Die Gartenlaube (1884)/Heft 5

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Und es ging doch nicht, daß sie immer daran denken konnte. Else war am andern Morgen durch den herbstlichen Garten gewandert und jeder Baum hatte ihr zugenickt: kennst Du mich noch? Jedes Plätzchen, wo sie als Kind gespielt, hatte ihr süße traute Worte in das junge schmerzlich berührte Herz geflüstert, die Sonne hatte so hell und klar über dem alten stattlichen Hause geschienen, und weit in das Land hinaus kannte sie ja jedes Dach, jede Windmühle, jeden Hügel – Nein, sie war dennoch daheim, sie war dennoch nicht arm!

Wie konnte sie nur trübe Gedanken festhalten bei so viel Lust, Frohsinn und Herzlichkeit? Es war ja zu hübsch in dem gemüthlichen Eßzimmer, bei der wohlbesetzten Tafel; zu schön, wenn Tante Ratenow Etwas erzählte aus der Vergangenheit; es war wie ein neckisches Sonnenblitzen, wenn Frau Frieda lachte und die Kinder so hell mit einstimmten, und Moritz behaglich am Ehrenplatze saß, den Braten tranchirend und so sorgend für Alles.

„Else, hast Du auch wirklich keinen Hunger mehr? Na, iß nur, kleine Deern; sieh ’mal dies appetitliche Stückchen vom Meister Lampe, wie? – So ist’s recht; – schmeckt es?“ – Und nach Tische nahm er den kleinen Buben auf den Rücken, und dann ging es in den Garten hinaus wie die wilde Jagd, die Wege hinauf und hinab, Alle mit einander, daß es ein Jubeln und Kichern und Lachen wurde, bis Frieda erklärte: „Halt ein, Moritz, wir greifen Dich doch nicht!“

Und dann die Spazierfahrten in’s herbstliche Land hinein mit Frieda und Tante Ratenow. Zuweilen flog auch das elegante Coupé der jungen Frau durch die Gassen des Städtchens, und die Commis der Läden, in denen man gerade Einkäufe machen wollte, rissen ehrerbietig den Schlag auf und halfen den Damen beim Aussteigen. Und Abends saß immer Besuch da, und Johann klopfte dann an Tante Lott’s Thür: ob Fräulein von Hegebach nicht ein wenig herunter kommen wolle zur jungen Gnädigen. Und wie rasch konnten dann die kleinen Hände vor dem Spiegel geschäftig das duftige Haar ordnen und die rosa Schleife hineinstecken, besonders wenn der Alte hinzugefügt hatte: „Es soll musicirt werden.“

Wer hätte gedacht, daß die verhaßten Clavier- und Singestundcn noch ein solches Gefolge von schönen Schwestern haben würden? Und wer hätte gedacht, daß Etwas in der Welt so singen und klagen könne, wie die kleine braune Geige, die Lieutenant Bernardi im Arme hielt?

Der Beginn von Else’s Thätigkeit war noch hinausgeschoben. Sie wußte nicht, daß Moritz zu seiner Frau heimlich gesagt: „Friedchen, hörst Du? Du willst es absolut nicht, daß die Kinder vor Januar schon eingespannt werden!“ Und Frieda hatte, als Else die junge Frau bat, sie möge bestimmen, wann der Unterricht beginnen sollte, sehr ruhig geantwortet: Man habe ja noch lange Zeit, dies zu überlegen; vor dem zweiten Januar dürfte sie nicht daran denken, die Kinder einzusperren; Moritz müsse auch erst eine Schulstube einrichten mit gesundheitsdienlichen Sitzen, die Aelteste sei gar so arg im Wachsen, und überdies – vor Weihnacht hätten die Kinder doch keine Andacht.

Da half nun auch kein Reden der Tante Ratenow, denn Frieda’s Meinung mußte als die der Mutter respectirt werden, und außerdem war es der jungen Frau viel zu angenehm, in der doch immer stillen Trauerzeit eine Gesellschafterin zu haben, als daß sie einer „vernünftigen Vorstellung“ Gehör gegeben hätte. – Und Moritz? Nun, der stand, wie immer, unter dem Pantoffel, wie die alte Dame innerhalb ihrer vier Wände halblaut zu Tante Lott sagte.

Else hatte in Frieda’s reizendem, blau decorirtem Salon auch ihre ehemalige Pensionsgefährtin, Fräulein Annie Cramm, wieder gefunden. Diese war natürlich gleich nach der Confirmatiou in’s elterliche Haus zurückgekehrt und schon seit zwei Jahren salonfähig. Ihr mageres Gesicht schaute noch ebenso bleich und unreif mit den blaßblaucn Augen in die Welt, und das Haar war noch ebenso strohblond wie früher, aber sie trug es mit äußerster Sorgfalt geordnet, und die Toilette vom gediegensten Stoffe umschloß tadellos den etwas eckigen Wuchs der jungen Dame.

„Sie ist eine Gans,“ sagte Frieda sehr offenherzig.

„Aber eine mit goldenen Federn, liebes Kind,“ fügte Tante Ratenow hinzu; „das entschädigt für Vieles.“

Else plauderte so recht nach Herzenslust mit Annie Cramm von der Pension; die junge Dame kam sogar zuweilen zu Tante Lott hinauf. Mitunter konnte sie dann sehr viel seufzen und kummervoll aussehen, und nebenbei führte sie gewissenhaft Buch über jeden Ball und über Jeden, mit dem sie Quadrillen und Cotillon getanzt hatte. Da sie eine kleine Sopranstimme besaß, wurde sie öfters zu Frieda’s musikalischen Abenden gezogen. Sie

[74] sang mit Vorliebe Solo und erschien stets in gewähltester Toilette, wenn auch nicht gerade immer der Situation und der Person angemessen, und erregte damit nicht selten die Spottsucht der jungen Hausfrau, die für Alles, was nicht „chic“, eine fast krankhafte Empfindlichkeit besaß.

Else’s schwarzes Cachemirkleid passirte ein- für allemal vor ihren Augen als „leidlich anständig“. Was sollte Frieda auch machen? Im Anfange hatte sie die Absicht gehabt, des Mädchens mehr als einfache Garderobe aus ihrem Kleiderschranke aufzubessern, und war dabei auf einen höchst energischen Widerstand ihres sonst so fügsamen Gatten gestoßen.

„Wenn Else Etwas braucht,“ erklärte er, „so wird ihr Mutter schon, wie bisher, die Sachen besorgen; nebenbei, was soll sie mit Deiner abgelegten Garderobe, sie ist einen Kopf größer als Du? – Ich will überhaupt nicht, daß sie Deine alten Kleider trägt, Frieda! Wozu ihr denn den Stempel der Armuth vor allen Leuten aufdrücken?“

Und so kam das schlanke blonde Mädchen immer in ihrem einfachen schwarzen Kleidchen; eine Tracht, die ihren eigenartigen Liebreiz nur doppelt hervorhob.

Nun war man schon so weit, daß zweimal an bestimmten Tagen der Woche die Lichter festlich auf dem Flügel brannten und von vier Uhr Nachmittags, zuweilen bis zwölf Uhr Nachts, Musik getrieben wurde.

„Ich kann weiter nichts als auf dem Kamm blasen,“ erklärte Moritz eines Nachmittags, als Else mit einem Notenhefte die Treppe herunterkam und ihn im Flur traf, „und allenfalls ‚Heil dir im Siegerkranz‘ pfeifen; ich komme zum Essen pünktlich, und wenn nachher ein paar Lieder gesungen werden, höre ich sehr gern zu. Von Euren Symphonien verstehe ich nichts. Adieu, Else, und spare ein paar Lieder für mich auf.“

Und da er gerade draußen nichts zu thun hatte, ging er zu seiner Mutter, zündete sich eine Cigarre an und setzte sich behaglich in den Lehnstuhl seines seligen Vaters. Um ein Gespräch waren Mutter und Sohn nie verlegen; die große Wirthschaft ergab es von selbst, sie pflegten noch immer Alles mit einander zu besprechen. Die alte praktische Dame hatte stets einen guten Rath bei der Hand, und so waren sie denn sehr bald in einen landwirthschaftlichen Disput verwickelt. Dann kamen noch einige kleine Stadtklatschereien dazu, und schließlich erzählte Moritz, daß er in Magdeburg vor einigen Tagen den Bennewitzer gesprochen habe und daß dieser ihm mitgetheilt, sein Vetter sei dennoch gerichtlich gegen ihn vorgegangen.

„Meinetwegen,“. sagte Frau von Ratenow, „der Starrkopf muß sich erst blutig stoßen, eher glaubt er nicht, daß es Mauern giebt. Ich habe mir die Zunge lahm geredet und die Hand lahm geschrieben, aber er hält mit einer Unerschütterlichkeit an seinem vermeintlichen ‚guten Rechte‘ fest, die einer besseren Sache würdig wäre.“

Sie schwieg, aber die Stricknadeln klapperten energischer an einander als vorher; nichts konnte die alte Dame ärgerlicher machen, als wenn Jemand sich nicht von ihr belehren lassen wollte.

„Sag, mein Jung’,“ fragte sie plötzlich, „ist es wirklich nur die Wuth, Musik zu machen, die den schwarzen Lieutenant mit seiner Geige so oft hierher führt?“

„Vermuthlich wohl,“ erwiderte Moritz, „sie thun ja nichts Anderes und vergessen Essen und Trinken darüber.“

„Na, weißt Du, Moritz, auf Dich verlasse ich mich nicht, in solchen Dingen bist Du wie ein Kind; ich werde da selbst einmal nachsehen müssen.“

„Ei, Mutter! Tante Lott sitzt ja dabei – strickt und ist entzückt –“

„Ja, die ist die Rechte,“ nickte Frau von Ratenow, noch immer zwischen Scherz und Ernst; „eine gute Seele; aber trotz ihres Alters wäre sie just noch die Erste, sich in den Bernardi zu verlieben.“

Moritz lachte hell auf.

„Es ist wirklich nicht zum Lachen, mein Jung’; Du hast Dich doch auch einmal gründlich verliebt, weißt Du? Und Andere haben auch Augen im Kopfe und junges frisches Blut in den Adern!“ Und bei diesen Worten hatte sie ihr sauberes Tüllhäubchen abgenommen, und sich über den spiegelglatten noch braunen Scheitel streichend, fügte sie hinzu: „Gieb mir die Haube mit den lila Bändern da aus meinem Schubkasten, Moritz. So, die ist’s, ich danke Dir, und nun wollen wir auch einmal in Musik schwelgen.“

Der große Mann hatte eben wieder den Schubkasten geschlossen und stiebte sich ein wenig Asche von seinem dunkelblauen Anzuge ab. „Ja, Mütterchen, wenn Du etwa Else meinst –“

„Ich meine gar nichts, Moritz. Begleitest Du mich?“

„Recht gern; schon damit Du siehst, daß dort keine Liebestränke credenzt werden, Du allzu ängstliches Mütterlein.“

Drüben im Salon brannten schon die Lichter und Lampen; man hatte gerade ein Concert von Kreutzer beendigt und befand sich in lebhaftem Gespräche darüber, als Mutter und Sohn eintraten. – Frieda saß am Clavier und probirte einige schwierige Tacte noch einmal; Lieutenant Bernardi hatte die Violine hingelegt und stand neben Else, die in einem Notenhefte blätterte. Annie Cramm und Tante Lott saßen in der Nähe des Fensters, sie hatten Alle dunkelrothe Wangen vor Eifer.

„Wir möchten ein paar Lieder hören,“ motivirte Moritz das unerwartete Erscheinen, und Tante Ratenow nahm mit einem sonoren „guten Abend, meine Damen, guten Abend, lieber Bernardi!“ in der Ecke neben Tante Lott Platz. Moritz mußte heimlich lächeln; eine Diplomatin war sie nicht, seine alte prächtige Mutter, sie ging stets gerade zu. Es machte ihm unsäglichen Spaß, sie zu beobachten.

Fräulein Annie Cramm ließ sich erbitten, zu singen. Else setzte sich still in die tiefe Fensternische, und ihr süßes Kindergesicht schaute unter den schweren blauen Gardinen hervor, die einen prächtigen Hintergrund bildeten für das blonde Köpfchen. Bernardi hatte sich an das entgegengesetzte Ende des Zimmers verfügt, er lehnte an Frieda’s Bücherschrank, im Schatten, gerade Else gegenüber.

„Ein bildhübscher Junge,“ gestand sich Frau von Ratenow, „so schlank und rank und von den besten Manieren; kein Wunder, wenn –“

Da setzte Annie Cramm’s hohe Stimme ein, diese Stimme, die so beängstigend wirkte bei der schmalen hochschulterigen Figur der Sängerin.

„Sehr schön, liebes Fräulein!“ spendete die alte Dame ihr Lob, „aber ich verstehe das nicht, es ist mir zu überirdisch.“

„Mamachen, welch Majestätsverbrechen, das war Wagner!“ rief Frieda.

„Kenne ich nicht!“ lautete die Erwiderung, mit unerschütterlicher Ruhe gegeben.

„Ja siehst Du! Weil Du nie mit uns in’s Opernhaus willst, Mamachen, wenn wir einmal in Berlin sind,“ klagte die junge Frau.

„Kind, ich bilde mir wirklich etwas ein auf meine Nerven, aber dort sage ich mir immer: Nein, die Heutigen sind uns doch über! Ich zittere schon nach dem ersten Act an allen Gliedern, habe nur den einen Gedanken: hören sie denn noch nicht bald auf? – Ihr, die Ihr immer von Nerven sprecht, könnt stundenlang so etwas aushalten! – Else, singst Du uns nicht ein einfach Lied?“

Das junge Mädchen mit den purpurrothen Wangen trat zum Clavier.

„Das alte Lied mit der neuen Composition können wir ja versuchen,“ schlug Frieda vor. Sie hatte innerlich einen kleinen Schüttelfrost ob der Ansichten ihrer Schwiegermutter, und durch die paar Tacte des Vorspiels klangen einige Mißtöne. Aber nun setzte eine weiche volle Altstimme ein:

„Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?
Nicht Vater noch Mutter, kein Glück und kein Geld,
Nichts weiter mehr hab ich bergab und bergan,
Als zwei braune Augen, daß weinen ich kann.

Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind,
Weil silbern kein Kettlein am Halse mir gleißt!
Ach, weiß es wohl Einer, was Sehnsucht heißt?

Dort unten rauscht’s Wasser, so tief und so hohl,
Könnt ich nur sterben, so wäre mir wohl! –
Drei Blümlein, drei Röslein, ein schneeweißes Kleid,
Da schlief ich wohl süße, ohn’ Wehe und Leid.“

„Brav, Else!“ sagte die alte Dame, und reichte dem Mädchen die Hand. Die Andern schwiegen – Bernardi hatte die Geige ergriffen und begann die einfache klagende Weise nachzuspielen, [75] und dann ein wildes Wogen, ein bezauberndes Chaos von Tönen, zwischendurch immer die Grundmelodie anklingend und endlich noch einmal der schmerzliche Aufschrei der Schlußstrophe.

