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Die Gartenlaube (1885)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

No. 15.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


20.

Margarete stand am anderen Morgen im offenen Fenster der Hofstube. Sie fegte das dicke Schneepolster vom Steinsims draußen und streute Brotkrumen und Körner für die hungernden Vögel. Droben über dem weiten Viereck des Hofes stand ein klarblauer, frostflimmernder Himmel; nicht das kleinste Flöckchen hatte er zurückbehalten, und wenn es noch da und dort silbern hernieder stäubte, so kam es von einem der müdegewordenen Lindenzweige, die einen Theil der schweren Schneelast zu Boden sinken ließen … Es war sehr kalt. Keine Taube wagte sich heraus auf die Flugstange, und die Vögel, für welche der Futterplatz zurecht gemacht wurde, hungerten auch lieber in ihren Verstecken – nicht das leiseste Fluggeräusch unterbrach die tiefe Morgenstille des Hofes. Margarete wollte eben frostdurchschauert das Fenster schließen, als die Thür des Stallraumes im Weberhause geöffnet wurde und der Landrath auf seinem schönen Braunen über die Schwelle ritt. Er grüßte herüber und kam direkt unter das Fenster.

„Du reitest nach Dambach hinaus zum Großpapa?“ fragte sie ihn hastig wie mit zurückgehaltenem Athem.

„Zunächst nach dem Prinzenhofe,“ antwortete er und zog glättend an seinem neuen, eleganten Handschuh. „Vielleicht gelingt es mir besser als Dir, in den Zügen der jungen Dame zu lesen, was ich wissen will – was meinst Du dazu, Margarete?“

„Ich meine, daß Du das bereits weißt und durchaus nicht nöthig hast, ein Orakel zu befragen,“ sagte sie schroff. „Ob Dir aber die Dame so in aller Frühe Rede stehen wird, das ist eine andere Frage. Sie sieht zu wohlgepflegt aus, als daß man an ein Frühaufstehen glauben möchte.“

„Da bist Du wieder sehr im Irrthum. Ich wette, sie ist in diesem Augenblick bereits bei ihrer Lady Milford im Stalle und sieht nach dem Rechten. Das Reiten ist ihre Passion – Du hast sie noch nicht zu Pferde gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf und warf ihn zurück.

„Nun, sie reitet süperb und wird viel bewundert. Sie sieht in der That aus wie eine Walküre, wenn sie auf ihrem stattlichen Pferd daher kommt. Diese Lady Milford ist übrigens kein englisches Vollblut, ist vielmehr eine


Linde Heinrich’s des Löwen in Braunschweig. 0Originalzeichnung von C. Bourdet.

[242] ehrliche Mecklenburgerin, schöngebaut und fromm – Du kennst vielleicht die Rasse –“

„Ja wohl, Onkel. Herr von Billingen hat zwei prächtige mecklenburger Wagenpferde.“ Mit diesem Namen warf sie selbst trotzig den Fehdehandschuh hin. Mochte er nun auf dem Terrain vorgehen wie die Großmama; das war ihr doch lieber, als die unerschöpflichen Lobpreisungen einer Verhaßten anhören zu müssen. Gerüstet war sie ja, sie fühlte eine wahre Kampfbegierde in sich aufglühen.

Er bog sich vor und klopfte seinem Braunen, der unruhig wurde, den Hals. „Zu diesen prächtigen Pferden gehört selbstverständlich ein eleganter Wagen?“ fragte er gelassen.

„Gewiß – ein sehr schöner, selbst in Berlin bewunderter Wagen. Es sitzt sich ganz hübsch im Fond, auf den silbergrauen Atlaspolstern. Herr von Billingen hat Tante Elise und mich öfter ausgefahren –“

„Ein vornehmer, stattlicher Kutscher –“

„O ja, stattlich wohl, wie ich Dir schon einmal gesagt habe! Groß und breit, und weiß und roth wie eine Apfelblüthe! Ganz der norddeutsche Typus, wie z. B. die junge Dame im Prinzenhofe.“

Er warf einen schnellen Blick auf ihren trotzig geschwellten Mund, ihre dunkelgerötheten Wangen und lächelte. „Geh, schließe das Fenster, Margarete! Du wirst Dich erkälten,“ sagte er. „Solche Dinge erzählt man sich am besten am gemüthlichen Theetisch.“ Er neigte sich grüßend und ritt fort, und sie schloß hastig das Fenster.

