Die Gartenlaube (1884)/Heft 4
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No. 4. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ein armes Mädchen.
Und da saß sie nun, das Mädchen. Sie hatte hart gearbeitet, jahrelang; sie hatte kein Elternhaus, kein freundliches Mütterlein, keine Aussichten für die Zukunft, und dennoch hob die Jugend, die es als ihr gültiges Recht ansieht, glücklich zu sein, Glück fordern zu dürfen, sie in einen wahren Himmel hinein. Und wie lange würde es dauern, dann kam Tante Ratenow mit der Gartenscheere, und in ihrer entsetzlich realistischen Weise schnitt sie eine Hoffnungsknospe nach der andern ab. Tante Lott mußte sich abwenden und die Theekanne in den Ofen setzen, damit sie der Thränen Herr werden konnte.
„Nun aber, Tantchen, wie geht es hier?“ rief Else, eilig ihren Thee austrinkend; „ich muß hinunter zu Tante Ratenow, zu Moritz und Frieda.“
„Ja, das mußt Du, Kind, ja, ja!“ sagte die alte Dame. „Freilich von Frieda wirst Du nicht viel sehen, sie haben unten Theaterprobe, sie wollen zu Tante Ratenow’s Geburtstag etwas aufführen, aber Moritz wird wohl ein paar Minuten übrig haben.“
„Theaterprobe? Wer denn?“
„Nun, wer? Kind – die Officiere aus der Stadt und die jungen Frauen, und da ist denn allemal Abendbrod hinterher, und vorgestern haben sie sogar getanzt. – Meines Lebens! Else, da höre ich der Tante ihre Schritte, und nun warst Du doch nicht zuerst bei ihr.“
„Nein, das ist Moritz!“ rief Else und war im Nu hinter den Ofen und zog ihre Kleider fest zusammen um die schlanke Gestalt.
Ja, es war Moritz; er wollte nur fragen, ob Tante Lott nicht nach dem Bahnhofe fahren möge, die Kleine zu holen. Frieda habe einmal wieder die halbe Stadt da unten zum Essen. Er ließ sich bei diesen Worten auf den nächsten Stuhl nieder und strich sich die Haare aus der Stirn; eine Bewegung, die er häufig machte, wenn er unangenehme Gedanken verscheuchen wollte.
Da legten sich plötzlich zwei zitternde kleine Hände über seine Augen. „Onkel Moritz, wer bin ich?“ fragte eine liebe, wohlbekannte Stimme, und ein helles, herzerquickendes Lachen folgte.
„Du Wetterhexe!“ rief er und hielt sie fest. Und nun war er aufgesprungen. „Deern, Du bist ja ein ganzer Kerl geworden!“ Sein gutes Gesicht leuchtete förmlich. „Das Futter in D. muß nicht ganz schlecht gewesen sein, wahrhaftig; und gelehrt siehst Du auch nicht aus, Gott sei Dank.“
„Nein, Moritz; ich habe überhaupt keine Anlage dazu. Denke Dir, das hat mir gestern erst der Professor noch einmal versichert,“ sagte sie kleinlaut. „Aber das Examen ging brillant,“ fügte sie tröstend hinzu, als er sie lächelnd betrachtete.
Er sah sie noch immer an. „Tante Lott, man wird alt; habe ich doch das große Fräulein da so“ – er machte eine schaukelnde Bewegung mit den Armen – „und nun?“
„Nicht wahr?“ rief Tante Lott. „Als ich sie so vor mir sah auf einmal, da fiel mir Schiller ein:
Und lieblich in der Jugend Prangen, wie –“
„So ist’s recht, Lott,“ unterbrach sie eine Stimme, „setzt ihr gleich ordentlich Raupen in den Kopf“ Tante Ratenow stand da wie hingezaubert auf der Schwelle, und hinter ihr sah Frieda’s Gesicht hervor, über und über lachend.
„Wir wollen sehen, ob es wahr ist,“ rief sie. „Karoline behauptet, sie hätte die Else hier sprechen hören; wahrhaftig, da ist sie!“
Else war eben wieder aus Tante Ratenow’s Doppelshawl aufgetaucht, den sich die alte Dame beim Passiren des kalten Corridors umzulegen pflegte; nun wurde sie von der jungen Frau stürmisch auf den Mund geküßt: „Moritz, siehst Du, sie kommt wie gerufen; ich habe eben ein Billet von Frau von D. erhalten sie kann nicht mitwirken, sie haben Trauer. Nun sind wir aus aller Noth.“
„Was giebt’s?“ fragte Frau von Ratenow scharf.
„Ich habe keine Zeit, Mamachen, ich muß hinunter; und fragen darfst Du mich auch nicht,“ rief Frieda. „Moritz, bringe die Else ja nachher mit!“ Und im nächsten Augenblick war die zierliche Erscheinung der jungen Frau in dem schweren marinblauen seidenen Costüm hinter der Thür verschwunden.
„Na also, Kind,“ wandte sich Tante Ratenow zu dem jungen Mädchen, „wir haben beschlossen, daß Du vorläufig hier bleibst.“
„O wie gern – wenn es Papa erlaubt,“ war die völlig unbefangene Antwort; „aber dann, Tante –“
„Jawohl, er erlaubt’s,“ unterbrach sie die alte Dame. Es klang eigenthümlich; Tante Lott und Moritz sahen sich an.
„Und damit Du –“ fuhr sie fort.
„Ueber das Weitere sprechen wir morgen,“ fiel ihr Moritz in’s Wort. „Liebes Mutterchen,“ bat er, „mache uns die Freude, iß mit bei uns heute Abend; Frieda würde sehr glücklich sein.“
„Du weißt, Moritz, ich kann das viele Sprechen nicht vertragen“ erwiderte sie.
[54] „Lieber Gott, es wäre ja viel gemüthlicher, blieben wir allein – aber –. Nun, thue es nur; Tante Lott und Else, macht Euch fertig zu Tisch; Mutter und Tante Lott können sich ja bald beurlauben nach dem Essen, Mutter wird sogar darum ersucht.“
Frau von Ratenow stand kopfschüttelnd auf.
„Mein alter ehrlicher Geburtstag,“ sagte sie, „der soll nun den Namen hergeben für Eure Allotria –. Hole mich ab, Moritz, wenn es so weit ist.“
„Tante Lott,“ begann Else, nachdem sie ein wenig Toilette gemacht und eben eine blaßrosa Schleife aus Herrnhuter Band auf dem einfachen schwarzen Caschmirkleide befestigte, die ihr so gut ließ zu dem klaren Teint und dem aschblonden Haar; „es ist so komisch geworden bei Euch; Tante Ratenow war verstimmt, und Moritz auch –.“
„Ja, aber – ich weiß auch nicht, warum?“ war die ausweichende Antwort. „Bist Du fertig? Es ist die höchste Zeit.“
Else war fertig, und sie gingen mit einander den Corridor entlang und die Treppe hinunter.
„Ach, Else, mein Taschentuch!“ rief Tante Lott, als sie eben die Wohnräume der jungen Ratenow’s betreten wollten. Sie pflegte immer etwas zu vergessen.
„Geh nur immer hinein, Tante, ich hole es!“ rief das Mädchen.
Sie kam schon nach wenigen Minuten die Treppe wieder herunter, dann blieb sie zögernd stehen; nicht weit von sich erblickte sie einen Officier, er hatte sich eben den glänzenden Scheitel gebürstet und den Waffenrock in die Taille gezogen, nun nahm er einen Violinkasten vom Erdboden empor und schickte sich an, in die Thür zu gehen, welche zu der sogenannten Halle führte. In diesem Augenblick sah er auf, und die beiden jungen Menschenkinder schauten sich in die Augen.
Es war so, wie es immer ist, wenn ein Herr einer Dame begegnet; er machte eine tiefe Verbeugung, wobei die Sporen leise zusammenschlugen, öffnete die Thür und ließ das junge Mädchen vorantreten. Die Halle war nur matt erleuchtet, aber Else konnte doch im raschen Durchschreiten die kostbare Einrichtung bewundern, die der große, finstere Raum seit Kurzem erhalten. Das treue Muster eines altdeutschen Prunkzimmers war er geworden mit seiner dunklen Holztäfelung, den prächtig geschnitzten Eichenmöbeln, den kostbaren Stoffen, die in malerischen Falten zur Erde hingen; hier und da blitzten matte Reflexe von kunstvollen Bronzegefäßen und leise bewegten sich die Palmwedel der großen Makart-Bouquets in den kostbaren Vasen, als ihr Fuß auf den weichen Teppichen dahinschritt.
Aus Frieda’s Salon brach eine Fülle von Licht und tönte eifriges Sprechen und Lachen. Als das junge Mädchen in der Thür erschien, verstummte die Unterhaltung einen Augenblick; dann Vorstellung und dann war Else mitten darin in der duftenden, berauschenden Atmosphäre des Salons. Sie flüchtete zu Tante Lott, hinter deren Fauteuil ein leerer Stuhl winkte, und von hier aus sah sie mit großen Kinderaugen auf das nie gekannte bunte Bild. Es war ein Schwirren, ein Sprechen, ein Lachen und Necken; man plauderte von Tagesneuigkeiten des kleinen Kreises, von Avancement und ein bischen chronique scandaleuse, und zwischendurch flog ein Kraftwort von Tante Ratenow. Es war ein Schimmern von blendenden Uniformen, von ausgesuchten, wenn auch einfachen Damentoiletten, und plötzlich hieß es: Bernardi wird spielen!
Der Officier, mit dem Else eingetreten, nahm eine Violine aus dem Kasten und verhandelte eifrig mit Frieda; dann saß sie, die feinen Spitzenmanschetten der Aermel zurückstreifend, am Flügel und schlug ein paar Tacte an, und im selbigen Moment herrschte Todtenstille im Zimmer.
„Bernardi spielt, Else, paß auf!“ raunte Tante Lott dem Mädchen zu; „er spielt hinreißend!“ Und im nächsten Augenblick zitterte unter dem Bogen, den die schlanke Männerhand dort über die Saiten führte, wunderbar weich und süß ein Ton durch das Gemach, und Ton reihte sich an Ton, bald klagend und wehmuthsvoll, als weine die kleine braune Geige, bald im brillanten Staccato, im feurigen, wilden Rhythmus. Und nun senkte er den Bogen.
Else schrak zusammen; es war ihr, als erwache sie aus einem Traume. Ein lautes Beifallklatschen erscholl, und am lautesten applaudirte Tante Ratenow.
„Lieber Bernardi,“ rief sie, ich verstehe zwar nichts von der modernen Musik; Ihr Herr Vater hat mich auf derselben Geige schon zu Thränen gerührt, wenn er ‚Adelaide‘ von Beethoven spielte, aber dem Sohne muß ich doch die Palme reichen.“ Und sie streckte dem jungen Manne herzlich die Rechte hin, die dieser mit tiefer Verbeugung ergriff. Dann flüsterte er mit Frieda, und im nächsten Augenblicke eine zweite Verbeugung gegen die alte Dame machend, setzte er den Bogen an und Beethovens „Adelaide“ zog durch das Gemach.
„Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen: Adelaide, Adelaide!“ flüsterte Tante Lott mit leuchtenden Augen. „O wie schade, schon vorbei! – O, bester Herr Lieutenant Bernardi, wie wundervoll!“ hörte Else sie dann sagen, und als sie aufschaute, stand er vor der Tante, aber seine Blicke flogen über das weiße Blondenhäubchen hinweg zu ihr; es waren dunkle, fast schwermüthige Augen, die dem regelmäßigen Gesichte mit dem kecken schwarzen Schnurrbarte etwas Eigenthümliches verliehen. Seine Cameraden behaupteten, er stamme von Zigeunern ab, daher könne er auch so brillant mit dem „Wimmerholze“ fertig werden.
„Treiben gnädiges Fräulein auch Musik?“ fragte er jetzt, so banal wie möglich, und zog seinen Stuhl zwischen den von Else und Tante Lott.
„Ich singe ein wenig,“ erwiderte sie, und damit waren sie im Gespräche. Tante Lott streute nur manchmal anstandshalber ein Wort ein, sie verstand gar nichts von Musik; sie staunte nur innerlich, was hatte diese kleine Else Alles gelernt! – sie warf ja nur so um sich mit Generalbaß, mit Chopin und Wagner.
Sie saß bei Tische neben ihm; sie wußte gar nicht, wie schnell die Stunden hinflogen. Sie sah weder Moritz’ Lächeln noch Tante Ratenow’s strenge Blicke. „Die vom heutigen Tage,“ sagte die alte Dame zu sich, „die kann man aus dem Wickel herausnehmen und sie an die Tafel setzen, sie wissen schon etwas zu schwatzen.“ Dann erhob sie sich und gab somit das Zeichen zum Aufbruche der Tafel. Als Else ihr die Hand küßte und „gesegnete Mahlzeit!“ wünschte, hielt sie das junge Mädchen am Arme fest.
„Du bringst mich wohl hinüber, Kind,“ und ohne noch Frieda’s Wiederkommen abzuwarten, die im Nebenzimmer beschäftigt war, empfahl sie sich, wie sie es nannte: auf Französisch, das heißt sie verließ unbemerkt durch Moritz’ Stube die Gesellschaft.
„So, Else,“ sagte sie in ihrem behaglichen Zimmer, „das wäre ’mal wieder abgethan. Daß Gott erbarme, können diese jungen Frauen schwatzen! Dir ist übrigens die Zunge auch g’rad’ nicht angewachsen; hast Du Dich amüsirt?“
„O Tante!“ Das junge Mädchen war purpurroth geworden.
„Das einzige Gescheidte war noch, daß Bernardi spielte,“ meinte Frau von Ratenow, ohne das Erröthen zu bemerken. „Klingle nach der Jungfer, Else, sie mag mir frisch Wasser bringen, und dann kannst Du gehen; lege Dich schlafen, Kind, morgen früh haben wir zusammen zu reden.“
„Else, wo bleibst Du?“ rief draußen Frieda’s Stimme.
„Na, dann meinetwegen!“ murmelte die alte Dame. Und als Frieda im nächsten Momente im Zimmer stand, winkte sie Else hastig, zu gehen.
„Ich glaube gar,“ sagte die junge Frau draußen, „Mama wollte Dich wie ein kleines Kind zu Bette schicken. Rasch komm’, Du mußt Deine Rolle heute noch lesen, nachher tanzen wir.“
Es war längst Mitternacht vorüber, als Else die Treppe hinaufging. Sie sah noch einmal über das geschnitzte Geländer in den Flur hinunter, wo sich die Gesellschaft zum Heimwege in Kapuzen und Mäntel wickelte; da stand Bernardi mitten unter ihnen und grüßte hinauf. „Gute Nacht!“ rief sie, wie ein fröhliches Kind. Dann saß sie noch lange auf Tante Lottens Bett, und sie erzählte ihr von der Pension, von Schwester Beate und von allem Möglichen, sogar von der verstorbenen Mieze sprachen sie. Es war ja auch gleichgültig, von was sie redete, denn schlafen, schlafen konnle sie heute noch lange nicht.
Am folgenden Morgen regnete es in Strömen, es rauschte und rieselte über die Dächer, es gluckste und murmelte in den Dachrinnen, und die halbentlaubten Aeste bogen sich unter dem kalten Herbstwinde ächzend hin und wider. Diese naßkalte frostige
[55] Stimmung schien sich auch auf die Menschen übertragen zu haben; im ganzen Hause stand nur Tante Lott und ihr Pflegetöchterchen vergnügt auf. „Tantchen, nun sollst Du es gut haben,“ hatte sie gesagt, und als die alte Dame in ihr Zimmer trat, da war all ihre kleine Arbeit bereits gethan, der Staub gewischt, die Blumen begossen und der Stieglitz im Bauer besorgt, und Else saß schon wieder in ihrem einfachen Kleidchen am Fenster und schaute in die Regenlandschaft hinaus.
„Ich hab’s so gern, dies Wetter,“ begann sie beim Kaffeetische, „es ist dann gar zu hübsch in den Menschenwohnungen; aber dumm ist’s doch, daß es regnet; ich muß zu Papa, Tante Lott; es ist mir, als hätt’ ich ein schlechtes Gewissen, daß ich gestern Abend hier so fröhlich war, und bin noch nicht bei ihm gewesen.“
Sie hatte kaum ausgesprochen, als es klopfte und Moritz eintrat. Er trug einen dicken Flauschrock und hohe Stiefeln.
„Ach Moritz, Du hast Dein Kopfschmerzengesicht!“ rief Tante Lott. Er nickte und gab ihr die Hand.
„Ganz unerträglich sogar,“ antwortete er. „Ich komme, Else zu fragen, ob sie mit zur Stadt will; ich habe auf dem Rathhause zu thun.“
Sie war gleich bereit und ging nach Mantel und Hut. Moritz sah ihr nach.
„Sie ist doch ein liebes hübsches Kind geworden, Tante Lott,“ sagte er, als sich die Thür hinter ihr geschlossen.
Die alte Dame nickte lebhaft zustimmend. „Aber wie geht’s denn unten bei Euch, Moritz?“
„Nun, wie man’s nimmt. Frieda ist betrübt; sie hat eine Trauernachricht bekommen, ein Bruder ihres Vaters ist gestorben. Sie hat ihn nie gekannt, sagt sie; aber die Familie trauert selbstverständlich, noch dazu, da der alte Herr unverheirathet war und sein ganzes Vermögen meinem Schwiegervater hinterläßt. Frieda will mit zur Stadt, um einige Einkäufe zu machen.“
„Ei, ei!“ meinte Tante Lott, „und Euer Theaterstück?“
„Damit ist’s, Gott sei Dank! aus,“ sagte er, trotz seiner Kopfschmerzen lächelnd. „Nun, nun, Else, soweit sind wir noch nicht, Frieda ist noch lange nicht fertig,“ bemerkte er zu dem wieder eintretenden Mädchen, „aber Du kannst ja unterdeß Mutter guten Tag sagen.“
Frau von Ratenow saß am Fenster und sortirte einen mächtigen Haufen Strümpfe, indem sie jeden einzelnen über die Hand zog, ihn scharf mit der Brille betrachtend.
„Es ist hübsch und gut von Dir, Else,“ sagte sie im Laufe der Unterredung, und weicher als sie sonst zu sprechen pflegte. „Aber sieh’, alte Herren haben so ihre Eigenheiten, Du mußt nicht denken, Dein Vater hätte Dich nicht lieb, wenn er Dir sagt, es sei ihm recht, daß Du bei uns bleibst. Es scheint Dir, und auch Anderen, vielleicht hart und rauh, aber die Gründe mußt Du suchen in seinem hartgeprüften Leben, in der völlig freudenlosen Abgeschlossenheit, in der er stets nur auf sich angewiesen war – vielleicht stimmt noch einmal die Zeit ihn zugänglicher.“
Wer hätte in diesen Worten die so hart urtheilende Frau wieder erkannt, die sich heute nur bemühte, dem Kinde des Vaters Gebahren im mildesten Lichte zu zeigen? „Grüße Deinen Vater von mir!“ rief sie ihr noch nach, als das junge Mädchen schon an der Thür stand.
Frieda war offenbar in der allerschlechtesten Laune; sie lag im Wagen zurück, fest in ihr weiches Pelzmäntelchen gewickelt, und sprach kein Wort. Endlich nahm sie ein zierliches Geldtäschchen in die Hand und schüttete den Inhalt in ihr feines Battisttaschentuch aus.
„Es langt noch nicht, Moritz,“ sagte sie dann, mit den Geldstücken spielend, „die Rechnung bei Drewendt mußt Du selbst abmachen, ich lasse es aufschreiben heute.“
Er zog ohne weiteres seine Brieftasche und gab ihr schweigend ein paar Cassenscheine. Sie nahm das Papier, schob es mit dem andern Geld in’s Portemonnaie und steckte dieses wieder in die Tasche.
„Moritz, darf ich mir die kleine Etagère für meinen Salon kaufen?“ fragte sie und sah ihn bittend an mit ihren blauen Augen.
Er wandte unmuthig den Kopf zu ihr, aber seine verdrießliche Miene verschwand, als er in das wunderschöne Frauenantlitz blickte, das so verführerisch lächelnd unter dem schwarzeu Pelzmützchen hervorsah.
