine Umstand einigen Trost, daß sie., obwohl von Geburt an zunehmend, doch nur sehr langsam fortschreitet, sodaß das traurige Ende meist erst in den dreißiger, ja vierziger Jahren des Lebens zu befürchten ist. Das Augenspiegelbild derselben aber (Fig. 7) ist ein so überraschend charakteristisches, daß es gar nicht verkannt werden kann. Und selbst dieses verhängnißvolle Erbtheil aus unbedacht geschlossenen, bekanntlich auch noch andere Leiden mit sich bringenden Verwandtschaftsehen läßt noch in manchen Fällen eine zeitweise Besserung oder doch einen Stillstand durch zweckentsprechende Maßregeln zu!

Fig. 7.
Angeborene Nachtblindheit.
(Augenspiegelbild.)

Viel erfolgreicher ist freilich wieder das ärztliche Handeln bei einer anderen Krankheitsform, der einfachen Entzündung der Ader- und Netzhaut; auch sie wird gewöhnlich zum sogenannten schwarzen Staar, da die damit Behafteten – leider muß dies gesagt werden! – in der Regel zu spät nach Rath gehen, wenn schon große Zerstörungen im Auge angerichtet sind, und weil sie dazu selbst dann noch nicht die gehörige Ausdauer besitzen, sondern einfach, wie bei so vielen Krankheiten überhaupt, vom Arzte – Wundercuren verlangen, die doch selbst der Geschickteste nicht vollbringen kann! Es ist überhaupt auffallend, ja fast unerklärlich, wie oft bei Krankheiten gerade des Auges der rechte Zeitpunkt zur Aufsuchung ärztlicher Hülfe versäumt wird: in dieser Beziehung kann man getrost sagen, daß viele, selbst „gebildete“ Patienten eher eines schlimmen Fingers halber, deren doch Jedermann zehn hat, sich umthun, als eines innerlich erkrankten Auges wegen, deren doch nur zwei zu verlieren sind!

Und selbst stark Kurzsichtige begehen diesen Fehler häufig genug – hauptsächlich deshalb, weil man ja fast allgemein gerade die Kurzsichtigkeit noch eher für eine Zierde der „Gelehrten“, die sie nicht, als für eine Krankheit des Auges hält, die sie doch wahrlich ist! Es tritt dies besonders schwer in’s Bewußtsein, wenn einmal, wie die Formel lautet, schwarzer Staar zu derselben hinzukommt! Dieser schwarze Staar ist dann aber meist nichts Anderes, als die traurige Endfolge einer Kurzsichtigkeit, die nicht wie eine Krankheit vorher betrachtet wurde: er beruht auf allmähliger Netzhautablösung (Fig. 8), bei der die Netzhaut von ihrer Unterlage sich getrennt hat und im Innern des Auges bei Bewegungen desselben lose herumschlottert, wie ein vom Winde bewegtes Spinngewebe! Die Patienten haben denn auch wirklich das Gefühl, als müßten und könnten sie die „Wolke vor ihrem Sehen“ wegwischen! Leider können sie das aber nicht, ja noch mehr, ihnen ist dann nicht mehr zu helfen, während doch durch zweckmäßige frühe Schonung und Behandlung ihrer Augen dieser „schwarze Staar“ hätte meist verhütet werden können! Arme, leichtsinnige Kurzsichtige!

Fig. 8.
Ablösung der Netzhaut im oberen Abschnitte derselben. Der Ring bei d ist eine Veränderung, wie man sie bei Kurzsichtigen fast immer findet.
(Augenspiegelbild.)

Zum Schlusse dieser unserer den Gegenstand durchaus nicht erschöpfenden Darlegungen über den „schwarzen Staar“ wollen wir noch eine kurze Krankengeschichte anführen, die geeignet ist, das Bild des gefürchteten Leidens durch einen Zufall zu erläutern, den der Laie kaum als Grundlage eines solchen vermuthet.

Einst kam ein Maurer in die Sprechstunde, ein kräftiger, breitschulteriger Mann, der nie im Leben über etwas anderes zu klagen hatte, als zeitweiliges Herzklopfen nach großen Anstrengungen. Nun hatte er den Tag vorher wieder einmal eine solche gehabt; er hätte allein einen mehrere Centner schweren [96] Stein gehoben. Diesmal war es aber nicht beim einfachen Herzklopfen geblieben, vielmehr bemerkte der Bedauernswerthe, nachdem er sich aus der gebückten Stellung, die er dabei eingenommen, erhoben hatte, daß er – auf einem Auge nichts mehr, „aber auch gar nichts mehr“ sah! Er meinte, er habe plötzlich den „schwarzen Maar auf das Auge“ bekommen, da man ja an dem Auge äußerlich gar nichts wahrnehmen könne. – Den „schwarzen Staar“ im alten Sinne hatte er nun freilich nicht, aber eine mächtige Blutung in der Gegend des sogenannten gelben Fleckes, an der Stelle des genauen Sehens innerhalb des Auges, die zwar als solche im Laufe der Zeit wieder aufgesaugt ward, aber dennoch eine unheilbare Zertrümmerung der Netzhaut an dieser wichtigsten Stelle bewirkt hatte! Also auch Blutungen in’s Innere des Auges können zu dem Krankheitsbilde des schwarzen Staars führen! –

Hoffentlich hat der Leser aus der vorausgegangenen kurzen Darstellung die Ueberzeugung gewonnen, daß alle Staarformen (unter gewissen Voraussetzungen und Einschränkungen manchmal selbst der gefürchtetste, der schwarze) einer wirksamen Behandlung oder (noch besser) einer Vorbeugung zugänglich sind!

Ist dies der Fall, so glauben wir diese Zeilen nicht umsonst geschrieben zu haben – zum Troste, nicht zum Schrecken vieler Augenkranken!


Der Schutz vor der Unkenntniß der Gesetze.

Eine strafrechtliche Studie von Fr. Helbig.
(Schluß.)
Betrug. – Meineid. – Fahrlässigkeit. – Beleidigung. – Pfändung etc. – Das Strafgesetzbuch in der Tasche.

Ein Vergehen, bei welchem die Grenzen des Erlaubten und Unerlaubten oft hart an einander stoßen und das gerade in unserem reich entwickelten Verkehrsleben volle Nahrung findet, ist der Betrug. In der volksthümlichen Bezeichnung als Schwindel umfaßt der Begriff weit mehr; denn nicht Alles, was dem allgemeinen Rechtsgefühl als schwindelhaft erscheint, ist darum ein strafbarer Betrug. Gerade hier zeigt sich am meisten die Ohnmacht der wissenschaftlichen Theorie gegenüber der Combination der Thatsachen. Nicht jeder Triumph der berechnenden Schlauheit über die Dummheit oder lässige Vertrauensseligkeit nimmt ohne weiteres die Physiognomie eines bestimmten Verbrechens an, und die Sitte und Gewohnheit des Verkehrs stempeln oft eine moralisch an sich verwerfliche Handlung zu einer solchen, bei welcher die strafende Gerechtigkeit sich schweigend verhält.

Hierher gehören die übertriebenen Anpreisungen von Waaren und die mannigfachen Formen der Reclame. Hier wird der Wahrheit oft auf’s Schmählichste in’s Gesicht geschlagen, ein allgemeines Recht, stets nur die Wahrheit gesagt zu erhalten, besteht aber nur im Codex der Moral, nicht in dem der Jurisprudenz. Nur wenn bestimmte bindende Zusagen hinzutreten, wenn ein Vertrag von bestimmten Eigenschaften des Objects ausdrücklich abhängig gemacht ist, wenn durch die Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Thatsachen ein Irrthum erregt oder unterhalten wird, greift die Handlung auf das strafrechtliche Gebiet über. So liegt in dem bloßen Verschweigen bestimmter Fehler, z. B. eines Pferdes, auch wenn dieselben dem Verkäufer bekannt waren, an sich noch keine beabsichtigte Täuschung. Anders, wenn der Verkäufer dem Käufer auf dessen Frage ausdrücklich versicherte, daß das Pferd den Fehler nicht habe, oder in anderen Fällen mir statt etwas Echten etwas Unechtes, z. B. statt des verlangten echten Bairisch oder Pilsener Bieres nachgemachtes oder anderes geliefert wird.

Eine häufig vorkommende und dabei meist überschätzte Species von Betrug ist der sogenannte Creditbetrug, der auf die Erlangung kaufmännischen Credits abzielt, dieser wesentlichen Voraussetzung aller geschäftlichen Beziehungen. Ein Kaufmann fordert einen andern auf, ihm unter Einräumung des geschäftsüblichen Credits Waaren zu senden. Später stellt sich heraus, daß der Besteller keine Zahlungsmittel hatte, daß er insolvent war. Hier ruft der um sein Geld gekommene Lieferant gewöhnlich nach der Hülfe des Staatsanwalts. Sie wird ihm versagt bleiben; denn, sagt eine reichsgerichtliche Entscheidung, der auf Credit bestellende Kaufmann hat an sich nicht die rechtliche Verpflichtung, unaufgefordert die Mittheilung über seine wahre Vermögenslage zu machen. In der Bestellung selbst liegt noch nicht die Behauptung, daß man zahlungsfähig sei. Es müssen hier immer noch specielle, unwahre, von vornherein nicht ernstlich gemeinte Zusagen vorliegen. Hierher gehört auch der sogenannte Gründerlohn. Ein zum Abschlusse eines Kaufes Bevollmächtigter, der mit dem Verkäufer einen höhern als den an diesen zu zahlenden Kaufpreis vereinbart und sich den von dem Auftraggeber gezahlten Ueberschuß aneignet, schädigt das Vermögen seines Auftraggebers in widerrechtlicher Weise und wird durch das Unterdrücken jener Thatsache zum Betrüger.