Die Blicke der beiden jungen Menschen hingen an einander während des Spieles; nun schlugen sich die feuchten braunen Mädchenaugen zu Boden, und das Roth der Wangen war einer leichten Blässe gewichen; still setzte sie sich neben Tante Lott. Bernardi hatte die Violine hingelegt und ließ die Lobpreisungen über sich ergehen; nur Tante Ratenow schwieg.

„Es ist ein altes Lied,“ sprach sie endlich, „mit immer neuer Melodie. Sagtest Du nicht so, Frieda?“ – „Elschen!“ rief sie dann, als man im Speisezimmer die Plätze aufsuchte und das junge Mädchen eben den seinigen neben dem Officier einnehmen wollte, „Elschen, laß Moritz oder Tante Lott dort sitzen und hilf mir hier ein wenig, ich habe wieder mein Reißen im Arm.“

Else war gleich bereit. Moritz aber blickte die Mutter groß an, ihm graute förmlich vor diesen weiblichen Kriegslisten. – Und Alles so unnöthig, wie er meinte. Dort saß er, der Gefährliche, und sprach so angelegentlich mit seiner blassen Nachbarin, und dann machte er eine Apfelsine für Frieda zurecht und erzählte Manövergeschichten. Es war eine lebhafte Unterhaltung an der Tafel voll Scherz und Ernst, und Moritz kam zuletzt auf den Feldzug zu sprechen, und dabei wurden die Herren sehr warm.

Es war spät geworden, als man sich erhob, der Wagen hatte lange warten müssen auf Fräulein Annie Cramm, in Sturm und Regen draußen; nun hüllte sie sich in den seidnen Pelzmantel und nahm Abschied in der Halle.

„Herr Lieutenant, darf ich Ihnen einen Platz in meinem Wagen anbieten?“ fragte sie.

Er stand vor Else und sprach mit ihr, die Mütze unter dem Arm. Das große Gemach war nur schwach erhellt, aber Annie sah es dennoch, wie er eine schmale, halb widerstrebende Mädchenhand an seine Lippen zog.

„Wollen Sie mit mir fahren, Herr Lieutenant?“ fragte sie nochmals ungeduldig, „es ist schon sehr spät, und ich habe Eile.“

„Ich danke, mein gnädiges Fräulein, der Weg thut mir gut, ich ziehe es vor, zu gehen,“ erwiderte er mit seiner ritterlichsten Verbeugung.

Annie Cramm zog den Schleier über ihr blasses Gesicht und vergaß Else Hegebach Adieu zu sagen. Moritz brachte sie an ihren Wagen und schüttelte dann dem jungen Officier die Hand, der eben die Freitreppe herunter kam. So stand er noch ein Weilchen, dem Davongehenden nachschauend, sah über den Hof und dann zum Himmel hinauf, und blieb schließlich mit seinen Blicken an zwei Fenstern des oberen Stockes hängen, hinter denen eben ein Licht aufflammte.

Er begann auf einmal leise ein paar Tacte aus „Boccaccio“ zu pfeifen und ging ins Haus. „Frieda,“ sagte er zu der kleinen schönen Frau, die eben den Flügel schloß im Salon, „liegt nicht irgend etwas in der Luft?“

„Jetzt machst Du wieder eine Entdeckung, Moritz?“ erwiderte sie lachend.

„Ja, mit Bernardi und –“

„Ach Unsinn, sie ist zu garstig,“ unterbrach sie ihn.

„Nein. Nein! Ich meine Else.“

„Ach, Du großer Gott!“ gab sie gleichmüthig zurück, „wenn Du weiter nichts weißt – das ist eine pure Unmöglichkeit – er denkt nicht daran.“

„Aber wenn sie, Else –?“

„Ja, mein Himmel! Ich hatte vor Dir auch schon zwei Lieben, Moritz, und ich lebe noch.“

Er hörte das Letzte nicht mehr, ihm waren plötzlich die Worte eingefallen, welche das Mädchen vorhin gesungen:

„Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind.“

„Es wäre schändlich!“ sagte er und strich sich übcr die Augen.

Droben aber saß ein Mädchen in der tiefen Fensterbank und hielt die Hände gefaltet über ihrem klopfenden Herzen. Sie war nicht arm, sie war so reich, daß sie mit keinem Menschen in der Welt getauscht hätte! Ja, war es denn möglich, daß das Leben so schön sein konnte? War es denn möglich, daß Jemand sie lieb haben konnte, so lieb, wie es seine Augen deutlich sagten? Und sie saß lange und starrte nach den Lichtern des Städtchens, bis eins nach dem andern verlosch; von nebenan drangen die ruhigen Athemzüge Tante Lott’s herüber, die schlief so süß und fest und vergaß es aufzustehen und ihr zu sagen, wie sie es schon die ganze Zeit vergessen hatte: „Kind, was träumst Du denn? Du bist ja nur ein armes Mädchen!“




Draußen war nun der Winter gekommen, und der Schnee lag um Weihnacht weiß und blitzend über dem stillen Lande und auf den Dächern der Wohnungen, und bis Neujahr schneite es noch immer weiter. Die Chausseen und Straßen waren fest und glatt wie das schönste Parquet, und Moritz ließ die Eisen der Pferde schärfen; man wollte eine Schlittenpartie machen, eine große Schlittenpartie.

Die junge Frau von Ratenow, im dunkelblauen pelzbesetzten Sammetcostüm, zog eben noch die gleichfarbigen Handschuhe vor dem großen Spiegel ihres Schlafzimmers an. Sie sähe zum Küssen aus, behauptete Moritz, und er würde sich überdies recht auf den ganzen Rummel freuen, wenn nicht wieder dieser unglückliche Bernardi die Else fahren wollte!

Die junge Frau zuckte kaum merklich die feinen Schultern. „Diese ewige Besorgniß um Else! Mama spricht von nichts weiter, und Du auch nicht; ist sie denn nur so ganz etwas Besseres, als alle die andern Mädchen?“

„Ja!“ erwiderte Moritz warm. „Sie hat ein tiefes weiches Gemüth, und wenn sie etwas empfindet und erfaßt, so thut sie es voll und ganz. Oberflächliche Tändeleien oder gar Koketterien sind der kleinen Deern völlig fremd.“

„Du scheinst Dich sehr genau mit dem Studium dieser Mädchenseele abgegeben zu haben,“ klang es zurück; anscheinend ruhig, aber Moritz kannte den Tonfall dieser biegsamen Stimme allzugut, um nicht zu wissen, daß die Sprecherin sehr gereizt sei.

„Frieda, ich bitte Dich – ich kenne sie seit ihrem ersten Lebenstage, so, wie ich unsere Kinder kenne!“ Seine ehrlichen Augen sahen förmlich erschreckt in ihr Gesicht, das so blühend unter den Straußfedern des Hutes hervorleuchtete. Aber sie knöpfte ruhig den letzten Knopf der langen Handschuhe zu und ergriff den zierlichen Muff. „Ich glaube, die Herren sind schon im Salon.“ Dann schwebte sie an ihm vorüber, ohne im mindesten Notiz zu nehmen, daß dort eine Männerhand sich versöhnend nach ihr ausstreckte.

Es war nicht das erste Mal, daß die junge Frau ein ähnliches verblümtes Wort gesprochen; es war ja auch nach ihrer Meinung geradezu entsetzlich, wie man sich um dies Mädchen abängstigte, die es doch wahrhaftig lange gut hatte in der Welt. Wer würde um sie denn auch nur eine Hand rühren, wäre sie daheim bei ihrem spleenigen Vater? Und immer betonte Mama Ratenow, daß sie ein Unglück verhüten wolle, und Moritz, als getreues Echo, sprach es nach. Das wurde ja schließlich langweilig; – was war es denn weiter, wenn ein Officier ihr den Hof machte? Sie amüsirte sich eben, das konnte man ihr ja gönnen; Gefahr hatte es jedenfalls nicht, denn – er war ja viel zu vernünftig. – Bernardi – und Else! Lächerlich!

Die Röthe des Unmuthes lag noch auf ihren Wangen, als die junge Frau in den Salon trat, um den Rittmeister von Franken und den Lieutenant Bernardi zu begrüßen, die beiden Herren, welche sich die Ehre ausgebeten, die Damen fahren zu dürfen.

Der Rittmeister, ein bildschöner, schlanker Mann und großer Verehrer der jungen Frau, ließ sich scherzend auf ein Knie nieder und überreichte seiner Dame einen Strauß mattgelber südlicher Rosen.

Else hielt mit glückseligem Gesicht ein Veilchenbouquet in der Hand.

„O Frieda, sieh doch, Schnee und Eis und diese herrlichen Blumen, es ist wie ein Traum!“

Wie ein Traum, wie ein süßer Traum war ja das Leben; die Sonne lag so funkelnd und blitzend auf der verschneiten Landschaft, die Luft war so klar und kalt, von so köstlicher Reinheit, und die Glöckchen klingelten und der Schlittenzug flog so stattlich über die prächtige Schneebahn; wie sieht sich die Welt doch schön an, wenn das Glück im Herzen wohnt! – Der Blick des jungen Mädchens hatte sich nur einmal getrübt; das war, [76] als sie beim Passiren der Rosengasse zu dem Hause hinaufgeschaut, wo der Vater wohnte. Er hatte am Fenster gestanden im Schlafrock und Käppchen, aber das eifrige Grüßen und Nicken des blonden Mädchenkopfes dort unten hatte er nicht erwidert.

Papa war immer so in Gedanken, Papa wußte entschieden mitunter gar nicht, daß er ein Töchterchen besaß.

Aber dann fing die Musik an zu spielen und sie sprachen zusammen, so von gar nichts, und doch so viel. „Ich heiße Bernhard mit Vornamen,“ hatte er erzählt und die warme Decke sorglich um die schlanke Mädchengestalt gelegt.

„Bernhard Bernardi, das klingt, wunderschön,“ dachte Else.

„Ihre Frau Cousine ist doch die Vorsehung selbst für unsere Geselligkeit,“ plauderte er weiter. „Denken Sie, wo sollten wir heute Abend tanzen, wenn nicht in der Halle auf der Burg? Charmante Leute, wahrhaftig!“

„Wo ist Annie Cramm eigentlich? Wer fährt sie?“ fragte Else.

Er lachte, daß die weißen Zähne unter dem schwarzen Bärtchen blitzten.

„Fähnrich Herbart ist dazu commandirt worden.“

„O wie abscheulich! Annie ist so gut.“

„Gut? Ist das Alles? Das ist wenig.“

„Das ist viel, mein Herr,“ sagte das junge Mädchen mit vollster Ernsthaftigkeit in den braunen Kinderaugen.

Er mußte sie immerfort ansehen; er kannte jeden Zug dieses reinen, frischen Gesichtes, und es war doch eigentlich famos, so zu fahren neben dem lieblichen Geschöpf, das so anders war, als die Andern, so – so – er wußte selbst nicht das rechte Wort – so treuherzig, so zum Küssen verständig, so echt weiblich in ihrem ganzen Wesen. Und er dachte, während seine Blicke unverwandt an ihr hingen, des Elternhauses und seiner Mutter, und dann stand er plötzlich in der altmodischen Wohnstube daheim, und neben ihm – stand sie –.

(Fortsetzung folgt.)




Der Schutz vor der Unkenntniß der Gesetze.

Eine strafrechtliche Studie von Fr. Helbig.
Unkenntniß der Gesetze schützt den Thäter nicht vor Strafe und Schaden. – Nothwehr und Selbsthülfe. – Das Zurückziehen des Strafantrags. – Widerstand gegen Beamte. – Hausfriedensbruch. – Bedrohung mit einem Verbrechen. – Nöthigung und Erpressung. – Der Funddiebstahl. – Unterschlagung. – Diebstahl und Hehlerei.

Die wachsende Complicirtheit unserer Lebensverhältnisse führt zugleich eine Vermehrung der Gesetze herbei, wobei die Raschheit der gesellschaftlichen Fortentwickelung die Gesetzgebung oft überholt, denn Recht und Gesetz werden erst von den Verhältnissen erzeugt; sie liegen lange vor ihrer Existenz schon gewissermaßen in der Luft. Daher kommt es wohl, daß die bestehenden rechtlichen Formeln und Begriffe für manche neue Erscheinungen nicht mehr ausreichen.

Das ist ganz besonders auch der Fall auf dem Gebiete des Strafrechts. Der immer mehr erschwerte Kampf um das Dasein erzeugt heutzutage ein solches Raffinement in Auffindung der Erwerbsmittel, daß es oft schwer ist, die Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem aufzufinden. Daher der Ruf nach neuen klärenden Gesetzen! So darf man sagen, daß mit der Steigerung der Cultur auch immer eine Steigerung des Umfangs der Strafgesetzbücher eintritt. Wir sind über die zehn Gebote Mosis bereits längst hinaus; denn obwohl sie gewissermaßen den Moralcodex unserer Schulzeit bilden, würden wir mit ihnen doch im Leben nicht mehr weit kommen.

Die Paragraphen unseres Reichsstrafgesetzbuches sind heute für den Laien kaum noch zu überblicken, aber gleichwohl hält man heute, wie zu allen Zeiten, an dem Grundsatze fest, daß die Unkenntniß der Gesetze den Thäter nicht vor Strafe und Schaden zu schützen vermag – und mit vollem Rechte. Die Nothwendigkeit dieses Grundsatzes leuchtet von selbst ein; denn ohne ihn würde die Wirksamkeit der Gesetze lahm gelegt werden, die Regierungsgewalt selbst allen Boden unter sich verlieren.

Im Allgemeinen wird uns nun zwar das dem gesitteten Menschen innewohnende Gefühl für Recht und Unrecht vor einem groben Conflict mit dem Strafgesetzbuche bewahren, aber dennoch kommen Fälle genug vor, in welchen brave und unbescholtene Leute aus Unkenntniß der einzelnen Specialbestimmungen wider das Strafgesetz sündigen.

Wie soll sich da der Laie helfen? Wir wollen versuchen, dieses wichtige Thema wenigstens in seinen Hauptgesichtspunkten etwas zu beleuchten.

Das Mittel, an welches der Laie zunächst denkt, die Einholung der Ansicht eines Rechtsverständigen, kann Niemand vor den Folgen seines darauf gegründetem Handelns schützen, sofern der eingeholte Rath falsch oder falsch aufgefaßt ist. Ist doch selbst die hohe Polizei, außer in Fällen, wo es ihr besonders gestattet ist, nicht im Stande, etwas zu erlauben, was das Gesetz bestraft.