„Daß Dein Herz an solchem Plunder so hängt!“ sagte er. „Meinetwegen! Aber nächstens müssen wir wohl Auction machen, soviel Sachen hast Du. Wie? Uebrigens, was kostet denn das Ding?“
„O, es ist nicht so arg: hundert Mark vielleicht, Moritz.“
Er schwieg, und Else wußte ebenfalls nichts zu sagen, dann hielt der Wagen vor dem Hause des Majors, und Else stieg aus. Sie ging wieder durch den schiefen Flur, die schiefe Treppe hinauf, sie stand zögernd an der Thür zu des Vaters Zimmer und trat doch erst in die kleine Küche.
Die alte Siethmann hatte eben ein paar Weingläser auf ein Tablett gestellt, und ihre zitternden Hände bemühten sich, eine Rheinweinflasche zu entkorken.
„Gieb mlr her, Dore,“ sagte lächelnd das Mädchen, „ich habe mehr Kräfte.“
„Barmherziger!“ schrie die Alte freudig auf, „Elschen! Fräulein Elschen! Und so groß bist Du – sind Sie geworden! Und ich sag’s ja, so muß es kommen! Zehn Jahre lang haben wir keine Gäste gehabt, und heute kommen sie aus allen Ecken und Enden.“
Else stellte die Rheinweinflasche auf den Präsentirteller. „Nenne mich nur Du, wie sonst, Dore; aber wer spricht denn mit Papa? Ich möchte nicht hinein gehen.“
„Das sollst Du rathen!“ rief die alte Frau schmunzelnd, und band sich eine frische Schürze vor. „Na, neugierig bist Du ja auch, Elschen, das sehe ich, gerad wie die Frau Mutter war, na“ – und sie kam dicht zu dem Mädchen heran – „der Bennewitzer ist’s! Ich habe ihn ja gar nicht erkannt,“ fuhr sie fort, „kommt da ein feiner Herr im schwarzen Anzug und fragt nach dem Herrn Major, seinem Vetter. Hätt’ ich’s dem Papa erst gesagt, er hätte ihn sicher nicht angenommen; aber ich, nicht faul, machte gleich die Thür auf und – klapp, da saßen sie zusammen. Nun laß sie sich nur beißen, Elschen, ich denke, zu Deinem Schaden wird’s nicht sein, denn, gelt, das weißt Du ja, die Beiden haben sich bis jetzt gestanden wie Hund und Katze, wegen der Erbschaft. Und nun – aber willst Du nicht den Wein hineintragen, Elschen?“
„Hat Papa Wein gewünscht?“ fragte das junge Mädchen.
„I Gott! An so was denkt er doch nicht,“ erwiderte achselzuckend die alte Frau. „Ich meinte nur, wenn so Jemand von der Verwandtschaft zum Besuche kommt, man weiß doch auch, was sich schickt.“
In diesem Augenblicke scholl die Stimme des Majors so kräftig und zürnend bis in die Küche, daß die Siethmann, die dem Mädchen den Präsentirteller aufnöthigen wollte, denselben erschreckt wieder hinsetzte.
„O Jesus! Else, er ist böse!“ stammelte sie, und in der That flogen jetzt Ausrufe eines zum höchsten Zorne gereizten Menschen an das Ohr des zitternden Mädchens. Im nächsten Momente war sie über den Corridor geeilt, hatte eine Thür geöffnet und stand nun leichenblaß, aber mit dem Ausdrucke völliger Unbefangenheit, auf der Schwelle des Zimmers.
„Papa, ich störe doch nicht?“ fragte sie, auf den alten Herrn zugehend, der, inmitten der Stube verharrend, einen Brief in der Hand und hochrothen Antlitzes, sie wie eine Erscheinung anstarrte.
Der stattliche Mann, der dort fast nachlässig am Fenster lehnte, hatte nicht die mindeste Aehnlichkeit mit seinem erregten zornigen Vetter, er war Gentleman von Kopf bis zu Fuß in seiner äußeren Erscheinung, und auch innerlich schien er seine aristokratische Ruhe vollkommen bewahrt zu haben, wenigstens war sein Gesicht mit dem traurigen Zuge um die Mundwinkel völlig unbewegt.
„Sie stören durchaus nicht, Fräulein von Hegebach,“ sagte er mit einer Verbeugung, „es ist sogar eine willkommene Unterbrechung. Ich war eben bemüht, Ihrem Herrn Vater ein Mißverständniß aufzuklären, und es wurde mir erschwert durch neue Mißverständnisse –“
„Papa!“ Das junge liebliche Geschöpf hatte den alten vergrämten Mann mit beiden Armen umfaßt. „Lieber Papa, ich freue mich so sehr, daß ich wieder bei Dir bin!“ Und sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn schützen vor allen Unbilden der Welt.
Der Major von Hegebach war augenscheinlich fassungslos; [56] er strich mit der einen Hand über das Blondhaar der Tochter und drängte sie mit der andern zurück.
„Nachher, nachher, mein Kind, ich habe mich mit – mit diesem Herrn da –“
„Das Fräulein stört uns durchaus nicht, Vetter; ich dächte, wir setzten uns und machten die ganze Angelegenheit so ruhig ab, wie es Männern in Gegenwart von Damen geziemt,“ sagte der Bennewitzer und schob seinen Stuhl an den mit Cigarrenkästen und Zeitungsblättern ganz bedeckten Tisch. „Bitte, Wilhelm,“ fuhr er dann fort, auch Else einen Stuhl hinsetzend, „laß uns die Sache ruhig besprechen. Du weißt, ich bin in keiner unversöhnlichen Stimmung gekommen, und wer von uns Beiden schwerer vom Schicksal getroffen ist, das weißt Du auch.“
Hegebach hatte sich niedergelassen auf eine flehende Geberde von Else. Nun war es einen Augenblick still in dem alten verräucherten Gemache.
„Wir Beide, Wilhelm,“ begann der Bennewitzer auf’s Neue, „können nichts dafür, daß unser Onkel, Gott verzeihe es ihm, sein Testament so und nicht anders verfaßte; es ist einmal nichts mehr daran zu ändern. Deine Ansprüche, das mußtest Du Dir sagen, ehe Du sie erhobst, und Dein Sachwalter hätte es Dir auch sagen müssen, sind – unhaltbar! Ich habe gar nicht das Recht, das ererbte, mir jetzt zugehörige Gut und Vermögen zu theilen, aber ich habe das Recht, Dir den Vorschlag zu machen, den ich vorhin aussprach, und es geschah aus ehrlicher, guter Gesinnung. Nimm ihn an, Wilhelm, diesen Vorschlag, und wenn nicht Deinetwegen, so doch Deiner Tochter wegen.“
„Ich werde ihn nicht annehmen,“ sagte der Major, „und das Weitere – abwarten.“
„Um Gotteswillen, sei doch vernünftig, Wilhelm!“ bat der Bennewitzer, einen Blick auf das junge Mädchen werfend.
„Ich weiß, was ich zu thun habe; ich danke Dir!“
Der alte Mann nahm mit zitternden Händen ein Paket Zeitungen und legte sie auf einen anderen Platz, und klappte den Deckel eines Cigarrenkastens in nervöser Hast auf und zu. Else blickte rathlos von Einem zum Andern.
„Es handelt sich um sehr materielle Dinge, Fräulein von Hegebach,“ wandte sich der Bennewitzer zu dem jungen Mädchen. „Ihr Herr Vater glaubt neuerdings, seitdem mir ein schweres Schicksal beide Söhne und somit die Erben des Familiengutes entriß, Ansprüche auf dieses zu haben. Ich weiß nicht, wie er dazu gekommen ist, diese Ansprüche auf gerichtlichem Wege zu verfolgen, jedenfalls ist er schlecht berathen. Ich kam heute, um den Beginn dieses völlig aussichtslosen Processes zu verhindern, und wollte –“
„Mir ein Pflaster auf den Mund legen!“ fiel der Major heftig ein. „Ich danke noch einmal für Deine Unterstützung, wo ich gutes Recht zu beanspruchen habe.“
Der Bennewitzer erhob sich. „Ich habe es gut gemeint, Wilhelm; es sei ferne von mir, Dir etwas aufdrängen zu wollen; verfolge denn Dein gutes Recht.“
Er nahm den mit einem Trauerflor versehenen Hut vom nächsten Stuhl und reichte dem jungen Mädchen die Hand. „Es würde mich sehr glücklich machen, dürfte ich meine liebliche Nichte unter freundlicheren Verhältnissen wiedersehen. Gott befohlen, Fräulein von Hegebach!“
Im nächsten Moment war die Thür hinter der vornehmen Erscheinung zugefallen.
„Papa!“ sagte das Mädchen traurig, nachdem der alte Mann, als habe er völlig ihre Anwesenheit vergessen, eine Weile in den Schubfächern seines Secretärs zwischen Briefen und Papieren gesucht hatte. „Papa!“
Hegebach fuhr auf und rieb sich die Stirn.
„Papa, ich möchte mir ein bischen mit Dir erzählen.“
Er hielt inne mit Suchen und schaute sie an.
„Papa, ich wollte Dir nur sagen, ich wäre so gern zu Dir gekommen und hätte Dir den Hausstand geführt, Dir Abends etwas vorgelesen und Deine Stube sauber aufgeräumt.“ Es mußte etwas in ihrer Stimme sein, das ihn zwang, sie weiter anzuhören. Er setzte sich in den Stuhl und legte den Kopf in die Hand.
„Und ich hätte Dich so gern gepflegt, Papa, wenn Du Dein Reißen hast, und Du wärst nicht mehr so allein, denn – Tante Ratenow –“ Die klare Mädchenstimme brach plötzlich in Weh und Bangigkeit. „Laß mich bei Dir bleiben, Papa, Du dauerst mich so!“ rief sie, die Arme um den Hals des alten Mannes schlingend. „Du bist immer so allein, Du kannst ja gar nicht einmal froh sein!“
„Nein, Else, das geht nicht,“ erwiderte er, aber er schüttelte die kleinen Mädchenhände nicht ab. „Du hast kein Glück im Leben, armes Kind, daß Du solch einen Bettelmann, wie ich bin, Vater nennst. Es hätte anders sein können! Aber wen das Schicksal einmal auf eine Schindmähre gesetzt, der kommt sein Lebtag nicht wieder auf ein anständiges Pferd. Ich hab’s der Tante Ratenow gesagt, wie viel ich zum Leben habe: zwanzig Thaler monatlich! Das klingt lächerlich, nicht wahr? Das Andere geht von meiner Pension ab für frühere Verpflichtungen, die ich ehrenhalber erfüllen muß und die noch Jahre beanspruchen, ehe sie abgetragen sind.“
„Papa!“ wollte sie einwenden, aber er schnitt ihr das Wort von den Lippen ab.
„Es ist das Beste so, wie Frau von Ratenow mir gestern vorgeschlagen hat. Du übernimmst die Erziehung der kleinen Ratenow’s und erhältst dafür ein anständiges Honorar und bist außerdem dort wie Kind im Hause. Das ist mehr Glück, als es hundert Andere haben in Deiner Lage; und das Weitere – warten wir ab,“ schloß er.
Das junge Mädchen war aufgesprungen und sah aus tief erbleichtem Gesicht den Sprecher an. Aber sie sagte kein Wort. Sie wußte nur das Eine plötzlich, eine goldene, süße, sorglose Mädchenjugend wartete ihrer nicht mehr. Wie in graue Schatten gehüllt, stand plötzlich das liebe alte Haus dort draußen vor ihrem Auge; sie hatte da kein Heimathsrecht mehr, sie sollte sich’s erst erkaufen durch Gegenleistung. Sie war aus der Stellung eines Kindes urplötzlich in die der Dienstbarkeit gerückt! Ja, wie hatte sie auch denken können, daß auf dieser Welt noch Liebes und Gutes umsonst gegeben wird? Sie hatten sich eine Erzieherin ausbilden lassen, das war Alles.
Ein unendlich bitteres Gefühl erfüllte das junge Menschenherz in diesem Augenblick; es war nicht Furcht vor der Arbeit, es war der Schmerz einer großen Enttäuschung.
„Adieu, Papa!“ sagte sie, den Hut aufsetzend, „ich werde Dich besuchen, so oft es mir –.“ Sie stockte; sie hatte in ihrer Bitterkeit sagen wollen: „so oft es meine Herrschaft –“, aber da war ihr Moritz’ gutes Gesicht eingefallen; „so oft es mir erlaubt wird,“ verbesserte sie sich.
Er gab ihr die Hand. „Es wird wohl noch einmal besser, Else; Du bist noch so jung.“
Sie nickte. „Adieu, Papa!“ Dann ging sie. Wie anders war sie gekommen! Sie stand dann mit finsterem Gesichte in der Hausthür; die elegante Equipage, die sie hergebracht, bog eben dort um die Straßenecke; Moritz kam, um sie abzuholen, sie mußte auf ihn warten.
„Wie siehst Du nur aus, Else?“ fragte er, als er herausgesprungen war, um ihr beim Einsteigen zu helfen. „Hat es einen Aerger gegeben, alte Deern?“ Und er faßte nach ihrer Hand.
„Wann wünschest Du, daß ich den Unterricht beginne?“ war die Antwort, als der Wagen mit ihnen fortrollte, „und willst Du nicht meine Zeugnisse erst prüfen?“
Er sah empor. Der Ton der Stimme war so fremd, die Lippen lagen so schmerzlich zusammengepreßt auf einander.
„Den Unterricht?“ fragte er. „Ach so! Mutter wollte Dich, glaube ich, bitten, den Kindern die Anfangsgründe ein wenig beizubringen. Willst Du, Else?“
„Es ist ja abgemacht,“ erwiderte sie; „man hat mich vorher nicht gefragt.“
„Ist Dir von irgend einer Seite weh gethan, Else? Es war Niemandes Absicht, das glaube mir,“ sagte er weich, das blasse Mädchengesicht betrachtend.
Sie sah ihn an mit den in Thränen schimmernden Augen. „Moritz, ich will Alles thun, ich will Tag und Nacht um Deine Kinder sein, aber biete mir kein Geld dafür – ich ertrage es nicht!“ schluchzte sie.
„Aber Else, Else, wie falsch beurtheilst Du das!“ rief er erschreckt. Und da der Wagen in diesem Augenblicke vor dem Portale des Hauses hielt, sagte er: „Ich bitte Dich, geh’ zur Tante Lott, Else; ich habe nur einen Moment bei Mutter zu thun – ich bin gleich oben, um mit Dir zu reden –.“
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[58] Else hatte in ihrem Zimmer gestanden und in den Regen und den Sturm hinausgeschaut; sie weinte nicht mehr, sie war auf einmal still geworden. Das Gestern lag weit hinter ihr; es dünkte sie, als hätte sie geträumt. Warum vergaß sie auch, was Tante Ratenow so oft zu ihr gesagt, als sie noch ein Kind war: „Du mußt lernen, dereinst auf eignen Füßen zu stehen.“ Wer denkt aber an die Noth des Lebens im Kreise fröhlicher junger Gespielinnen, wenn das Dasein noch einem Maimorgen gleicht?
„Else!“ rief da eine Stimme. Sie fuhr herum; Tante Ratenow stand vor ihr.
„Es thut mir leid, Else, daß Du eine Sache falsch beurtheilst, die herzlich gut gemeint ist. Ich kann Dir nichts von alledem schenken, ich muß Dir wiederholen: Deine Verhältnisse sind nicht derart, daß Du wie ein bunter Schmetterling durch’s Leben gaukeln kannst – Du mußt schon zur fleißigen Biene werden. Wenn Du unsere Kinder unterrichten willst, so versteht es sich von selbst, daß Du Honorar dafür erhältst, wie jede Andere auch – das kann und darf ich Dir nicht ersparen; es ist ein falscher Stolz, wenn Du Dich weigerst es anzunehmen; und denkst Du darüber nach, wirst Du es einsehen. Das Leben ist lang, mein Kind, ich will indessen das häßliche Geld keineswegs in Deine Hände legen, sondern es sammeln für Dich und dafür sorgen, daß Du einen kleinen Fonds bekommst. Es zwingt Dich aber Niemand dazu, Else, hörst Du – den Unterricht zu übernehmen – Du bist Gast in meinem Hause und kannst es bleiben, so lange es Dir bei uns gefällt; die Entscheidung liegt bei Dir, Else.“
„Ich nehme es an und werde den Unterricht ertheilen,“ sagte das Mädchen leise.
„Das ist recht, Else. Im Uebrigen bleibt Alles beim Alten. Wie geht es Deinem Vater?“
„Er war erregt, er hatte einen Disput mit dem Bennewitzer; ich traf ihn bei Papa.“
„Den Bennewitzer?“ rief Frau von Ratenow so laut, daß das Mädchen sie erschreckt ansah. „Und das erzählst Du so beiläufig? Hat er Dich gesehen?“
„Ja, Tante.“
„Und was wollte er?“
Else schwieg einen Moment. Sie hatte es herausgefühlt, daß ihr Vater im Begriff stand, einer falschen Idee nachzugeben.
„Es war wegen Bennewitz,“ sagte sie, „der Vater will, glaube ich, durch das Gericht einen Antheil daran erzwingen.“
„Ist er toll geworden?“ rief die alte Dame zornroth, und sich besinnend, daß sie die Tochter des Mannes vor sich habe, fügte sie hinzu: „Du verstehst das nicht, Else, und ich meine es nicht so schlimm; muß mal reden mit Deinem Vater, wird sich da eine schöne Brühe einrühren. – Wie sah er denn aus, der Bennewitzer, Else?“ Und sie strich mit der Hand über des Mädchens Gesicht. „Wir wollen uns nun recht behaglich hier einrichten auf den Winter,“ setzte sie hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Tante Lott,“ sagte das junge Mädchen mit traurigem Lächeln, als sie nachher in das gemüthliche Altjungferstübchen trat, „wenn ich einmal wieder etwas vergessen sollte, so erinnere mich daran.“
„An was denn, mein Rosenknöspchen?“
„Daran, daß ich ein armes Mädchen bin.“
Die Kunst, alt zu werden.
Die zahllosen Schattenseiten des Lebens, der Ueberschuß von Leiden und Enttäuschungen, welcher jedem Sterblichen beschieden ist, waren nie im Stande, den Werth des Lebens in den Augen der Menschen zu verringern. Nur ausnahmsweise treiben Verzweiflung oder krankhafte Verirrung Einzelne in den freiwilligen Tod, im Allgemeinen behält der Selbsterhaltungstrieb sein oberstes Recht, und der Herr der Schöpfung, welcher die Naturkräfte bezwingt, trotzt auch dem Tode, sucht die kurze Spanne seines Lebens zu verlängern. Wahrhaft großartig ist die Geschichte dieses uralten Kampfes, welche mit der Geschichte der Heilkunde zusammenfällt, und namentlich ist die Neuzeit reich an Siegen, welche der aufgeklärte Geist über die Sendboten des Todes zu erringen wußte. Die richtige Bekämpfung einer großen Anzahl von Krankheiten und die praktische Durchführung hygienischer Grundsätze im öffentlichen und privaten Leben haben viel dazu beigetragen, die Durchschnittsdauer unseres irdischen Daseins zu verlängern, und verheerenden Epidemien vielfach Einhalt geboten.
Es gab aber auch Zeiten, wo nicht die Fackel des Verstandes, sondern die Irrlichter des Aberglaubens der Menschheit voranleuchteten und in welchen das naturgemäße Streben, ein hohes Alter zu erreichen, die wunderlichsten Früchte zeitigte.
Schon in der Geschichte des Alterthums finden wir Spuren derartiger abenteuerlicher Ideen, die zu den vernunftgemäßen Lehren der griechischen Aerzte und Philosophen den grellsten Gegensatz bilden. Denn im Großen und Ganzen war in der classischen Welt die richtige Ansicht maßgebend, daß durch mäßiges Leben und durch Leibesübungen die Gesundheit erhalten und das Leben verlängert werde. Gab es auch damals heidnische Zauberer und Beschwörer in Hülle und Fülle, enthielt auch die mythische Religionslehre der Griechen und Römer manche Legenden von wunderbaren Mitteln, die das Leben verlängern sollten, so brach sich doch im Volks- und Staatsleben eine gesunde Anschauung Bahn, und mehr als jemals war im alten Griechenland die Erziehung der Jugend nach hygienischen Gesetzen geregelt.