Ein Verbrechen, das sich in neuerer Zeit leider außerordentlich häufte, ist der Meineid. Mag derselbe in erster Reihe der Frivolität der Gesinnung, dem Mangel an Religiosität, sowie dem Egoismus und der Gewinnsucht entstammen, so ist derselbe doch auch vielfach auf die Unterschätzung des Ernstes und der Bedeutung einer Eideshandlung zurückzuführen. Andererseits wirkt auch der Umstand dazu, daß die Zeugeneide gleich vor oder nach der Einzel-Vernehmung abzunehmen sind, während die Vereidungen früher an den Schluß der ganzen Verhandlung verlegt zu werden pflegten, sodaß Widersprüche erst ausgeglichen werden konnten. Die Correctur, der spätere Widerruf hebt aber die Strafbarkeit der Handlung nicht auf. Sie verringert dieselbe nur, sofern sie vor Erstattung einer Anzeige oder Eintritt eines Rechtsnachtheils erfolgt. Frühere Strafgesetze gewährten noch eine Frist zur freiwilligen Abänderung der Aussage. Dabei ist ferner zu gedenken, daß der Schwur sich nicht blos auf die Hauptfrage, sondern auch auf alle Nebenfragen, z. B. auch auf die Personalien (Alter, Beschäftigung u. dergl.) bezieht. Besondere Vorsicht verlangt die eidliche Bestärkung der Vollständigkeit aufgestellter Vermögensverzeichnisse. Hier führt der irrige Glaube in Betreff der Nothwendigkeit der Aufnahme einzelner Posten, z. B. werthloser Forderungen, oft zu einem wenigstens fahrlässigen Falscheide. Ein eigenthümlicher Conflict entsteht, wenn ein Zeuge weiß, daß die Angabe der Wahrheit ihn oder seine Angehörigen in die Gefahr bringt, strafrechtlich verfolgt zu werden, und hier erlaubt das Gesetz dem Zeugen seine Aussage zu verweigern. Macht er von dieser Erlaubniß keinen Gebrauch, dann muß er die Wahrheit rückhaltlos sagen.

Bei einigen Vergehen begründet schon die Fahrlässigkeit in der Herbeiführung des Erfolges eine wenn auch geminderte Straffälligkeit. Es sind dies besonders die Vergehen der Tödtung, des Meineids, der Brandstiftung, Körperverletzung und verschiedene gemeingefährliche Handlungen. Nach einer oberstrichterlichen Feststellung gehört dazu, daß ich die gewöhnliche Sorgfalt außer Acht gelassen und der Erfolg durch Anwendung dieser Sorgfalt voraussichtlich abgewendet worden wäre. Es genügt hier zur Bestrafung – und das sind gerade die häufigsten Fälle – auch schon ein Unterlassen. So hatte eine Frau eine mit Arsenik gefüllte Rumflasche offen auf das Fensterbrett hingestellt. Sie geht davon, und inzwischen kommt ihr Mann nach Hause. Ein Liebhaber von Spirituosen, glaubt er, die an dem gewohnten Platze stehende Flasche enthalte wie sonst ein geistiges Getränk, trinkt daraus und stirbt. Die Frau wurde wegen fahrlässiger Tödtung verurtheilt.

Eine mir zugefügte leichte Körperverletzung darf ich auf der Stelle mit einer solchen gleichartigen erwidern. Hat eine größere Schlägerei einen gefährlichen Ausgang für einen der Theilnehmer erzeugt, so wird jeder Theilnehmer an derselben bestraft, auch wenn er an dem üblen Ausgange selbst nicht mit schuld war, es sei denn, daß er schuldlos mit hinein gezogen wurde.

Das unstreitig am häufigsten begangene Vergehen ist das der Beleidigung. Würde jede beleidigende Aeußerung, die offen oder unter vier Augen in der weiten Welt vorfällt, vor das Forum des Strafrichters gezerrt, so müßten wir unser Richterpersonal verzehnfachen. Das Strafgesetzbuch geht einer Definition [97] des Begriffs Beleidigung aus dem Wege. Sie ist auch sehr schwierig; denn es kommt hier nicht allein der sittllche Werth einer Person, sondern auch ihre sociale Stellung in Frage. So ist die Absprechung der Creditwürdigkeit für einen Kaufmann eine schwere Kränkung, weil der kaufmännische Verkehr auf Personalcredit beruht. Schimpfreden sind immer beleidigend, sobald sich nicht ihre blos scherzhafte Auffassung ergiebt. Auch die Vertraulichkeit der Aeußerung schließt den beleidigenden Charakter nicht aus, sobald nur der Beleidigte davon Kenntniß erhielt. Es ist deshalb nöthig, sich immer der Discretion dessen, dem gegenüber man eine derartige Aeußerung thut, vorher zu versichern. Aber auch Derjenige, der eine beleidigende Mittheilung eines Andern weiter erzählt, macht sich selbst der Beleidigung schuldig, sofern nicht besondere Umstände die beleidigende Absicht ausschließen.

Eine an sich unverfängliche Aeußerung oder Handlung kann durch die Umstände, unter denen sie geschieht, einen beleidigenden Anstrich erhalten, zum Beispiel die Mahnung eines Schuldners, wenn sie brutal auftritt. Straflos sind nach § 193 des Strafgesetzbuchs unter Anderem die Behauptung einer erweislich wahren Thatsache, ebenso tadelnde Urtheile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen, sowie Aeußerungen, welche zur Ausführung oder Vertheidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, sofern nicht das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Aeußerung oder den Umständen, unter denen sie geschah, hervorgeht. Nur wenn Jemand bewußter Weise die Grenzen der Wahrnehmung berechtigter Interessen überschreitet, fällt er der Strafe der Beleidigung anheim.

Guter Einkauf.
Nach dem Oelgemälde von K. Weigand.

Namentlich ist unsere Tagespresse vielfach in der Lage, sich auf die Wohlthat dieser Bestimmung zu berufen. Gegenüber einem in die Zeitung aufgenommenen Inserate oder Referate erscheint der Redacteur, falls nicht Umstände für ihn die beleidigende Absicht ausschließen, als Mitthäter. Steht aber dem Verfasser der Vortheil des Paragraphen 193 zur Seite, so kommt er auch dem Redacteur zu Gute. Nur darf der Artikel nicht in der Form schon beleidigen.

Verpfändete Gegenstände oder solche, welche amtlich in Beschlag genommen worden sind, dürfen selbst von dem, welchem ein Eigenthumsrecht daran zusteht, nicht der Verstrickung entzogen werden, sondern das Eigenthum muß gerichtlich angemeldet und geltend gemacht werden. Auch die rechtswidrige Wegnahme der eigenen Sache aus dem Gewahrsam dessen, dem ein Nutzungs-, Gebrauchs-, Pfand- oder Zurückhaltungsrecht daran zusteht, ist strafbar, so wenn die Frau ihre Sachen, an denen dem Ehemanne gesetzlich ein Nießbrauchsrecht zusteht, diesem wegnimmt.

Strafbar ist ferner, um das noch kurz zu berühren, die vorsätzliche und rechtswidrige Beschädigung einer fremden Sache, die wenn auch nur ganz passive Theilnahme an der Zusammenrottung einer Menschenmenge, welche darauf ausgeht, gegen Personen oder Sachen Gewalt auszuüben, das unbefugte Ausüben eines öffentlichen Amts, das unerlaubte Oeffnen eines Briefes, die Zulegung von falschen Titeln, Würden und Namen, die unterlassene Anzeige eines Verbrechens, der beschimpfende Unfug an Hoheits- oder andern Zeichen öffentlicher Autorität, die Theilnahme an einer Verbindung, deren Dasein, Verfassung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten wird, etc. – Aus dieser nur fragmentarisch gehaltenen Skizze erhellt, wie mannigfach das Gitterwerk des Rechtsbodens ist, auf dem wir uns täglich mit unserem Thun und Lassen bewegen, und daß es schließlich doch nicht so ganz leicht ist, ohne allen Makel und ohne alle strafrechtliche oder polizeiliche Anfechtung rechtschaffen durch die Welt zu kommen. Man muß, um dies zu können, wie ein Jurist einmal scherzhaft-ernsthaft sich äußerte, nicht blos Gott im Herzen, sondern auch noch das Strafgesetzbuch in der Tasche tragen.



[98]

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)
4.

Nun kamen für das Dschapei gute Zeiten – wenigstens hätte man das nach dem stillfriedlichen Verlaufe der zwei ersten Wochen seines Almaufenthaltes glauben mögen.