Nur der Irrthum in Betreff von Thatsachen kann unter Umständen zur Entschuldigung dienen, sofern Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen. So kann Jemand nicht der Widersetzung gegen die öffentliche Autorität für schuldig erachtet werden, wenn ihm die Beamteneigenschaft der Person, gegen welche er Widerstand ausübte, nicht bekannt war; er kann ferner nicht der Doppelehe beschuldigt werden, wenn ihm die Verheirathung des Andern unbekannt geblieben war. Dagegen schließt der Umstand die Strafbarkeit nicht aus, daß Jemand irrthümlich seine That gegen ein anderes Object richtet, als er eigentlich wollte, z. B. eine Person körperlich verletzt, die er irrthümlich für diejenige hält, an welcher er Rache nehmen will.

Nur die irrige Annahme über die Zuständigkeit von Rechten, die ihren Grund im Civilrecht haben, kann die Annahme eines verbrecherischen Willens möglicher Weise beseitigen. Man nimmt dann an, der Thäter habe in dem guten Glauben gehandelt, recht zu thun. So, wenn Jemand auf Grund eines abgeschlossenen Kaufvertrages die gekauften, aber noch nicht übergebenen Sachen dem Verkäufer wegnimmt in der irrigen Annahme, daß es nicht erst der Uebergabe bedürfe, damit die Sachen ihm gehörten; so ferner, wenn Jemand eine fremde Sache verkauft, weil er sie für seine eigene hielt und den Umständen nach auch halten konnte.

Straflosigkeit liegt auch vor, wenn ich im Zustande der Nothwehr ein Verbrechen begehe. Meistens wird aber der Umfang der Nothwehr überschätzt. Man meint da wohl, man könne Jeden, der zur Nachtzeit in unsere Behausung sich einschleicht, ohne Weiteres über den Haufen schießen oder einem Diebe, der Reißaus nimmt, getrost eine Ladung Schrot in den Rücken jagen. Die Nothwehr kennzeichnet sich aber nur als die Vertheidigung gegen einen gegenwärtig drohenden Angriff und darf daher nur insoweit eine angreifende sein, als die Abwendung dieses Angriffs es erfordert. Eine Ueberschreitung der Grenzen der bloßen Vertheidigung soll nur dann entschuldigt werden, wenn sie aus Bestürzung oder aus Schrecken erfolgte.

Auch über das Recht der Selbsthülfe bestehen oft unklare Ansichten. Frühere Strafgesetzbücher erklärten dieselbe überhaupt als verboten. Das Reichsstrafgesetzbuch hat sie zwar nicht unter die Zahl der strafbaren Handlungen aufgenommen, sie kann jedoch in ihrer Ausübung sehr leicht das verbrecherische Gebiet streifen, namentlich kann sie, sobald sich mit ihr eine Gewalt oder Drohung verbindet, zu einer strafbaren Nöthigung werden. Dies macht ihre Ausübung stets bedenklich und gefährlich.

Eine Anzahl Vergehen setzen einen Strafantrag des Verletzten voraus, bevor sie vor das Forum des Gerichts gelangen können. Ich kann also die mir drohende Gefahr einer Verurtheilung dadurch abwenden, daß ich den Antragsberechtigten rechtzeitig bestimme, einen Strafantrag nicht zu stellen. Ist der Strafantrag aber einmal gestellt, so kann derselbe nicht wieder zurückgenommen werden außer in den Fällen der Beleidigung, des Nahrungsmitteldiebstahls, sowie einiger anderer Vergehen, meistens solcher, wo die Verletzten Angehörige des Thäters sind. Früher war die Zahl dieser Antragsvergehen eine weit größere, durch das Nachtragsgesetz zum Strafgesetzbuchs vom 26. Februar 1876 aber ist

[77]

Auf einer alten Landesstraße in den Alpen.
Originalzeichnung von Wilh. Räuber.

[78] ihre Zahl erheblich abgemindert und das Recht der Rücknahme des Strafantrags in dem angegebenen Maße eingeschränkt worden. Zu ihnen zählen unter Anderem noch der einfache (ohne Waffen oder in Gemeinschaft begangene) Hausfriedensbruch, die einfache leichte Körperverletzung, der von unseren Angehörigen, Lehrlingen und Dienstboten uns zugefügte Diebstahl, in den beiden letzten Fällen aber nur bei unbedeutendem Werthe des Gestohlenen, die Verletzung des Briefgeheimnisses und die private Sachbeschädigung.

Berühren wir nun einige specielle Vergehen, zu welchen der Laie sich nach den Erfahrungen der Praxis aus den bereits oben angedeuteten Gründen leicht verführen läßt! Natürlich kann dies nur kurz und flüchtig geschehen.

Persönliches Freiheits- und falsches Rechtsgefühl haben schon Manchen verleitet, einen in der Ausübung seines Amts befindlichen Beamten, sobald derselbe namentlich Gewalt gegen Personen oder Sachen dabei ausübte, durch Widerstand strafbar zu hindern. Die Strafbarkeit des Widerstandes setzt nun zwar voraus, daß der Beamte in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes sich befindet, und ich brauche seiner Arretur nicht zu folgen, wenn er kein Recht hat mich zu arretiren. Allein die Beurtheilung dieser Dinge bleibt für den Laien immerhin eine schwierige, und namentlich steht in dieser Beziehung unseren Polizei-Organen eine ziemlich weitgehende Befugniß zur Seite.

„Gensd’armen und Polizeibeamte,“ sagt deshalb ein berühmter Commentator unseres Reichsstrafgesetzbuches, „befinden sich stets in der Ausübung ihrer Functionen.“ Selbst ein Uebergriff macht ihr sonstiges rechtmäßiges Handeln nicht zu einem unrechtmäßigen.

Ein Vergehen sehr sensibler Natur ist ferner der Hausfriedensbruch. Unter den germanischen Völkern hat das umfriedete Besitzthum immer einen besonderen Schutz genossen. Haus und Burg hatten ihren besonderen „Frieden“, und eine Brechung dieses Friedens war eine schwere Kränkung. Das Recht ist geblieben, obwohl der Besitz einer Familie mit dem eines Hauses schon längst nicht mehr zusammenfällt. Auch der Miether ist zum Hausherrn geworden, dem gegenüber sogar der eigentliche Herr des Hauses während der Dauer der Miethe das Recht verloren hat, den vermietheten Theil des Hauses gegen den Willen des Miethers zu betreten. Nun ist zwar das einfache Betreten der Wohnung noch nicht strafbar, es muß vielmehr ein widerrechtliches Eindringen damit verbunden sein, dasselbe ist aber schon dann vorhanden, wenn der Eintritt gegen den Willen und Widerspruch des Inhabers der Wohn- oder der Geschäftsräume oder des sonstigen befriedigten Besitzthums erfolgte. Dieser Widerspruch braucht kein ausdrücklich erklärter zu sein; er kann sich auch in Handlungen äußern, wie das Abschließen der Räume (das Umdrehen des Schlüssels), durch die Bekanntgabe der Nothwendigkeit einer vorherigen Anmeldung und Aehnliches. Nur muß dieser Wille für den Eintretenden erkennbar sein. Bin ich dann mit dem Willen des Wohnungsinhabers eingetreten, so kann der letztere mich doch in jedem Augenblicke auffordern, seine Wohnung zu verlassen, und dieser Aufforderung darf ich keinen Widerspruch entgegensetzen, sofern ich nicht eine besondere Befugniß habe, länger zu verweilen. Eine solche Aufforderung liegt z. B. in der Erklärung des Wirthes an seine Gäste, es sei Feierabend. Ueberhaupt erwirkt der, welcher als Gast ein öffentliches Wirthslocal betritt, damit noch keineswegs das Recht, nach eigner Willkür dort zu verweilen. Der Wirth kann die Aufnahme verweigern oder beschränken, soweit er sich nicht durch übernommene Beköstigung oder sonst gebunden hat. Der Vermiether hat nicht das Recht, nach Kündigung der Miethe das Miethlogis zum Zwecke der Wiedervermiethung zu betreten. Ebenso wenig darf der Gläubiger zum Zwecke der Mahnung in die Wohnung des Schuldners gegen dessen Willen eindringen oder dort verweilen.

Ein im Zustande der Erregung besonders unter Leuten von geringerer Bildung oft begangenes Vergehen ist das der Bedrohnung mit einem Verbrechen. Wie oft hört man in jenen Kreisen die Aeußerung des Einen zum Andern: „Ich schlage dich todt“ u. dergl. Der Ausdruck ist vielfach nur eine Uebertreibung; er ist oft gar nicht so ernst gemeint, aber er ist doch an sich geeignet, den Rechtsfrieden dessen, gegen den er sich richtet, zu stören. Das allein genügt, die Drohung strafbar zu machen.

Ein verwandtes Vergehen ist ferner die Nöthigung, welche darin besteht, daß Jemand widerrechtlich einen Andern durch Gewalt oder durch Bedrohung dazu zwingt, etwas zu thun, zu dulden oder zu unterlassen. Daß ich vielleicht ein Recht auf die Handlung selbst habe, giebt mir noch nicht das Recht, diese auf die gedachte Weise zu erzwingen. In einer der neueren reichsgerichtlichen Entscheidungen wird der Fall behandelt, daß ein Waldbesitzer den bei einer forstwidrigen Handlung ertappten Personen zuruft: „Steht, oder ich gebe Feuer!“ und sie dazu veranlaßt, stehen zu bleiben und ihr Fuhrwerk anzuhalten. Das ist eine strafbare Nöthigung; denn wenn der Waldeigner auch das Pfändungsrecht oder das Recht, der vorläufigen Festnahme hat, so hat er doch nicht das Recht, dabei eine Waffe zu gebrauchen. Sein Zwang war daher ein rechtswidriger. Ebenso strafbar macht sich der Vermiether, der nach Ablauf der Miethe den Miether und dessen Sachen gewaltsam, z. B. durch Herausnahme der Thüren und Fenster entfernt. Wird mit dem Zwang ein widerrechtlicher Vermögensvortheil bezweckt, so geht dies über in die härter bestrafte Erpressung. So ist die Drohung mit Anzeige wegen eines von Jemand begangenen Verbrechens, um dadurch einen Gewinn zu erzielen, strafbar, auch wenn der Andere das Verbrechen wirklich beging; denn der dadurch erlangte Vortheil ist ein widerrechtlicher. Drohe ich meinem Schuldner mit Erhebung einer Klage, um ihn dadurch zur Zahlung zu nöthigen, so ist das natürlich nicht strafbar; suche ich aber durch die Drohung mir weitere Vortheile, als wozu ich berechtigt bin, zu verschaffen, so ist das Darüberhinaus erpreßt. Sucht Jemand die Zahlung einer Schuld. von einem Dritten, z. B. vom Vater des Schuldners, durch Drohung zu erlangen, so ist dies nach einer reichsgerichtlichen Entscheidung wenigstens dann eine Erpressung, wenn der Gläubiger damit besondere Vermögensvortheile erlangt, z. B. bei der Insolvenz des Schuldners.

Vielfach gefehlt wird im Publicum in der Behandlung gefundener Sachen. Der Funddiebstahl bildet jetzt kein besonderes Vergehen mehr, aber gleichwohl ist es dem Finder nicht gestattet, über eine gefundene Sache zu verfügen, sie sich zuzueignen. Das wäre Unterschlagung, und zwar auch dann noch, wenn der Finder den Fund veröffentlichte.

Was die Unterschlagung selbst anlangt, so ist zu bemerken, daß der nachträgliche Ersatz der unterschlagenen Sache die Strafbarkeit nicht aufhebt, sondern nur mindern kann. Auch eine Gegenforderung an den Empfänger erlaubt die Zueignung empfangener Gelder nur dann, wenn die Forderung aus dem Geschäft, vermöge dessen jener die Gelder empfing, herstammt. Bei Geldern, die jemand in amtlicher Eigenschaft empfing, wird, nach einem Urtheile des Reichsgerichts, die Unterschlagung auch dann begangen, wenn er die zu seinem Nutzen verwandten Gelder im Stande war, augenblicklich zu ersetzen. Er darf darüber nur zum Zwecke der Umwechselung in gleichartige Münzsorten verfügen.

In Betreff des Diebstahls besteht häufig die falsche Annahme, daß eine Forderung berechtige, zu deren Befriedigung eine Sache aus dem Besitze des Schuldners heimlich wegzunehmen. In einem Falle der reichsgerichtlichen Rechtsprechung hatte ein Gläubiger der D.’schen Concursmasse einen zu dieser gehörigen Wagen in der Nacht aus dem Hause des D. heimlich weggenommen, um sich für seine Forderung an den Gantschuldner, mit welcher er im Concurse nicht zur Befriedigung zu kommen fürchtete, zu decken. Dies erinnert uns an den Fall, welchen der selige Mittermeier in jedem Sommersemester seinen Zuhörern zur Beurtheilung vorlegte. Danach hatte ein Engländer, der vergeblich um ein in der Gemäldegallerie zu L. befindliches Bild gefeilscht hatte, zuletzt dasselbe heimlich in der Nacht wegnehmen lassen, aber eine den Werth des Bildes weit übersteigende Geldsumme an der Stelle, wo es hing, deponirt. Die Aneignung war in beiden Fällen eine widerrechtliche. Alle Merkmale des Diebstahls sind hier vorhanden.

Hieran schließen wir die Mahnung zur Vorsicht, welche der Ankauf von Sachen, welche uns fremde Personen anbieten, erheischt. Stellt sich später heraus, daß diese Sachen durch irgend eine verbrecherische Handlung erworben sind, so kann der Ankäufer leicht in den Verdacht der Hehlerei kommen; denn eine solche wird nicht blos dadurch begründet, daß man wirklich weiß, daß die Sachen unredlich erworben wurden, sondern auch schon dadurch, daß man dies den Umständen nach hätte annehmen müssen. Allerdings muß man dabei einen Vortheil im Auge haben, aber es ist nicht nöthig, daß derselbe blos darin besteht, daß man billiger kauft, obwohl dies gerade ein besonderes Verdachtsmoment bildet.

(Schluß folgt.)

[79]

Cosenza und das Busentothal.

Im Herzen Calabriens.

Landschaftliche Studie von Woldemar Kaden.0 Mit Illustrationen von Paul Müller.


Die schöne grüne Basilicata mit ihren Eichenwäldern, rauschenden Bächen, freundlichen Ortschaften inmitten grünender Felder lag bereits hinter mir; einige Stunden noch und ich befand mich auf calabrischem Gebiete. Die mondhelle warme Sommernacht lud zur Fortsetzung der Reise ein.