Darum sind uns auch aus jener Zeit nur wenig Beispiele überliefert worden, in welchen die ärztliche Kunst von Charlatanen mißbraucht wurde. Zur eigentlichen Blüthe gelangte die Zauberkunst, durch allerlei falsche Vorspiegelungen der leichtgläubigen Menge ein hohes Alter zu versprechen, erst in der Nacht des Mittelalters. Die Völker hatten damals jede Fühlung mit der Natur verloren, die Gelehrsamkeit jener Epoche erging sich in allerlei phantastischen Betrachtungen, und damit mußte auch die Heilkunde, die in der Naturwissenschaft fußt, auf die gefährlichsten Abwege gerathen. Wohl gab es im Mittelalter hier und dort wirkliche Aerzte, welche die alten Vorschriften griechischer und römischer Autoren blind befolgten, im Großen und Ganzen aber lag die Ausübung der Heilkunde in den Händen unwissender Mönche, Bader, Schäfer, ja sogar Scharfrichter. Unter solchen Umständen schoß das Unkraut des Aberglaubens gar üppig in die Höhe und die Heilkunst wurde durch die Zauberkunst ersetzt. Der Glaube an Wunder unterstützte ja dieses Treiben.
Da fehlte es nicht an Mitteln, das Leben zunächst vor allerlei Gefahren zu schützen. Zu dem Schatze der Zaubermittel aus der Heidenzeit brachte der erfinderische Geist kluger Schwindler neue Beiträge, und namentlich die Kunst des „Festmachens“ blühte in den oft wiederkehrenden Kriegsjahren. Stets fanden sich Zauberer und Hexen, die den Krieger hieb- und stichfest zu machen wußten, und der Glaube an diese Kunst erhielt sich bis in die neuere Zeit hinein. Durch solche Zaubermittel ist namentlich ein Passauer Scharfrichter berühmt geworden, der im Jahre 1611 den Soldaten des Erzherzogs Matthias einen Talisman gegen Hieb, Schuß und Stich verkaufte. Das vielbegehrte Mittel bestand aus einem Stücke Papier von Thalergröße, welches mit allerlei wunderlichen Figuren bezeichnet war und welches die biederen Soldaten unter Beobachtung von geheimnißvollen Vorschriften verschlingen mußten. Der Scharfrichter war weit und breit bekannt, und die „Passauer Kunst“ konnte noch von seinen Nachkommen ausgebeutet werden. Viele brauchten zu diesem Zwecke keinen Scharfrichter, sondern gingen um die Mitternachtsstunde auf Hochgerichte, an Kreuzwege u. dergl. und ließen sich dort von dem Teufel selbst festmachen.
Aber die Talismane gegen den Tod durch Waffen genügten nicht. Der große Haufen wollte ein wirksames und bequemes Mittel zur Verlängerung des Lebens überhaupt haben, und sein Wunsch wurde stets befriedigt, so auch in diesem Falle, wo ihm sogar die Wissenschaft entgegenkam.
[59] Es war allerdings nach unseren Begriffen eine sonderbare Wissenschaft, die jedoch durch Jahrhunderte die Gemüther beherrschte, die Alchemie, welche auf chemischem Wege ein wunderkräftiges Präparat, den „Stein der Weisen“, darzustellen suchte. Dieser Stein sollte nicht allein alle unedlen Metalle in Gold verwandeln, sondern auch, als Arzneimittel benutzt, alle Krankheiten heilen, den Körper verjüngen und das Leben verlängern. Es waren eigenthümliche Leute, die Bekenner dieser geheimnißvollen Lehre. Man kann sie schwerlich Betrüger nennen, denn sie waren fast Alle von der Erreichbarkeit ihres Ziels überzeugt; Alle von dem menschlichen Drange beseelt, geheime Wahrheiten zu ergründen, und Viele von ihnen unglückliche Opfer eines folgenschweren wissenschaftlichen Irrthums. Zu ihrem Unheile fanden sie stets Gläubige, die auf ihr Versprechen bauten und, wenn dieses nicht erfüllt werden konnte, sie als abgefeimte Betrüger verfolgten. Freilich war es in erster Linie niedrige Goldgier, welche sowohl die Meister wie ihre Kunden verblendete. Die Adepten, wie man die Goldköche nannte, wurden stets von einem traurigen Schicksale ereilt, welches um ihre Wissenschaft den Sagenkreis des Ungewöhnlichen und Tragischen wob und ihr stets neue Schüler zuzog. Der Adept Don Caëtano[WS 1], ein Bauernsohn aus Neapel, wurde in den ersten Tagen des Entzückens vom Kurfürsten von Baiern zum Feldmarschall und Titularcommandanten von München ernannt. Als er dort seine Rolle ausgespielt hatte und flüchtig nach Berlin kam, wiederholte sich dieselbe Geschichte. Friedrich I. von Preußen ernannte ihn zum General der Artillerie und ehrte ihn wie einen Fürsten, weil er versprach, in 60 Tagen 6,000,000 Thaler Gold zu machen. Vier Jahre darauf wurde er gehängt. Der Betrüger Mamugnano und viele andere büßten die Grundlosigkeit ihrer Versprechungen an einem vergoldeten Galgen, an dem sie selbst in Flittergold gehüllt aufgeknüpft wurden. Daraus aber, daß diese Alchemisten auch ihr zweites Versprechen, durch den Stein der Weisen Krankheiten zu heilen und das Leben zu verlängern, nicht halten konnten, scheint man ihnen weniger Vorwürfe gemacht zu haben. Darum verzichteten auch einige von ihnen auf alle Goldkocherei und suchten in Anfertigung von Lebenselixiren u. dergl. ihr Heil.
Die Sturmzeit der Reformation hat zunächst eine ganze Reihe derartiger Aerzte geboren, die darauf hinausgingen, den unwissenden Pöbel zu blenden und seine Taschen zu plündern. Ein von dem revolutionären Geiste dieser Periode erfüllter Mann, dem es weder an höherer Begabung noch an Beredtsamkeit gefehlt hatte, ebnete dieser unsauberen Gesellschaft die Wege, obwohl man ihn selbst schwerlich unlauterer Absichten beschuldigen kann. Es war Paracelsus, oder wie er sich selbst nannte: Aureolus Philippus Theophrastus Paracelsus Bombastus ab Hohenheim, der heiligen Schrift Professor, der freien Künste und beider Arznei Doctor, Medicus et Germaniae philosophus, Monarcha medicorum et Mysteriarcha, chemicorum princeps, Helvetius Eremita. Dieser Mann, dessen Herkommen zweifelhaft ist und der im Jahre 1493 in der Schweiz geboren sein soll, trat zuerst im Jahre 1527 zu Basel als Professor der Physik und Chirurgie auf und führte hier zum großen Skandale seiner Zeitgenossen zwei Neuerungen ein. Er verwarf die alten medicinischen Autoritäten und bediente sich bei seinen Vorträgen der deutschen Sprache. Dabei schimpfte er auf alle anderen Aerzte und verbrannte öffentlich die Werke des Avicenna: „ich hab’ die Summa der Bücher in St. Johannis Feuer geworfen, auf daß alles Unglück mit dem Rauch in die Luft gang.“ „Von der Natur bin ich nicht subtil gesponnen; es ist auch nicht unsre Landesart, die wir unter Tannzapfen aufwachsen,“ sagte er einmal von sich selbst. In Basel gerieth er mit einem Geistlichen über ein ärztliches Honorar in Streit, und als der Magistrat gegen ihn entschied, verunglimpfte er öffentlich den Rath und ließ „böse Zettel“ fliegen. In Folge dessen mußte er aus Basel flüchten und zog nun, seinem Spruche: „Der Arzt soll ein Landfahrer sein“, gemäß, unstät von Ort zu Ort. Gut soll es ihm dabei nicht ergangen sein, und er starb 1541 plötzlich in Salzburg, obwohl er im Besitze eines Lebensverlängerungsmittels war. Wie man behauptet, soll er bei einem Gelage von seinen Feinden die Treppe hinuntergeworfen worden und an einem Schädelbruche gestorben sein.
Paracelsus wußte seine Zuhörer zu fesseln und vergaß nie seine Bedeutung hervorzukehren: „Man lästert und schreit von mir,“ schrieb er, „ich sei nicht zur rechten Thür eingegangen; aber welches ist die rechte: Galenus, Avicenna, Mesue oder die offene Natur? Ich glaube die letztere! Diese Thür ging ich ein: das Licht der Natur und kein Apothekerlämpchen leuchtet mir auf meinem Wege.“ Aber der Baseler Professor und spätere Landfahrerarzt kümmerte sich im Grunde wenig um die Natur, baute vielmehr ein phantastisches System auf, nach welchem gegen jede Krankheit ein besonderes Heilmittel in der Natur vorhanden sein müsse.
Seine Schüler haben den Heilschatz nach dieser Methode erweitert, und wir wollen hier aus demselben nur einige Beispiele anführen: Das kleine Hauslauch hat in seinen Blättern Aehnlichkeit mit dem Zahnfleisch; darum ist es ein gutes Mittel gegen Scorbut. Die Wurzel der Zaunrübe sieht wie ein geschwollener Fuß aus, darum ist sie ein gutes Mittel gegen die Wassersucht etc. Außerdem hat aber Paracelsus noch eine Reihe von Hauptmitteln aufgestellt, die eine größere Anzahl von Krankheiten heilen oder gar den „unreinen Leib in den reinen“ verwandeln sollen.
Mit seinen vielen Schülern war er durchaus unzufrieden, und klagt selbst über dieselben: „sie haben mir die Federn vom Rock gelesen, gedient und gelächelt, wie ein Hündlein herumgestrichen und angehangen. Dieß konnten nur Erzschelme sein.“ „Was ich von Aerzten geboren habe: aus den Hundert von Pannonia sind zween wohlgerathen; aus der Confyn Poloniae drei, aus den Regionen der Saxen zween, aus den Slavonien einer, aus Bohemien einer, aus dem Niederland einer, aus Schwaben keiner.“ In der That hat er auch, wie C. A. Wunderlich in seiner „Geschichte der Medicin“ bemerkt, nur einen Haufen von Gauklern und Wirrköpfen erzogen, nur Adepten und Goldmacher bemächtigten sich seiner Lehre.
Der berühmteste unter seinen Schülern war der Charlatan Thurneyssen (1530 bis 1595), den Hufeland in seiner Makrobiotik trefflich charakterisirte: erst Goldschmied, dann Soldat, später Bergmann und zuletzt ärztlicher Charlatan, erschwindelte er sich die Gunst des Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg, an dessen Hofe er lebte. Seine Specialität bestand namentlich im Prophezeien der Lebensdauer aus den Sternen. Außerdem war er Chemist, Kalendermacher, Buchdrucker und Buchhändler, alles in einer Person. Sein Ruf in der Astrologie war so groß, daß fast in keinem angesehenen Hause in Deutschland, Polen, Ungarn, Dänemark, ja selbst England ein Kind geboren wurde, ohne daß man sogleich einen Boten mit der Bestimmung der Geburtsstunde an ihn absendete. Außerdem schrieb er noch jährlich einen astrologischen Kalender, in welchem die Hauptbegebenheiten und die Tage derselben mit kurzen Worten oder Zeichen angegeben waren. Freilich lieferte er gewöhnlich die Auslegung erst das Jahr darnach. Trotzdem hatte der Kalender einen reißenden Abgang und verschaffte nebst anderen Charlatanerien dem Verfasser ein Vermögen von einigen Hunderttausend Gulden. Aber wie gewonnen, so zerronnen! Thurneyssen starb nach manchen Abenteuern in Armuth zu Köln.
Wir wenden uns jetzt zwei falschen Grafen zu, welche in der Geschichte der Lebensverlängerungsmittel die hervorragendste Rolle gespielt und namentlich die höheren Kreise der Gesellschaft in frechster Weise ausgebeutet haben.
Graf von St. Germain[WS 2] war ein Abenteurer von dunkler Herkunft. Friedrich der Große nannte ihn „einen Menschen, den man niemals enträthseln konnte“, und die Zeitgenossen hielten ihn bald für einen spanischen Jesuiten, bald für einen elsässer Juden oder für den Sohn eines Steuereinnehmers Rolando zu St. Germano in Savoyen. Er selbst gab vor, 2000 oder 3000 Jahre alt zu sein, und erzählte, daß er den Heiland sowie die zwölf Apostel sehr gut gekannt und den heiligen Petrus einmal gemahnt habe, seine Heftigkeit zu mäßigen. Er hieß nicht immer Graf von St. Germain, sondern trieb sich unter verschiedenen Namen umher; in Venedig trat er als Comte de Bellamare, in Pisa als Chevalier Schöning und in Genua als Graf Soltykow auf. Der Mann besaß manche nützliche Kenntnisse, sprach fast alle lebenden Sprachen, spielte fast alle Instrumente, namentlich die Violine mit wunderbarer Vollendung und schrieb, was man ihm dictirte, zugleich mit beiden Händen auf zwei Bogen Papier, ohne daß man unterscheiden konnte, was mit der rechten und was mit der linken Hand geschrieben war.
Seine Hauptkunst will er in Indien gelernt haben. Von dort brachte er das Recept für seinen wunderbaren Thee, welcher dem Alter die Kraft und die Schönheit der Jugend wieder verleihen sollte und der noch lange nach seinem Tode viel begehrt wurde, [60] obwohl er im Grunde nur ein leicht wirkendes Abführmittel war. Mit diesem Thee und anderen Vorspiegelungen, namentlich mit seinem Lebenselixir, wußte er Könige, Fürsten, Herzöge und Markgrafen zu beschwindeln, und die Geschichte seiner Hochstaplerfahrten füllt dicke Folianten. Den „tausendjährigen Mann“ erreichte schließlich zu Eckernförde im Jahre 1780 der unerbittliche Tod.
Diesen Hochstaplerfürsten übertraf an Unverschämtheit und Raffinirtheit sein Zeitgenosse Cagliostro[WS 3]. Er hieß eigentlich Joseph Balsamo und wurde von armen Eltern in Palermo geboren. Der Beruf eines Mönches, für den man ihn bestimmt hatte, sagte dem begabten Menschen wenig zu, und nachdem er in der Klosterapotheke ein wenig von der Arzneikunst gelernt hatte, zog er als Taschenspieler, Schatzgräber, Schriftenverfälscher u. dergl. in die Welt. In Rom ging ihm ein neues Licht auf. Er heirathete dort die reizende Tochter eines Kupferschmieds Lorenza Feliciani und wanderte mit ihr unter allerlei fremden, hochklingenden Namen in’s Ausland. Die schöne Lorenza wußte sich in ihr Schicksal einzufinden und unterstützte nach Kräften durch allerlei Verführungskünste ihren nichts weniger als eifersüchtigen Herrn und Gebieter.
Als das nette Gaunerpaar zum zweiten Male London besuchte, legte sich der Gemahl den Namen Graf Cagliostro bei und wiederholte die Schwindeleien seines pseudogräflichen Vetters St. Germain. Mit staunenswerther Geschicklichkeit log er den leichtgläubigen Mitgliedern der damals wenig gebildeten Aristokratie den ungeheuerlichsten Unsinn vor. Er versicherte einmal, er habe schon vor der Sündfluth gelebt und mit Noah die Arche betreten, dann erzählte er wieder, er sei zu Mekka geboren, zu Medina von dem weisen Althotas erzogen worden und habe in den unterirdischen Gemächern der größten Pyramide den letzten Unterricht genossen. Auch die dunkle Stelle im ersten Buche Mosis von der Verbindung der Kinder Gottes mit den Töchtern der Menschen mußte für seine Schwindeleien herhalten, denn mehr als einmal leitete er von dieser Verbindung seine Geburt ab.
Aber der Haupttrumpf, den er ausspielte, war seine Lehre von der ersten ägyptischen Maurerei, deren „großer Kophta“ er war. Als solcher versprach er seinen Ordensbrüdern die physische und, was das Beste war, die moralische Wiederherstellung. Durch den Stein der Weisen wußte er die Menschen in jenen paradiesischen Zustand, der durch die Erbsünde verloren gegangen war, zurückzuversetzen. Nach seiner Lehre konnte der nach Wiedergeburt strebende Mensch 5557 Jahre leben, aber nur ein Mann von vollen 50 Jahren und eine Frau oder ein Mädchen nach vollendetem 36. Jahre konnten physisch wiedergeboren werden. Er speculirte also vornehmlich auf die Schwächen des Alters, wie er ja auch Schönheitswasser mit Vorliebe an alte runzlige Damen verkaufte. Wie erlangte jedoch der Mensch jenen paradiesischen Zustand? Die Procedur war recht umständlich. Sie begann mit einer vierzigtägigen strengen Diät in einem entlegenen Landhause vom Vollmonde des Mai an, bestand ferner in abführenden Kräutern, „Tropfen des Kophta“ und in einem leichten Aderlaß, der am 32. Tage gemacht werden mußte. Nun konnten die nach ihrer Wiedergeburt Strebenden warten, bis der Eintritt von Convulsionen, Fieber und Sinnesverwirrung und während derselben Verlust der Haut, der Haare, der Zähne erfolgt waren. Dann, wenn das alles überstanden war, sollten sie ein Bad nehmen, und nachdem ihnen der Meister etwas von seiner „ersten Materie“ (einem Geheimmittel) gegeben, kam die Haut und erschienen die Zähne in strahlender Gestalt, und die Wiedergeburt war auf 50 Jahre gesichert.
Mit solchem Unsinn wußte der gewandte Schwindler die angesehensten Personen seiner Zeit zu hintergehen und imponirte selbst Gelehrten vom Schlage eines Lavater. Aber man hat endlich seine Betrügereien durchschaut, und in der Heimathstadt seiner schönen Lorenza kam er hinter Schloß und Riegel. Am 7. April 1791 verurtheilte ihn das römische Inquisitionsgericht zum Scheiterhaufen, aber der Papst Pius VI. verwandelte die Todesstrafe in lebenslängliches Gefängniß. Im Kerker zu St. Leo starb der entlarvte und verlassene Betrüger im Sommer des Jahres 1795, wie man behauptet, eines gewaltsamen Todes.
In die Fußstapfen dieser Grafen trat im Laufe der Zeit auch der Entdecker des sogenannten „thierischen Magnetismus“, der Wiener Arzt Anton Mesmer, der in Paris sein Glück versuchte, bis er mit Noth der Guillotine entging und ziemlich zurückgezogen in der Schweiz starb. Seine Schicksale sind allgemein bekannt, und wir wollen hier nur einen Aufruf des Pater Hervier anführen, um zu zeigen, was Mesmer und seine Schüler versprachen.
„Seht eine Entdeckung,“ heißt es an der betreffenden Stelle, „die dem Menschengeschlecht unschätzbare Vortheile und ihrem Erfinder ewigen Ruhm bringen wird. Seht eine allgemeine Revolution! Andere Menschen werden die Erde bewohnen; sie werden durch keine Schwachheiten in ihrer Laufbahn aufgehalten werden und unsere Uebel nur aus der Erzählung kennen. Die Mütter werden stärkere Kinder zur Welt bringen, welche die Thätigkeit, Energie und Anmuth der Urwelt erhalten werden. Thiere und Pflanzen, gleich empfänglich für die magnetische Kraft, werden frei von Krankheiten sein. Die Heerden werden sich leichter vermehren, die Gewächse in unsern Gärten werden mehr Kräfte haben und die Bäume schönere Früchte geben. Der menschliche Geist im Besitz dieses Wesens wird vielleicht der Natur noch wunderbarere Wirkungen gebieten. Wer kann wissen, wie weit sich sein Einfluß erstrecken wird?“
Um dieselbe Zeit wußte ein gewisser Dr. Graham[WS 4] in London die neu erworbene Kenntniß von der Wirkung der Elektricität auf den menschlichen Körper zu Schwindeleien zu verwerthen, indem er sein „himmlisches Bett“ construirte, welches den darin Liegenden neue Lebenskraft verleihen sollte. Das wunderbare Bett fand ein jähes Ende unter den Händen unbarmherziger Gläubiger und wurde stückweise in einer öffentlichen Auction versteigert.