Rings um die Griesalmhütte lag das herrlichste Weideland – und da hatte das Dschapei vom lieben Morgen bis zum späten Abend keine andere Mühe noch Sorge, als auf den weiten Grasflächen umher zu trippeln, sich die saftigeren Kräutchen zwischen dem zäheren Berggrase heraus zu knappern und, wenn es vom Aesen sich ermüdet meinte, zu schläfriger Rast den Schatten eines dichten Latschenbusches aufzusuchen.

Und auch seine junge Herrin war mit der Art und Weise zufrieden, in der ihr jeder Tag verlief. In der ersten Zeit war es ihr freilich schwer geworden, mit all der vielen, vielen Arbeit zurecht zu kommen, da sie mit der Beaufsichtigung und mit dem Eintreiben ihrer vierzehn Pfleglinge manche Stunde versäumen mußte. Doch lernten die Thiere bald ihre Stimme kennen – und wenn dann immer der Abend kam, trat sie nur vor ihre Hütte, trommelte mit einem Stecken auf die Sohle eines ihrer Holzschuhe und rief dazu mit schallender Stimme in die dunkelnde Luft hinaus:

„Hoi, hoi – Küh’ da – hoi, hoi – Küh’ da – hoi – hoi!“

Schon immer bei ihrem ersten Rufe klang dann die Glocke der Scheckin, das Geläute der anderen Schellen mischte sich dazu, näher und näher tönend, bis alle vierzehn Thiere brüllend und eifersüchtig sich drängend die junge Sennerin umringten.

So hatte Nannei schon in der zweiten Woche ein behaglicheres Arbeiten. Freilich verschlimmerte sich die Sache wieder auf kurze Zeit, als sie in den ersten Tagen des Juli den Umzug nach dem eine Wegstunde höher gelegenen Trischübl vollführte, nach jenem kleinen Almthale, welches eingesenkt liegt zwischen die Hundstodgruppe und das Tabakmandl, einen kahlfelsigen Vorberg des großen Watzmann.

Gleich an dem Morgen, der dem Umzuge folgte, pilgerte Nannei in Begleitung ihres Dschapei über die grobsteinigen, von dichtem Latschengestrüpp überwucherten Rauhenköpfe nach jener Schlucht, aus welcher die Sigerethwand emporsteigt zu steiler und gewaltiger Höhe.

Eine Weile starrte sie hier mit feuchten Augen an den drohenden Felsen empor, dann schritt sie hinweg über die Breite der Schlucht, kniete nieder auf das rauhe Geröll, und den Kopf an die kalte Steinwand lehnend faltete sie die Hände zu langem und brünstigem Gebete für die arme Seele ihres Vaters, der an dieser Stelle sein Leben hatte lassen müssen.

Inzwischen kletterte das Dschapei über die brüchigen Felsen empor, soweit das eben anging, und zupfte von den Grasbüscheln, die über einzelne Wandvorsprünge herniederhingen.

Wer kann es wissen – vielleicht hatte das rauchende Blut des Gestürzten gerade den mageren Wasen gedüngt, dem jene Gräser entsproßten.

Als Nannei sich erhob, fühlte sie sich leichter im Herzen, das ihr auf dem Herwege gar schwer und traurig gewesen war – und wohlgemuther kehrte sie zurück zu ihrer Arbeit.

Die Tage vergingen, einer fast wie der andere.

Kam dann immer die Feierstunde, so setzte sich Nannei auf die kleine Holzbank zur Seite der Hüttenthür und besserte ihr Gewand, eine volksthümliche Weise halblaut vor sich hinsummend; oder sie lehnte, die Hände hinter dem Nacken verschlungen, den Kopf an die verwitterte Hüttenwand und starrte in stillen Gedanken stundenlang empor zum felsumgrenzten Himmel, an dem die lieblichen Sterne sacht erglühten. Da kam der Abendwind vom Thal heraufgezogen, strich summend über die Steine und flatterte geheimnißvoll durch die mageren Zweige der Krüppelföhren; da klang von den ragenden Wänden hernieder ein räthselhaftes Brummen, ein gedämpftes Knattern, wohl auch der schrille Pfiff einer Gemse und der häßlich krächzende Schrei der kreisenden Aasvögel; da tönte ferneher der späte Ruf eines Spechtes, leis in der Ferne auch wieder verschwebend; und da erwachte auch in Nannei’s Busen so ein seltsames Bangen, und in ihrem Herzen erwuchs die Sehnsucht nach menschlichem Verkehre.

Zumeist wohl verschlief das Mädchen in der Nacht solch eine Stimmung wieder, manchmal aber hielt sie dennoch an durch Tage und Tage – und Nannei empfand es dann als eine gewisse Beruhigung, wenigstens einen Menschen in ihrer nächsten Nähe zu wissen, wenngleich sich derselbe kein Bröselchen um sie bekümmerte.

So etwa fünfhundert Gänge von ihrer Hütte stand auf einem höher gelegenen Hügel das aus Brettern und Balken gefügte Jägerhäuschen, in welchem zur Zeit ein älter, mürrischer Jagdgehülfe stationirte, welcher abwechselnd vom Zipperlein und vom Hexenschuß geplagt wurde und mit jedem Tage seine Pensionirung erwartete, um die er längst schon nachgesucht hatte. In den vierzehn Tagen, welche Nannei nun schon am Trischübl zugebracht, hatte sie von dem unfreundlichen Alten kaum einen verständlichen Gruß erhalten, geschweige denn, daß er einmal in ihrer Hütte zugesprochen hätte.

Sie wunderte sich also nicht wenig, als sie eines Mittags schwere Tritte gegen ihre Schwelle poltern hörte. Was mochte der Alte nur wollen? Und das mußte er wohl sein – wer anders hätte auch kommen können?

„Jetzt paß auf, Dschapei,“ rief sie ihrem Liebling zu, der sich an der Kante der Herdbank die eine Schulter scheuerte, „jetzt kriegen wir gar an seltenen B’such.“

„Hat’s Dich ’leicht verdrossen, Deandl, daß ich net schon lang amal ’kommen bin?“ klang von draußen her eine laute, lachende Stimme.

Nannei erschrak und wandte blitzschnell das Gesicht der Thür zu.

Da stand Korbini vor ihr.

„No also – grüß Dich Gott, schöns Deandl Du!“ sagte er, dem Mädchen seine Hand entgegenreichend. „Wie hat sich denn Deine Zeit angelassen, da heroben auf der Alm?“

„Ich danke Dir schön – bis heut bin ich recht z’frieden g’wesen,“ erwiderte Nannei, die dargereichte Hand übersehend, mit gerunzelter Stirn und schaffte emsig weiter an der Säuberung ihrer Milchgeschirre.

„Uijeh, uijeh – Du bist ja ’leicht da heroben noch stolzer ’worden?“ quetschte Korbini durch die spottend verzogenen Lippen. Dabei schritt er auf die Herdbank zu, und um sich Platz zu machen, puffte er mit dem Knie das Dschapei bei Seite.

Dieses machte ein paar erschreckte Sprünge, sah den Burschen an, schüttelte den Kopf und hüpfte mit klunkerndem Schweife zur Thür hinaus.

Wie war’s da draußen so schön, in der warmen, lachenden Sonne! Lauschend blickte das Dschapei in der Runde umher, und als es vom kleinen Rauhenkopf die Glocke der Scheckin herniedertönen hörte, sprang es in munteren Sätzen dem Steige zu, der in vielen Windungen da hinaufführt über die klotzigen Felsen. Aesend aber verließ es bald den Weg, zwängte sich hier durch ein dichtes Gestrüpp, sprang dort über eine schmale Steinkluft und fand sich plötzlich vor dem jähen Absturze des Rothleitengrabens. Wie es nun hier hinabstarrte in das tiefliegende Griesthal, sah es auf dem Pfade, der von da unten zum Trischübl emporleitet, einen Menschen einhergestiegen kommen, dessen Gewand und Mütze von der Farbe der dunkelgrünen Latschenbüsche war. Weiße Metallknöpfe blitzten auf seiner Brust, und über die Schulter hatte er eine Büchse hängen gleich einem Jäger.

Lange jedoch konnte diese Erscheinung Dschapei’s Interesse nicht in Anspruch nehmen, und so trollte es am Rande des Abgrundes dahin, bis sich der Felsgrund vor ihm in eine Mulde von der Gestalt eines riesigen Kessels versenkte. Das war die Hundstodgrube. So weit hatte sich das Thier bei seinen früheren Aesungsgängen noch nie gewagt. Nun stand es und schaute umher in der herrlichen Runde. Hier zu seiner Rechten spannte sich in weitem Bogen das rothsteinige Leitengeschröff um ein Dritttheil des Kessels; zu seiner Linken baute sich, gegen Norden die Sigerethwände bildend, in ernsten, massigen Formen der Gejaidberg empor, [99] auf dessen schwindelnder Höhe in den Freitnächten der wilde Jäger mit seinem johlenden Trosse stundenlange Rast zu halten pflegt. Vor hundert und aberhundert Jahren einmal hatte ein Hochlandsschütze das Wagstück unternommen, in solch einer Nacht den Gejaidberg zu besteigen. Er ist nie wieder zum Vorschein gekommen; nur seinen Schweißhund fanden die suchenden Leute des anderen Tages todt auf dem Gipfel der Felsgruppe liegen, die sich zwischen dem Gejaidberg und der Rothleiten, dicht vor dem steilen Schneiber, erhebt, und die seit jener Zeit auch den Namen Hundstod führt.