Schweigsam ritten wir durch eine baumlose Wüstenei von Hügeln, Bergen, Schluchten und Thälern, dann über breite Hochebenen hin, die sich unter dem unbestimmten Lichte des Mondes in’s Unendliche zu dehnen schienen. Aus weiter Ferne, bald aus dem Thal, bald von der Höhe schimmerten einzelne Lichter, glänzte ein Hirtenfeuer; ganz in silbernen Duft gehüllt, von zarten Nebelwölkchen umflogen, stieg vor uns in stiller Majestät der gewaltige Monte Pollino empor, das Haupt der ersten Gruppe des calabrischen Apennins, gekrönt von einem Kranz hellleuchtender Sterne.

Keiner lebenden Person waren wir bisher begegnet, da, mitten in der Einsamkeit, stießen wir auf einen Trupp von etwa zehn Männern; sie hatten am Wegrande gesessen und standen bei unserer Annäherung auf. Räuber? ... Das helle Licht des süditalischen Mondes glänzte auf den Aexten, die sie im Gürtel, und auf den Läufen der Flinten, die sie über den Schultern trugen, und ließ ihre Gesichtszüge auf’s Deutlichste erkennen: braune, verwetterte, bartumbuschte Gesichter mit pechschwarzen Augen; den verwilderten Haarwald krönte, ich sah ihn hier zum ersten Mal, der bekannte famose Spitzhut, der Brigantenhut, wie wir ihn aus „Fra Diavolo“ kennen. Schwarze Sammetbänder, die über die schmale Krämpe in einem dicken Wust auf die linke Schulter herabfallen, zieren in hundert Windungen seinen kecken Kegel. Räuber? Nein, es waren friedliche gutmüthige Holzhacker, die aus Calabrien zur Arbeit herüberkamen. Sie boten uns freundlich eine felicissima und santa notte, bettelten schüchtern um eine Cigarre und setzten ihren Weg fort.

Aber die Säulen, die rechts und links am Weg stehen, um deren Bedeutung ich meinen Gefährten fragte, trugen durch lange Jahrzehnte Capitäle aus Räuberköpfen zur Abschreckung und unzählige Schädel sollen an ihrem Fuße eingescharrt liegen. Unsere nächtliche Unterhaltung drehte sich nun um den Brigantaggio, wie es sich gehört beim Eintritt in Calabrien, seine alte eigentliche Heimath, und der dämmernde Morgen ließ das Gruseln nicht gar zu arg werden. Bald auch wurde es lebendiger auf der Straße. Wir geriethen in eine Heerde von Büffeln hinein, deren Hirten die Ungebändigten mit dicken Keulen in Ordnung hielten. Es waren echte verwilderte Räubergestalten, und Trotz und Kühnheit sprachen aus ihren Zügen.

So wilde Gesichter diese Männer zeigten, ein um so freundlicheres zeigte uns die Landschaft, eine Campagna, wie sie reicher und heerlicher nicht gedacht werden kann.

Aber nur kurze Zeit dauerte diese grüne Pracht; sie verschwand hinter uns und verging wie eine Fata Morgana: die Küste that sich auf. So erreichten wir Oria, einst Sybaris genannt. Ja, Sybaris! Dieser Boden hier trug einst die mächtige Stadt, welche 100,000 Streiter ausrüstete, welche vier Nachbarvölker unterworfen hatte und von fünfundzwanzig tributaren Städten umgeben war. Alle Bedingungen für eine Welthauptstadt des Alterthums, hier waren sie erfüllt: mehrere Quadratmeilen fruchtbarster Ebene, im Norden der Apennin, im Süden die reichbewaldete, dem Schiffsbau dienende Sila, im Westen das schöne Plateau von Thurii, im Osten das an’s Mutterland anknüpfende Jonische Meer ....

Und heute? Die Ebene vor uns ist ein fieberathmendes Sumpfland, vollständig unbewohnt, nur Büffeln, Wölfen, Füchsen, Enten und anderem Wassergevögel zur Heimath dienend, höchstens von Jägern und verwilderten Hirten durchschweift.

Straße in Cosenza.

Im Alterthume ernährte dieser Boden eine Million Menschen und Sybaris bedeutet Ueberfluß. Wer kennt nicht die Schilderungen jener üppigen Feste, die hier abgehalten wurden, da der Sybarit Smyndirides mit tausend Dienern, vielen Fischern, Vogelstellern und Köchen nach Sikyon reiste und Alles in Wohlgeruch schwamm?

Mit Sybaris ging das auf den calabrischen Küsten angesiedelte Großgriechenland unter, der zarte und verzärtelte Grieche vermochte den Völkerstürmen nicht zu trotzen, dazu bedurfte es zäherer Naturen, brauchte es Menschen, die aus dem festen Holze der Berge geschnitzt waren. Der Grieche verschwand, die Ureinwohner des Landes, die Bruttier blieben, sie sind die Bewohner des heutigen Calabriens.

Wir stehen an den Ufern des Crati, der hier zwischen der Punta del Triente und dem Cap Roseto in’s Jonische Meer tritt. Er kommt weit her, aus dem Herzen Calabriens, vom Silawalde herab an Cosenza vorüber und bildet das verrufene Val di Crati, das Cratithal, das wir durchwandern, um nach der Hauptstadt des Landes, Cosenza, zu gelangen.

Der Crati ist heute ein recht freudeloser Fluß, und das Thal, das er durchschleicht, ist traurig und öde. Ein dichter Schilfwald, in welchem der Büffel wohnt, füllt es in der Mitte, träge läuft der Fluß an diesem dahin. Sein Wasser wird immer trüber, je mehr es der Mündung naht, und ist so dick, daß immer eine runzelige, metallisch gefärbte Haut, die sich in dicken Falten zusammenschiebt, darauf schwimmt. Immer mehr in die Breite geht er, fast jedes Jahr wechselt er sein Bett, und an der Mündung [80] ist er so schwach, daß er das Meer kaum erreichen kann. Ein Ort des Todes ist dieses Mündungsland: Blumen, Bäume, Vögel und alle Thiere fliehen es, dem Menschen haucht es Tod in seiner Malaria.

Bei Tarsia, dem wohl elendesten Dorfe Italiens, tritt man in das Val di Crati ein, das gänzlich unbewohnt ist. Kein einziger Ort hat gewagt, von der Höhe auf die Thalsohle herabzusteigen, eine Erscheinung, der man durch ganz Calabrien begegnet. Und die Orte auf den Bergen sind, was wir im Deutschen mit dem Namen „Nester“ bezeichnen: ungeordnete, liederlich zusammengewürfelte Häusergruppen.

Was die einzelnen Häuser jener Ortschaften betrifft, so sind sie fast alle ohne irgend einen architektonischen Reiz, sind plumpe, meist fensterlose Steinklumpen. Eine Mistpfütze steht vor dem Eingange, eine andere hinter dem Ausgange. In dem einzigen Zimmer oder Raume sehen wir rechts den abgetriebenen Esel, der gedankenvoll an seinem Heu nagt, links einen feuerlosen Feuerherd ohne Kessel, in dessen Aschehaufen eine dürre Katze freudelos zusammengekauert liegt. Nach vorn ein Fensterloch ohne Kreuz und Scheiben, auf dessen Sims ein paar ungewaschene Töpfe und Schüsseln stehen, höchstens ein blühender Nelkenstrauß als Zier dabei. Im Hintergrunde das mistduftende Familienstrohlager, unter diesem ein Trog, am Troge ein Schwein in Gesellschaft von ein paar Hähnen, Hennen und Hühnchen.

In jenem armseligen Strohbett über dem Schweintrog und Hühnerkorb wird der Calabrese der arbeitenden Classe, also des Landvolkes geboren, dort liegt er neben Vater und Mutter, bis der zweite Nachfolger das Licht der Welt erblickt, der ihn an den äußersten Rand zu Füßen drängt. Der dritte kommt und – er fällt nun aus dem Bett auf die harte Banklade am Herde. Jetzt steht er vielleicht im sechsten Jahre und ihm wird ein Amt: mit hochgeschwungenem Knittel trabt er hinter dem Esel, den Schafen oder Schweinen her, schneidet sich Pfeifen und schläft in der Sommernacht nicht mehr im Hause, sondern im leichten Strohzelt des Esels oder der Schafe. Mit neun Jahren giebt ihm der Vater die Hacke in die Hand, den Korb auf den Rücken: er muß hinaus auf’s Feld und Geld verdienen. Von der Schule ist natürlich keine Rede. So wird er ein armes, immer halbhungeriges Lastthier, denn der Lohn ist äußerst gering. Sein Sehnen ist jetzt eine Flinte und – ein Bett, was gleichbedeutend mit einer Heirath ist, denn das ärmste Mädchen, das weiß er genau, muß ihm wenigstens ein Bett zubringen. Und nun übt sich der arme Teufel im Singen von Liebesliedern, die Stimme ist rauh, aber die Lust ist groß und der Text ist von einer Zartheit und Innigkeit, wie sie unseren Kunstpoeten längst abhanden gekommen ist. Ich kann mir unmöglich versagen, eines dieser Lieder hier wiederzugeben; ich habe es in der Stadt Cosenza aufgeschrieben, wo es von einem Bauernburschen aus den Casali gesungen wurde.

Mündung des Busento in den Crati unterhalb des Hügels von
San Francesco da Paola (Alarich’s Begräbnißstätte).

„Der Mond ist bleich und bräunlich, Lieb, bist du,
Er trägt das Silber und du trägst das Gold.
Der Mond nimmt ab, du nimmst an Schönheit zu,
Er wird verfinstert, du bist immer hold.
Der Mond ist kalt, du bleibst die Gluthenquelle,
Sein Licht verschwindet, deins glänzt ewig helle.
So schön er ist, du übertriffst ihn noch,
Und süßer klingt dein holder Name doch.“

Wenn man diese robusten braunen, ungekämmten Burschen sieht, so wundert man sich, da sie doch nicht schreiben und lesen können, woher sie diese reichen poesievollen Verse nehmen; würden wir sie fragen, wir bekämen keine Antwort, oder die gleiche, die uns die wilden Waldvögel geben würden, sollten wir sie um den Quell ihrer Lieder befragen. – –

Die Höhen, die das Cratithal zur Rechten und Linken begleiteten, waren bebaut, es war die Zeit der Ernte, aber wie wenige Arme dienten ihr und wie mißmuthig ging das Alles von statten! In den Niederungen wurde hier und da gedroschen, aber in ganz prähistorischer Weise: Maulthiere, Esel, Pferde wurden über das am Boden ausgebreitete Getreide getrieben, einige zogen schwere Steine oder Blöcke über dasselbe hin, eine halbe Arbeit. Erst gegen den Abschluß des Thales nahm die Landschaft ein freundlicheres Gesicht an, die Höhen belebten sich durch Tausende von Häusergruppen und Häuschen, welche die Hänge der Berge buchstäblich bedeckten, sodaß es aussah, als ob ungezählte Schafheerden im Grün weideten – das sind die berühmten Cosentiner Casali, die einen dichten Kranz um ihre alte Mutter Cosenza bilden.

Immer lebendiger wurde die Straße durch Gruppen von heimwärtsziehenden Bauern in bunten malerischen Costümen, durch Schaf- und Rinderheerden; freundlichere Häuser von gastlichem Aussehen, hier und da ein wohlgepflegtes Gärtchen unter Bäumen kündeten die Nähe der Stadt, ein holperiges Pflaster beginnt.

Wir sind in Cosenza, der Kreishauptstadt, einem Orte von etwa 25,000 Einwohnern. Kreishauptstadt – das will zunächst nicht viel sagen, und wer, nachdem er auf seiner Wanderung durch Apulien, Basilicata und Calabrien mancherlei Ungemach ausgestanden, meint, jetzt der städtischen Herrlichkeit im Schooße zu sitzen, der wird arg enttäuscht werden: er sieht eine Stadt wie andere mehr, das heißt wie andere italienische Städte der südlichen Provinzen.

Auch in Cosenza sind die Häuser voll architektonischer Unmöglichkeiten gebaut und die Straßen wie in absichtlicher Unzugänglichkeit angelegt und so eng, daß sie kaum ein Wagen befahren kann. Doch herrschte überall ein reges Leben und die zahlreichen Handwerker arbeiteten fleißig vor ihren Werkstätten, das Leben aber war das einer Landstadt, und die Leute trugen fast alle die bäuerliche Kleidung. Leider kann man fast keinen Schritt thun, ohne auf zahlreiche Spuren der Erdbeben zu stoßen, von denen Cosenza ohne Unterlaß heimgesucht wird. Ich will nur an die entsetzlichen Erdbeben von 1783 und 1854, durch welche Calabrien in eine Wüstenei verwandelt ward, und an das vom 4. October 1870 erinnern, wo man in dieser Provinz allein 1600 total zerstörte [81] Häuser zählte. Dabei muß es Einen Wunder nehmen, daß die Häuser so unendlich hoch gebaut sind, doch hat das seinen guten Grund in einer andern Landplage Cosenzas: der Malaria, der Fieberluft. Viele Hunderte von Leuten liefen herum, denen nur zu deutlich das Fieber auf dem Nacken saß. Ein schmerzlich düsterer Anblick ist es, diese Menschen zu sehen: sie haben eine lehmgelbe Haut, einen durch Anschwellungen der Milz und der Leber aufgetriebenen Leib, bleiche Schleimhäute, wässeriges Blut, Beine und Füße dick geschwollen.

Frauentypen aus Calabrien.

Calabresische Landleute.

Ursache des Fiebers ist die Lage der Stadt, sind die Flüsse, die sie durchlaufen. Da ist zunächst der Crati. Gesund und frisch, ein schönes Gebirgskind, kommt er von der hohen Sila herab, von dem Berge Macchia Sacra, dem Heiligen Hain, nimmt unterwegs eine Menge Flüßchen und Bäche auf, erreicht aber Cosenza schon trägen Laufes. – Ich mußte lächeln, als man mir sagte, daß ihm die Alten die Eigenschaft beimaßen, die Haare gelb zu färben, denn das könnte, wenn ich das abscheulich semmelblonde, in seinem geröllreichen Bette in trüben Pfützen stagnirende Wasser sah, füglich noch heute geschehen; doch behauptet das Volk, daß er auch Goldsand führe. Der andere Fluß, uns von der Schule her, wo wir das Platensche Gedicht „Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder“ auswendig lernten, bekannt, ist der historische Busento (nicht zu verwechseln mit dem in den Golf von Taranto mündenden Basento). Dieser hat seine Quellen auf dem Berge Santa Lucerna und auf dem Monte Cocuzzo, läuft ebenfalls gegen Cosenza, umgeht den Monte Pancrazio und vereinigt sich in dem Stadtviertel der „Rivocati“ unterhalb des Hügels von San Francesco da Paola mit dem Crati. Hier ist der Ort, der den Geschichtsforscher interessirt, denn hier wurde Alarich, der jugendlich-schöne Gothenkönig, mit all seinen Schätzen begraben, hier hatte man die Sclaven, die am Werke thätig gewesen, ermordet. Cosenza hatte bei Annäherung der kriegerischen Schaaren beschlossen, sich bis auf den letzten Tropfen Blut zu vertheidigen. Mauern und Thore waren befestigt, die Straßen verbarricadirt, die Häuser mit Brennstoff gefüllt worden. Gegen 3000 Bewaffnete waren in der Stadt und Umgegend zusammengeströmt. Alarich aber hatte Eile, nach Sicilien zu kommen, ließ sein Heer um die Hügel herummarschiren, sodaß Cosenza anfangs verschont blieb, fiel aber bei Cosenza dem Fieber zum Opfer. Heute, als ich auf der Brücke stand und auf das trockene Flußbett hinabsah, mußte ich lächeln, wenn ich mir Platen’s hochpoetische Worte ins Gedächtniß rief: „Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!“ Armer Alarich, dein Grab ist arg prosaisch!