Das Auftreten aller dieser Schwindler wäre natürlich nicht möglich gewesen, wenn die echten Forscher jener Zeit das Räthsel des Lebens hätten lösen können. Aber auch sie waren vielfach im Irrthum befangen und erörterten, durch die Erscheinungen des Winterschlafes veranlaßt, die Frage, ob nicht das Leben durch künstliche Herbeiführung eines ähnlichen Zustandes verlängert werden könne. Aber nicht Jeder von ihnen half sich dabei in humoristischer Weise aus der Schlinge, wie dies der große Franklin verstand.
In einer Sendung von Madeirawein fand er einmal einige Fliegen, die anscheinend todt waren, im Sonnenschein aber wieder zum Leben zurückkehrten. Dieser scharfsinnige Philosoph, erzählt Hufeland, warf sich nun die Frage auf, ob nicht in ähnlicher Weise auch die Erhaltung des Lebens beim Menschen möglich sei. „Und wenn dies der Fall wäre,“ soll er als echter Patriot hinzu gesetzt haben, „so könnte ich mir keine größere Freude denken, als auch mich auf diese Art nebst einigen guten Freunden in Madeirawein ersaufen zu lassen, und nun nach fünfzig oder mehr Jahren durch die wohlthätigen Sonnenstrahlen meines Vaterlandes wieder in’s Leben gerufen zu werden, um zu sehen, was für Früchte die Saat getragen, welche Veränderungen die Zeit vorgenommen hätte.“
Die Aufklärung des neunzehnten Jahrhunderts hat diesen Schwindel in der alten Form unmöglich gemacht, es ist ihr aber keineswegs gelungen, ihn gänzlich zu vernichten. Neue Gaukler sind aufgetaucht und segeln lustig unter neuer Flagge. Mit allerlei Geheimmitteln, mit Pülverchen, Pillen, Tincturen etc. curiren sie allerlei Krankheiten. Sie sind die Zauberer, die jeden Rheumatismus, jede Lungenschwindsucht, jedes Magen- oder Leberleiden aus der Welt schaffen. Sie sind die Tausendkünstler, die um die kahlen Lippen eitler Jünglinge den üppigsten Schnurrbart sprießen lassen, die von der Haut gefallsüchtiger Jungfrauen die Sommersprossen wegtilgen und die kahlen Glatzen alter Hagestolze mit wallenden Locken versehen. Sie sind die Wunderthäter, die mit einem Fläschchen für ein paar Mark den Siechen die Regeneration, die Wiedergeburt ihres Körpers versprechen. Ja, lächelt nur, ihr Cagliostro und St. Germain! Eure Art ist nicht ausgestorben, sie blüht und gedeiht in dem Jahrhunderte der Aufklärung. Seht, an den Verkäufer eines einzigen Geheimmittels sind im Verlauf von drei Jahren 178,000 Mark durch Posteinzahlung gelangt. Ein anderer Geheimmittelfabrikant hat in einem Jahre nach Postausweisen 300,000 Mark eingenommen und in einem Vierteljahre 6000 Mark Insertionskosten bezahlt. Ja, der Lebensverlängerungs-Schwindel hat auch in unserer Zeit nicht aufgehört, er ist nur gemeiner geworden, denn er plündert nicht die Reichen, wie Cagliostro und St. Germain es gethan, sondern er beutet die armen Kranken aus.[61]
Grelle Gegensätze sind keine Seltenheit in unserem Menschenleben, scheinen sich aber doch an manchen Orten häufiger zu zeigen, oder treten da auffälliger hervor, als anderswo. Eine solche Stadt schärfster Kontraste ist ohne Zweifel Paris für Jeden, dem beim Durchwandeln derselben neben dem Bilde der Gegenwart das der Vergangenheit im Geiste vor Augen steht. Wie heiter grüßt uns die Landschaft, in welche die Häusermasse sich hingelagert hat, und wie heiter grüßen uns diese mit feinster Decorationsmeisterschaft für den Blick oft endlos dahingezogenen Straßenreihen, die immer im Festschmuck prangenden Plätze und die Prachtbauten, in welchen der schaffende Menschengeist seine Schätze in Fülle der Bewunderung aller Welt vorlegt! Und dennoch verlassen uns die dunklen Schatten nicht, mit welchen die Geschichte an so vielen Stellen diese Herrlichkeit bedeckt, wo die Erinnerungen an die Unthaten des Wahns und der Gewalt uns die Großthaten des Genius nicht rein und voll genießen lassen.
Am schärfsten trat mir dieser Zwiespalt der Empfindungen vor zwei Plätzen entgegen: vor dem ehemaligen Grève- und vor dem Concordienplatz. Der Raum, der vor der Façade des Pariser Rathhauses sich ausdehnt, würde eine herzerfreuende Augenweide sein, und noch mehr der von Kunst und Natur gleich eifrig und reich ausgestattete Concordienplatz, wenn uns nicht ein Grausen vor deren Vergangenheit überrieselte. Beide waren Hinrichtungsorte, und an beiden hat die Tyrannei der Fürsten und des Volks ihre Opfer in furchtbarer Zahl hingeschlachtet. An beiden war es möglich geworden, eine humanere Hinrichtungsweise sogar mit dem Fluch der Welt zu belasten. Die Guillotine ist es, an deren Schreckensherrschaft wir auf beiden Plätzen gemahnt werden, ehe wir zum Genuß der Anschauung und der heiteren Pracht beider gelangen können.
Wer nur einen flüchtigen Blick auf die entsetzliche Reihe der verschiedenen Hinrichtungsweisen zu den verschiedenen Zeiten und bei den verschiedenen Nationen wirft – von einem näheren Eingehen auf das widerwärtigste Zeugniß für die Gestaltungskraft der menschlichen Phantasie im Unmenschlichen kann hier gar nicht die Rede sein! – der wird finden, daß die mildeste Form der Hinrichtung die Enthauptung war. Aber ihr haftete noch eine große Härte an, und das war die Unsicherheit in der Führung des Scharfrichterschwertes.
Der Gedanke an eine Sicherung und Abkürzung dieser Hinrichtungsart konnte deshalb wohl zu einer Zeit aufsteigen, in welcher politischer Parteihaß sich des Richterstuhls bemächtigte und Fällung und Ausführung von Todesurtheilen bald eine tägliche Arbeit wurde. In einer solchen Zeit war es, wo ein Pariser Arzt, der wegen des Freimuths, den er im Kampfe für die Säuberung des ärztlichen Berufs von allerlei geduldetem Unwesen erwiesen, zum Mitgliede der Nationalversammlung gewählt worden war, Joseph Ignaz Guillotin, in einer Sitzung (am 10. October 1789) die Ansicht aussprach, daß man die bis dahin üblichen, für die Verbrecher jedes Standes und Geschlechts und sogar für das Maß [62] des Verbrechens verschiedenen Todesstrafen in eine einzige, für Alle gleiche umwandeln und diese mittelst einer Maschine (un simple mécanisme) zu möglichst schneller und sicherer Ausführung bringen sollte. Ueber die Art dieser Maschine war man noch nicht im Klaren, auch noch am 21. December nicht, wo doch Guillotin’s Antrag in der Nationalversammlung angenommen wurde. Daß die Todesstrafe in der Enthauptung bestehen solle, wurde erst um die Mitte des Jahres 1791, und zwar auf Antrag des Deputirten Felix Lepelletier, zum Beschluß erhoben, und da der Secretär der Wundärzte in Paris, Ant. Louis, der Nationalversammlung über eine in England gebräuchliche Köpfmaschine Bericht erstattete, so entschied man sich für einen Versuch mit einer solchen.
Am 25. April 1792 war der Tag, wo die Erprobung der ersten Köpfmaschine stattfand. Sie war an der alten Hinrichtungsstätte, auf dem Grèveplatze, errichtet, und soll von einem deutschen Mechaniker, Namens Schmitt, hergestellt und erst an Leichen im Bicêtre erprobt worden sein. Ein Straßenräuber, dessen Name sogar der Nachwelt erhalten ist (er hieß Nic. Pelletier), wurde der erste – Guillotinirte. Denn wunderlicher Weise war es die Volksstimme, welche dieser, doch eigentlich von Ant. Louis empfohlenen, und anfangs auch Louisette oder „petite Louison“ genannten Maschine den Namen „Guillotine“ gab, offenbar zu Ehren des hochgeachteten Arztes, der zuerst den humanen Gedanken einer solchen Hinrichtungsweise ausgesprochen hatte. – Und hier stehen wir abermals vor einem fast grausamen Contrast: der Lohn des Volks ist durch den Mißbrauch, den die furchtbarste Wahnzeit der Revolution mit dieser Köpfmaschine getrieben, zum lebenslangen Unglücke für den unschuldigen Mann geworden. Was Abbé Maury schon bei der ersten Erwähnung einer solchen Hinrichtungsweise als Befürchtung äußerte, war zur Wahrheit geworden: die Masse des Volks wurde durch die Gewohnheit des Anblicks so vielen Blutes entsinnlicht, sie sank auf dieselbe Stufe thierischer Rohheit hinab, auf welche der religiöse Wahnwitz einst die Könige und Priester Spaniens hinabgedrückt hatte, als sie Hinrichtungen als Feste feierten. Scheiterhaufen und Guillotine haben Tausende unschuldiger und oft edelster Menschen einem und demselben Moloch geopfert.
Wenn uns aber auf dem Grèveplatze aus geschichtlichen Erinnerungen ein Blutgeruch entgegenweht, so trägt die Guillotine daran die wenigste Schuld. Hier haben drei Jahrhunderte lang vor ihr die französischen Regenten die Saat zur großen, dann auch erbarmungslosen Revolution ausgestreut. Ch. Nodier sagt: „Wenn alle Schreie, welche die Verzweiflung hier ausgestoßen hat, sich in Einen sammeln könnten, so würde er in ganz Frankreich bis zu seinem äußersten Ende gehört werden.“
Die Guillotine wurde kurze Zeit nach ihrer Erprobung nach dem Concordienplatz übergeführt. Damals hieß er der Revolutionsplatz. In der Mitte desselben hatte die Erzstatue Ludwig’s XV. gestanden; man hatte aus derselben Zweisousstücke münzen lassen, auf das Piedestal eine Freiheitsgöttin von Gyps gestellt und ihr zu Füßen die Guillotine in Permanenz errichtet.
Wie viel Blut ist in diesen Boden gesickert! Und wenn man nur die bekanntesten Namen nennt, so ergiebt sich eine erschreckend lange Reihe von Blutopfern des Revolutionstribunals. Ludwig XVI. endete hier am 21. Januar 1793, am 17. Juli Charlotte Corday, am 2. October Brissot mit den Häuptern der Girondisten, am 16. October die Königin Marie Antoinette, am 16. November Philipp Egalité, der Herzog von Orleans; im folgenden Jahre begann dann die gegenseitige Vernichtung der Parteien, ein Blutrichter schleppte in rascher Folge den andern auf’s Gerüst: am 5. April 1794 verendeten hier Danton, Desmoulins, Fabre d’Eglantine, Hérault de Séchelles, Philippeaux und viele Andere, am 13. April folgten ihnen die Frauen von Camille Desmoulins, Hébert und Andere, aber auch die Revolutionsfanatiker Anacharsis Klotz von Cleve und Chaumette. Ludwig’s XVI. Schwester, die Madame Elisabeth, starb am 12. Mai. In dieser Zeit beschleunigte das Revolutionstribunal seine Arbeiten in einer Weise, daß täglich in Paris allein 60 bis 70 Hinrichtungen stattfinden konnten. Endlich wurden auch, am 28. Juli, Robespierre, Henriot, Couthon und Saint-Just auf das bluttriefende Brett gestreckt, und viele Mitglieder der Commune schlossen am 29. und 30. Juli ihre Reihen. Bis zum 3. Mai 1795 betrug, seit dem Tode des Königs, die Zahl der auf dem Concordienplatz Hingerichteten etwa 3000. Heute erhebt sich am alten Guillotinenplatz der Obelisk von Luxor.
Werfen wir einen Blick auf unsere Illustration! Der Künstler führt uns in die Versammlung offenbar zu einer Zeit, wo die fanatische Verfolgung aller Verdächtigen durch das Revolutionstribunal bereits begonnen. Die Feindschaft zwischen der „Gironde“ und der Partei des „Bergs“ (so genannt, weil die Mitglieder derselben ihre Plätze in den höchsten Sitzreihen einnahmen) war schon offenbar, und darum von so vielen Seiten der anwesenden Volksvertreter die helle Freude über das neue Mordinstrument, dessen Gebrauch soeben Guillotin der Versammlung erklärt. Die zur Höhe hinauf gerichteten Blicke, Winke und Rufe der Zustimmung gelten wohl den oben weilenden Männern des Bergs, auch wohl den Insassen der Gallerien. Das Modell selbst bedarf wohl keiner Erklärung. Nur das dürfte zu bemerken sein, daß es nicht nur feststehende und von Ort zu Ort wandernde Guillotinen gab, man stellte auch dergleichen aus Eisen und aus Stahl her, welche dazu dienten, Verurtheilte, die den Karren nicht besteigen konnten, im Hause zu guillotiniren. Unsere Abbildung bietet noch das besondere Interesse, daß wir die Mehrzahl der Anwesenden, welche die neue Köpfmaschine bejubeln, weil sie für die rasche Beseitigung der Feinde so vielverheißend ist, als Futter dieses Ungeheuers betrachten können. Nur von Einem, von Guillotin selbst, wissen wir das Gegentheil.
Es ist lange Zeit behauptet worden, daß Guillotin seiner eigenen Erfindung zum Opfer gefallen sei. Dies ist falsch. Der Freimuth, welchem er seinen Platz in der Nationalversammlung verdankte, hatte ihn während der Schreckenszeit in’s Gefängniß geführt, und er würde den Weg aller Insassen dieser Räume gewandelt sein, wenn nicht der 9. Thermidor ihm die Freiheit wieder gegeben hätte. Die Ruhe seiner Seele konnte ihm aber nichts wieder geben. Der Fluch, welcher durch das Wüthen der Guillotine auf seinen Namen gefallen war, drückte ihn nieder. Als ein zurückgezogener unglücklicher Mann starb er, zwei Tage vor seinem 66. Geburtstag, am 26. Mai 1814. Sein Sohn erbat und erhielt vom König Karl X. die Erlaubniß, den vervehmten Namen mit einem andern zu vertauschen.
Und doch war der arme Vervehmte doppelt unschuldig, denn, abgesehen von seinem humanen Zweck, war er ja nicht einmal der Erfinder der Maschine, so wenig wie Louis oder Schmitt. Die Erfindung von Hinrichtungsmaschinen, bei welchen durch ein in bestimmter Richtung niederfallendes Beil der Kopf vom Rumpfe eines Menschen getrennt wurde, ist schon sehr alt und wird den Persern zugeschrieben. Wir finden sie zuerst in Italien wieder, wo sie Mannaia hieß und den Vorzug genoß, daß nur Adelige mittels derselben hingerichtet wurden. Es ist wohl dieselbe Einrichtung, welche von den Deutschen die „Welsche Falle“ genannt wurde, und durch welche auch der letzte Hohenstaufe Conradin in Neapel den Tod fand.
Im 13. Jahrhundert taucht in Böhmen und im folgenden auch in Deutschland ein solches Instrument auf, das Diele, Dolabra und Hobel genannt wurde. Im 17. Jahrhundert stellte ein böhmischer Maler, L. Häring, die Hinrichtung der Apostel Jacobus und Matthäus dar, die er ebenfalls mit Hülfe einer Art Guillotine geschehen läßt. Das englische Vorbild derselben, Gibbet, schottisch Maid, die Jungfer, benannt, kennt man ebenfalls schon im 17. Jahrhundert; damals muß man ein ähnliches auch in Frankreich gekannt haben, wie aus der Erzählung der Hinrichtung des Herzogs von Montmorency 1632 in Toulouse hervorgeht. Guillotin’s Märtyrerthum war demnach in keiner Weise gerechtfertigt. In vielen Staaten, wo die Todesstrafe noch zu Recht besteht, waltet auch heute die Guillotine ihres blutigen Amtes, aber ihr Beil erreicht nur die gemeinen Verbrecher. Politische Massenhinrichtungen möchte man bei der allgemeinen Aufklärung in unserer Zeit für unmöglich erklären, wenn uns nicht der Kampf der Commune in Paris doch die Möglichkeit einer Wiederkehr so entsetzlicher Anwendung der Guillotine hätte befürchten lassen müssen. Darum kann es nur das Streben der Vaterlands- und Menschenfreunde aller Völker sein, daß in der hohen Entwickelung des Rechtsbewußtseins in allen Schichten der Bevölkerung und in den freiheitlichen Verfassungen der civilisirten Staaten die beste Garantie dafür gegeben werde, daß selbst die tiefsten Umwälzungen auf politischem und socialem Gebiete sich künftig in friedlicher Weise vollziehen können. Fr. Hfm.
[63]
Dschapei.
(Fortsetzung.)
Woche um Woche verging in solcher Weise. Da brachten die ersten Junitage einen anhaltend warmen Regen, der die Fluren im Thale tiefgrüner noch und satter färbte, und der auch die hochgelegensten Bäume der Berge zu sichtlichem Leben weckte.
Eines Freitags nun kehrte Nannei, die am frühen Morgen in Tagelohn gegangen war, lange vor Feierabend nach Hause. Im Hofraume kam ihr das Dschapei entgegen gelaufen und schnupperte an ihrer Tasche, in welcher das Mädchen sonst immer ein Rinkelchen Brod, ein Stückchen Zucker oder ein Bröckchen Viehsalz für den weißwolligen Liebling mit heimgebracht hatte.
„Uijegerl,“ rief Nannei, „mein Gott, Dschapei, heut’ hab’ ich ganz vergessen auf dich – vor lauter Freude“ Dabei faßte sie das Thierchen bei den Vorderfüßen und zog es an ihre Brust empor. „Dschapei – ja denk’ dir nur g’rad – morgen – morgen geht’s dahin – ’nauf auf d’ Alm! Du, da paß auf, da wirst aber spannen[1]! Du, da is schön! Da kannst ’nunter schauen in’s Thal, weitmächtig weit – und in d’ Höh’ an die Felsen! Du – und da giebt’s Hirschein und Gamsein – ja, aber da mußt fein Obacht geben, daß dich kein’s derwischt mit seine spitzigen Hackeln –“
„Nannei!“ scholl aus dem Häuschen die Stimme der alten Baslerin.
„Ja, ja – ich komme schon!“ rief das Mädchen entgegen – und als es hurtig der Thür zuschritt, hüpfte das Dschapei in possierlichen Sprüngen hinter ihm her, just als ob es die Freude der Nannei verstände und theilte.
Drinnen in der Stube wiederholte das Mädchen die heimgebrachte Neuigkeit in etwas kürzeren, fast gedrückten Worten:
„Mutterle – morgen wird auf’trieben. Vierzehn Tag’ bleiben wir – sie meinte sich und die Kühe – „im Wimbachthal auf der Griesalm, und nachher geht’s ’nauf am Trischübl. Ja – morgen in der Früh um fünf Uhr muß ich drunten sein beim Almbauer.“
Ein tiefer, schnaubender Seufzer bildete die ganze Antwort der alten Baslerin.
Auf der Tischplatte war ein kleiner Wasserfleck; da mochte wohl ein Trinkglas gestanden sein; und den erweiterte Nannei mit dem Finger zu einer strahlenden Sonne. Nach einer Weile sagte sie:
„Vierzehn Stück kriege ich mit; die andern achzehn kommen in der nächsten Woche mit der Resei und ihrem Bruder ’nauf in’s Gotzenthal.“
„Viel is – viel – das heißt, für eins allein,“ erwiderte die Alte mit sorglicher Miene. „Aber mein – da is jetzt nix mehr z’machen. Jetzt geh halt – geh; und richt’ Deine sieben Zwetschgen z’samm’, damit doch zeitig schlafen kommst. Der zieht sich schon recht, der Weg.“
„Ah na – es is net so arg – fünf Stund’ – da dermacht man’s leicht.“
Langsam kehrte sich Nannei vom Tische und schritt, von ihrem Dschapei gefolgt, der Kammer zu.