Noch immer stand das Thier und starrte staunend umher – da mit einem Male vernahm es hoch über sich seltsames Rauschen. Es warf den Kopf in die Höhe und sah ein dunkles, großes Etwas in den Lüften kreisen.

Was war das?

Das Dschapei wußte es nicht, und dennoch überkam das Thier eine so bange Furcht, daß ihm die Haut zu schaudern und die Füße zu zittern begannen. Doch nur eine kleine Weile dauerte diese Starre, dann sprang das Dschapei mit jähem Satz empor und stürmte in rasender Flucht den Hang hinunter. Drunten ersah es in einiger Ferne ein großes Latschengebüsch, dem es nun in überstürzendem Laufe entgegensteuerte. Schon stieß es mit der Nase fast an die schutzbietenden Zweige – da vernahm es dicht hinter sich ein fauchendes Sausen, fühlte auf seinem Rücken einen heftigen Schlag und einen brennenden Riß – und flog, vom Schusse des überhastigen Laufes vorwärts getrieben, kopfüber in die Latschen, deren wirres Geäst ihm die Wolle in dicken Flocken vom Leibe schürfte. So, wie es nun da drinnen lag, blieb es liegen, regungslos, mit gläsernen Augen, hängender Zunge und vibrirenden Flanken. Und während der Räuber, der sich um seine Beute betrogen sah, mit rauschendem Gefieder durch die Luft entschwebte, sickerte dem wunden Thiere das warme Blut vom Rücken nieder durch das roth sich färbende Fell.

So verharrte das Dschapei eine geraume Zeit, bis es den Muth und die Kraft fand, sich aus dem Busche herauszuwinden. Mit schmerzender Mühe zog es den Rücken auf und suchte mit der Zunge die wunde Stelle zu erreichen. Dann schlich es langsam in heimwärtsführender Richtung der Höhe zu, mit ängstlichen Augen immer emporspähend in die Lüfte, und ab und zu sein Fell beleckend, von welchem in kleinen Zwischenräumen dicke Blutstropfen niederfielen auf Moos und Gestein.

Nun kam es auf einen betretenen Pfad, der am Rande einer tiefen Schlucht dahinführte. Das war der Weg, auf welchem Nannei vor vierzehn Tagen die Sigerethwand besucht hatte – und das Dschapei schien den Steig auch wieder zu erkennen, denn es schlug nun eine raschere Gangart an.

„Hat’s Dich ’leicht verdrossen, Deandl, daß ich net schon lang amal ’kommen bin?“ (S. 98.)

Plötzlich vernahm es hastig sich nähernde Tritte, und an der höher liegenden Biegung des Pfades erschien Korbini, den Bergstock in Händen. Wie er des Thieres ansichtig wurde, stutzte er. Dann näherte er sich langsam, und halblaut klang es von seinen höhnisch verzogenen Lippen:

„So – Du kommst mir g’rad recht! Warte nur, die soll sich amal ärgern heute – die hochnasige Dingin!“

Wie damals am Futterstadel im Wimbachthale, so griff er auch jetzt wieder in die Joppentasche, und mit der Zunge schnalzend, bot er dem Dschapei eine Handvoll Salz entgegen.

Dachte das Thier an den Puff, den es vor einer Stunde von Korbini erhalten? Oder war ihm von dem eben Erlebten ein ängstliches Mißtrauen verblieben? Statt der lockenden Hand des Burschen entgegen zu trippeln, wich es scheu vor derselben zurück, und wich umsomehr zurück, je mehr ihm Korbini mit zuredenden Worten folgte.

Darüber verlor der Bursche schließlich die Geduld. „Wart’, Dich will ich gleich zahm haben!“ stieß er zwischen den schmalgedrückten Lippen hervor, warf das Salz über den Weg hinaus, ergriff den Bergstock mit beiden Händen und hob ihn zu wuchtigem Schlage.

Wohl sprang das Dschapei, die Gefahr erkennend, im rechten Augenblicke auf die Seite, sodaß der niedersausende Stock ihm kaum mehr die Wolle streifte, doch verlor es bei diesem Sprunge mit dem einen Hinterfuße den Boden; nun bröckelte auch noch das Erdreich unter ihm hinweg, und wie Korbini herbeisprang, um das Thier noch zu fassen, glitt es schon hinunter über den moosentblößten Felsrand, stürzte der Tiefe zu, schlug prasselnd in einen Latschenbusch, der in halber Wandhöhe seine knorrigen Aeste aus einer Steinschrunde reckte – da zappelte und rappelte das unvernünftige Thier mit den Füßen, bis es zwischen den nachgebenden Zweigen hindurch rutschte, fühlte sich wieder gehalten und baumelte, mit dem Glockenriemen an einem Storren hängend, am Halse geschnürt und gedrosselt, freien Leibes in der Luft – nun riß der Riemen, und dumpfen Knalles schmetterte das Dschapei auf die scharfkantigen Steine des tiefen Schluchtengrundes.

Eine Weile war Stille – dann klang von oben her eine lachende Stimme:

„Schaf, dumms – da hast es jetzt!“ – und Schritte wurden hörbar, die sich entfernten und ferne verhallten.

Nun wieder Stille – nichts rührte sich in der Runde; nur die Zweige jenes Latschenbusches schwankten noch ein wenig, und seine dicken Nadeln zitterten noch leise.

Drunten im Dämmerscheine des schmalen Schachtes lag das Dschapei, regungslos dahingestreckt auf das blutbeträufte Geröll; seine Augen waren geschlossen, und zwischen den geöffneten Zähnen hing ihm die zerbissene Zunge hervor. Eine lange, lange Zeit verstrich – da schlug es die Lider auf, und ein heftiges Zittern rann über seine Glieder. Es suchte den Kopf zu erheben – und ließ ihn kraftlos wieder auf die Steine sinken – und wieder schlossen sich seine Augen.

Stunde um Stunde ging dahin; schon begannen die Schatten sich zu dehnen, und das Himmelsblau verblaßte mählich und mählich.

Nun erklang von irgendwo in der Nähe das Geläute der Almenglocken, doch kaum, daß es hörhar geworden, klang es schon wieder ferner und verhallte hinter den thalwärts gestuften Felsen.

Auch in die Tiefe des Schachtes waren diese Töne gedrungen, und lauschend hielt das Dschapei den Kopf erhoben. Wie das Geläute jetzt verstummte, warf das gemarterte Thier mit Röcheln und Aechzen den Hals umher, reckte und streckte die schmerzenden Glieder und suchte mit verzweifelter Kraft sich empor zu richten. Wohl gelang es ihm, den Rücken aufzuheben, doch die Vorderfüße versagten den Dienst. Stöhnend sank es auf die Seite und wälzte sich am Gerölle hin und wider. Dann hob es sich von neuem halb empor, stemmte mit aller Gewalt die Hinterfüße in die [100] Steine und schob und stieß sich vom Platze, dabei nur doppelte Qualen sich bereitend, und Brust und Kehle blutig schindend an dem spitzen Kiese, bis es, von Schmerz und Blutverlust entkräftet, regungslos darniedersank auf den rauhen Grund.

Dunkler und dunkler ward es in den Lüften; die Nacht kam einhergezogen und deckte leise ihren thaukühlen Mantel über das arme Thier.

Ein Wiesel durchhuschte im Finstern die Schlucht und sprang vor dem Dschapei erschreckt auf die Seite. Auf irgend einem Felsenloche flatterte ein Nachtvogel hervor und strich mit wimmerndem Rufe dem Thale zu. An den umliegenden Wänden rollten und polterten die manchmal fallenden Steine – und ab und zu bald ferner, bald auch näher, klang das kurze, heisere Bellen eines beutesuchenden Fuchses.

Die Nacht in den Bergen ist so seltsam belebt – und stille wird es erst da droben, wenn der Glanz der Sterne beim werdenden Morgen zu schwinden beginnt, wenn die Nachtthiere schon wieder in ihren Schlupfen liegen und die Thiere des Tages im Schlafe noch die Augen geschlossen halten. –

Grau färbte sich der Himmel, und zwischen den Kuppen der östlichen Berge erwachten schon die ersten fahlen Lichter; sie zogen höher und höher, wurden voller und leuchtender – und bald erglühten alle Spitzen und Felsenhörner im rothen Frühglanze des erstandenen Tages.

Auch in die Schlucht hinunter senkte sich das wachsende Licht – und da lag das Dschapei auf der Seite, regungslos, gestreckten Halses und starrte mit weit offenen Augen über das Geröll hinweg.

Horch! Was war das? Ja – das war Nannei’s Stimme!