Reicher und schöner als die Stadt Cosenza ist ihre Umgebung, ist sodann ihre Geschichte. In diese Umgebung zu schauen ist ein herzerfreuender Anblick: quellende grüne Fruchtbarkeit, reges Menschenleben auf allen Höhen. In dem Umkreise von drei, vier Stunden liegen gegen vierzig Städte und Dörfer, und dicht an die Stadt heran drängen sich, alle Höhen bedeckend, die nahe an hundert „Casali“, kleine freundliche, ackerbautreibende Dörfchen, von einem den echten alten Bruttiern entstammenden kräftig-gesunden Menschenschlage bewohnt. Ihre Entstehung verdanken sie der Noth, die Leute gingen aus der Stadt hinauf, da unten nicht mehr gut zu wohnen war. Zu Anfang des zehnten Jahrhunderts nämlich herrschten in Cosenza die Saracenen. Sie schalteten nach Gutdünken, vertheilten das bebaute Land unter ihre Soldaten und Veteranen und zwangen die Cosentiner, das Buschland zu cultiviren und außerdem Baumwolle, Papyrus, Maulbeerbäume und Manna-Eschen auzupflanzen. Die Kirchen wurden in Festungen verwandelt, ein großer Theil der Stadt niedergebrannt, ein großer Theil der Einwohner auch nach Afrika geführt. Wer sich flüchten konnte, ging aufs Gebirg, oder siedelte sich auf den Hängen der umliegenden Höhen an. Diese Einfälle der Saracenen wiederholten sich von Zeit zu Zeit und so blieben schließlich von 120,000 Einwohnern nur 6- oder 7000, welche die Stadt wohl oder übel wieder herstellten. Nicht mehr auf sieben Hügeln lag Cosenza (der Stolz der Cosentiner, die ihre Stadt gern mit Rom vergleichen), sondern drängte sich in wenig Sträßchen auf dem Monte Pancrazio zusammen. Den saracenischen Verwüstungen folgte das schreckliche Erdbeben von 1184, die kaum wieder zum Leben erwachte Stadt wurde ein Trümmerhaufen, unter dem die Hälfte der Einwohner erschlagen lag. Auch der alte Dom St. Pancrazio stürzte zusammen und begrub den Erzbischof mit vielen die Messe celebrirenden Priestern.

Dom in Cosenza.

1185 wurde der erste Stein zu dem neuen Dome gelegt an dem Orte, wo wir ihn heute noch sehen, und zur Weihe dieses neuen Domes, 30. Januar 1222, wurde der deutsche Kaiser Friedrich II. feierlichst eingeladen. Er kam, eingeholt von sämmtlichen Baronen des Val di Crati, das Cratithal herauf und wurde vom Volke mit unendlichem Jubel empfangen. Damals bestätigte der Kaiser alle alten Privilegien der Kirche. Dennoch war ihm Cosenza später durchaus feindlich gesinnt, und als sein aufrührerischer Sohn im Jahre 1242 nahe bei Cosenza in dem Silaflusse Saruto ertrank, [82] setzten die Cosentiner seinen Leichnam wie den eines Heiligen in dem Dome bei, und Manfred’s, des Sohnes Friedrich’s, Gebeine ließ der Erzbischof von Cosenza bei Benevento ausgraben und am Lixisflusse in alle Winde zerstreuen. Dennoch hatte die Sache der Hohenstaufen in Cosenza viele Anhänger, und der Papst zählte in Zukunft hier nur wenige Freunde. Seit 1340 wohnten auf den calabrischen Bergen, in Cosenza selbst und in den nahen Casali nicht wenige Waldenser, die hier Sicherheit und Frieden gesucht hatten. Diese gewannen nach Luther’s Auftreten in Deutschland ganz bedeutend an Macht und Ansehen, und der Lutherischen Lehre neigten sich viele der angesehensten Cosentiner Familien zu. So schickten denn die Waldenser Cosenzas Sendboten nach Genf zu Calvin, um „gewisseren Grund der neuen Lehre“ zu erfahren, und baten gleichzeitig um Lehrer. Diese kamen, mit ihnen aber auch der römische Schrecken. Ein entsetzliches Morden begann. Es genügt, zu erwähnen, daß der neue Glaube gründlich ausgerottet wurde, aber gleichzeitig füllten sich die Wälder mit Heimathlosen, die, da ihnen nichts Anderes übrig blieb, zum Räuberhandwerke griffen, und seit jener Zeit hat der Brigantaggio, der hauptsächlich einer ungebändigten Liebe zur Freiheit entsprang, nie mehr aufgehört und bildete bis vor zehn Jahren eine wahre Geißel des unglücklichen Landes.

Die Geschichte Cosenzas, welche starke Bände füllt, ist eine der interessantesten der Welt; ich habe hier nur unwesentliche Andeutungen machen können, doch zieht sich durch dieselbe als hellleuchtender Hauptgedanke die wärmste Vaterlandsliebe, die glühendste Liebe zur Freiheit, sie wirkte bestimmend auf das Handeln des Volkes, das trotz allen unsäglichen Elends, das ihm Menschen und Natur bereiteten, sich doch nicht zu Boden werfen ließ, sondern kräftig und entschlossen in die Zukunft sieht und eine schöne Zukunft mit Recht erhofft.

Als ich am Abende durch die Straßen der Stadt nach dem Hause des Gastfreundes zurückkehrte, erfreute ich mich der unzähligen reizenden Bilder des Friedens allüberall: heitere schwarzäugige Kindergesichter zwischen rothblühenden Nelken und buschigem Basilicum über die Treppenbrüstungen gelehnt, Gruppen von Maulthieren, Pferden und Eseln, von braunen kecken Burschen und stämmigen Männern, oft in das landesübliche Schaffell gekleidet, umstanden, spindeldrehende Frauen oder Mädchen, die mit großen Krügen von der Fontane kamen, eine Zigeunerbande malerisch hingelagert auf die breiten Treppenstufen der geschwärzten Taverna; die Schwalben flogen fröhlich zwitschernd um die Giebel der Häuser – nichts erinnerte mehr an die Ströme Blutes, die hier durch die Jahrhunderte geflossen waren.

Die Sonne sank hinter dem Schloßhügel hinab und tiefes Roth legte sich auf die ragenden Gipfel der majestätischen Sila. Abendroth! Mag es dem armen Lande einen schönen Tag verheißen!




Doctor Barnardo.


Als wir vor Kurzem den Artikel über den Knabenhort in München veröffentlichten, da konnten wir die freudige Thatsache wahrnehmen, daß eine ernste Mahnung an die Pflichten der Besitzenden und Gebildeten in unserem Volke nicht ohne Widerhall verklingt. An vielen Orten wurde der Wunsch rege, ähnliche Anstalten ins Leben zu rufen, und die Zuschriften, die uns zugegangen sind, lassen hoffen, daß dem Wunsch auch die That folgen wird. Wir haben aber dabei entdecken müssen, daß auch in den Herzen der Besten ein tückischer Feind wohnt, der das Gedeihen der guten Werke zu hintertreiben droht. Es ist der Kleinmuth, der Mangel an Selbstvertrauen, der angesichts der Größe unserer socialen Uebelstände daran zweifelt, daß die Arbeit eines einzelnen Mannes oder eines kleinen Vereins nennenswerthe Erfolge erzielen kann. Wir erachten es darum für unsere Pflicht, das Unzutreffende dieses Einwandes zu beleuchten, und geben zu diesem Zwecke das nachstehende Bild einer großartigen menschenfreundlichen Thätigkeit eines einzigen Mannes, der unter weit schwierigeren Umständen die wunderbarsten Erfolge erzielt hat.




Wir führen unsere Leser in die Proletarierviertel der Millionenstadt London ein, in welchen die Uebervölkerung und Arbeitslosigkeit ihre verderblichsten Früchte tragen. Das unheimliche Bild, welches sich hier unseren Augen darbietet, ist erst vor Kurzem unter dem Namen „Horrible London“ auch in Deutschland bekannt geworden, seitdem G. R. Sims in diese dunklen Winkel mit greller Fackel geleuchtet hat.

Hier lebt eine Masse erbärmlicher, halb verhungerter und verwahrloster Menschen in verfallenen Spelunken mit zerbrochenen Treppen, Fenstern, Dächern, im furchtbarsten Schmutze, hier schlafen und arbeiten die „Enterbten“ der Gesellschaft oft bis zu neun Personen in einem kleinen Raume zusammengedrängt, hier hausen die gemeinsten Verbrecher, welche ganze Gegenden so unsicher machen, daß es Straßen giebt, in welche kein Polizeidiener hineinzugehen wagt – er käme eben lebendig nicht wieder heraus!

Freilich beschränken sich diese Uebelstände nur auf einige Theile Londons, aber mit der Zunahme der Bevölkerung wächst die Zahl des Proletariats, und mit ihm schreitet die Verwilderung der Massen vorwärts. An ihrem Stumpfsinn und ihrer moralischen Versumpfung scheitert oft selbst die wohlorganisirte Hilfe der Staatsregierung und der Geistlichkeit, denn es ist fast unmöglich, diese „Elenden“ zu einem geordneten Lebenswandel zu bekehren.

Ist es unter solchen Umständen menschenmöglich, daß ein „Einzelner“ hier Hülfe bringe?

Und doch, doch! Es ist ein Einzelner! der greift helfend ein; der hat sich an die „Kinderwelt“ gemacht und rettet Hunderte und Tausende der kleinen hülflosen Unglücklichen aus den Klauen des Elends, des Hungers und des Verbrechens. Er, ein „Einzelner“, ist es, der die verlassenen Kinder sucht, aufnimmt, beschützt, kleidet, wärmt, ernährt, unterrichtet und sie bewahrt vor den Gefahren und Versuchungen der allerbittersten Noth, der sie erlöst von dem ansteckenden bösen Beispiele des Diebstahls, der Trunkenheit, der gröbsten Unsittlichkeit und sie mit wahrer Vaterliebe auf gute Wege führt.

Dieser Eine, dieser große und gute Mann ist Doctor Barnardo. Aehnlich wie zu seiner Zeit A. H. Francke, der nur im Gottvertrauen aus milden Beiträgen sein großes Waisenhaus in Halle zu Stande brachte, hat auch Dr. Barnardo keine Mühe für die Riesenarbeit gescheut, die er unternommen. Mit unermüdlicher Energie und Geduld weiß er seine Mitmenschen zu den nöthigen Beiträgen für seine kleine Schaar zu bewegen, denn Geld braucht er, viel Geld! Er nimmt sie auf, Knaben und Mädchen, gleichviel ob die Kindergesichter mit klaren Augen ein fröhliches Gedeihen versprechen, oder ob das Elend bereits Krankheit, Verkrüppelung, körperliche oder moralische Schäden hervorgebracht hat – er will sie Alle retten, Alle, so weit er kann. Und er wartet nicht, bis sie kommen und um Aufnahme bitten (was auch nicht selten geschieht), er sucht sie selbst zusammen aus den Spelunken der Sünde, der tiefsten Gesunkenheit; er sucht sie Nachts, oft bei Kälte und Regen, auf den Straßen und in allen möglichen Schlupfwinkeln, in welchen die gänzlich verlassenen Kleinen sich verkrochen haben, hinter Balken und Brettern, unter Böten, Brücken und Bänken, in Karren, Kohlenbehältern und den undenklichsten, verstecktesten Plätzchen. Da stecken oft mehrere zusammen, in kalten Nächten dicht an einander kauernd, um am Morgen, blau gefroren, ihr Tagewerk wieder aufzunehmen, das heißt sich ohne alle Hülfsmittel am Leben zu erhalten. Die Meisten folgen Dr. Barnardo gern, Viele haben schon von ihm gehört als einem rettenden Erlöser; aber manche der kleinen Burschen lieben ihr freies Bummelleben, besonders im Sommer, und fürchten die Disciplin einer „Anstalt“ so sehr, daß er auch noch die Mühe hat, ihnen die Scheu auszutreiben und sie zu ihrem Heile zu überreden. Jeder Fall wird sorgfältig untersucht, und da findet sich, daß die Mehrzahl der kleinen Dulder ihre Eltern gar nicht gekannt haben, „Dunno!“ (eine Zusammenziehung von „do not know“, ich weiß nicht!) ist die gewöhnlichste Antwort; oder es heißt: Vater todt, Mutter krank; oder: Vater im Gefängniß, Mutter eben gestorben etc., [83] immer das alte traurige Lied. Wer etwa noch Angehörige hat, ist von diesen fortgejagt, verlassen, oder bis zur Verzweiflung mißhandelt, auch wohl systematisch zum Betteln, Stehlen und allem Bösen angehalten worden.

Führt aber ihr guter Stern die Kleinen in die Hände des Dr. Barnardo, so ist ihnen geholfen, sie werden aus dem Schmutze erlöst, und ein neues Leben fängt an. Nun bekommen sie ein Bad, ein reinliches Bett, warme Kleider, regelmäßige Mahlzeiten; nun hören sie, was Recht und was Unrecht ist; hören von einem guten himmlischen Vater, sehen Ordnung, Reinlichkeit, gesittetes Betragen und Glück um sich her, lernen lesen, schreiben und so viel nützliche Dinge, daß sie sich später selbst helfen und brave, geachtete Menschen werden können.

Dies gelingt denn auch nahezu immer und ist der schönste Lohn für Dr. Barnardo’s harte, mühselige Arbeit. Die 5000 Kinder, die seit den letzten 17 Jahren durch seine Anstalten gegangen sind, hat er aus heranwachsenden Verbrechern großentheils zu nützlichen und guten Menschen umgewandelt.