Wieder seufzte die alte Baslerin, tiefer und lauter noch als zuvor, dann schüttelte sie den grauen Kopf und klapperte weiter mit den Nadeln.
In banger Sorge hatte sie all die Wochen her dem Tage entgegengesehen, an welchem Nannei zu Berge ziehen sollte. Doch war die Ursache dieser Sorge nicht der Umstand, daß sie nun für lange Monate ihr Nannei missen, und verlassen und allein in dem stillen Häuschen verbleiben sollte – das mußte so sein, das ging nun einmal nicht anders. Die alte Baslerin war ein kluges, durch ein hartes Leben verstandsam gemachtes Weiberleut; sie wußte sich rasch und schnell mit der Nothwendigkeit abzufinden. Aber – aber –.
Ja – dieses „aber“!
Damals schon, am Ostersonntage, war es noch an’s Licht gekommen, was hinter jener plötzlichen und ungewöhnlich großen Freigiebigkeit des Almbauern eigentlich steckte. Der pure Geiz!
„Du, Mutterle,“ hatte Nannei gesagt, als sie den Korb mit dem heimgebrachten Ostersegen auf den Tisch niederstellte, „jetzt hat g’rad der Almbauer so mit mir g’redt. Weißt – er hat g’meint, droben im Gries und am Trischübl, da wär’ halt gar so a leichts Hüten, weil doch ’s Vieh net weit auskann, von wegen die Wänd’ – es is ja die ganz’ Almgegend umundum eing’schlossen – ja – und da hat er g’meint, es thät’s am End’ auch, wann er mich allein ’naufschicket – ohne Hüterdirn. Zwanzig Mark thät’ er mir noch auf mein’ Lohn zulegen – hat er g’sagt – und da könnt’ er noch ’was dabei dersparen, und ich käm’ auch besser weg. G’rad a bißl mehr Arbeit hätt’ ich – a bißl halt – aber ich bin ja jung und stark und hab’ an guten Willen!“
Da hatte die Alte gepoltert und gezankt: „Nix da – nix – da wird nix draus! Das wär’ mir ’s Wahre! Du – und allein – und – und – nix da! Gleich packst mir jetzt die ganze Wirthschaft wieder z’samm’ – die lumpigen fünf Mark und die altbackenen Wecken und den schmeckenden Schunken und Dein bockbeinigs Lampl – und Alles tragst mir wieder ’nunter zu dem Siebeng’scheiden – und sagst ihm, er soll seine Pfifferling behalten – und sagst ihm, daß Du ohne Hüterdirn net almen gehst – nie – gar nie net! Das is nix – das taugt nix – Du kannst es net dermachen – Du bist z’jung und z’schwach – viel, viel, viel z’schwach – und – und –“
„Ja – das wird sich aber jetzt hart machen, Mutterle,“ hatte Nannei verlegen erwidert, „ich – ich hab’ halt an den schönen Verdienst denkt – und da – da hab’ ich ihm halt zug’sagt – auf Handschlag und Angeld.“
Bei diesen Worten hatte sie aus der Tasche einen Preußenthaler hervorgeholt und ihn auf zitternder Hand der Mutter entgegengehalten.
„Jesses na – jetzt is schön – jetzt is schön!“ hatte da die Alte laut aufgeschrieen, den Thaler gepackt und auf den Tisch geworfen, daß er klingend hoch aufsprang. „Ja, was hast denn jetzt da g’macht – ja, wie hast Dir denn so ’was unterstehen können! Bin ich denn nimmer Deine Mutter? Bin denn ich gar nix mehr? Net amal fragen thut man mich mehr – bei so ’was – na – na – so ’was, so ’was!“ Und mit beiden Händen war sie sich in die grauen Haare gefahren, ganz verzweifelt.
„Mein Gott, Mutterle, mein Gott,“ hatte Nannei da gejammert, die hellen Thränen im Auge, „schau – wenn ich mir hätt’ denken können, daß – Du – mein Gott – ja, g’wiß hätt’ ich net zug’sagt. Aber geh – sei nur g’rad wieder gut – schau, gleich lauf’ ich ’nunter zum Almbauer und –“
„Es hilft Dir nix – es hilft Dir nix! Der weiß schon, was er thut. Angeld is Angeld.“
„Aber so sag mir nur g’rad, warum ’s Dir denn gar so unrecht is, daß ich allein da ’nauf geh?“
„Weil Du’s net dermachen kannst, die Arbeit – und – und – Du bist z’jung und z’schwach.“
„Ah na, Mutterle! Ich verstehe mich auf’s Halten von die Küh und auf’s Milchen und Kaasen besser schier als eine, die droben alt worden is am Berg.“
„Und nachher so allein da droben – weiß Gott, was Ei’m da passiren und zustoßen kann!“
„Geh, wer wird denn gleich an so ’was denken! Da droben is mir unser Herrgott näher als da herunten, und mein liebs Vaterl selig is mir auch net weit – die Zwei mit einander werden mich schon b’hüten und schützen.“
„Ich will’s hoffen – ja, hoffen!“ hatte die alte Baslerin geseufzt, und hatte damit die Sache beruhen lassen, weil sie nicht mehr zu ändern war.
Aber die Sorge, die in ihr wach geworden, nagte all die Tage her an ihrem Innern, und um so unermüdlicher, als sie von dem, was eigentlich ihre Sorge war, nicht sprechen konnte. Sie durfte davon nicht zu Nannei reden, um ihres Kindes Herz und Gedanken nicht gerade auf das zu leiten, was sie von ihm ferne wissen wollte. Das war so eine eigene Sache! Sie kannte das; sie hatte das an sich selbst erfahren; sie war ja auch da droben gewesen – ganz allein, und –
[64] Freilich im letzten Sommer hatte sie Nannei sorglos zu Berge ziehen sehen; da war Nannei noch „das“ Nannei, noch ein halbes Kind gewesen. Und die Sennerin, zu der sie als Hüterdirne kam, war eine alte, gottesfürchtige Person, zwar herzensgut, aber so häßlich, daß die almfahrenden Burschen in weitem Bogen ihre Hütte umgingen. Seit dem Winter aber war Nannei im Munde der Leute „die“ Nannei geworden – und nun sollte sie da hinauf, so ganz allein! O – in dieser stillen, majestätischen Einsamkeit, die nur von der Natur und ihrem scheuen Gethier belebt ist, da schwillt dem einsamen Menschen das Herz, wie zur lenzenden Zeit die Keime schwellen; da oben, wo die Natur nur herrscht, muß auch der Mensch wider Willen oder Wissen ihrem Zwange und Drange sich unterwerfen; da gährt und treibt es im jungen Busen; da steigt aus der jungen Seele ein Wünschen und Sehnen, von dem doch kein Menschenmund ihr jemals noch gesprochen – es kommt, man weiß nicht woher und weiß nicht, wohin es zielt, bis – ja, bis –!
Die alte Baslerin kannte das; sie war ja auch da droben gewesen und hatte da droben ihren Muckei gefunden – Gott hab’ ihn selig, den Armen – aber ihr war es zum Glücke gerathen, da ihr Muckei ein braver und ehrlicher Bursche gewesen. Freilich, ein kurzes Glück, das ein jähes, entsetzliches Ende nahm – aber doch ein Glück! Noch in jetziger Zeit wurden der alten Baslerin die Augen helle, wenn sie daran dachte. Aber so, wie ihr Muckei war, so sind sie nicht alle; die Burschen von heutzutage schon gar nicht! Und dem, der da gerade des Weges kommt, wenn das Herz offen steht, dem kann man nicht in die Seele schauen, nur in’s Auge – und das ist ein schwindelvoller Guckkasten, das Männerauge! Die alte Baslerin kannte das – aus hundert Geschichten, die sie zeit ihres Lebens rings um sich her geschehen sah.
„Ach ja!“
Unzählige Male im Tage huschten diese zwei Wörtchen, stets begleitet von einem drückenden Seufzer, über ihre welken Lippen. Und als sie in der Nacht vom Freitag auf den Samstag neben Nannei im Bette lag, die sorglos schlummerte, vielleicht in fröhlichen Träumen, da warf sie sich ruhelos in den Kissen hin und her.
Einmal erwachte Nannei und frug mit verschlafener Stimme:
„Mutterle, was hast denn?“
„Kein’ Schlaf hab’ ich.“
Nannei gab keine Antwort, sie schlummerte schon wieder.
Als das erste fahle Zwielicht des werdenden Tages hereinblinkte durch das kleine Fensterchen, hatte die alte Baslerin noch kein Auge geschlossen. Lautlos erhob sie sich, um für heute selbst die Brennsuppe zu kochen, damit der Nannei die Ruhe bis zur letzten Minute gegönnt wäre.
Wie dann die dampfende Schüssel am Tische stand, weckte sie das Mädchen. Schweigend nahmen die Beiden den bescheidenen Imbiß; und als die Schüssel geleert war, als Nannei den Löffel am Tischtuchzipfel säuberte, sagte die alte Baslerin:
„So – jetzt geh halt – in Gottesnamen!“
Nannei machte nun das Dschapei munter und knüpfte ihm an einem dünnen Riemen ein kleines Glöckchen um den Hals. Dann belud sie ihren Rücken mit der Kraxe[2], darauf ein hoher,
[65] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
schmaler Korb gebunden war, der ihr Arbeitsgewand, das nöthigste Kleingeschirr und alle sonstigen Dinge barg, die sie da droben nicht missen konnte und wollte: das Nähzeug, ein paar Heiligenbildchen, den Weihbrunnkessel und die Flasche mit dem Weihwasser, ein Crucifix und ein Büschel geweihter Palmzweige und manches, was sich im Anschluß an das eben Angeführte nicht gut nennen läßt, wie Kamm und Seife.
Als sie so gerüstet stand, faßte die alte Baslerin ihre Tochter am Arme und führte sie der Thür zu. Dort tauchte sie die zitternden Finger in das Weihwasserschüsselchen, und während sie Nannei’s Antlitz besprengte, murmelte sie:
„Unser Herrgott hab’ Dich in seiner Gnad’,
Er soll Dich b’hüten vor Sünd’ und Schad’,
Und wachen soll über Dir und Dei’m Vieh
Der Heiland und sein’ heilige Mutter Marie.
Nachher führt uns der heilige Geist wieder z’sammen,
Glücklich und g’sund. In Ewigkeit – Amen!“
Flüchtig und scheu, als schäme sie sich dieses Ausbruchs ihrer Zärtlichkeit, streifte die alte Baslerin mit der Hand über Nannei’s Wange. „So – und jetzt b’hüt Dich Gott!“ sagte sie – und sie hätte gern noch mehr gesagt, aber sie fand’ die Wörte nicht. „Und gelt – vergißt mir ’s Beten net!“ Das war alles, was sie noch herausbrachte.
Es war wohl nicht allein das blasse Frühlicht, was Nannei’s Antlitz so bleich erscheinen ließ.
„B’hüt Dich halt Gott, Mutterle – und gelt, halt’ Dich recht gut, und plag’ Dich net z’ viel – und – b’hüt Dich Gott – b’hüt Dich Gott – b’hüt Dich Gott!“ Dabei löste sie ihre Finger aus der Mutter Hand und trat durch die Hausthür hinaus in den Hof.
Die alte Baslerin hörte den tiefen Seufzer nicht, der die Brust ihres Kindes schwellte; sie hatte sich auf die Flursteine niedergekniet, hatte mit beiden Armen Dschapei’s Hals umschlungen und flüsterte nun dem Thiere unter stillen Thränen in’s Ohr: „Gelt, Dschapei – gieb mir halt Obacht auf mein’ Nannei!“ Mühsam richtete sie sich wieder empor, gab dem munter ins Freie hüpfenden Lamm einen Klaps auf den Rücken und rief dem Mädchen nach: „Heut’ wirst net so bald zum Essen kommen. Hast a Stückl Brod eing’steckt?“
„Ja, Mutterle.“
„No also – so geh halt.“
Noch einmal schüttelten sie sich die Hände – dann schritt das Mädchen dahin über die graue Wiese, auf der das Morgenlicht den Glanz der Thauperlen noch nicht erweckt hatte.
Als Nannei noch einmal zurücksah, winkte ihr die Mutter mit beiden Händen zu und rief:
„Ich such’ Dich schon amal heim – da droben – wann’s meine Füß’ derleiden.“
Nannei nickte nur stumm entgegen; die Lippen waren ihr wie zusammengewachsen. Als aber im Weiterschreiten bei einer Senkung des Weges das elterliche Häuschen ihren Blicken entschwand, da brach sie jählings in lautes Schluchzen aus.
Sie wußte nur, was sie verließ. Wer ihr doch sagen möchte, welch einem Geschicke sie entgegen ging! Was sollte die kommende Zeit ihr bringen? Gutes? Böses?
Nannei ward sich dieser Gedanken zwar nicht so recht bewußt, [66] aber sie lagen doch in ihrem Innern und waren die Quelle ihrer plötzlichen Thränen.
„Ja, gelt – du kannst lustig sein!“ rief sie dem Dschapei zu, welches gar fröhlich im thauigen Grase hin und wider sprang und immer auf’s Neue den Hals schüttelte, als ob ihm das Klingen und Bimmeln seines Glöckchens eine besondere Freude wäre.
Ein Seufzer noch, dann trocknete sich das Mädchen Augen und Wangen und wanderte rüstig dahin.
Als Nannei den Hof des Almbauern erreichte, fand sie schon alles zur Almfahrt bereit; brüllend und die Flanken mit dem Schweife peitschend standen die Kühe in der Einfriedigung vor dem Stalle, und ihre Glocken klangen mehrtönig ineinander.
Eine Zeitlang wurde noch so hin und her geredet – die Bäuerin gab der jungen Sennerin ein Schock guter Lehren mit auf den Weg – dann setzte sich der Zug in Bewegung und wand sich langsam die Straße dahin, von Unterstein über die Schönauer Wiesen gegen den Schapbacher Forst und Ilsank zu.
Voraus ging der Bauer, den schweren Bergstock mit den überhängenden Armen quer wider den Rücken pressend. Das war so ein richtiger Hochlandsbauer, hochaufgeschossen, eckig und sehnig, mit einem harten und strengen Gesicht. Ihm folgte der weißhaarige Spitz, der ab und zu die kleine Heerde bellend umkreiste und der es durchaus nicht leiden wollte, daß sich die eine oder andere der vierzehn Kühe grasend am Wege verhielt. Nannei, welche ihren Pfleglingen, hinter denen sie gemächlichen Schrittes einherging, die frischgrünen Leckerbissen gern gönnte, drohte dem zänkischen Spitz des Oeftern mit dem langen, dünnen Haselnußstabe, den ihr der Bauer beim Auszuge gereicht hatte. Zu dem Zwecke jedoch, zu dem sie diesen Stab erhalten: die Kühe zu raschem und gleichmäßigem Marsche anzutreiben – dazu nützte sie ihn niemals, da genügte ihr im Nothfalle ein gutmüthig mahnendes Wort oder ein leichter Klaps der freien Hand. Recht viele Sorge machte ihr das Dschapei.
Gleich zu Anfang des Marsches war es von einer Kuh getreten worden, sodaß es dem Mädchen eine Zeitlang nur mühsam nachzuhinken vermochte. An einer Quelle kühlte Nannei dem Thierchen die schmerzende Stelle mit frischem Wasser; da ward es dann besser. Wie aber das Dschapei den blessirten Fuß erst wieder richtig gebrauchen konnte, da sprang es bald rechts, bald links vom Wege – und wie die kleine Karawane den Schapbacher Forst durchzog, da kam es ein um das andere Mal die Lust an, geradaus hinein zu laufen in den weiten, weiten Wald. In jeden Busch mußte es hinein gucken und durch jede Staude hindurch schliefen – dabei blieb es auch einmal mit dem Halsriemen an einem geknickten Aste hängen. Und ewig und ewig verhielt es sich am Wege und schaute mit neugierigen Augen rings um sich her.
Es war für Nannei’s Mühe nur gut, daß hinter ihr noch Einer nachkam, der das Dschapei immer wieder vorwärts trieb, wenn es dem Rufe des Mädchens nicht mehr folgen wollte.
Das war der alte Wofei, der auf einem kleinen Handwägelchen das Almergeräth hinter sich her zog: den kupfernen Käsekessel, das blankgescheuerte Butterfaß, die Milchkübel und Milchgeschirre und was zur Arbeit da droben sonst noch nöthig ist.
Wofei – oder richtig genannt Wolfgang Haberecker, mochte gut seine sechszig Jahre zählen. Es war eine verwitterte, in sich geduckte Gestalt, deren landübliches Gewand fast bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit abgetragen erschien. Unter dem schäbigen Hute quollen dicke Büschel weißgrauer Haare hervor; ein gleichartiger, struppiger Bart verhüllte das Gesicht fast bis zu den trüben, halb schon erloschenen Augen; mitten aus diesem Barte hob sich eine graue bucklige Nase. Wofei hatte eine gewisse schnuffelnde Art, den Mund zu verziehen, wobei das dickfleischige Nasenende bald nach der rechten, bald nach der linken Seite wackelte.
Als ein Bursche, nahe den Dreißigern, war er von irgend woher an den Königssee gekommen und hatte hier so an die zwanzig Sommer als Holzknecht in den Bergen gearbeitet. Man sah ihn während dieser Zeit nur am Sonntage, und da nur im Wirthshause, wo er den Lohn der Woche verzechte, vertanzte und verspielte. Während der Wintermonate, in denen die Berge für den menschlichen Fuß verschlossen sind, pflegte er sich in’s flachere Land hinaus zur Mithülfe an Weg- und Bahnbauten zu verdingen. Mit dem Frühling kehrte er zurück und nahm die Holzaxt wieder auf den Rücken. So ging das fort, bis ihm endlich für die rauhe Art solch’ eines Lebens die Kraft zu schwinden begann.
Und das kam so ganz plötzlich – vor fünfzehn Jahren etwa. Da fiel er mit einem Mal so in sich zusammen, wie – eine Bäuerin würde sagen: „wie a Dampfnudl, die als an unfertige aus der Pfannen kommt.“ Er hielt die Berge nicht mehr aus – für ein, zwei Tage schon, aber nicht mehr auf die Dauer – und so miethete er sich zu Unterstein für wenige Mark des Monats in eine baufällige Hütte ein, die von einer Beschaffenheit war, daß sich selbst die Ratten und Mäuse darin nicht mehr behaglich fühlten. Zu allen Arbeiten, für die seine Kraft noch ausreichte, ließ er sich nun verwenden, als Träger, als Karrenzieher, als Botengänger, als Brodlieferant für die Almerinnen und so weiter. Was er hiermit über sein dringlichstes Lebensbedürfniß verdiente, das vertrank er in Schnaps. Dabei verdummte er so allmählich – und wenn er betrunken war – und das war er fast zu allen Stunden – führte er wirre Reden, an denen die Leute viel zu lachen fanden, besonders wenn er so in seiner confusen Art über die Weiberleute loszog. Ja – ein Weiberfeind war er immer gewesen, der Wofei. Auch in seinen früheren Jahren hatte man niemals etwas davon gehört, als ob er sich je mit einem Mädchen eingelassen hätte – nicht einmal am Tanzboden; er tanzte stets allein, wobei er den Estrich stampfte und die Hände auf Sohlen und Schenkel schlug, daß es nur so hallte und klatschte; ab und zu im Tanze warf er auch den einen Fuß empor an die niedere Decke, an der man überall die Spuren seiner Schuhnägel sah; und zu all dem schnackelte und fauchte er wie ein Spielhahn.
Diese Zeit war nun freilich für den Wofei schon lange vorüber. Nun war er froh, wenn er so langsam mit knackenden Knieen den einen Fuß vor den andern brachte.