„Dschapei! Dschapei!“

So klang es in nicht allzuweiter Ferne von den Felsen – eine Weile herrschte Stille, dann erschallte wieder, jetzt näher schon, der langgezogene Ruf des Mädchens: „Dscha…a…a…apei!“

Das Thier vernahm seinen Namen und erkannte die Stimme der Rufenden. Es wollte den Kopf erheben; doch gelang es ihm nicht; nur den einen Ohrlappen konnte es rühren und zucken, während es mit mattem Schlage den dickwolligen Schweif gegen die Steine klopfte.

„Dscha…a…a…apei!“ klang Nannei’s Stimme jetzt in nächster Nähe.

Droben am Steige hallte nun ein Schritt – das konnte Nannei nicht sein – das war ein fester, kräftiger Männerschritt. Jetzt aber kamen auch Tritte von der anderen Seite her, leichte, flüchtige Tritte.

(Fortsetzung folgt.)

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.
Nachdruck dieser Einleitung mit Quellenangabe ausnahmsweise gestattet.
Einleitung.

„Herr Julia läßt für kurze Zeit um Entschuldigung bitten, er kommt bald nach Hause,“ sagte die alte Dienerin, und ich trat meine Wartezeit an.

Es war im Salon des Zwischengeschosses des Hauses Nr. 50 der Rue de Passy, der letzten Wohnung der Wittwe Heinrich Heine’s, in welcher jetzt Herr Julia, der Erbe oder jedenfalls der Besitzer der „Memoiren Heine’s“, wohnt. Die Möbel, die Bilder an den Wänden, die Bibliothek im Nebenzimmer – alles hatte einst Mathilde Heine, vieles davon Heinrich Heine angehört. Ueber dem niedrigen Kaminspiegel hing das Bronze-Original der bekannten, sehr ähnlichen Reliefbüste Heine’s von dem französischen Bildhauer David d’Angers; zu beiden Seiten des Spiegels Stiche Heine’scher Portraits, männlich, schablonenhaft, übrigens längst bekannt. Ein Bild Salomon Heine’s, des launenhaft großmüthigen Onkels, hing unweit, mit der eigenhändigen Widmung an den Neffen in Paris. Mehr als diese Bilder fesselte mich ein lebensgroßes Brustbild Mathilde Heine’s, ein sehr schöner Frauenkopf, die Haare nach der Tracht des Endes der dreißiger Jahre schlicht auf den Wangen anliegend, ein heiteres, durchaus nicht geistloses Lächeln um den etwas sinnlichen Mund, glückliche Augen ohne große Tiefe – ein Antlitz ganz entsprechend den bekannten Versen Heine’s:

„Es kommt mein Weib schön wie der Morgen
und lächelt fort die deutschen Sorgen.“

Auf dem Salontisch lag ein altes Eremplar des „Buches der Lieder“ und ein „Deutscher Musenalmanach“ aus dem Jahre 1837 – kein französisches Buch außerdem. Ich freute mich dieser Pietät, um so mehr als man in Deutschland gewöhnt ist, von Mathilde Heine als von einem herzlosen Geschöpf zu sprechen, das bei Lebzeiten Heine’s nicht gewußt, neben wem es lebte, und nach seinem Tode sein Andenken vernachlässigt. Und dann griff ich nach einem unscheinbaren Buch im richtigen deutschen Stammbuchformat mit der Aufschrift: Album, schlug das erste Blatt auf und las mit tiefster Bewegung die Widmungsverse Heinrich Heine’s an seine geliebte Mathilde;

„Hier, auf gewalkten Lumpen, soll ich
Mit einer Spule von der Gans
Hinkritzeln ernsthaft halb, halb drollig,
Versificirten Firlefanz –
 
Ich, der gewohnt mich auszusprechen
Auf Deinem schönen Rosenmund,
Mit Küssen, die wie Flammen brechen
Hervor aus tiefstem Herzensgrund!

O Modewuth! Ist man ein Dichter,
Quält uns die eigne Frau zuletzt
Bis man, wie andre Sangeslichter,
Ihr einen Reim in’s Album setzt.“

Während ich weiter blätterte, bekannten Namen wie denen Alfred Meißner’s und Ferdinand Hiller˚s begegnend, trat Herr Julia in’s Zimmer, und meine Aufgabe begann, die einfach darin bestand: der „Gartenlaube“ es zu ermöglichen, der deutschen Nation endlich das nachgerade zu einem fabelhaften Schatz gewordene Memoirenwerk Heine’s zugänglich zu machen. Wie die „Gartenlaube“ oft genug die Rolle eines Bevollmächtigten der deutschen Nation in geistigen Fragen mit Erfolg gespielt, so wollte sie in diesem die deutsche Leserwelt seit nunmehr bald dreißig Jahren fast leidenschaftlich bewegenden Streitfall allem Hader dadurch ein Ende setzen, daß sie zunächst das Streitobject selbst dem hellen Sonnenlicht der Oeffenlichkeit preisgab. In diesem Sinne hat die „Gartenlaube“ Heinrich Heine’s Memoiren durch mich erwerben lassen; in diesem Sinne wird in den folgenden Nummern die Veröffentlichung der kostbaren, lange verlorenen Handschrift vor sich gehen, um nachher von Heine’s Verleger Hoffmann und Campe in Hamburg in Buchform ihren Abschluß zu finden.

*  *  *

Heinrich Heine’s Memoiren! – Echte Memoiren? wird vielleicht mancher Leser fragen, der sich erinnert, daß vor mehr als 20 Jahren eine schamlose Ausbeutung des Interesses für Heine[2] durch seinen ehemaligen Freund Friedrich Steinmann versucht wurde, der einen von Anfang bis zu Ende gefälschten Band „Nachträge zu Heinrich Heine’s Werken“, enthaltend Gedichte und Briefe, veröffentlichte. Damals wurde durch Alfred Meißner und Adolf Strodtmann noch rechtzeitig die plumpe Betrügerei nachgewiesen.

Durch solche Vorgänge zur Vorsicht gemahnt, ging ich an die Prüfung der Echtheit des Heine’schen Memoiren-Manuscriptes. Heine’s Handschrift war mir längst aus unzweifelhaft echten Briefen von seiner eigenen Hand bekannt. Im Besitze des Herrn Henri Julia befanden sich außer den Memoiren auch zahlreiche andere Manuscripte, davon schwerlich etwas noch nicht gedruckt, und namentlich eine Menge von Briefbrouillons (längst gedruckte Briefe) in Heine’s wohlbekannter, schöner, leicht lesbarer Handschrift. Sämmtliche Manuscripte stimmten nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch nach einer peinlich genauen Vergleichung des Schriftcharakters der einzelnen Buchstaben so vollständig mit der Handschrift des Memoiren-Manuscriptes überein, daß ich, mit Handschriftenkunde nicht ganz unvertraut, jede Gewähr dafür übernehme, daß die Echtheit des zu veröffentlichenden Mannscriptes außer allem Zweifel steht. Uebrigens haben vor mir auch Andere das Manuscript geprüft und sind zu demselben Resultat gekommen.

[101]

Carneval auf dem Lande. Von Theodor Schmidt.
Nach einer Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

[102] Der Verleger der Heine’schen Werke, Herr Campe in Hamburg, der ganze Stöße Heine’scher Original-Manuscripte besitzt, erkannte auf den ersten Blick die augenfällige Echtheit des Memoiren-Manuscriptes an. – Die „Gartenlaube“ wird zudem eine Blattseite des Manuscriptes demnächst in facsimilirtem Abdruck den Lesern mittheilen, um einen möglichst weiten Richterkreis über die Frage nach der Echtheit mit entscheiden zu lassen.

Ich würde an dieser Stelle nicht so großen Nachdruck auf die Echtheit des Manuscriptes legen, – da für mich wie für jeden Kenner der Handschrift Heine’s selbst nach flüchigstem Blick jeder Zweifel ausgeschlossen war – müßte ich nicht befürchten, daß von derselben Seite, von der schon oft grundlose Erklärungen über Heine-Fragen abgegeben worden, auch in diesem Falle der Einwand der Unechtheit erhoben werden wird. Herr Gustav Heine nämlich, der Bruder Heinrich Heine’s – es geht nicht an, den Namen zu verschweigen – hat zu wiederholten Malen, schon zu Lebzeiten der einzigen Erbin Heine’s, nämlich seiner Gattin, sich als den Generalerbpächter der Angelegenheiten und Hinterlassenschaft seines Bruders aufgethan. Vor einigen Jahren hat er kategorisch erklärt, die Memoiren Heinrich Heine’s befänden sich in seinem Besitz und würden niemals veröffentlicht werden.

Es ist weder ganz unmöglich noch unwahrscheinlich, daß Herr Gustav Heine ein Manuscript mit Memoiren seines Bruders an sich gebracht. Fern von mir, dies zu bestreiten. Ich glaube es, nicht allein weil er es selbst versichert hat – denn einige andere seiner Versicherungen haben sich als vollkommen unrichtig erwiesen, so die bezüglich der Echtheit eines jetzt im Besitz des Herrn Campe in Hamburg befindlichen Originalporträts Heinrich Heine’s.[3] Nachdem ihm dessen Echtheit unwiderleglich bewiesen, griff er die Aehnlichkeit an.