Und wie wird dies schwere Werk ausgeführt? Außer den Schulanstalten, in welchen die Kleinen den ersten nöthigen Unterricht erhalten, hat Dr. Barnardo Arbeitshäuser, in denen die Knaben nützliche Handwerke lernen, fröhlich und fleißig schustern, schneidern, zimmern, buchbindern, Holz hacken, Körbe flechten, Besen und Bürsten binden, Blechsachen arbeiten, Sodawasser und Limonade bereiten und Vieles mehr. Da ist eine sogenannte Brigade für Botenlaufen in der Stadt, eine andere für Stiefelputzen etc. Das Geld, welches sie mit all diesen Arbeiten verdienen, hilft dann auch mit zur Erhaltung des Ganzen.

Für die Mädchen hat Dr. Barnardo ein eigenes Dörfchen in Ilford, Essex, eingerichtet; es besteht aus 30 ganz gleichen Häuschen, die ungemein freundlich, man möchte sagen „appetitlich“ aussehen. Jedes Häuschen wird von 20 Mädchen bewohnt, über welche eine „Mutter“ gesetzt ist, die sie nähen, waschen, bügeln, kochen, backen, scheuern etc. lehrt und sie zu guten Dienstmädchen erzieht. Diese Mädchen verrichten, sobald sie alt genug sind, wie auch die Knaben, alle Dienste im Hause, sodaß keine weiteren Dienstboten nöthig sind.

Für die Kranken und Gebrechlichen unterhält Dr. Barnardo ein besonderes Krankenhaus mit Medicin, ärztlicher Hülfe, richtiger Pflege und trostreichem religiösen Zuspruche.

Für die allerkleinsten Kinder ist ein Landhaus auf der Insel Jersey eingerichtet, wo sie unter sorgfältiger Aufsicht und Pflege heranwachsen, bis zur Schulzeit. Kürzlich hat Barnardo sich auch entschlossen, richtige „babies“, wenn auch erst wenige Wochen alt, anzunehmen, und hat diese in dem oben erwähnten Mädchendorf untergebracht, wo sie einer solchen „Mutter“ übergeben worden sind. Dadurch ist erst ein wahres Familienleben hergestellt worden.

Außerdem leitet Dr. Barnardo noch Sonntagsschulen für besondere Zwecke, Missionen für arme Fabrikmädchen, ein gegen die Trunksucht errichtetes Kaffeehaus (sogenannten Kaffeepalast) und vieles Andere mehr, sodaß jetzt zweiundzwanzig verschiedene Institute unter seiner Leitung stehen.

Dazu führt er jeden Sommer seine Schaar einen Tag auf’s Land. Nur wer in London lebt, kann fühlen, was für ein ersehntes Fest das für Kinder ist, und mit unbeschreiblichem Entzücken sprechen seine etwa 2400 Pfleglinge lange vorher und lange nachher davon.

Sehr wichtig ist ferner die von ihm betriebene Emigration des jungen Völkchens. Von den größern, so zu sagen „fertigen“ Kindern, deren sittlicher Charakter, Körperstärke, Handfertigkeit und sonstige Eigenschaften sie zum Auswandern geeignet erscheinen lassen, werden sorgfältig die passendsten ausgewählt und von Zeit zu Zeit in Abtheilungen von 80 bis 100 unter zuverlässiger Aussicht nach Canada, Australien oder Südafrika geschickt, und dort suchen befreundete Personen für jedes Kind ein passendes Unterkommen. Dies ist durchaus nicht schwer, und die Berichte, welche später über die einzelnen Pfleglinge eingehen, lauten größtentheils äußerst befriedigend.

Bei einer solchen Auswanderung ist für jedes Kind die Summe von 10 Pfund Sterling nöthig, und die Zahl der kleinen Emigranten, Knaben und Mädchen, belief sich im letzten Jahre auf 300. Dies sowohl, wie die Aufgabe, täglich dreimal 1400 Mäulchen zu füttern, und die Ausgaben für alle die verschiedenen Anstalten erfordern natürlich Geld, Geld und wieder Geld; wie wir hören, sind circa 100 Pfund Sterling (2000 Mark) jeden Tag nöthig, und es ist keine Kleinigkeit, eine solche Summe 365 Mal im Jahre herbeizuschaffen.

Ein hübsches Theilchen davon verdient das junge Volk selbst. Aus einem Bericht des Dr. Barnardo geht hervor, daß z. B. die drei Abtheilungen der Holzhacker, Schuhputzer und Botenläufer allein im letzten Jahre 4279 Pfund Sterling verdient und abgeliefert haben. Sodann wird jährlich ein Bazar gehalten, der auch eine gute Summe einbringt. Da werden nicht nur die Arbeiten der Kinder, sondern auch die geschenkten Beiträge verkauft, welche oft eine recht wunderliche Zusammenstellung ergeben, denn außer solchen Geschenken, die man gleich als nützlich erkennt, wie Kleidungsstücke, Lebensmittel etc., kommen auch Spitzen, Ballkleider, Juwelen, Porcellan, Silberzeug, Bilder, Uhren, lebendige Thiere: Esel, Hunde, Federvieh, Fische und alles nur Denkbare. Es giebt absolut nichts, was hier nicht benutzbar wäre.

Aber immer bleibt es noch schwer, die Einnahmen mit den Ausgaben im Gleichgewicht zu erhalten, und es ist der Mildthätigkeit ein noch großes Feld gelassen. Für jede Gabe legt Dr. Barnardo genau Rechnung ab und quittirt jeden einzelnen Fall; er freut sich nicht minder über die wenigen Schillinge der Unbemittelten, der Arbeiter, Dienstboten etc. als über die Hunderte und Tausende von Pfunden, die gelegentlich von den Reichen kommen. Am rührendsten sind die Beiträge von Kindern; das Eine greift in seine Sparcasse, ein anderes trinkt seinen Thee ohne Zucker, ein drittes schickt die Belohnungen für sein zeitiges Aufstehen; noch andere verkaufen ihre Kaninchen, ihre Seidenraupen, Blumen, aufgesammelte Maculatur u. dergl., und viele kleine Mädchen arbeiten allerhand hübsche Kleinigkeiten und veranstalten damit unter ihren Freunden einen Familienbazar. Beiträge kommen aus Indien, Neu-Seeland, Amerika etc. An einem glücklichen Tage wurden größere und kleinere Summen von 86 verschiedenen Orten geschickt, an einem andern sogar von 203!

Oft senden Eltern die Ersparnisse der Kinder, die sie durch den Tod verloren, oder eine Gabe als Dankopfer für ein freudiges Familienereigniß, eine erfüllte Hoffnung, eine überstandene Gefahr, auf der See, in Krankheit u. dergl.

Einmal hören wir von einer schlimmen Zeit, wo sehr wenig eingegangen war – die Ausgaben groß, die Casse leer, Alles im Rückstand, das Conto auf der Bank bereits stark überschritten und keine directe Aussicht auf baldige neue Einnahmen! Dr. Barnardo weiß nicht, wie er sich helfen soll; aber er läßt den Muth nicht sinken. Da meldet sich eine ältliche Dame an, die ihn selbst sprechen will und mit einer gewissen Schüchternheit erzählt, wie sie schon lange seine Thätigkeit bewundert habe etc. Endlich greift sie in die Tasche und händigt ihm ein Papierchen ein, das einer Fünf-Pfund-Note nicht unähnlich sieht. Beim Auseinanderfalten mögen sich seine Augen sehr vergrößert haben, denn er hielt eine Tansend-Pfund-Banknote in der Hand. Nachdem der freudige Dank für die so sehr willkommene Summe ausgesprochen war, brachte die Dame halb ängstlich eine zweite solche Note heraus und verdoppelte damit die reiche Gabe. Kurz darauf ging sie fort, aber nicht ohne ihm zum Abschied noch eine „Dritte“ in ihrer scheuen Weise überreicht zu haben. Diese dreimalige Ueberraschung, die so recht wie vom Himmel kam, befreite den Mann für die nächste Zeit von allen seinen Sorgen. Ueber das dabei zum Vorschein gekommene scheue Wesen der Dame wird sich Niemand wundern, der den Charakter der Engländerinnen hat kennen lernen. Diese Schüchternheit findet man häufig bei den alleredelsten.

Noch ein paar Worte über die Aufnahme der Kinder. Da giebt es eigenthümliche und interessante Fälle. So berichtete vor einiger Zeit die Tagespresse: eine Frau habe im trunkenen Zustande ihr eigenes, sechszehn Monate altes Kind ins Feuer geworfen. Eine Nachbarin, die Zeuge war, riß das Kindchen schnell heraus, aber ehe sie es verhindern konnte, hatte es die barbarische Mutter zum zweiten Male hineingeworfen. Die Frau zog es wieder heraus, bemühte sich jetzt, es zu schützen, und rief nach Hülfe. Indeß, ehe die Polizei herbei kam, hatte die Mutter es möglich gemacht, das Kind mit kochendem Wasser zu begießen, und nun war das arme kleine Geschöpf so vielfach beschädigt und verbrannt, daß die Polizei es in’s Hospital schaffte, wo es für verloren erklärt wurde. Trotz alledem genas es allmählich doch, [84] und um es nicht wieder in die Hände der bestialischen Mutter zu geben, wurde es von Dr. Barnardo aufgenommen, und in seiner Anstalt ist es noch diesen Tag der allgemeine Liebling unter dem Namen „das Feuerkind“, „the fire baby“.

Ein anderer Fall, den uns Dr. Barnardo selbst beschreibt, ist die Geschichte eines jungen Diebes, den er mühsam eingefangen, dann geduldig und liebevoll „gezähmt“, das heißt bekehrt hat. Es ist dies so lebhaft geschildert, daß man es nicht ohne Theilnahme für den kleinen Schurken lesen kann, und schließlich die Freude mit erlebt, das gerettete Kind als einen besonders braven und grundehrlichen Menschen zu sehen.

Fragen wir nun: was würde wohl aus den 5000 Kleinen geworden sein, wenn es keinen Dr. Barnardo in London gäbe? – so ist die Antwort nicht schwer. Ein großer Theil würde schon in der Kindheit vor Hunger, Frost und Krankheit elendiglich umgekommen sein; ein anderer Theil wäre den Armenhäusern, Hospitälern und besonders den Gefängnissen zugefallen; einzelne Ausnahmen möchten sich wohl durchgeschlagen und eine leidliche, vielleicht gute Existenz erlangt haben, immer aber ohne die sittliche Grundlage, die Dr. Barnardo ihnen einzuimpfen weiß.

Solches Material hat der Dr. Barnardo umgeschaffen in gesittete, brauchbare, rechtschaffene und glückliche Menschen.

Sollen wir den wunderbaren, von Menschenliebe durchdrungenen Mann nicht hochachten und seinem segensreichen Werk guten Fortgang wünschen? Möge es ferner gedeihen und als herzerhebendes Beispiel durch begeisterte Nachahmung zu einem Heil aller edelstrebenden Völker werden!
Agnes W. Ruge.     

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Das Dschapei hüpfte zurück auf den Weg, sah noch einmal empor zu dem fremden Gesichte mit dem herausfordernd aufgedrehten Schnurrbart und den verwegen blitzenden Augen – und als der Bursche, die Riemen des leeren Bergsackes mit den Daumen höher auf die Schultern rückend, lang ausgreifenden Schrittes ihm folgte, eilte es in hohen, bockenden Sätzen die schmale, grasdurchwachsene Straße dahin bis an Nannei’s Seite, wo es, rückwärts blickend, mit gespreizten Füßen wieder stehen blieb.

Dieses Gebahren des Thieres veranlaßt auch Nannei, den Kopf zu wenden – und da sah sie jenen Burschen hastenden Ganges dahergeschritten kommen und sah sich von ihm auf eine weite Strecke schon mit lächelndem Kopfnicken begrüßt.

Nun war sie eingeholt, und da er an ihre Seite trat, sagte er:

„Hast ’leicht ’was dagegen, schön’s Deandl Du, wann ich gleichen Schritt halt’ mit Dir?“

„Ah na – der Weg is ja frei für an jeden,“ gab Nannei leichthin zur Antwort.

„Du hast Recht, aber weißt, ich mein’ halt, lieb verplauscht, da wird er ei’m dengerst kürzer.“

„Mein – da wird er Dir schon lang bleiben müssen, der Weg. Lieb plauschen – das is gar a schwere Sach’ für den, der’s net versteht. Ich hab’s halt nie net g’lernt.“

„Mußt halt a bißl Zutrauen haben zu mir,“ lachte der Bursche, während er seinen Ellbogen an den Arm des Mädchens drückte, „da kannst es nachher schon lernen.“

Mit einem scheuen Blicke wich Nannei zur Seite. „Ich dank’ Dir recht schön für Dein’ guten Willen,“ sagte sie, „aber weißt, für a solchene Schul’ hab’ ich halt so an viel schwachen Kopf.“

„Schau, schau – stolz bist aber gar net – und Dir thät’ man’s doch verzeihen, Dir mit Dei’m G’sichtl,“ erwiderte der Bursche lächelnd, indem er sich in Stimme und Art der Rede stellte, als ob er Nannei’s unmuthige Abfertigung in ihrem wörtlichen Sinne genommen hätte. „Ja, ja – B’scheidenheit is schon recht – aber weißt, das is auch nix, wann man so gar g’ring von ei’m selber denkt. Sixt, da hab’ ich schon an bessern Glauben von – – Geh weiter!“ Die beiden letzten Worte galten dem Dschapei, das dem Burschen, an seiner Seite hertrippelnd, immer und immer mit gehobener Nase die Joppentasche beschnupperte. Nun ward es von einer hartknochigen Hand recht unsanft bei Seite geschoben, und das Dschapei, das wohl nach dem vertrauenerweckenden Beginne seiner Freundschaft mit dem Burschen eine solche Störung derselben nicht erwartet hatte, blieb ganz verdutzt am Wege stehen und sah eine Weile mit blinzelnden Augen zu dem launischen Freunde empor; dann schüttelte es den Kopf, machte ein paar Sprünge und schmiegte sich an die Röcke des Mädchens, welches dem Thier im Weiterschreiten mit freundlicher Hand den Backen tätschelte.

„Wohin willst denn?“ frug Nannei den Burschen, und sie wollte durch diese Frage nicht das Ziel seines Weges erfahren, sondern nur, wie lange sein Weg ihn noch an ihrer Seite hielte.