So mußte auch heute der Bauer ein um das andere Mal zurückrufen, daß sich der Wofei tummeln solle. Der Alte machte dann immer ein paar Dutzend hastigere Schritte, worauf er wieder in seinen trägen, schleppenden Gang verfiel. Der Nannei war es nur lieb, wenn er zurückblieb, einmal wegen des Dschapei und dann – Wofei roch so entsetzlich; auf zehn Schritte in der Runde um ihn war die Luft von Schnapsgeruch erfüllt. Und dazu hatte sie auch sonst noch einen so seltsamen Widerwillen gegen diesen Menschen; er starrte sie immer so eigenartig an, wenn er in Unterstein oder am See drunten ihren Weg kreuzte, und dabei sprach er stets mit Worten auf sie ein, in denen sie keinen Sinn zu finden wußte.
Zwei gute Stunden hatte der Marsch schon gedauert. Ilsank lag den Wandernden lange im Rücken und die Wasser der Wimbachklamm rauschten bereits hinter ihnen. Die Sonne war schon empor gestiegen über die Berge, aber die laubreichen Bäume, unter denen der Zug sich dahin wand, gaben noch genügenden Schatten. Von dem Bergbach einher, der da zur rechten Seite des Weges über weiße Steine dem Thale entgegen hüpft, blies ein leichter, kühlender Luftzug quer über die Straße, strich lispelnd dahin durch das Laub des ansteigenden Waldes und fuhr dann leise pfeifend empor an den schroffen Wänden des Schüttaipls.
„Grüß’ Gott!“ hörte Nannei plötzlich den Bauer da vorn sagen.
„Grüß’ Gott auch!“ klang eine laute, kräftige Stimme entgegen.
Nannei reckte den Kopf, doch sah sie Niemand des Weges kommen; sie gewahrte vor sich außer Bäumen und fernen Bergen nur den Futterstadel, von dessen langgestreckten Raufen das Hochwild im Winter seine Nahrung holt.
„Grüß’ Dich Gott, schön’s Deandl!“ scholl es da mit einem Male seitlich vom Wege her – und im Schatten der vorderen Stadelwand sah Nannei einen feiertäglich gekleideten Burschen im Grase liegen.
Erröthend gab sie den Gruß zurück und schritt vorüber.
Schön? War sie denn schön? Zum ersten Mal hatte ihr das Einer nun so geradeweg ins Gesicht gesagt – und dazu noch Einer, den sie Zeit ihres Lebens nicht gesehen hatte; das war doch eine Keckheit!
[67] Da löste sich eine rothbraune Kuh aus der Heerde und stieg vom Wege hinweg dem Bache zu. Nannei eilte ihr nach – und die Begegnung von soeben war vergessen.
Das Dschapei aber schien an dem Wegelagerer ein größeres Interesse zu nehmen – und dieses Interesse schien ein gegenseitiges zu sein; denn der Bursche richtete sich in sitzende Stellung auf, lockte das Thier, das ihn mit schiefgehaltenem Kopfe und stillen Augen betrachtete, durch leise Zungenschläge zu sich heran, griff in die Joppentasche und hielt ihm dann auf den gestreckten Fingern ein weißes Etwas entgegen. Dschapei kannte das – hurtig kam es näher getrippelt und löffelte mit gieriger Zunge die leckeren Salzkörner von dieser sonnengebräunten, fremden Hand.
„Gelt, du – das schmeckt dir! No, wart’ nur – kriegst schon noch mehrer – wann’s amal an der Zeit is!“ murmelte der Bursche, wischte die feucht gewordene Hand an’s Gras, setzte den Hut mit der weiß gesprenkelten Weihenfeder über das braune Kraushaar und sprang auf die Füße.
Davos im Schnee.
Was für eine sonderbare Gesellschaft bietet sich unsern Augen dar! Herren in Strohhüten, Damen mit Sonnenschirmen auf einer Eisbahn, mitten im Schnee des Hochgebirgs! Hier treibt wohl der Carnevalsschalk seine Possen, der ja in unsern Großstädten „Stiergefechte“ und so manche „Italienische Nacht“ auf dem Eise der nordischen Seen und Flüsse arrangirt hat und nun den Schauplatz seiner Thätigkeit vielleicht in die Alpen verlegt? Keineswegs! Wir haben kein Maskenfest vor uns, die Tracht dieser Schlittschuhläufer entspricht durchaus, wie wunderbar es auch klingen mag, den klimatischen Verhältnissen, in welchen sie leben. Und es ist auch in der That ein wunderbares Klima, das in diesen Bergen herrscht, eine Wunder verrichtende Luft, die hier geathmet wird, denn wir schauen ein Stück vom herrlichen Davos, einem der berühmtesten klimatischen Curorte der Welt.
Wem ist heutzutage dieser Name nicht bekannt? Nach jenem Alpenorte werden die Lungenkranken von den Aerzten geschickt, um dort Heilung zu suchen. Das weiß Jedermann, und der Mehrzahl der Menschen dürfte es auch nicht fremd sein, daß diese Kranken, die wir zu Hause vor jedem kalten Windzug ängstlich beschützen, dort gerade den Winter zubringen – den Winter in einer Hochgebirgslandschaft, die etwa 5000 Fuß über dem Meeresspiegel gelegen, von hohen Bergen und Gletschern umringt ist! Schneegestöber, Lavinen, stürmische, eiskalte Sturmwinde u. dergl. m. tauchen sofort in unserer Phantasie auf, und wir bedauern die armen Kranken, die zu einem so trostlosen Aufenthalt verurtheilt sind. Aber wir irren, „Davos im Schnee“ ist gar nicht so schrecklich und öde, wie wir denken.
Vor zwanzig Jahren war dieser jetzt so weltberühmte Ort den Wenigsten bekannt. Denn daß Davos in den Bündener Kriegen eine nicht unbedeutende Rolle spielte, trug zur Verbreitung seines Namens außerhalb der Grenzen der Eidgenossenschaft nur wenig bei. Erst das Sturmjahr 1849 sollte die indirecte Ursache werden, ihm wirkliche Berühmtheit zu verschaffen.
In jenem Jahre commandirte ein „Heidelberger Schwabe“, der rothe Spengler, die Heidelberger akademische Legion, half dann, als Adjutant des General Siegel, das Gefecht am Waghäusel verlieren, wurde in contumaciam verurtheilt und flüchtete nach der Schweiz. Hier vertauschte er, auf den Rath des damals in Zürich lehrenden berühmten Physiologen Ludwig, die Juristerei mit der Medicin, studirte, promovirte und ging, gerade dreißig Jahre sind es her, als Landschaftsarzt nach Davos. Hier wirkte er nun, ganz abgeschnitten von der Cultur, inmitten der biedern, derben Landbevölkerung, reiche Erfahrungen sammelnd. Zu diesen gehörte auch die Beobachtung, daß ihm in langjähriger Praxis kein Fall von Lungenschwindsucht bekannt geworden war, während Davoser, welche als Zuckerbäcker etc. nach dem Tieflande ausgewandert waren und lungenkrank heimkehrten, auffallend schnell genasen.
Im Jahre 1861, nachdem ein Gasthof, das noch setzt existirende „Hôtel Strela“, eröffnet war, kamen die ersten Sommerfrischler, um die städtische Schwüle mit der reinen, kühlen Alpenluft zu vertauschen. Bekannter wurde Davos jedoch erst, als die Erfahrungen Dr. Spengler’s von Meyer-Ahrens in dessen „Balneologischen Spaziergängen in den Alpen“, und 1862 in der „Deutschen Klinik“ veröffentlicht wurden.
Inzwischen hatte auch Dr. Brehmer, in Görbersdorf in Schlesien, die klimatologische Heilmethode, mit manchen Erfolgen gekrönt, in Anwendung gebracht (vergl. Jahrg. 1880, S. 400). Dr. Unger, ein Leipziger Arzt, der, selbst lungenkrank, durch wiederholte Sommercur in Görbersdorf seine Heilung gesucht, aber nie ganz gefunden hatte, kam, durch die Spengler’schen Veröffentlichungen veranlaßt, am 8. Februar 1865 in Begleitung des ebenfalls leidenden Buchhändlers Richter nach Davos, um hier eine Wintercur durchzumachen. Heute nach 18 Jahren wirken beide, ersterer als beliebter Curarzt, letzterer als Hôtel- und Buchdruckereibesitzer, gesund und lebensfrisch am Orte.
Dem energischen Zusammenwirken der beiden Aerzte, Dr. Spengler und Dr. Unger, gelang es bald, der neuen Curmethode Ruf und Anerkennung zu verschaffen. Im Jahre 1866 wurde das große Curhaus gebaut, welches 1872 niederbrannte, jedoch erweitert und verschönt im nächsten Jahre wieder aufgebaut wurde. Von nun an vergrößerte sich der Curort rapid. Anfangs waren es vornehmlich die Sommermonate, welche die Leidenden zum Aufenthalt wählten, und nur zaghaft ging man daran, auch im Winter oben zu bleiben. Jetzt ist die Wintersaison die bei weitem lebhaftere: gegen tausend Curgäste bevölkern im Winter den Ort. Fünfzehn Hôtels, mit allem Comfort eingerichtet, viele Pensionen, Villen und Privathäuser bieten Raum für mehr als 1200 Fremde. Zahlreiche Bazare und Läden (die Inhaber sind meist ehemalige Curgäste) sorgen reichlich für alle Erfordernisse des Luxus und täglichen Bedarfes – kurz, aus dem einfachen, öden Gebirgsdorfe ist ein Curort ersten Ranges geworden. Und wahrlich, wenn man des Vormittags auf der Promenade vor dem Curhause lustwandelt und den Klängen der Musik lauscht und dies Leben und Treiben sieht, dies Sprachengewirr hört, dann glaubt man sich auf die Promenade von Baden-Baden oder Nizza versetzt, und erst die rings auf uns niederschauenden Bergriesen, der tiefe Schnee, der klare tiefblaue Himmel rufen es uns in’s Gedächtniß zurück, daß wir uns im Hochgebirge 5000 Fuß hoch über dem Meeresspiegel befinden, daß hier keine heilenden Quellen aus den Felsen rieseln, sondern nur die leichte klare Höhenluft als Heilmittel geathmet wird.
Wer sich über die Wirkung der Höhensanatorien näher unterrichten will, den müssen wir auf einen früheren Artikel der „Gartenlaube“ verweisen.[3] Was dort im Allgemeinen gesagt worden ist, gilt auch im Besonderen für unsern Curort.
Aber das Klima von Davos hat noch besondere Eigenschaften. Es gestattet den Kranken, bei niedriger Temperatur ohne Frostgefühl sich dauernd im Freien aufzuhalten, und die Wirkung der Sonnenstrahlen ist hier selbst im Winter so intensiv, daß der Kranke an windgeschützten sonnigen Orten sogar stundenlang im Freien sitzen kann. Ließ sich doch im December des Jahres 1882 eine kleine Gesellschaft im Hôtel Strela die Mittagstable d’hôte längere Zeit im Freien serviren.
Solche schöne Wintertage, wie sie in Davos häufig vorkommen, klingen fast unglaublich. Freilich giebt es auch solche, wo die Sonne theilweise von Wolken verhüllt ist, und wieder andere, wo es stürmt und schneit, ärger und toller, als unten im Tieflande, und Der täuscht sich gewaltig, der nur schönes Wetter erwartet. Aber das schlechte Wetter kehrt selten in diesem Hochgebirgsthal ein, um die Spaziergänge und Belustigungen im Freien zu unterbrechen. Zu den letzteren gehört hauptsächlich das schon oben erwähnte Schlittschuhlaufen.
Nachmittags von ein bis drei Uhr bildet die Eisbahn den Sammelpunkt der Curgesellschaft. Eine geschützte, nach Süden offene Veranda gestattet es, behaglich im Sonnenscheine den Mokka zu schlürfen und dem munteren Treiben zuzuschauen, das sich hier entwickelt. Es ist ein eigenthümliches und reizvolles Bild: diese Schlittschuhläufer und Läuferinnen, im einfachen Kleide, im Strohhute und Sonnenschirme, nach den munteren Weisen der Musik auf der spiegelglatten Fläche dahingleitend.
Bald bekommt man selbst Lust mitzuthun, und ist man nicht zu krank oder zu Blutungen geneigt, so gestattet der Arzt meist gern die gesunde Bewegung, ja oft verordnet er sie. Das stärkste Contingent der Läufer stellt freilich das Fridericianum, ein von Dr. Perthes gegründetes Pensionat für schwächliche Knaben, vornehmlich solche, bei welchen vererbte Anlage zur Lungenschwindsucht zu fürchten ist. Wahrlich, die muntere Schaar ist zu beneiden um das Glück, hier oben in der frischen gesunden Luft ihre Schuljahre verleben zu können.
Wie am Nachmittage die Schlittschuhbahn, so ist des Vormittags der Corso vor dem Curhause der Vereinigungspunkt aller Derer, denen der Arzt anstrengendere Spaziergänge verboten hat. Diejenigen freilich, die sich kräftiger fühlen, benutzen die bequemen, mit zahlreichen Bänken ausgestatteten, im Winter stets schneefrei gehaltenen schönen Waldwege, um, umduftet von dem aromatischen Geruche der Edeltanne, hinaufzusteigen zum Gemsjäger oder zur sonnigen Schelzalp und sich dort der weiten, herrlichen Aussicht zu freuen. Spazierfahrten zu Schlitten in die nähere und weitere Umgebung werden auch vielfach unternommen. Ein beliebter Sport, freilich nur für Gesunde, ist ferner das Schlitteln auf kleinen niedrigen Handschlitten. In sausender Eile geht es mit diesen den Berg hinab, und Alt und Jung betreibt dies mit besonderer Vorliebe. Von den zahlreichen, in Davos sich aufhaltenden Engländern werden sogar große Wettfahrten auf meilenlanger Bahn hinab nach Klosters mit ausgesetzten Preisen veranstaltet, und halb Davos wallfahrtet an diesen Tagen dahin, um diesem interessanten Schauspiele zuzuschauen.
So traurig, wie wir uns dachten, ist also der Winter in Davos keineswegs. Die Curgäste sind mit ihm auch recht zufrieden und warten nicht mit Sehnsucht auf das Erscheinen der Frühlingsboten, denn „wenn’s Mailüfterl weht“, so schmilzt auch in den Davoser Bergen der Schnee, und das Schmelzwasser überfluthet dann in solchen Massen die Straßen und das Mailüfterl braust so gewaltig durch das anmuthige Thal, daß die meisten Kranken auf einige Monate den liebgewonnenen Ort verlassen, und sich in der Regel erst dann wieder einfinden, wenn der eisige Monarch die Vorboten seines Erscheinens auf die Alm entsendet.
- ↑ Verwundert, verblüfft sein.
- ↑ Ein hölzernes Traggestell.
- ↑ (Schwindsucht und Höhenklima. Von Dr. Drivers. Jahrg. 1882, S. 562.)
[68]
Der Anwalt der deutschen Genossenschaften.
Die weittragende humane, sociale und nationale Bedeutung des deutschen Genossenschaftswerkes, dessen Begründer, der unvergeßliche Dr. Hermann Schulze-Delitzsch, am 3. Mai 1883 unter allgemeinster Theilnahme zu Grabe getragen worden ist, an dieser Stelle eingehend zu erörtern, ist für die Leser der „Gartenlaube“, die von den ersten Anfängen an die inhaltvolle und umfassende Wirksamkeit des unvergeßlichen Volksmannes mit liebevoller Aufmerksamkeit begleitet haben, überflüssig. Indem wir uns aber anschicken, in Wort und Bild den Mann ihnen vorzustellen der durch die freie Wahl der deutschen Genossenschaften nunmehr dazu berufen ist, die oberste Leitung derselben in die Hand zu nehmen, glauben wir vorerst einen flüchtigen Blick werfen zu sollen auf die bewährte Organisation der Genossenschaften, welche wesentlich dazu beigetragen hat, das Genossenschaftswesen vor Stillstand zu bewahren, und ihm auch nach dem Tode seines Begründers eine fortschreitende Entwickelung sichern wird. Aus ihr werden wir am besten die Bedeutung und Stellung des neuen Anwaltes kennen lernen.
Diese Organisation gipfelt in dem auf freier Einigung beruhenden, von Schulze-Delitzsch angeregten Allgemeinen Verband der auf Selbsthülfe gegründeten deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften. Die einzelnen Vereine treten durch Deputirte alljährlich zu einem Allgemeinen Vereinstage zusammen, und dieser hat als oberste Instanz des Verbandes die Aufgabe, die gemeinsamen Interessen zu überwachen. Die Wahrnehmung derselben bei der Gesetzgebung und die Berathung der einzelnen Vereine bei ihrer Organisation und bei allen einschlagenden geschäftlichen Vorkommnissen ist dem Anwalt übertragen, dem ein besonderes Bureau mit Dr. Fritz Schneider an der Spitze beigegeben ist. Als Zwischenglieder zwischen diesen Centralorganen und den einzelnen Vereinen sind sogenannte Unter- oder Provinzial- oder engere Landesverbände gebildet, welche die Vereine einzelner deutscher Länder, Provinzen oder gewisser Branchen der Genossenschaften umfassen und die Wahrnehmung von deren Sonderinteressen, sowie die Vermittelung mit den Centralstellen zu ihrer Aufgabe haben. Die von diesen Verbänden gewählten Vorstände bilden als engerer Ausschuß eine Körperschaft, welche dem Anwalte in der Zwischenzeit zwischen den Vereinstagen und insbesondere bei Ordnung der Finanzen des Verbandes zur Seite steht. So ist, wie es in dem Schneider’schen Jahresbericht heißt, ohne in die freie Bewegung der einzelnen Vereine einzugreifen, ein Mittelpunkt geschaffen zum Austausche der gemachten Erfahrungen, zur Läuterung und Kritik des sich immer mehr anhäufenden Materials, zu Rath und Hülfe jedem Angriffe, jeder Verlegenheit der einzelnen Glieder gegenüber, zu machtvollem Zusammenfassen der Einzelkräfte behufs Verfolgung und Wahrung gemeinsamer Interessen, zu Abwehr und geschlossenem Zusammenstehen endlich in allen drohenden Lagen und Gefahren. Und wenn auch bisher nur der kleinere Theil der überhaupt existirenden Vereine dem Verbande beigetreten ist, der gegenwärtig circa 1000 Vereine umfaßt, so kommt doch sein Wirken, da er in Schriften und Berathungen öffentlich für die Interessen und die Ausbildung des Genossenschaftswesens eintritt, demselben im Ganzen zu gut und auch die dem Verbande fremden Vereine profitiren von seiner Thätigkeit, wenn sie auch in die Vortheile der dadurch eröffneten Geschäftsverbindungen nicht eintreten.
Bei alledem ist es ersichtlich, daß dem geschäftsführenden Anwalte eine hochwichtige Aufgabe in der Leitung des Genosenschaftswesens zufällt, die bis zu seinem Tode Schulze-Delitzsch in bekannter opferfreudiger, selbstloser Hingebung an das von ihm geschaffene Werk erfüllt hat. Um so schwieriger aber war die Aufgabe, die dem engern Ausschusse des Verbandes nach dem Tode des Meisters oblag, dem Verstorbenen einen geeigneten Nachfolger zu geben. Auf seinen Vorschlag wählte der im vorigen Jahre stattgehabte Allgemeine Vereinstag zu Halberstadt am 24. August den langjährigen Director des Verbandes der wirthschaftlichen Genossenschaften am Mittelrheine, den Rechtsanwalt Friedrich Schenck in Wiesbaden, zum Anwalte der deutschen Genossenschaften. Diese Wahl darf in jedem Falle als eine sehr glückliche bezeichnet werden, da Friedrich Schenck Liebe zur Sache, langjährige Erfahrungen, eine lange volksthümliche Vergangenheit, eine peinliche Gewissenhaftigkeit, eine rastlose Arbeitslust und Energie auszeichnen. Für seine Wahl zum Anwalte hat wesentlich seine anerkannte Uneigennützigkeit in seinen Bestrebungen für das allgemeine Wohl den Ausschlag gegeben, daneben seine tüchtige juristische Bildung, seine Uebereinstimmung mit Schulze’s genossenschaftlichen Grundsätzen, auch in den Detailfragen, ferner seine specielle Freundschaft zu Schulze und endlich der Umstand, daß dieser selbst ihn als den geeignetsten Nachfolger bezeichnet hat.