Die Wittwe Heine’s hat an Gustav Heine nicht eine Zeile ausgeliefert – das hat sie auf’s Bestimmteste Strodtmann gegenüber erklärt. Folglich sind Manuscripte, deren Inhalt Memoiren, in Gustav Heine’s Besitz schon vor des Dichters Tode übergegangen. Auf welche Weise, dafür liegen nur Vermuthungen vor. Daß Heine diese Memoiren seinem Bruder nicht als ein rein literarisches, brüderliches Geschenk überwiesen, ist unzweifelhaft; über seine Beziehungen zu Gustav Heine hat der Dichter sich an zahlreichen Stellen seiner Briefe sehr unverhohlen, oft schonungslos ausgesprochen. Eine kleine Probe liefert folgende Stelle eines Briefes Heinrich Heine’s an seinen Freund Merckel (aus München, 1828): „Willst Du Mord und Todtschlag verhindern, so gehe zu Campe und sage ihm, daß er alle Briefe, die für mich bei ihm ankommen mögen, auf keinen Fall an meinen Bruder Gustav gehen soll. Denk’ Dir, dieser hat die Impertinenz gehabt, Briefe, die ihm Campe für mich gegeben hat, zu erbrechen und mir – den Inhalt zu schreiben! Ich berste vor Wuth! Mein Bruder, dem ich nicht die Geheimnisse meiner Katze, viel weniger die meiner Seele anvertraue!“

Geldnoth war es, welche Heinrich Heine veranlaßt hat, an seinen Bruder die Memoiren auszuliefern, und zwar im Anfange des Jahres 1851. Heinrich Heine hat seinem Verleger im Frühlinge 1851 eröffnet, daß er das Manuscript seiner Memoiren an Gustav Heine verpfändet habe. Dies ist der einzige Besitztitel von Heine’s Bruder; ob dieser ausreicht, den Besitzer – falls er noch Besitzer ist – zu der Unterdrückung der Memoiren zu berechtigen, bleibe hier unerörtert; aber es soll einmal öffentlich ausgesprochen werden, daß der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Memoirenbesitzes Gustav Heine’s so lange zulässig ist, wie der Besitzer keinerlei Beurkundung des Besitzwechsels aufweisen kann. Es wäre sogar eine sehr interessante Rechtslage, wie Herrn Gustav Heine’s Memoirenbesitz bei einer Klage auf Herausgabe an die rechtmäßigen Erben Heinrich Heine’s fahren würde, zu denen Herr Gustav Heine nicht gehört.

Das Gerede, die österreichische Regierung habe Herrn Gustav Heine die Memoiren abgekauft und bewahre sie in ihren bombensichersten Gewölben auf, ist ein einfältiges Märchen und endlich in die Rumpelkammer zu verweisen. Welches Interesse könnte die österreichische Regierung an dem Besitze der Memoiren Heine’s haben?! Oder meint man ernstlich, Heine habe in seinen Memoiren nichts Angelegentlicheres auszuplaudern gehabt, als österreichische Staatsgeheimnisse? Die paar Ausfälle gegen das österreichische Regiment aus den Jahren vor 1848, welche sich sehr wahrscheinlich darin befunden haben, waren doch leicht zu beseitigen oder sie würden, wenn gedruckt, schwerlich staatsgefährlicher gewirkt haben, als zahllose andere Stellen bei Heine und seinen Zeitgenossen gegen Oesterreichs Regierung in der Zeit des Absolutismus.

Sonach steht die Frage nach Heine’s Memoiren zur Zeit so. Mit der Abfassung derselben ist er schon in den 20er Jahren beschäftigt gewesen, wie aus einem Briefe an Ludwig Robert hervorgeht, worin es heißt: „Vielleicht erleben Sie es noch, meine Bekenntnisse zu lesen und zu sehen, wie ich meine Zeit und meine Zeitgenossen betrachtet.“ In den 30er Jahren scheint Heine ernsthaft an den Memoiren gearbeitet zu haben, denn schwerlich hat er in seinem Briefe aus dem September 1840 an Julius Campe ohne sichere Unterlage gesagt: „Selbst wenn ich heute stürbe, so bleiben doch schon vier Bände Lebensbeschreibung oder Memoiren von mir übrig, die mein Sinnen und Wollen vertreten und schon ihres historischen Stoffes wegen, der treuen Darstellung der mysteriösesten Uebergangskrise, auf die Nachwelt kommen.“ – Und so ließen sich noch viele Briefstellen Heine’s anführen, aus denen die Arbeit an seinen Memoiren lange vor seinem Tode mit Sicherheit hervorgeht.

Verwickelt wird nun der an sich einfache Sachverhalt durch folgende Umstände. Im August 1850 hat Alfred Meißner, ein durchaus einwandfreier Zeuge, Heine’s eigene Angabe über die fortschreitende Arbeit an den Memoiren gehört. In einem für eine deutsche Zeitung geschriebenen Artikel über den Dichter hatte Meißner gesagt: „Heine ist beinahe fortwährend mit der Composition von Gedichten beschäftigt, wenn auch seine Hand kaum die Feder zu führen vermag.“ Diese Stelle hatte Heine im Manuscript gelesen, als er Meißner lebhaft unterbrach: „Nein, nichts von Gedichten! Mit der Composition seiner Memoiren beschäftigt! Mit der Composition seiner Memoiren!“ – und änderte dementsprechend selbst die betreffende Stelle in Meißner’s Manuscript ab. Kurz darauf mag Heine seinem Bruder die Memoiren verpfändet haben. Ich bemerke hierbei, – was bis jetzt stets übersehen worden, – daß Heinrich Heine die Ueberlassung seiner Memoiren an Gustav Heine nicht als eine endgültige angesehen hat; in einem Briefe an Campe sagt er über jenes Pfandgeschäft: „Von meinem Bruder habe ich seit seiner Abreise noch keine Nachricht, obgleich er wichtige Dinge für mich zu besorgen hat. Ich denke ihm so bald als möglich bis zum letzten Sou zurück zu bezahlen, was er mir vorgeschossen. Er ist bei aller brüderlichen Liebe seines krakehligen Charakters wegen nicht die geeignete Person, der ich eine Einmischung in meine literarischen Angelegenheiten vertrauen dürfte.“

Nun erzählt aber Alfred Meißner, wohl der regelmäßigste Gast Heine’s aus dessen letzten Lebesjahren: „Heine schrieb die Memoiren mit Bleistift auf großen Foliobogen nieder,[4] da er in seinem Bette kein Tintenzeug brauchen konnte, und zeigte mir mehrmals, wie viel schon davon vorhanden sei; ich schätzte 1854 den Umfang derselben auf 3 Bände.“ Und abermals will Alfred Meißner die Memoiren gesehen haben, nach dem Tode Heine’s, als er mit Herrn Julia, dem Rechtsbeistande der Wittwe Heine’s, dessen Papiere ordnete, und bei dieser Gelegenheit habe er den Umfang der Memoiren auf 600 Bogen geschätzt. Da nun aber zwischen der ersten von Meißner wiedergegebenen Aeußerung Heine’s über die Memoiren aus dem August 1850 und deren späterem angeblichen Anblick aus den Jahren 1854 und 1856 eben jene Verpfändung an Gustav Heine erfolgt ist, so muß Alfred Meißner sich in seinen nachmaligen Schätzungen geirrt haben. Die Glaubwürdigkeit Meißner’s über die Sache selbst ist unzweifelhaft, und da andrerseits aus den Jahren nach der Verpfändung der Memoiren an Gustav Heine mehrfache schriftliche Aeußerungen Heinrich Heine’s über seine Arbeit an den [103] Memoiren vorhanden sind, so wäre aus inneren wie äußeren Gründen folgendes als Endresultat der Memoiren-Streitfrage hiermit festzustellen:

1. Heinrich Heine hat wahrscheinlich seinem Bruder Gustav ein erstes Memoiren-Manuscript in den Jahren 1850 ober 1851 verpfändet, welches, so sagt Herr Gustav Heine, in seinem (rechtlich anfechtbaren) Besitz in Wien sich befindet und nie veröffentlicht werden soll.

2. Heinrich Heine hat bis an seinen im Februar 1856 erfolgten Tod an einem zweiten Memoirenwerk gearbeitet, demjenigen, welches jetzt in der „Gartenlaube“ erscheinen wird. – Zu den irrthümlichen Angaben über den Umfang dieses Manuscriptes ist Alfred Meißner, wie mir Herr Henri Julia versichert, einfach dadurch veranlaßt worden, daß Heinrich Heine das Manuscript in demselben Wandschrank aufbewahrt habe, in welchem alte, längst gedruckte Manuscripte früherer Werke lagen, und daß Meißner das Convolut von gleichfarbigen Papieren, auf welche Heine mit der Bezeichnung: „Meine Memoiren“ gedeutet, für ein und dasselbe Manuscript gehalten. Diese sehr glaubhafte Erklärung scheint mir den Widerspruch zwischen Alfred Meißner’s Angaben und dem mir wirklich vorliegenden Manuscript auf’s einfachste zu lösen.