„No, ich hab’ heut’ an ganz an saubern Marsch – ’nauf am Trischübl, von da am Funtensee ’nüber und nachher über’s steinerne Meer ’nunter nach Saalfelden.“

„Du“ – sagte Nannei hastig, „da wirst aber net viel ausrichten, wenn Du noch lang so stad dahergehst neber mir. Ja – da kommst g’wiß in d’ Nacht ’nein. Das is a Weg von gut a zehn a zwölf Stund’.“

„Macht nix! Macht nix! Du bist es schon werth, daß man sich a wengl verhalt’. Und wenn’s auch jetzt a bißl langsam geht, dafür geht’s nachher um so g’schwinder. Und was an Anderer mit Müh’ und Plag’ in zehn a zwölf Stund’ macht, das mach’ ich in achte und neune. Weißt – Schmalz mußt halt haben – in die Füß’.“

Einen flüchtigen Blick warf Nannei über die hohe, geschmeidige Gestalt des Burschen. Dann frug sie, da sie aus Schicklichkeit doch etwas reden mußte:

„Bist a Holzknecht?“

„Na – das G’schäft is mir z’pechig.“

„Bist a Senn?“

„Na – das ist mir z’milchig.“

„Du hast aber an heiklen Gusto. Was bist denn nachher sonst so b’sonders – han?“ [1]

„Ich hab’ mir a G’schäft ’rausg’sucht, bei dem a ganz a gut’s Auskommen is – und gar net amal plagen mußt Dich dabei: ich bin der einzig’ Sohn von ei’m Bauern mit a Stuckera sechszig Küh’.“ Der Bursche schien sich zu wundern, daß seine Mittheilung auf Nannei so wenig Eindruck machte.

„Soso – jaja!“ das war ihre ganze Antwort.

„Ja – ich bin der Suttner Korbini von Saalfelden.“

„Soso – a Tiroler bist! Und wie hast g’sagt, daß d’heißt? Korbini?“ kicherte Nannei. „Das is amal a seltsamer Nam’! Steht denn der im Kalender?“

„No freilich! Aber weißt, a g’spaßiger Heiliger is der schon, auf den ich ’tauft bin, der heilige Korbinian! Das muß schon a recht guter Kerl gewesen sein, der – hat sich bei lebendigem Leibe d’Haut ’runterziehen lassen! Jetzt da bin ich schon anders.“

„Na, hörst – wie kann man denn so reden von ei’m heiligen Martyrer? Du mußt schon a recht christlicher Mensch sein!“

„No weißt – am Sonntag halt auf a paar Stund’.“

„So ’was z’sagen, da thät’ ich mich doch schämen!“ zürnte Nannei mit offener Entrüstung.

Korbini lachte und zog aus der inneren Joppentasche eine kleine Pfeife hervor, die er aus einem in den linken Hosenträger eingeknüpften Katzenbalge mit Tabak zu füllen begann.

„Geh weiter, Scheckin, geh – was bleibst denn allweil stehn!“ rief Nannei, während sie einer braun und weiß gefleckten Kuh die Hand mit leichtem Schlage auf den breiten Rücken klatschte.

„Du, ich meine allweil,“ sagte Korbini, „mit Dir und mit der Scheckin is net ganz richtig. Die thut ja ganz verliebt zu Dir. Allbot schaut’s um, ob denn noch da bist.“

[85]

„Sei wieder gut!“
Hanauer Tracht (Großherzogthum Baden).
Originalzeichnung auf Holz von Prof. Ferdinand Keller in Karlsruhe.

[86] „Ja – die hängt gar arg an mir,“ lachte Nannei. „Schon im letzten Sommer, wo ich als Hüterin droben am Regen war, schon da hab’ ich’s kein’ Schritt von meiner Seiten ’bracht. Is schon wahr – da is mit der Sennerin allweil a ganze Eifersucht gewesen. Und wie ich nachher heuer selber Sennerin worden bin, hab’ ich mei’m Almbauer so lang zug’setzt, bis er mir es mit ’geben hat, d’Scheckin.“

„Und da treibst jetzt nachher auf d’Griesalm – und ’leicht in a Tag’ a vierzehn am Trischübl?“

„Ja.“

„Freilich – wo andershin geht ja der Weg net. Und – was ich fragen will – kriegst nachher später’naus auch Schaf’ auf d’Alm?“

„Ah na – g’rad das einzige Lamperl da hab’ ich mit.“

„Soso!“ brummte Korbini, während er das Dschapei mit einem wägenden Blicke betrachtete. Dann zog er die Augenbrauen hoch und frug: „Is der alte Krackler[2] dahint’ Dein Hüter?“

„Ah na – ich bin ganz allein auf der Alm.“

„So – so – ganz – allein – soso!“ stieß Korbini über die paffenden Lippen, während er seine Pfeife in Brand steckte, und mit schielenden Blicken maß er dabei die Gestalt des Mädchens. „Bist a junge Sennerin und wirst a bißl hart z’rechtkommen da droben – so ganz allein. Was meinst, wann ich Dich diemal b’suchen thät’ und thät’ Dir helfen – weißt – milchen und kaasen?“

„Ich dank’ Dir recht schön; brauchst Dich aber net strapeziren wegen meiner.“

„No – bei Dei’m Alter is der Schnabel schon recht schön ausg’wachsen. Deinen stolzen Reden nach möcht’ man schier glauben, Du wärst dem Bauern da vorn sein Tochter – wenn gleich net amal a Federl am Hut hast.“

„Ah na – ich bin g’rad ’s Basler-Nannei von der Schönau. Weißt, es kann halt net a jeder Mensch so hochgeboren sein wie Du. Es muß arme Leut’ auch geben sonst hätten ja die reichen Bauern kein’, der ihnen d’Stiefel putzt.“

„Jaja! Aber schau – ’neinpassen thätst ganz gut in an Bauernhof. Könntst amal a richtige Bäuerin abgeben – Du mit Dei’m süßen G’sichterl Du! Jaja – ich sag’ Dir’s – schau – halt’ Dich nur an mich! Du – bei mir kriegt’s a Weib amal schön – so a Hof und so a Vieh! Und was erst an mir kriegst, das kannst Dir gar net denken, Du Schneckerl Du, Du liebs!“

Der Unwille über den Inhalt dieser Worte und über die leichtfertige, verletzende Art, in der sie gesprochen waren, machte Nannei bis in den Hals erröthen.

„Recht viel halten mußt net von Dir,“ sagte sie, die Blicke zu Boden senkend, „sonst thätst net g’rad so am Kuhweg mit Dir hausiren. Hättst Dir übrigens schon auch an Andere ’raussuchen können für Deine dalketen G’spaß’, Du kecker Mensch Du!“

Korbini lachte. „Warum bist so sauber – da muß ja der Mensch keck werden! Aber weißt – im Sonstigen bin ich a ganz a guter handsamer Bursch. No, wirst es ja merken. Ich mein’ allweil, daß mir im heurigen Sommer d’Stein’ am Trischübl mehr als a paar Schuh’ verschleifen.“

„Wär’ schad’ drum! Da mußt Dir schon heut den Weg richtig anschau’n, ob er Dir net dengerst z’grob und z’weit is.“

„Ah na, ah na –“

„Und um Dein’ Zeit wär’ mir auch leid, wo versaumst dabei – für nix und wider nix!“

„Für nix? No – das meintst halt Du jetzt. Wirst aber schon noch anders denken, wann’s Du mich amal von der richtigen Seiten kennst. G’legenheit zum Bekanntschaftmachen will ich Dir schon oft g’nug geben. Weißt, im Sommer, wo’s daheim am Hof net gar so viel Arbeit giebt, da bin ich allweil so auf die Füß’, allweil so am Berg umeinander. Mein Vater, der dickkopfete Geiznickel –“.

„Jetzt so hab’ ich auch noch kein Kind net von sei’m Vatern reden hören,“ zürnte Nannei. „So a Red’, mein’ ich, müßt’ ei’m im Hals stecken bleiben!“

„No ja – er is halt amal so! Er könnt’ mir den Hof schon lang übergeben – alt g’nug bin ich dazu. Aber na – der kann sich nimmer g’nug hausen im Leben. Und nachher weißt – er will halt gar net begreifen, daß a g’wachsener Mensch ’was braucht und auch sein’ G’spaß und sein Vergnügen haben möcht’. Dem wenn’s nachging, könnt’ ich mir am Sonntag ’s Wirthshaus von Weitem anschau’n. Weißt – drum such’ ich mir unter der Woch’ halt selber a bißl ’was z’samm’ für ’n Sonntag. Und schwer wird mir’s gar net – weißt – ich kenn’ mich aus in die Berg’.“

„Gelt? Machst ’leicht[3] an Führer?“

„Ah na! Das passet mir g’rad, daß ich mich mit dene nothigen Stadtleut’ abgeben müßt’ – ah na! Da giebt’s schon noch andere Sachen! So wann ich sag’ – in der Ramsau drin und ’naus gegen Bertlsgaden zu, da rauchen die Bauern und Burschen halt gern an guten Tabak. Wann den bei uns drent in Seefelden kaufst und da herent verhandlst, da machst an ganz an guten Schnitt. Und nachher weißt – wann mir beim Hin- und Hersteigen g’rad a Gamsei über’n Weg springt, da sag’ ich: Wart’ a bißl – bumm! – und nachher nimm ich’s mit. Aber net derwischen mußt Dich lassen – von so ei’m grünen Grenzpatscher oder von so ei’m schnufligen Jager. Schlau mußt halt sein – und Kurasch mußt haben – Kurasch wie der Teufel! Und da kann ich aufwarten – ich!“

Korbini schnalzte mit der Zunge und warf sich in die Brust. Seinem Blicke und seiner Miene konnte man’s ansehen, daß er mit dieser Eröffnung einen großen Eindruck auf das Mädchen gemacht zu haben wähnte.

Nannei aber streifte das Gesicht des Burschen mit einem furchtsamen Blicke, und während sie so weit von seiner Seite trat, als es die Breite des Weges gestattete, sagte sie leise:

„Du bist a Schöner!“

Korbini lachte. „Ja, Deandl – wann amal für Dein Hütl an recht an schönen Gamsbart haben möchst, weißt, so ein’, der nur g’rad so waachlt[4] im Wind – sixt – da därfst blos mir a guts Wörtl geben und a recht a gschmachigs[5] Bussei – Du – Du – Dich könnte man ja g’rad fressen!“ Und an Nannei dicht herantretend, kniff er seine braunen, plumpen Finger in ihre rothblühende Wange.

„Laß mir meine Ruhe – Du –“ stieß Nannei mit zornbebender Stimme hervor, indeß sie mit gehobenem Arme die Hand des Burschen von sich abzuwehren suchte.

„Geh, geh – was bist denn so g’schamig!“ lachte Korbini und haschte mit beiden Händen die Finger des Mädchens.

Schon öffnete Nannei die Lippen, um den Almbauer anzurufen, als der Bursche jählings von ihr abließ, lunschend am Wege stehen blieb und die funkelnden Augen nach einem dichten Gebüsche richtete, an dem sie soeben vorübergewandert waren.

Er näherte sich dem Wegraine um einige Schritte, nahm die Pfeife vom Munde, bückte sich, und den Kopf hin und wider neigend, blickte er durch die Lücken des Laubwerks. Nach einer Weile hob er sich stramm empor, wandte das Gesicht und maß mit halb geschlossenen Augen Nannei’s leicht dahin schreitende Gestalt. Noch einmal kehrte er sich mit zögerndem Blicke dem Gebüsche zu, dann warf er den Kopf auf die Seite, schob die zerbissene Pfeifenspitze wieder zwischen die Zähne und folgte hastigen Ganges dem Mädchen.

„Hab’ g’meint, ich hätt’ ’was g’hört,“ sagte er, als er wieder an Nannei’s Seite trat. „Wird wohl a Reh gewesen sein oder ’leicht blos a Haas. Giebt ihrer ja g’nug da im Wimbachthal.“

Korbini’s Gebahren hatte auch die Aufmerksamkeit des Dschapei auf jenes Gebüsch gelenkt – und während der Bursche und das Mädchen schon hinter einer Biegung des Weges verschwanden, stand es noch immer und musterte die Kräuter des Wegrains. Nun ersah es auch ein Büschel fettglänzenden Grases und begann davon zu äsen, wobei das Glöcklein an seinem Halse leise tönte.

Da plötzlich raschelte das Laub im Dickicht – das Dschapei schrak in sich zusammen und machte einen langen Seitensprung. Vor ihm, die hohen Kräuter kaum überragend, stand ein braun und gelb gefleckter Teckel, der das Dschapei mit wichtigen Augen betrachtete und dabei ein gedämpftes Knurren hören ließ.

„Bella!“ klang mahnend aus dem Gebüsche eine weiche, halblaute Stimme.

Hurtig wandte der Teckel den langen, spitzen Kopf und blickte schweifwedelnd und mit lächelndem Grinsen zu dem jungen [87] Jäger auf, der sich mit beiden Armen durch die dichten Zweige einen Weg in’s Freie bahnte.

Sein Erscheinen mochte dem Dschapei wieder Vertrauen einflößen. Es trippelte neugierig um ein paar kurze Schritte näher und kaute an den Gräsern weiter, die es noch im Maule hielt.

Das war auch eine vertrauenerweckende Erscheinung, die schlanke, nicht übergroße Gestalt dieses jungen Jägers, der kaum das fünfundzwanzigste Jahr überschritten haben konnte. Seine kurze Lederhose war nicht allzu schwarz mehr, und die graue Joppe zeigte sich an vielen Stellen mit geringer Kunst, doch mit großem Aufwande von schwarzem Zwirne geflickt und gestopft. Um die Schultern, daran die gelbliche Färbung der Joppe verrieth, daß dem Jäger so manch eine gewichtige Waidmannslast schon tüchtig warm gemacht hatte, hing ihm die spiegelblanke Büchse und das Fernrohr in einem plumpen, abgegriffenen Lederfutterale. Der schüchterne Flaum eines blonden Bartes verschleierte nur leicht den oberen Hals und das Kinn. Das wenig gebräunte Gesicht war von feinen, fast frauenhaften Zügen und wurde durch die drei lichten Pockennarben auf der rechten Wange durchaus nicht verunziert. Auf der Oberlippe des weichen Mundes deutete nur ein weißer Schimmer den werdenden Schnurrbart an, und unter hellglänzenden Wimpern hervor schauten zwei große, wasserblaue Augen mit sanftem Ernste in die Welt.

Während der Jäger einen langen, forschenden Blick über den Weg dahin gleiten ließ, schob er sich über dem leicht gekräuselten Blondhaare den von den Zweigen verrückten Hut zurecht, über dessen schmalen Rand ein Gemsbart nickte, dem Regen und Sonne schon den schwarzen Glanz in ein fahles Braun verwandelt hatten.

Nun kehrten seine Blicke zurück und blieben an dem Dschapei haften. Wie er sich dann dem Thiere mit lockenden Händen näherte, glaubte auch der Teckel zur Eröffnung einer Freundschaft in seiner Art ermächtigt zu sein und eilte mit fröhlichem Gebell und spielenden Sprüngen auf das Dschapei zu. Dieses aber, das bei seinen früheren Hundebekanntschaften gar schlimme Erfahrungen gemacht hatte, mißverstand die freundliche Absicht und suchte mit ängstlichem Schmählen das Weite. Mit verblüfften Augen schaute ihm der Teckel nach, und da es um die Wegecke verschwand, wandte er langsam, wie zu stummer Frage, den Kopf nach seinem Herrn empor.