Friedrich Schenck ist am 16. December 1827 in Wiesbaden geboren, steht also jetzt im kräftigsten Mannesalter. Nachdem er auf den Universitäten Heidelberg und Gießen sich eine gediegene juristische Vorbildung erworben, war er in den Jahren 1850 bis 1854 bei dem Justizamte Wiesbaden und den Kreisämtern zu Wiesbaden etc. als Accessist beschäftigt.
Als im Jahre 1854 in dem damaligen Herzogthume Nassau die Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung in erster Instanz durch Gesetz wieder aufgehoben wurde, verließ Schenck den Staatsdienst und wurde auf sein Ansuchen im Angnst 1854 zum Procurator (Rechtsanwalt), anfangs in Idstein, später (1860) in Wiesbaden ernannt. Seit der Geltung der Reichsjustizgesetze fungirte Schenck als Rechtsanwalt und Notar im Bezirke des Oberlandesgerichts zu Frankfurt am Main.
Dieser amtliche Beruf erschöpfte aber keineswegs die Thätigkeit des für das allgemeine Wohl, für die Größe und Einheit des deutschen Vaterlandes erglühenden rüstigen Mannes. Bei allen gemeinnützigen Veranstaltungen in seiner schönen Vaterstadt stand Schenck an der Spitze. Er war Mitglied, und zwar thätiges, des Turnvereins, des Gesangvereins, des Verschönerungsvereins, des Schützenvereins von Wiesbaden, dessen Bürger den tüchtigen, in allem Guten und Nützlichen voranschreitenden Mann schätzten und liebten. Schon in den Jahren 1864 bis 1866 war Schenck zu parlamentarischer Wirksamkeit berufen in der damaligen Ständeversammlung des Herzogthums Nassau, wo er bereits in freiheitlichem und nationalem Geiste wirkte. In der ersten Legislaturperiode des deutschen Reichstages von 1871 bis 1873 war er Vertreter des zweiten Wahlkreises des Regierungsbezirkes Wiesbaden, der sodann Schulze-Delitzsch zum Abgeordneten wählte. Nach dessen Tode wurde Schenck von demselben Wahlkreise wieder in den deutschen Reichstag gewählt, wo er die Grundsätze seines Vorgängers vertritt.
Frühzeitig und mit Eifer hatte sich Friedrich Schenck der Genossenschaftsbewegung angeschlossen, und auf seine Anregung war im Mai 1862 der Verband der Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften am Mittelrhein gegründet worden, dessen Director er bis jetzt gewesen ist.
In allen Dingen Hand in Hand mit seinem Freunde und Vorbilde gehend, wenn es die Förderung der materiellen, geistigen und sittlichen Wohlfahrt seiner Mitbürger galt, nahm Schenck auch an Schulze’s Bestrebungen für die Verallgemeinerung der Bildung Theil. Der seit 1872 bestehende Wiesbadener Zweigverein der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung ist vornehmlich unter seiner Mitwirkung begründet.
Es ist anzunehmen, daß Schenck auch in seiner neuen Stellung sich die Anerkennung, die Liebe, die Hochachtung seiner Mitarbeiter in gleichem Maße erwerben wird. Dafür bürgt seine erprobte Gewissenhaftigkeit, die ganze Vergangenheit des Mannes, der schon jetzt des allgemeinen Vertrauens der Genossenschaften sich erfreut.
Hoffen wir, daß es ihm gelingen wird, das zu erreichen, was er in der charakteristischen Ansprache, mit welcher er in sein Amt eingetreten ist, als das Ziel seiner Bestrebungen bezeichnete: „das große deutsche Genossenschaftswerk zu festigen, fortzuführen und weiter auszubilden zum bleibenden Andenken an unseren großen Meister Dr. Schulze-Delitzsch, zum Wohle der Menschheit und zu Ehren und Frommen des Vaterlandes.“
Das Messen des Lichtes. Seit der Einführung des elektrischen Lichtes ist eine Maßeinheit populär geworden, von der in früherer Zeit das große Publicum nur wenig gehört hatte: die Kerze. Man liest und hört heute von elektrischen Lampen, deren Licht eine Stärke von so und so viel Tausenden Kerzen besitzt, und für die Meisten dürften diese Worte nur ein leerer Schall sein, da ihnen die Art und Weise, wie man das Licht zu messen pflegt, unbekannt ist.
Versuchen wir heute in aller Kürze, diese schwierige Kunst, die Photometrie, unseren Lesern verständlich zu machen!
Sämmtliche Maße, mit welchen die Menschen operiren, sind willkürlich gewählt worden, und so geschah es auch mit der Einheit für das Messen des Lichtes. Die ersten Gelehrten, die sich mit solchen Untersuchungen befaßten, griffen selbstverständlich zu der ihnen am nächsten liegenden, leicht erreichbaren und herzustellenden Lichtquelle, und stellten das Licht einer Kerze als Maßeinheit auf. In Deutschland und England bedient man sich derselben noch heutzutage. Doch die Kerze ist an und für sich ein sehr wechselnder Begriff, der für die genaueren wissenschaftlichen Untersuchungen erst begrenzt werden mußte. Man ließ also zu diesem Zwecke besondere Lichter fabriciren, die man Normalkerzen nannte. In Deutschland benutzt man als solche eine Paraffinkerze von 20 Millimeter Durchmesser, in England dagegen die Walrath- oder Spermacetikerze, die einen annähernd gleichen Lichteffect, wie die deutsche Normalkerze hervorbringt. Jeder weiß aber aus Erfahrung, daß das Licht unserer Kerzen sehr unbeständig ist, daß schon die Länge des Dochtes auf dasselbe einen bedeutenden Einfluß ausübt. Man einigte sich daher dahin, daß bei der Normalkerze auch die Höhe der Flamme genau bestimmt werden muß, und beträgt dieselbe für die deutsche Normalkerze 50 Millimeter, für die englische Walrathkerze 45 Millimeter. Bei allen Messungen muß man daher die Flammenhöhe der Normalkerze genau beobachten und durch Beschneiden des Dochtes reguliren.
Dieses Lichtmaß ist jedoch trotz der genauesten Bestimmungen für die Fabrikation der Kerzen keineswegs sicher, denn ihre Leuchtkraft hängt noch von der chemischen Beschaffenheit des zu ihrer Herstellung verwandten Paraffins oder Walraths ab, wobei schon die geringsten Abweichungen in der Zusammensetzung des Rohmaterials von größter Bedeutung sind.
Mall suchte daher nach anderen zuverlässigeren Lichtquellen und glaubte in Frankreich die Normalkerze durch die sogenannte Carcellampe ersetzen zu müssen. Dieselbe besteht aus einer besonders construirten Moderateurlampe von 30 Millimeter Dochtweite, in welcher reines Rüböl mit einer Flammenhöhe von 40 Millimeter verbrannt wird. So herrscht jetzt auch auf diesem rein wissenschaftlichen Gebiete eine gerade nicht erfreuliche Verwirrung, da wir nun deutsche, englische und französische Lichtmaße besitzen. Um diese Werthe umzurechnen, bedarf man wenigstens keiner großen Tabelle: es genügt zu wissen, daß 1 Carcel = 7,6 deutschen und 7,4 englischen Normalkerzen.
Natürlich haben verschiedene Forscher andere Lichteinheiten vorgeschlagen, die sich aber bis jetzt nicht bewährten, und viele andere arbeiten rastlos an der Lösung dieser wichtigen Frage. Hoffentlich wird es ihnen bald gelingen, auch für das „himmlische Licht“ ein ebenso sicheres und praktisches Maß zu finden, wie wir ein solches für gröbere Dinge in dem Meterstabe, dem Kilo und dem Liter längst besitzen. Dann wird eine internationale Einigung auch auf diesem Gebiete erzielt werden, vorläufig müssen wir uns mit den nicht besonders zuverlässigen nationalen Lichtmaßen begnügen. Doch jetzt wollen wir unsere Lichteinheit anzünden und mit derselben eine bestimmte Lichtquelle, z. B. die Lichtstärke unserer Petroleumlampe messen. Zunächst sei es uns gestattet, den Leser an ein Naturgesetz zu erinnern, das er in der Schule sicher gelernt hat, an den Satz, daß die Stärke der Erleuchtung einer Fläche abnimmt im Verhältniß des Quadrats ihrer Entfernung von der Lichtquelle. Doch „Fläche“, „Quadrat der Entfernung“ etc. klingen zu gelehrt! Wir wollen den Satz an einem einfachen Beispiel erläutern.
Wir haben eine deutsche Normalkerze angebrannt und wollen annehmen, daß wir die Druckschrift dieses Artikels bei dem Glanze derselben noch in der Entfernung von einem Meter lesen können. Wir rücken nun mit dieser „Gartenlauben“-Beilage jetzt noch um ein Meter von der Kerze fort, sodaß die Entfernung von der Lichtquelle bis zu dem Blatte zwei Meter beträgt. Hier können wir die kleine Schrift nicht mehr erkennen. Werden wir es im Stande sein, wenn wir noch eine Kerze anbrennen? Nein, wir müssen vier Kerzen brennen lassen, wenn wir dieselbe Beleuchtung auf zwei Meter Entfernung erzielen wollen, wie sie uns die eine Kerze im ersten Falle lieferte. Und wenn wir um drei und vier Meter fortrücken, so werden wir zu demselben Zwecke neun und sechszehn Kerzen brauchen.
Die Kenntniß dieses Naturgesetzes genügt uns jetzt, um die Lichtstärke unserer Lampe zu messen, und wir wollen dies mit dem einfachsten Photometer (Lichtmesser) versuchen, das von dem bekannten Physiker Rumford construirt wurde.
Wir befestigen an der Wand ein Stück weißes Papier (vergl. a b in Fig. 1) und stellen vor dasselbe ein undurchsichtiges Stäbchen c von der Dicke eines Bleistiftes. Nun setzen wir die Normalkerze und die Lampe in gleicher Entfernung von dem Stäbchen, die Kerze etwas nach links, die Lampe mehr nach der rechten Seite hin. Beide Lichtquellen werden auf dem Papierschirme je einen Schatten entwerfen. Aber der Schatten e, den die Kerze bildet, wird schwächer sein, als der von dem Licht der Lampe herrührende Schatten d. Nun rücken wir die Lampe so lange ab, bis die beiden Schatten gleich stark erscheinen. Jetzt wissen wir, daß die beiden Lichtquellen das Stäbchen und den Papierschirm gleich stark beleuchten. Wir messen nun die Entfernung der Lichtkerze von dem Stäbchen, und finden, daß sie gerade ein Meter beträgt, die Entfernung der Lampe macht dagegen (wir wollen uns das Beispiel möglichst erleichtern) gerade zwei Meter aus. Nun erinnern wir uns des Beispiels mit den vier, neun und sechszehn Kerzen und schließen durchaus folgerichtig, daß die Lampe, welche in doppelter Entfernung denselben Lichteffect wie die Kerze hervorbringt, nicht zweimal, sondern viermal so stark leuchtet wie die erste. Also beträgt die Lichtstärke der Lampe gerade vier deutsche Normalkerzen.
Aber die Techniker und Männer der Wissenschaft arbeiten mit genaueren Photometern, von welchen wir nur das Bunsen’sche unsern Lesern vorführen, weil es am häufigsten benutzt wird. Dasselbe (Fig. 2) besteht zunächst aus einem Blatt Papier A B, in dessen Mitte sich ein geölter und darum durchscheinender Kreis m befindet. Zu beiden Seiten des Papiers sind unter gleichen Winkeln zwei Spiegel M N und M‘ N‘ angebracht, sodaß wir das Bild des kreisrunden Oelfleckes gleichzeitig in beiden Spiegeln sehen können. Stellen wir jetzt rechts von diesem einfachen Apparate unsere Lampe und links die Normalkerze in gleicher Entfernung auf, so wird das Spiegelbild M‘ N‘ heller als das Bild im Spiegel M N erscheinen, und erst wenn wir die Lampe in die doppelte Entfernung bringen, werden beide Spiegelbilder gleich hell sein. Auch in diesem Falle berechnet man die Lichtstärke der Lampe aus ihrer Entfernung von dem Papierblatte.
Damit das Messen der Entfernungen nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt, ist in der Regel das Bunsen’sche Photometer in der Gestalt eines Wägelchens auf einer Scala bewegbar. Man braucht alsdann dasselbe nur so lange auf den Schienen der Scala hin und her zu schieben, bis die beiden Spiegelbilder des Oelfleckes gleich hell erscheinen, liest dann die durch einen Zeiger angedeutete Entfernung des Papierblattes von den beiden Lichtquellen ab und berechnet die Lichtstärke in der bereits oben dargestellten Weise.
So einfach auch die Grundsätze der Photometrie auf den ersten Blick erscheinen, so ist doch die praktische Ausführung derselben mit großen Schwierigkeiten verbunden, und die Lichtmeßkunde gehört zu den dankbaren Gebieten, auf welchen den strebsamen Forschern noch viele Lorbeerkränze winken.
Elektricität bei Treibriemen. Es ist nicht gerade etwas Neues, daß schnellgehende Treibriemen, besonders wenn die Adhäsion des Riemens auf der Riemenscheibe durch Kolophonium verstärkt worden ist, Reibungselektricität erzeugen, doch beginnt man jetzt erst dieser Erscheinung mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Der Verdacht, daß diese Elektricität ein Brandstifter der vielseitigsten und gefährlichsten Art ist, läßt sich nicht mehr zurückweisen, auf der andern Seite aber erzeugt sich hier fast kostenlos als Nebenproduct die geheimnißvolle Naturkraft in so großer Menge, daß der Gedanke einer praktischen Verwerthung sehr nahe liegt.
Die eingehendsten Versuche scheint hier der Beleuchtungsinspector des Königlichen Hoftheaters zu Dresden gemacht zu haben, wenigstens hat er uns für die häufigen Mehlstaubexplosionen in Mühlen die wahrscheinlichste Erklärung durch Experimente gegeben.
[71] Die Beobachtungen wurden an den Treibriemen der Dampfmaschine und der Dynamomaschine des Altstädter Hoftheaters angestellt, welche in Erzeugung von Elektricität Erstaunliches leisten und die beste Elektrisir-Maschine übertreffen. Im Anfang war der Verdacht aufgestiegen, daß die Nähe der Dynamomaschine für die Edison-Lichter des Hoftheaters von Einfluß sei, aber andere Treibriemen in den verschiedensten Fabriken zeigen ganz dasselbe Phänomen.
Zuerst über die Stärke der Erscheinung einige Angaben! Sobald man die Hand dem Treibriemen bis auf etwa 15 Centimeter nähert, zeigen sich im Dunkeln starke elektrische Strahlen, die nach den Fingerspitzen überströmen. Eine Leydener Flasche füllt sich in wenigen Secunden so bedeutend mit Elektricität, daß 4 Centimeter lange Funken ausspringen, die dem Körper einen sehr schmerzhaften Schlag verursachen würden. Eine Person, welche nur wenige Secunden auf einem Isolirschemel stand und die Elektricität mit der einen Hand auffing, konnte mit der andern Hand eine Gasflamme entzünden, und damit wäre der Anfang einer praktischen Verwerthung gemacht. Die bekannte Geisler’sche Röhre beginnt schon auf einen halben Meter Entfernung in wunderbarem Licht zu leuchten, und es läßt sich auf diese Weise eine fast kostenlose, aber märchenhaft schöne Illumination herstellen. Lustig war der Anblick einer Anzahl Herren, die sich unter dem Treibriemen in Front aufstellten; in wenigen Augenblicken hatte sich auch das wohlgepflegteste Haupthaar in eine zu Berge stehende Indianerfrisur verwandelt.
Das sind die angenehmen und drolligen Seiten, leider überwiegen die unangenehmen noch bedeutend.
Der harte französische Mühlstein, der in der Regel durch zwei eiserne Reifen zusammengehalten wird, da er aus Theilstücken besteht, bildet eine Isolirschicht ähnlich wie Glas. Der Reifen, welcher dem Riemen am nächsten liegt, fängt die positive Elektricität auf. Nach dem Principe der Leydener Flasche bildet sich im andern Reifen die negative Elektricität, und die Folge davon ist das Ueberspringen der Funken und die häufige Entzündung des Mehlstaubes, der bekanntlich wie Kolophonium explodirend verbrennt und Tausende von Mühlen im Laufe der Zeiten einäscherte. Der Verdacht, daß auch andere Fabriken, in denen leicht brennbare Stoffe verarbeitet werden, großen Gefahren durch die Elektricität ausgesetzt sind, liegt natürlich sehr nahe.
Wie stark der französische Mühlstein isolirt, zeigte ein einfaches Experiment. Man legte ein Stück solchen Steines auf eine Holzplatte, also auf einen guten Ableiter, und umgab den Stein mit einem Drahtbündel. In der Nähe des Treibriemens wurde das Drahtbündel sofort mit Elektricität gefüllt und gab centimeterlange Funken, was nicht hätte stattfinden können, wenn der Stein nicht die Leitung unterbräche. Man nimmt an, daß die ganze Feuergefährlichkeit durch einen dünnen Draht beseitigt wird, der beide Eisenreifen am Mühlsteine verbindet. Derselbe verhindert die Bildung von positiver und negativer Elektricität, und das schließt ein Ueberspringen von Funken völlig aus.
Es sollte uns freuen, wenn diese Mittheilung zu weiteren Versuchen Veranlassung gäbe. Bemerken wollen wir gleich, daß in Fabriken, wo Eisen verarbeitet wird, die Experimente gar nicht oder nur schwach gelingen, wahrscheinlich führen hier die feinen Eisentheilchen, die sich auf den Riemen anheften, die erzeugte Elektricität unbemerkt der Erde zu. Eisentheile in der Nähe der Riemen, wie die Riemenführer, leiten selbstverständlich auch stark ab. Am besten gelingt das Experiment, wenn der Riemen frei von Scheibe zu Scheibe läuft.
Vielleicht entdeckt jetzt mancher Leser in seiner nächsten Nähe eine in
aller Stille arbeitende Elektrisirmaschine, von der er keine Ahnung hatte.
Uns werden die überraschten Gesichter des Druckereipersonals von Blochmann
in Dresden unvergeßlich bleiben, da sich der Treibriemen der
Dampfmaschine unter kundiger Hand als eine der stärksten Elektrisirmaschinen entpuppte. Th. G.
Blätter und Blüthen.
Die schwedische Gräfin auf der Kunitzburg bei Jena. Die in Nr. 30 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ unter der Rubrik „Blätter und Blüthen“ neu angeregte Geschichte des geheimnißvollen Menschenpaares im Schlosse zu Eishausen bei Hildburghausen hat auch die verwandte Sage von der sogenannten schwedischen Gräfin auf der Kunitzburg bei Jena, welche in demselben Jahrgange (1863, S. 188) wie jene behandelt ist, wieder in Anregung gebracht und eine junge Freundin der „Gartenlaube“ veranlaßt, der Redaction einige ergänzende Mittheilungen zu dem betreffenden Artikel zu machen, welche auf den Überlieferungen der hochbetagten Großmutter und Großtante der liebenswürdigen Berichterstatterin beruhen. Wenn nun auch diese neuen Thatsachen nicht im Stande sind, ein wesentliches Licht in das Dunkel zu werfen, das sich um jene mysteriöse Person breitet, so glauben wir sie dessenungeachtet unseren Lesern nicht vorenthalten zu sollen, da sie immerhin das Interesse für die Sache neu zu wecken vermögen.