Eine dritte Möglichkeit läßt der Wortlaut der Einleitungsepistel unserer Memoiren zu. Ohne der Veröffentlichung derselben vorgreifen zu wollen, darf ich schon jetzt, unter treuer Auslegung der Wortfassung Heine’s, sagen, daß er über seine ersten Memoiren meldet, er habe die eine Hälfte aus Familienrücksichten und religiösen Scrupeln vernichtet, die andere Hälfte werde er möglicher Weise auch noch dem Feuer überliefern, und gerade diese neubegonnenen Memoiren sollen die „schöne Nacktheit seiner Seele“ offenbaren.

Und während er sich, gleichfalls in der Einleitungsepistel, gegen jede Veröffentlichung von Papieren gegen seinen Willen sehr energisch ausspricht, sie als eine „Felonie“ brandmarkt, will er diese neuen Memoiren gerade von jenem allgemeinen Noli me tangere ausnehmen. – Da er überdies bezüglich der ersten Memoiren sehr deutlich von „Freunden“ spricht, in deren Hut er sie gegeben, und mit keinem Worte seines Bruders Gustav Erwähnung thut, so ergiebt sich als sehr beachtenswerte Möglichkeit Folgendes:

In keinem Falle hat Herr Gustav Heine „die“ Memoiren, wie er behauptet hat, sondern er hat nur ein größeres Fragment der ersten Memoiren, während das, was jetzt die „Gartenlaube“ veröffentlichen wird, Alles ist, was von den neuen Memoiren überhaupt je existirt hat. Ob Heinrich Heine jenes Autodafé, welches er dem übrig gebliebenen Theile der ersten Memoiren androht, wirklich vollzogen hat, ist eine offene Frage. Wenn ja, so besitzt Herr Gustav Heine vielleicht irgend welche schätzbaren Papiere, aber keine Memoiren. Herrn Gustav Heine’s Glaubwürdigkeit in geziemenden Ehren – aber Heinrich Heine wird sich in der feierlichen Eingangsstelle seiner Memoiren gewißlich keiner Unwahrheit schuldig gemacht haben. –

Hat aber Heinrich Heine jenes Fragment der ersten Memoiren nicht verbrannt, sondern seinem Bruder Gustav aus Geldnot verpfändet, so war Herr Gustav Heine moralisch schon längst verpflichtet, – über die juristische Seite der Frage erlaube ich als Nichtjurist mir kein Urtheil – das Pfandobject gegen Wiedererstattung des Pfanddarlehns an die rechtmäßige Universalerbin Heine’s, das ist Mathilde Heine, herauszugeben. Wollte Heinrich Heine aber nur das Manuscript vor unbefugter Veröffentlichung nach seinem Tode bewahren, so gab es andere Mittel, als es der Obhut seines Bruders Gustav anzuvertrauen, dem er ja, nach seinem eigenen Geständniß, nicht die Geheimnisse seiner Katze anvertraut hätte. Auch hat, wie eben erwähnt, Heinrich Heine nicht seinen Bruder, sondern Freunde mit der Hut seines Memoirenfragments betrauen wollen! Und nun mache man sich selbst klar, welche Wahrscheinlichkeit dafür existirt, daß die Memoiren sich in Herrn Gustav Heines Besitz befinden können!

Wenn sie aber dennoch in seinen Händen sind, – warum wendet er dann nicht das einfachste Mittel an, um alle Einreden mit einem Schlage aus der Welt zu schaffen? Warum zeigt er nicht einigen wenigen einwandfreien Zeugen die Memoiren, die er in Verwahrung hält?! Nicht um sie zu lesen, – ein flüchtiger Blick, die Prüfung während weniger Minuten würde genügen, und all das gehässige Gerede, welches jetzt auf Heine’s Familie wegen der Memoiren fällt und gewiß ihr mehr geschadet hat, als alle Anzüglichkeiten in den Memoiren selbst, die von der Familie Heine so sehr gefürchtet und verheimlicht werden, müßte sofort verstummen.

*  *  *

Das Werk, welches die „Gartenlaube“ veröffentlichen wird, umfaßt sonach nicht die Memoiren Henrich Heine’s, sondern nur: Memoiren Heinrich Heine’s, und zwar dasjenige Manuscript, welches der Dichter in den letzten zwei Jahren seines Lebens abgefaßt hat, nachdem er sich wahrscheinlich hatte überzeugen müssen, daß sein Herr Bruder das ihm lediglich als Unterpfand anvertraute Werk nicht wieder herausgeben wolle. Mit großer Sicherheit ist der Beginn der Abfassung unseres Manuscripts in den Anfang des Jahres 1854 zu setzen. Heine selbst fürchtete, daß kleinlicher Familiendünkel oder andere, nicht viel schönere Motive ihn durch die Vernichtung seiner Memoiren oder durch deren Verheimlichung nach dem Tode mundtodt machen würden. Wie berechtigt diese Furcht gewesen, zeigt Herrn Gustav Heine’s Verhalten. In diesem Sinne lese man die furchtbaren Verse in den „Lazarusgedichten“:

„Wenn ich sterbe wird die Zunge
Ausgeschnitten meiner Leiche,
Denn sie fürchten, redend käm’ ich
Wieder aus dem Schattenreiche!

Stumm verfaulen wird der Todte
In der Gruft, und nie verrathen
Werd’ ich die an mir verübten
Lächerlichen Frevelthaten!“

Diesem Zungenabschneiden nach dem Tode wollte der Lebende vorbeugen: so schrieb er zum zweiten Male seine Memoiren, unter den entsetzlichsten Schmerzen der ihn immer fester in ihre Pranken fassenden Todeskrankheit, aber mit derselben peinlichen Gewissenhaftigkeit des Stils, welche alle seine Prosaschriften auszeichnet. Ein Heroismus war es, – ich gebrauche Heine’s eigenes Wort – ein fast beendetes, seinem Besitz entrissenes Werk zum zweiten Male zu beginnen. Fertig gebracht haben die müde Hand und das halberblindete Auge sie nicht mehr; was in den folgenden Nummern erscheinen wird, ist ein Fragment geblieben.

Daß es sich in den von mir zu veröffentlichenden Memoiren wirklich um eine Neubearbeitung der Heine’schen Denkwürdigkeiten handelt, dafür zum Zeugniß stehe hier ein Stück aus einem Brief an Campe vom 7. März 1854[5]:

„Es ist wahrhaft betrübend, daß diese zerstückelnden Arbeiten mir zu einer Zeit auf den Hals kamen, wo ich mit meiner Memoirenschreibung so hübsch im Zuge war. Herr Trittau wird Ihnen gewiß die Mittheilung gemacht haben, daß ich mich mit Heroismus einer ganz neuen Abfassung meiner ‚Memoiren‘ unterziehe, und ich hoffe, daß dieses die Krone meiner Schriften sein wird. Aber Heroismus war es, statt zu flicken, gleich wieder Neues zu weben, und ich hoffe, wenn ich ohne Störung bleibe, schon in diesem Jahre eine große Portion fertig zu machen und unverzüglich zu publiciren. Da ich jetzt weiß, was ich nicht sagen darf, so schreibe ich mit großer Sicherheit, und Nichts hindert mich mehr, das Geschriebene schon bei Lebzeiten vom Stapel laufen zu lassen.“

Hiermit erledigt sich der Einwand, es möchte die Veröffentlichung dieser Memoiren etwa gegen Heine’s Absichten verstoßen. Die „Gartenlaube“ handelt durchaus in Heine’s Sinne, indem sie endlich den Schleier von dem lange vergrabenen Schatze hebt.

Obige Briefstelle ist in demselben Jahre geschrieben, in welchem Alfred Meißner „drei Bände Memoiren“ gesehen haben will! Bei der außerordentlichen Mühe, welche Heine das eigene Schreiben um jene Zeit machte – und seine Memoiren hat er durchweg eigenhändig geschrieben –, ist nicht anzunehmen, daß das Manuscript, welches die „Gartenlaube“ nunmehr abdrucken wird, jemals umfangreicher gewesen, als es mir jetzt vorliegt, – bis auf eine Lücke, welche am betreffenden Ort erklärt werden soll.

*  *  *

Die Leser, denen die „Gartenlaube“ die folgenden Memoiren zugänglich gemacht hat, habe ich schließlich zu bitten, sich keinen höher gespannten Erwartungen bezüglich des Umfangs wie des Inhalts hinzugeben, als die Ungunst der Umstände: der späte [104] Beginn ihrer Aufzeichnungen durch Heine und seine lähmende, entsetzliche Krankheit, erlauben. Das Manuscript ist auf großen weißen Folioblättern mit Bleistift geschrieben, in einer deutlichen, wenn auch nicht sehr festen Handschrift, der man oft genug das „Gliederzucken“ und die „Knochendarre in dem Rucken“, wie auch die unbequeme Lage des Dichters in seiner Matratzengruft ansieht. 129 Folioblätter zu durchschnittlich je 25 Zeilen zählt unser Manuscript, davon mehrere Seiten doppelt foliirt; die Rückseiten sind unbeschrieben. Kein Blatt, welches nicht zahlreiche Aenderungen inhaltlicher wie stilistischer Natur aufweist, – aber auch die Aenderungen sind ausnahmslos von Heine’s eigener Hand und augenscheinlich gleich während der Abfassung vorgenommen. In Buchform dürften immerhin 10–12 Bogen herauskommen, somit ein ganz ansehnlicher Band und wenn auch vielleicht nicht, wie Heine beabsichtigte, die Krone seiner Schriften, doch jedenfalls eine höchst werthvolle Zugabe zu der Gesammtausgabe seiner Werke und eine Fundgrube für seine Jugend-Biographie.