Der jedoch achtete des Hundes nicht; er blickte dem tieferen Wege zu, über welchen Wofei stöhnend und ächzend den räderkreischenden Karren einherzog.

„Grüß’ Gott!“

In diesem Gruße fand Wofei hinlängliche Veranlassung, die Karrendeichsel sinken zu lassen und seine Schnapsflasche aus der Joppe zu ziehen.

Plötzlich raschelte das Laub im Dickicht – das Dschapei machte einen langen Seitensprung. (S. 86.)

„Geht’s nach der Griesalm – han?“

Wofei nickte nur und bohrte den Flaschenmund durch eine winzige Lücke des struppigen Bartes. Als er nach langem, glucksendem Zuge die dürre Hand wieder sinken ließ, frug der Jäger:

„Han – Du? Wer is denn das junge Deandl da vorn?“

„D’ Sennerin.“

„Jetzt das hätt’ ich mir selber denken können.“

„No – warum fragst nachher?“ knurrte Wofei, indeß er mit einem Uebermaß von Sorgsamkeit die Flasche verkorkte und wieder verwahrte. „Gelt – g’fallt’s Dir – gelt?“ stieß er dann unter einem blöden, wiehernden Gelächter hervor. „G’fallt mir auch – aber da is gar – aus und gar! Kennst an Stein? – weißt es – keiner bleibt, keiner will bleiben – alle ’nunter – alle ’nunter – alle, alle, alle –“

Wofei reckte den zitternden Kopf auf einem mageren Halse aus den Schultern und lauschte gegen die Erde.

„Jetzt is schön! Du hast ja in aller Früh schon z’viel!“

„Jesus, Mar’ und Josef!“ stöhnte Wofei; dann hob er mit einem jähen Ruck den Kopf und starrte mit rollenden Augen rings um sich her, bis seine wirren Blicke an dem Jäger haften blieben.

„Was hast denn, Alter?“

„Nix hab ich – nix – nix! Jesses, jesses, jesses – jesses na!“

In die wankenden Kniee sinkend, tastete Wofei nach der Karrendeichsel, schob ihre Handhabe hinter den Rücken, zog an und schleppte keuchend das ächzende Gefährte seines Weges dahin.

Kopfschüttelnd blickte ihm der Jäger nach, bis die vorspringenden Büsche den Alten verdeckten.

Nun winkte er den Teckel hinter seine Füße, verließ den Weg über das rechts liegende Gehänge, übersprang mit Hülfe des langen Bergstockes den rauschenden Wimbach und schritt durch das schmale Thal dem lichten Waldgelände zu, das sich in leichter Hebung hinan zieht bis zum Fuße der steil aufragenden Stanglahner-Wände.

Hier angelangt, ließ sich der Jäger im Schatten einer moosbehangenen Fichte nieder. Von hier aus konnte er das Thal übersehen bis zu jener Stelle, an welcher der Almenweg quer hinwegführt über das von den gewaltigen Schneewasserstürzen des Frühjahrs breit angeschwemmte Kiesgeröll.

Achtsam lehnte er die Büchse an den Stamm der Fichte, und während der Teckel an einer alten Wildpretfährte, die hart an der Wand über den Sand führte, hin- und widerwindete, richtete der Jäger sein Fernrohr nach jener offenen Wegstelle, welche die Almfahrenden mit jedem Augenblicke passiren mußten.

Nun kamen sie – zuerst der Bauer mit dem weißen Spitz, dann die Kühe, einzeln und paarweise, dann – ein leiser Ruf des Zornes klang von den Lippen des Jägers – er gewahrte durch das Glas, wie der Bursche da vorne den Arm der jungen Dirne faßte, wie er sein Gesicht ihrer Wange oder ihrem Ohre näherte, und wie das Mädchen mit beiden Fäusten den Frechen von ihrer Seite stieß.

„Wart’ nur – Hallunk’ Du,“ murmelte der Jäger, indeß er das Fernrohr sinken ließ, „wir Zwei kommen dengerst noch z’samm’!“ Und regungslos über das weite sonnige Thal hinweg starrend, sprach er flüsternd vor sich hin: „So a jungs Deandl! Und so bildsauber –“.

Da wurde plötzlich aus den Lüften über ihm ein hastig sausender Flügelschlag vernehmbar, und ein mächtiger Schatten huschte über den Moosgrund. Wohl hatte der junge Jäger mit Blitzesschnelle die Büchse an den Backen gerissen – und doch zu spät. Da sein Auge den königlichen Vogel ersah, war dieser lange schon aus dem Bereiche der Kugel und schwebte dahin durch die Länge des Thales, kleiner und kleiner werdend für die ihm folgenden Blicke, bis er nach einer Weile in weiter Ferne hinter dem wild zerrissenen Grate der Palfenhörner als ein winziger Punkt dem Auge des Jägers entschwand.

(Fortsetzung folgt.)




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Blätter und Blüthen.


Auf einer alten Handelstraße in den Alpen. (Illustration S. 77) Die schneebedeckten Häupter der Alpenberge schauen auf so manches Werk menschlichen Fleißes herab, das in den Geschichtsbüchern der Civilisation mit ehrenden Lorbeerblättern geschmückt ist. Da schmiegt sich fest an die Füße der Bergriesen die jüngste unter diesen Schöpfungen des unternehmenden Geistes, die großartige Gotthardbahn – ein eisernes Friedensband zwischen den Völkern des Nordens und des Südens. Vielen kommenden Geschlechtern wird sie noch berichten von den stolzen Leistungen des Jahrhunderts, welches mit vollem Rechte sich den Beinamen des „eisernen“ beigelegt hat. Aber auch die älteren Geschwister dieser Wunderbahn, die alten Handelsstraßen, die hoch über den Alpenthälern, über Gebirgskämme und an steilen Abgründen vorüber sich in unabsehbaren Schlangenlinien dahinziehen, auch sie können Ungewöhnliches von ihrer Vergangenheit berichten. Schauen wir nur zurück in die Geschichte der Handelsstraße, die über den Simplon führt! Schon der Meißel römischer Arbeiter hatte hier im grauen Alterthume dem Verkehre die Wege geebnet, und die Regierungen des Mittelalters hatten diese Straße unter den Schutz zahlreicher Verträge und Gesetze gestellt. Freilich war sie damals nicht so breit und bequem, wie dies heute der Fall ist. Es fehlten noch die 22 großen Brücken; die 8 gesprengten und gemauerten Gallerien und die vielen Schutzhäuser, welchen sie den Ruf einer der besten Alpenstraßen verdankt. Diese schuf erst im Anfange unseres Jahrhunderts der Befehl des gewaltigen Napoleon, der eine Heeresstraße über die Alpen brauchte, und ungeduldig den über die Fortschritte der Arbeiten berichtenden Boten zu fragen pflegte: „Wann wird das Geschütz über die Alpen fahren können?“ 30,000 Menschen und 1750 Centner Pulver vollbrachten das Werk in fünf Jahren.

Weniger bequem, aber nicht weniger berühmt war die alte Gotthardstraße, die jetzt ihre Bedeutung völlig verloren hat. Sie war mit großen Granitsteinen gepflastert, aber für Wagen nicht zu benutzen. Der Kaufherr, der auf ihr von Deutschland nach Italien zog, mußte seine Waare auf den Rücken der Rosse laden, wobei er, altem Gebrauche folgend, jedes Pferd mit einem Saum, das heißt mit drei Centnern Gepäck belastete. Aber obwohl die Gotthardstraße nur ein Saumpfad war, so bildete sie dennoch einen der gebräuchlichsten Wege von Deutschland nach Italien, und war in früheren Zeiten mit Zollthoren u. dergl. versehen. Erst am 25. Juli 1775 wagte der englische Mineralog Greville in einer Kutsche die Gotthardstraße zu passiren, und seit jener Zeit rollte unzählige Male der schweizerische Postwagen über den Gotthard, bis ihn ein für allemal das Dampfroß ablöste, das zwischen Göschenen mit Airolo durch den großen Tunnel den Verkehr vermittelt. Jetzt brausen sicherer die langen Güterzüge mitten durch den Berg, und man kann kaum begreifen, daß es sich einst gelohnt hat, die Waarenballen dort hoch über den Berg zu schleppen.

Ja, es war im Mittelalter keine leichte Aufgabe, eine Handelsreise von Nürnberg nach Mailand glücklich auszuführen. Da drohten Gefahren mannigfachster Art dem strebsamen Kaufherrn. Unwetter und Lavinenstürze machten ihm nicht weniger Sorge als die streitlustigen Herren der am Wege liegenden Raubritterburgen. Zwar erhielt er von den Städten oder von der kaiserlichen Obrigkeit ein bewaffnetes Geleite, das ihn von Ort zu Ort sicher bringen sollte, oft aber half auch dieses wenig gegen die Uebermacht des plündernden Feindes. Und wenn ihm aus der Ferne die verwitterten Zinnen einer Burg entgegen winkten und nahe an dem Wege ein Kreuz sich erhob, da flogen wohl seine Gedanken von dem Sinnbilde des Friedens auf Erden zu jenem gefährlichen Wahrzeichen der Vergewaltigung, da sammelte er wohl seine getreue Schaar und suchte im einfachen Gottesdienst in der menschenleeren Gegend Ruhe und Trost. In solcher Lage führt uns das treffliche Bild W. Räuber’s den Kaufherrn des 15. Jahrhunderts vor. Durch den grauen Morgennebel schauen die kahlen Bergspitzen in das anmuthige Thal hinab, die Vögel stimmen im Gebüsch ihre Morgenlieder an, und bei dem Frieden der Natur schleicht sich in das Herz der weiter Ziehenden die mildere Hoffnung, daß es auch in der Nacht des Völkerlebens einst tagen und die Sonne des Rechts über die Schatten der Willkür siegen wird. J. 


Sei wieder gut. (Illustration S. 85.) Eine Scene, welche überall und zu allen Zeiten da aufgeführt wurde und in Ewigkeit aufgeführt wird, wo es Liebespaare giebt, eine Scene, in welcher ohne Zweifel unsere sämmtlichen Leser und Leserinnen schon eine Rolle hatten. Auf die Sprache, in welcher der Gedanke dieses Bildes ausgedrückt wird, kommt es dabei so wenig an, wie auf die Tracht, in welcher zwei solche Menschen ihr Versöhnungstück abspielen: Immer werden die Augen so sprechen, wie hier, und das Wort kann keinen andern Sinn haben, als den: „Sei wieder gut!“ – Die zwei Liebesleutchen unserer Abbildung sind ein Paar deutsche Gemüther in der Tracht, die in dem „Hanauer Ländchen“ sich noch bis heute erhalten hat. Dieses badische Gebiet, das von der Appenweiler-Kehler Eisenbahn durchzogen wird, ist eine theils fruchtbare, theils sumpfige Niederung, liegt es doch zwischen den beiden Prachttheilen des Rheinthals im Nord und Süd, bei deren Anblick jener Italiener sagte: „O Deutschland, wie leicht könntest du Italien sein!“

Nochmals die Sitze in den Eisenbahnwagen. Von einem königlichen Eisenbahndirector ist uns folgende erfreuliche Mittheilung zugegangen, welche sicher die meisten unserer Leser interessiren wird.

„Der in der ersten diesjährigen Nummer Ihrer geschätzten Zeitschrift enthaltene, ‚die Sitze in den Eisenbahnwagen‘ überschriebene Artikel, dessen Ausführung ich im Allgemeinen meine Anerkennung nicht versagen kann, giebt mir zu der Bemerkung Veranlassung, daß seitens der preußischen Staatseisenbahn-Verwaltungen der Herstellung bequemer Sitzformen ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Namentlich sind in neuerer Zeit die eingehendsten Erhebungen angestellt, um nicht nur die Polsterung in der ersten und zweiten, sondern ganz besonders auch die Sitze der dritten Classe unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Raumes der Form des menschlichen Körpers derartig anzupassen, daß das Sitzen ein möglichst bequemes wird. Die ermittelten Formen entsprechen den in dem oben genannten Artikel entwickelten Grundsätzen und tragen den großen Verschiedenheiten in der Gestaltung des menschlichen Körpers gebührend Rechnung.

Für die erste und zweite Classe wird sogar dadurch, daß die Sitzkissen ein beliebiges Vorziehen bis zur Coupémitte gestatten und die Rücklehnen bei dieser Bewegung eine der augenblicklichen Stellung des Sitzkissens entsprechende Form annehmen, die Bequemlichkeit der sogenannten Faullenzer erreicht. Die Armlehnen erhalten eine angemessene Breite und die Seitenlehnen eine derartige Form, daß sie nicht nur der Wange, sondern auch der Schulter einen festen Stützpunkt bieten.

Schließlich gestatte ich mir noch die Bemerkung, daß Armschlingen für die meisten Passagiere eine angenehme Zugabe sind und der Versuch, sie zu beseitigen, bis jetzt auf Widerstand gestoßen ist. Uebrigens dürfte auch ihr Vorhandensein keine Unbequemlichkeiten zur Folge haben.“



Allerlei Kurzweil.


Kreuzräthsel.

Innerhalb der obigen Figur sind die Buchstaben so umzustellen, daß die wagerechte Mittelreihe ebenso lautet wie die senkrechte. – Die neun wagerechten Reihen sind: 1) Weiblicher Vorname. 2) Männlicher Vorname. 3) Mineral. 4) Große Stadt in Deutschland. 5) Roman von „Georg Ebers“. 6) Bewohner einer europäischen Halbinsel. 7) Himmelsgegend. 8) Raubthier. 9) Schweizer Canton.


Auflösung der Dechiffrir-Aufgabe in Nr. 4:

Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre.


Auflösung des Akrostichon in Nr. 4: Eduard Lasker

EscoriaL DesdemonA UranuS AkustiK RosettE DöllingeR


Auflösung der Rösselsprung-Aufgabe in Nr. 4:
7–2, 5–8, 1–4, 3–6; 2–5, 8–3, 5–7, 6–1; 5–8, 3–6, 7–2, 1–4; 8–3, 6–1, 2–5, 4–7.


Inhalt: [Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]



  manicula Es gereicht uns zur Freude, unseren Lesern mittheilen zu können, daß das hinterlassene Manuscript Heinrich Heine’s, dessen vielbesprochene Memoiren (Jugendgeschichte) enthaltend, soeben von uns zum erstmaligen Abdruck erworben wurde und die Veröffentlichung desselben schon in einer der nächsten Nummern der „Gartenlaube“ beginnen wird. Die Verlagshandlung. 


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Ein Fragelaut, welcher mit dem gleichen Nasentone gesprochen wird, wie die französische Präposition dans.
  2. Gebrechlicher Mensch.
  3. Vielleicht.
  4. Wehr, flattert.
  5. Sanft, süß schmeckendes