Um aber denjenigen unserer Leser, welchen jener Jahrgang der „Gartenlaube“ nicht zur Hand ist, das Nachstehende verständlich zu machen, geben wir den Hauptinhalt des dortigen Artikels in der Kürze hier wieder. Im Frühjahre 1812 ging in den Dörfern nördlich von Jena das Gerücht um, daß „eine schwedische Gräfin“ in die Gegend kommen werde, um da in aller Stille zu wohnen. Wo aber sollte diese Wohnstätte sein? Eine Stunde nördlich von Jena erhebt sich am rechten Ufer der Saale ein kahler steiler Berg, der Gleißberg genannt, auf dessen vorderster Kuppe die Ruinen der Kunitzburg aufragen. In dem Walde, welcher sich hinter diesen Burgtrümmern ausbreitet, hatte der Herzog Karl August von Weimar 24 Acker Holz zum Umroden angewiesen und den Schultheißen in den beiden am Fuße des Berges liegenden Dörfern Kunitz und Golmsdorf den Befehl ertheilen lassen, dem Aufenthalte und dem stillen Treiben der Fremden kein Hinderniß in den Weg zu legen. — Plötzlich waren die Fremden da: eine hohe, majestätische Dame mit bleichem Gesichte, schönen Augen und dunklem Haare, ein junger Mensch im angehenden Jünglingsalter, der als ihr Sohn galt, und ein Dienstmädchen, von dem man später erfuhr, daß es Amélie hieß. Diese drei Personen stiegen hinauf zu dem ausgerodeten Waldstücke. Dort ließ die „Gräfin“ zunächst ein Bretterhaus bauen und das Feld mit Korn, Weizen und Gerste bestellen. Später erstand daneben ein kleines einstöckiges Wohnhaus und Stallung für Hühner, Ziegen und ein Kälbchen. Ein Esel trug die Bedürfnisse der kleinen Wirthschaft, auch das Wasser, aus Kunitz oder Golmsdorf hinauf. Den Verkehr mit der Außenwelt vermittelte nur das Mädchen, das mit seiner fremden Sprache sich schwer verständlich machen konnte. Die Dame und der Sohn verkehrten mit Niemand. Nur der Herzog, wenn er dort in den Wäldern jagte, kehrte zu oft langer Unterhaltung in dem Häuschen ein, das aber dann sorgfältig verschlossen war. – So plötzlich, wie sie erschienen waren, verschwanden Frau und Sohn, als die Nachricht von der Leipziger Schlacht kam. Die Dame, sagte das allein zurückgebliebene Mädchen, sei nach Wien zum Congreß gereist. Das ist das einzige Sichere, was von dem geheimnißvollen Vorgang öffentlich geworden ist. Die darauf gebauten Vermuthungen lassen wir hier unerwähnt. Das einsame Mädchen zog später nach Jena und soll da in Griesbach’s Hause 1818 an der Auszehrung gestorben sein.
Aus den neuen Mittheilungen über diesen noch unaufgeklärten Gegenstand erfahren wir Folgendes. Im Herbste 1811 hielt in der kleinen mecklenburgischen Stadt Krakow eines Tages ein seltsames Gefährt seinen Einzug, das die Neugier besonders der Straßenjugend lebhaft erweckte. Es war ein vollbepackter Wagen, bespannt mit einem kleinen dicken Pferde, einem sogenannten „Schweden“, das ein junger Mensch am Zügel führte. Neben dem Wagen gingen ein zierliches junges Mädchen Und eine große stattliche, auch noch ziemlich junge Frau her. Diese war es, welche besonders die Aufmerksamkeit auf sich zog, und zwar nicht blos durch die Eigenart ihrer Kleidung, den seltsam geformten Hut, den langen hellen Mantel mit Kragen, den ledernen um die Taille gespannten Gürtel, sondern auch durch die imponirende Vornehmheit ihres Wesens. Alle drei sprachen französisch.
Da die Leute aber die Sprache der Fremden nicht verstanden, so waren diese wegen Kundgebung ihrer Wünsche in einiger Verlegenheit, bis der zufällig vorübergehende Rathsherr Schlottmann sich als des Französischen kundig auswies. Die Dame bat ihn nun um genaue Angabe des Wegs nach Pau und setzte dann auch ihren Weg nach dieser Richtung fort. Einige Zeit darnach kam jedoch der junge Mensch auf dem Pferdchen reitend zurück, um Schlottmann anzuzeigen, daß das Gefährt in der Nähe des Dorfes Karow ein Unglück erlitten habe. Das Interesse Schlottmann’s an der Fremden war bereits so groß, daß er mit seinem eigenen Geschirr nach der Unglücksstätte fuhr, die vom Schreck und von den Strapazen der Reise erkrankte Dame von dort abholte und mit ihrer Begleitung in seinem eigenen Hause einquartierte.
Da die Krankheit derselben einen ernsten Charakter annahm und längere Pflege heischte, so war indeß der Winter eingebrochen und die Weiterreise wäre mit großen Schwierigkeiten verbunden gewesen. Die Dame ließ sich deshalb auf Zureden ihrer freundlichen Wirthe bestimmen, während des Winters noch in dem gastlichen Hause zu bleiben. Sie bezeichnete sich nunmehr als eine Gräfin Ekemann aus Schweden und die sie begleitenden Personen als ihren Pflegesohn Lorenz und ihr Dienstmädchen Amélie. Die Familie Schlottmann behandelte die Fremde mit großer Auszeichnung und räumte ihr das „Staatszimmer“ zur Wohnung ein. Das Mädchen besorgte den Haushalt. Im Orte bildete die schwedische Gräfin, wie man sie nannte, den Gegenstand allgemeiner Neugier. Sie wurde von ihren Wirthsleuten auch in einzelnen Familien eingeführt und erschien hier immer in gewählter Toilette, meist in „grauer Seide“. Die meiste Zeit des Tages brachte sie am Stickrahmen zu.
Besondere Bewunderung erregte eine Stickerei, von welcher sie sagte, daß sie für den Herzog Karl August in Weimar bestimmt sei als Ausdruck des Danks dafür, daß ihr der Herzog auf der Kunitzburg bei Jena ein Asyl angewiesen habe. Im Frühjahr 1812 reiste denn auch die Gräfin mit den Ihrigen dahin ab. Sie unterhielt von da noch einen lebhaften Briefwechsel mit der Familie des Rathsherrn und lud dieselbe wiederholt zum Besuche ein. In der That machte sich auch der Rathsherr einmal dahin auf. Die damaligen Kriegsunruhen scheuchten ihn indeß bald wieder nach Hause. Er hatte sogar, beunruhigt von den nach Rußland durchziehenden Heereshaufen, das mitgenommene Leinen- und Bettzeug im Stiche lassen müssen.
Inzwischen kamen die Freiheitskriege, der Briefwechsel zwischen beiden Familien hörte nach und nach auf, und man dachte in Krakow schon längst nicht mehr an die mysteriöse Gräfin, als ungefähr Ende der dreißiger Jahre die indeß verwittwete Frau Schlottmann eine Vorladung vom Stadtgerichte erhielt und ihr dort die Eröffnung wurde, daß eine Gräfin Ekemann ihr hundert Gulden als Entschädigung für die ihrem Manne unterwegs auf der Reise zur Kunitzburg abhanden gekommenen Sachen vermacht habe. Das Geld wurde auch ausgezahlt. Die Gräfin bedauerte dabei, daß sie nicht eine größere Summe habe geben können, aber die Kriegsjahre hätten auch ihr eine große Einbuße an ihrem Vermögen gebracht.
Soweit die Angaben unserer freundlichen Berichterstatterin! Ob die Gräfin der Familie Schlottmann das Geheimniß ihrer Herkunft enthüllte,
[72] ist leider nicht festzustellen gewesen. Sicher ist aber anzunehmen, daß es mehr als das gewöhnliche Mitleid gewesen sein muß, was die Familie Schlottmann zur Gewährung einer so opfervollen Gastfreundschaft und daneben zu einer so respektvollen Behandlung der Fremden veranlaßt hat. Der Umstand aber, daß eine feingebildete und dabei leidende Dame entfernt vom Menschenverkehr und aller Bequemlichkeit des Culturlebens selbst in der rauhen Jahreszeit auf einem Waldberge in der Nähe einer öden Ruine sich ansiedelt, daß dies durch die directe Vermittelung des Herzogs von Weimar geschieht und die Dame von dem Asyl mit dem Eintritte des Friedensschlusses und des Wiener Congresses wieder scheidet, läßt die schwedische Gräfin nach wie vor in einem ungewöhnlichen und räthselhaften Lichte erscheinen. Fr. Hbg.
Spanische Tänzerin. (Illustration S. 57.) Da ruht es vom reizenden Spiel seiner Kunst, das schöne Kind der hesperischen Berge, das der römische Herrscherstolz, welcher mit aller eroberten und unterjochten Länder Glanz und Zier seine Prunkfeste zu schmücken liebte, in das ferne Italien geführt. Es ist glücklich auch in fremdem Lande, denn das feurige Blut des Südens bewahrt das junge Herz vor dem schweren Gefühl des Heimwehs, des unvergänglichen Erbtheils aller Kinder der nordischen Berge. So hat es uns der Künstler dargestellt, der gern in den Ländern der wärmeren Sonne die Gestalten für seine Bilder sucht.
Nathanael Sichel ist am 8. Januar 1844 in Mainz geboren und, nachdem er sich anfangs der Lithographie gewidmet, auf der Berliner Akademie unter Julius Schrader zum tüchtigen Historien- und Portraitmaler ausgebildet worden. Er wagte sich frühzeitig an größere Aufgaben. Kaum zwanzig Jahre alt vollendete er sein Gemälde „Philipp der Großmüthige an der Gruft seiner Gemahlin“, das die großherzogliche Gallerie in Darmstadt besitzt. Für sein Bild „Joseph, die Träume Pharao’s deutend“ erhielt er den Preis, der ihm die Fortsetzung seiner Studien in Rom ermöglichte. Hier malte er „Die Verhaftung des Don Carlos durch Philipp II.“ und eine Scene aus dem Leben der „Maria Stuart“. Nach längerem Aufenthalte in Paris und verschiedenen deutschen Städten, die er hauptsächlich als Bildnißmaler bereiste, vollendete er 1876 in „Francesca von Rimini“ eines seiner besten Bilder und ließ sich in jüngster Zeit in Berlin nieder.
Der blinde Geiger. (Illustration S. 64 u. 65.) Der Düsseldorfer Maler Ferdinand Brütt hat in seinem anmuth- und lebenvollen Gemälde uns nicht blos mit einem schönen Bilde erfreut, sondern in dasselbe auch einen edlen Sinn gelegt, durch dasselbe einen frommen Wunsch zum Ausdruck gebracht. Inmitten einer von der Hand des Reichthums gepflegten Natur und einer diese Natur in sorglosem Wohlbehagen genießenden Gesellschaft sehen wir ein paar Gestalten von ergreifendsten! Ausdruck: den blinden, Greis, der mit der Kunst der Töne sein Brod erbettelt, und das hülflose Kind, das sich furchtsam an ihn schmiegt und doch sein Führer auf dem harten Lebenswege sein muß. Mit der an den alten Harfner und Mignon in Goethe’s „Wilhelm Meister“ erinnernden Composition ist es unserem Künstler gelungen, was er offenbar erstrebte: für die Kunst in der Noth, für das Alter und die Kindheit im Elend die Herzen zu erwecken und zu erwärmen.
In unserer hastigen, nach Gewinn und Genuß jagenden Zeit wird gar Manches zum Vagabundenthum geworfen, was eine bessere Beachtung verdiente. Wie selten läßt man sich herab, nach dem Schicksale eines Menschen zu fragen, dem Armuth und Entbehrung auf dein Gesichte geschrieben stehen? Tausende eilen an dem störenden Anblick vorüber, ob ihnen eine zitternde Hand Blumen zum Kauf entgegenstreckt oder mit flehendem Auge ihnen ein Notenblatt hingehalten wird, um die Almosen der fahrenden Kunst zu erbitten. Man erfreut sich sogar der Darstellung solcher Gestalten auf der Bühne, und im Leben läßt man sie verkommen. Das soll nicht etwa eine Mahnung zur Pflege des Vagabundenthums sein; die Bewältigung desselben würde aber bedeutendere Erfolge erzielen, wenn Mehr Theilnahme für’das Schicksal des Einzelnen sich werkthätig erwiese.
Wie versöhnend wirkt es in unserem Bilde, daß von der nur ihrem Genuß lebenden Gesellschaft auf der Terrasse sich wenigstens eine Frauengestalt entfernt, um dem Liede des fahrenden Musikanten theilnehmend zu lauschen! Wir lassen gern die Scene in Goethe’s Geist sich weiter entwickeln, wir sehen, wie auch diesem Alten der Becher „voll des besten Weins“ gereicht wird, und hören seine Dankesworte:
„O, dreimal hoch beglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke.“
Prompte Antwort. Friedrich Taubmann, geboren 1565, der gelehrte Wittenberger Professor, war seiner witzigen Einfälle wegen am kurfürstlichen Hofe sehr beliebt und konnte es deshalb nicht hindern, daß man ihn schließlich als privilegirten Lustigmacher, als Hofnarren betrachtete. Einstmals wollte ihn ein läppischer, ihm an der kurfürstlichen Tafel gegenüber sitzender Höfling in dieser Hinsicht schrauben und stellte daher die Frage an ihn, wie man einen Hof- und einen andern Narren von einander unterscheide.
„O,“ versetzte Taubmann, „das ist sehr leicht; man braucht nur eine kurfürstliche Tafel zwischen Beide zu setzen.“ L. M.
Von P. Guarini di Forli (aus dem Jahre 1512).
In wie viel Zügen kann man die vier Springer auf dem neun Felder enthaltenden Quadrate so führen, daß die beiden weißen auf den Feldern 5 und 7 und die beiden schwarzen auf den Feldern 1 und 3 zu stehen kommen?
Von den sechs Wörtern nennt das eine einen ausgezeichneten katholischen Theologen unserer Zeit, ein anderes ein berühmtes Schloß in Spanien, ein anderes eine Stadt in Aegypten, ein anderes eine der bekanntesten Shakespeare’schen Frauengestalten, ein anderes einen Theil der Physik, ein anderes einen Planeten.
3e 4o 3u 3o 4i 3i 2n 5i 2i 4u 4o 2o 4o 3i 4i 4u 4o 5u 3e 1u 4i 4o 4e 3e 4u 4o 5u 3e 4o 3u 3o 4i 4o 3o 2i 1u 1e 5u 3i 1o 2i 5u 5i 4u 4o 2o 3i 5u 4i 5a 4i lu 3e 4o 3o 2i 5u 5u 3o 2i 5u.
Um auch denjenigen Lesern, die sich bis jetzt mit der Dechiffrirkunst nicht beschäftigt haben, die Betheiligung an der Lösung obiger Aufgabe zu ermöglichen, geben wir im Nachstehenden eine kurze Erklärung derselben, und verweisen im Uebrigen auf den trefflichen dieses Thema- behandelnden Artikel im Jahrgang 1882 (S. 234) der „Gartenlaube“.
1 2 3 4 5
a a b c d e
e f g h i k
i l m n o p
o q r s t u
u v w x y z
Nach dem nebenstehenden Schlüssel würden die Zeichen:
1e 4e 5a 3o 3a 4i „Fiesco“ bedeuten; denn f = 1e, i = 4e, e=5a etc.
Der Schlüssel zu unserer heutigen Aufgabe ist in derselben Weise gebildet, nur haben die Vocale a, e, i, o, u eine andere Reihenfolge, die wir nicht verrathen können.
Kleiner Briefkasten.
E. H. in Hamburg. Sie haben den Druckfehler im Sternarithmogryph (Nr. 1) richtig gefunden. Bei XIV muß es 5 11 und nicht 2 11 heißen. Diese unrichtige Zahl hat zu unserer Beruhigung weder Sie noch Hunderte von anderen Lösern irregeführt. Alle fanden die gute Bekannte, und ein Herr Dr. F. aus Danzig hat uns sogar folgende Berichtigung zugeschickt:
„Die Gartenlaube hat sehr schlau
Uns aufgeführt kunstvollen Bau.
Doch, daß sie nicht unfehlbar sei,
Hat sie bewiesen gleich dabei:
Diana, Jena, Erica,
Gera, Aosta und Riga,
Tiara, Elsa, auch Nizza,
Lima, Aluta, Uria,
Barka – und nun happert’s ja:
Wenn 2 wär b, dann gäb’s Edda.“
Gartenlaubenleserclub in C. b. D. Herzlichsten Dank für Ihre so überaus freundlichen Worte! Wir werden Ihren Vorschlag im Auge behalten und später darauf zurückkommen.
P. R. in Königsberg in Pr. Die in Nr. 1 unseres Blattes besprochenen Luftprüfer von Prof. Dr. Wolpert sind zu dem Preise von 5 bis 15 Mark durch die Thüringische Glasinstrumentenfabrik von Alt, Eberhard und Jäger in Ilmenau, sowie durch das Eisenwerk Kaiserslautern zu beziehen.
P. L. in K. Ein gewissenhafter Arzt wird Ihren Wunsch nicht erfüllen und Ihnen brieflich keinen Rath ertheilen. Man muß den Kranken sehen und untersuchen, um sagen zu können, was ihm fehlt. Die betreffende Anpreisung beruht darum augenscheinlich auf Schwindel.
W. Th. in K. Ihr Gedicht gehört zu den besseren lyrischen Ergüssen, die uns zuströmen. Wenn wir einige Aenderungen an demselben vornehmen dürften und wollten, so wäre es vielleicht für unser Blatt geeignet zu machen. Aber wohin würde dies uns führen, wenn wir, pflichtgemäß, dieselbe Rücksicht allen gleichwerthigen Leistungen widerfahren Netzen? Das Inhaltsverzeichniß jedes Bandes der „Gartenlaube“ sagt Ihnen, daß wir jährlich 20 bis höchstens 25 Gedichte abdrucken, während uns wöchentlich selten unter 100 eingesandt werden: also im Jahre über 5000 Gedichte! Verfällt auch der größte Theil derselben ohne Zögern dem Papierkörbe, so würden doch immer einige Hundert die obige Berücksichtigung verdienen: aber zu welchem Zwecke? Unsere Leser würden es uns schwerlich danken, wenn wir statt etwa 20 künftig 200 Gedichte zum Abdrucke brächten, was uns doch ein Leichtes wäre. – Die verehrlichen Lyriker werden es nun auch, angesichts jener Zahlen, als geschäftliche Nöthigung anerkennen, daß wir den Verfassern nur die Annahme, nicht auch die Ablehnung jedes einzelnen Gedichts anzeigen und jede Verantwortlichkeit für die betreffenden Manuskripte ablehnen.
Möchte diese unsere ziffermäßige Abwehr gegen die lyrische Sündfluth doch recht viele iunge Lente abschrecken, ihre Zeit bei größtentheils ungenügendem Talente mit dem vergeblichen Ringen nach dem Dornenkrauze des Dichterruhms toot zu schlagen! Dann würden die Millionen unnützer Reimereien nicht vermehrt werden, aber auch gewiß viele verfehlte Existenzen weniger zu beklagen sein.
Anfrage. Wo besteht eine Anstalt, in welcher ein alleinstehender, chronisch kranker Mann, welcher seinen Berufsarbeiten nicht mehr vorstehen kann, sich mit einem geringen Vermögen (z. B. 4500 Mark) auf Lebenszeit einkaufen könnte?
Inhalt: Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 53. – Die Kunst, alt zu werden. Von St. v. J. S. 58. – Guillotin und die Guillotine. Von Fr. Hfm. S. 61. Mit Illustration. S. 61. – Dschapei. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 63. – Davos im Schnee. S. 67. Mit Illustration. S. 68. – Der Anwalt der deutschen Genossenschaft. Von H. St. Mit Portrait. S. 69. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit: Das Messen des Lichtes. Mit Abbildungen. – Elektricität bei Treibriemen. Von Th. G. S. 70. – Blätter und Blüthen: Die schwedische Gräfin auf der Kunitzburg bei Jena. Von Fr. Hbg. S. 71. – Spanische Tänzerin. S. 72. Mit Illustration. S. 57. – Der blinde Geiger. S. 72. Mit Illustration. S. 64 und 65. – Prompte Antwort. S. 72. – Allerlei Kurzweil: Rösselsprung-Aufgabe. – Akrostichon. – Dechiffrir-Aufgabe. – Kleiner Briefkasten. S. 72.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Domenico Manuel Caetano (ca.1670–1709)
- ↑ Graf von Saint Germain (ca.1710–1784)
- ↑ Alessandro Cagliostro (1743–1795)
- ↑ James Graham (1745–1794)