Daß 129 Folioseiten, zumal bei der sehr behäbigen, holländerisch genauen Schilderung Heine’s, keine sehr große Spanne seines Lebens umfassen können, ist einleuchtend. Die Lebensbeschreibung reicht nur bis zum Beginn von Heine’s Jünglingsalter und enthält vorzugsweise die Darstellung des elterlichen Hauses, seiner Jugenderziehung, der ersten Eindrücke von Schule und Leben. Daß Heine nichts Langweiliges geschrieben, wissen die Leser seiner Werke und wenn auch keine interessanten Staatsgeheimnisse, keine pikanten Aufklärungen über Herzensbeziehungen, und was man sonst vielleicht von Heine’s Memoiren in erster Reihe erhofft hat, sich darin finden – das Factum bleibt bestehen, daß in dem Nachstehenden ein bedeutsames Fragment echter Memoiren Heine’s gegeben wird, und zwar alles, was überhaupt zu erwerben war.

Herr Julia hat eine schriftliche, rechtsverbindliche Erklärung abgegeben, daß dieses von ihm veräußerte Manuscript das einzige sei, welches von dem in seinem Besitze befindlichen handschriftlichen Materiale Heine’s zu den Memoiren gehöre. Herr Julia besitzt noch eine Sammlung von mehreren hundert Briefen an Heine (nicht von Heine), darunter aber kaum ein Dutzend um der Absender und des Inhalts willen von irgendwelchem Werth. Die Antworten Heine’s – und auf diese kommt es an – sind längst in der Gesammtausgabe veröffentlicht, und ein hoher Werth jener Briefe für Heine’s Biographie kann nur von denen behauptet werden, welche entweder die Briefe nicht gesehen oder noch nicht von Strodtmann’s ausgezeichneter Heine-Biographie Kenntniß genommen haben.

Die „Gartenlaube“ glaubt in jedem Falle eine literarische Ehrenpflicht zu erfüllen, wenn sie so viel von den Memoiren veröffentlicht, wie ihr zugänglich war; an Anderen, an den nächsten Angehörigen ist es nunmehr, die heilige Pflicht der Pietät gegen einen großen Todten zu erfüllen durch die Veröffentlichung weiterer Aufschlüsse über sein Leben, welche die jetzt seit achtundzwanzig Jahren erkaltete Hand zu dem ausgesprochenen Zwecke geschrieben, Zeugniß abzulegen für sein Leben. Dr. Eduard Engel (Berlin).     


Blätter und Blüthen.

Pharisäer und Zöllner. (Illustration S. 93.) Der Gegenstand ist wahrlich nicht neu, den das Bild von Moritz Röbbecke uns vorführt. Und dennoch fesselt diese Darstellung des Hochmuths und der Demuth unsere Aufmerksamkeit und fordert zum Nachdenken heraus. Die meisterhafte Figur des stolzen Pharisäers allein bewirkt dies keineswegs. In dem Bilde finden wir überhaupt etwas Neues, Ungewohntes. Wir kennen Alle jenes biblische Gleichniß, aber die beiden Gestalten hat sich unsere Phantasie wohl in einer andern Situation gedacht. Der Pharisäer und der Zöllner standen ja betend in dem Tempel, hier ist der Maler von dem biblischen Texte abgewichen. Diese Abweichung ist jedoch ein sehr glücklicher Kunstgriff des Künstlers, durch den allein es ihm möglich geworden ist, dem Gegensatze der beiden Charaktere den schärfsten Ausdruck zu verleihen.

In dem Gleichnisse, welches dem Maler als Anregung diente, ist das charakteristische Merkmal der beiden Gegensätze in den Worten der Gebete zu finden. Dem Gebete des Pharisäers: „Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner; ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von Allem, das ich habe,“ sind die schlichten Worte des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ entgegengestellt. Diese Worte oder Gedanken konnte der Maler nicht wiedergeben. Die Demuth war wohl durch die Haltung des betenden Zöllners zu charakterisiren, aber ein hochmütig betender Pharisäer müßte zu einer unwahrscheinlichen Figur, zur Carricatur werden. Darum suchte der Künstler das Uebermaß des Hochmuths durch eine entsprechende Handlung auszudrücken.

Dies ist ihm in der That trefflich gelungen. Wir brauchen nur einen Blick auf den Mann zu werfen, der mit diesem Gesichtsausdruck das Almosen für die Armen spendet, um zu wissen, weß Geistes Kind er ist. Von diesem Standpunkte aus finden wir das Ungewohnte in unserem Bilde durchaus natürlich, die Abweichung durchaus begründet, denn indem der Maler hier von dem ursprünglichen Texte abwich, folgte er einfach den Geboten seiner Kunst, welche in der Darstellung ihrer Ideale nach anderen Grundsätzen verfahren muß, als die mit Worten schildernde Kunst, die Erzählung oder Poesie. J.     


Carneval auf dem Lande. (Illustration S. 101.) Eine noch einfachere Weise, die berühmten Narrenfeste Venedigs, Roms und der beiden rheinischen Carnevalshauptstädte ins Ländliche zu übersetzen, wird wohl schwerlich erfunden werden können. Aber auch die Wirkung der seltsamen Vergnüglichkeit kann man sich nicht gelungener wünschen. Dem Goethe’schen Volksbilde von dem „wenig Witz und viel Behagen“ ist im gutmüthigsten Sinne hier ein gleiches Stück an die Seite gestellt. Jede dieser kerngesunden Personen würde, auf Befragen, offen gestehen, daß sie sich „krank lachen“ möchte über den Schalksstreich, den der Hans da gegen die Grete ausführt. Der Künstler hat uns in das Geheimniß eingeweiht. Hans und Grete sind Liebesleute und soeben in einem längeren Schmollen begriffen; sie hat ihm Tanz und Kuß versagt. Freilich ist die Reue bei ihr schon eingekehrt, und sie wartet nur auf sein „Sei wieder gut!“, um ihm den Versöhnungskuß zu geben, – da bricht der Fastnachtstag herein, – Hans kommt, aber mit einer so langen und spitzigen Nase, daß kein Kuß darunter möglich ist und Grete voll Scham und Angst ihr Gesicht versteckt. Das maskirte Mädchen mit dem Handkorb ist der Hirtenjunge, der Gaben sammelt. Das ist das, was man in den genügsamen Volkskreisen einen Hauptspaß nennt. – Der Maler, Theodor Schmidt, ein geborner Stuttgarter und Zögling der Münchener Akademie, hat uns auch in diesem Bilde in seine schwäbische Heimath geführt, in welcher er Bezingen und dem Steinlachthal wegen der dort noch erhaltenen malerischem Volkstrachten für seine Compositionen gern den Vorzug giebt.



Allerlei Kurzweil.



Schach.
Problem Nr. 2.

Von
Georg Chocholous
in Halbstadt in Böhmen.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Kleiner Briefkasten.

Abonnent in Città di Castello. Eine Anstalt dieser Art können wir Ihnen nicht nennen. Berühmte Specialärzte finden Sie an den größeren deutschen Universitäten, z. B. in Wien, Berlin oder Leipzig.

E. K. in Oppeln. Alle Ihre Anfragen beantwortet Ihnen Robert und Richard Keil’s „Geschichte der deutschen Burschenschaft“, die Sie durch jede Buchhandlung beziehen können.

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[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Zur Orientirung über den Bau des Auges dienen Fig. 1 und 2 und deren Erläuterung in meinem Auffatze in Nr. 7 der „Gartenlaube“ des Jahrgangs 1883. Wir bitten den Leser, damit Wiederholungen vermieden werden können, gefälligst beide nochmals anzusehen.
  2. Vergl. hierüber Band 1 S. 16 und ff. der Gesammtausgabe von Heine’s Werken (1876).
  3. Eine von dem Künstler, Oppenheim, selbst angefertigte Copie dieses sehr ähnlichen Heine-Bildes befindet sich im Besitz der Wittwe des berühmten Sprachforschers Theodor Benfey in Göttingen. – Herr Gustav Heine hatte frischweg behauptet, – er, der seinen Bruder in dessen letztem Jahrzehnt nur sehr flüchtig gesehen – es gebe gar kein Oelporträt Heinrich Heine’s. Die „Gartenlaube“ wird durch eine Veröffentlichung des Oppenheim’schen, sowie eines bisher ganz unbekannten, zweifellos echten, in meinem Besitz befindlichen Originalportraits Heine’s (von Gassen aus dem Jahre 1828) Herrn Gustav Heine eines andern belehren. E. E.     
  4. Dies stimmt durchaus mit dem Charakter des von der „Gartenlaube“ zu veröffentlichenden Manuskripts überein.
  5. „Sämmtliche Werke.“ Band 22, S. 351.