Auf den nächsten Stuhl niedersinkend, vergrub sie das Gesicht in den verschränkten Armen, die sie auf den Fenstersims legte. Sie hätte weinen mögen vor Erbitterung und Aerger über sich selbst – sie zog seiner lächelnden Ruhe gegenüber stets den Kürzeren. – – –

Gegen Mittag kehrte Herbert wieder zurück, und bald darauf kam die Großmama herunter, um mit großer Feierlichkeit anzuzeigen, daß die Herrschaften im Prinzenhofe sie und die Enkelin heute Nachmittag bei sich zu sehen wünschten.

Nun flog der Schlitten in der dritten Nachmittagsstunde wieder über die weite Schneefläche draußen. Diesmal saß die Großmama neben dem jungen Mädchen, erwartungsvoll und hochaufgereckt; sie strotzte von Sammet und Seide.

Herbert fuhr selbst. Er saß hinter den Damen, und wenn er sich vorbog, da konnte Margarete seinen Athem an ihrer Wange spüren. Heute brauchte sie seinen Pelz nicht; sie hatte sich schleunigst einen warmen Pelzumhang gekauft, und es war ihr vorgekommen, als habe er diese neue Acquisition beim Einsteigen mit sarkastischem Blick gemustert.

Das Rokokoschlößchen rückte wie im Fluge immer näher. Mit seinen mächtigen, sonnenglitzernden Spiegelscheiben lag es in der weiten Schneelandschaft wie ein Schmuckstück auf weißem Sammetpolster … Drüben in Dambach qualmten die Fabrikschlöte, und diese Zeugen der Arbeit stiegen als riesige, schwarze Säulen in den Himmel hinein und verschleierten auf weite Strecken hin sieghaft seine klare Bläue; aber die durchsichtige Luftschicht über dem Prinzenhofe berührten sie nicht. Die Amtsräthin bemerkte das mit hörbarer Befriedigung dem Sohn gegenüber.

„Wir haben augenblicklich Westluft,“ sagte er. „Der Nordwind verfährt nicht so glimpflich; er trägt oft die Rauchspuren bis in die Fenster hinein, wie die Damen klagen.“

„Aber mein Gott, ließen sich denn da nicht Vorkehrungen treffen?“ rief die alte Dame ganz empört.

„Ich wüßte keine anderen, als daß man bei solcher Windrichtung einfach das Feuer ausbliese –“

„Und dann ginge ein Theil der Arbeiter spazieren und hätte nichts zu essen,“ warf Margarete bitter ein.

Die Großmama fuhr herum und sah ihr ins Gesicht. „Ist das ein Ton! … Du bist ja hübsch vorbereitet auf Deine Vorstellung in einem hochadeligen Hause! Ich muß Dich sehr bitten, Dich und uns nicht etwa zu blamiren mit liberalen Gemeinplätzen, wie ich sie leider an Dir kenne! Der Liberalismus ist nicht mehr Mode – Gott sei Dank! – In den Kreisen, in denen ich zu leben das Glück habe, hat er nie Boden gefunden, und wenn hier und da Einer der Unseren mit dem früheren Humanitäts- und Freiheitsschwindel kokettirt hat, so ist er jetzt desto gründlicher kurirt und – will es nicht gewesen sein.“

Herbert ließ in diesem Augenblick die Peitsche auf dem Rücken der Pferde spielen, und mit doppelter Schnelligkeit sauste der Schlitten über die glatte Bahn, um nach kaum einer Minute vor der Hausthür des Prinzenhofes zu halten. – –

„Ach ja, wir wohnen schauerlich einsam hier!“ bestätigte die Dame des Hauses eine dahin zielende Bemerkung der Frau Amtsräthin und sah mit einem tiefen Seufzer in die todtenstille Schneelandschaft hinaus. Die Vorstellung war vorüber, und man hatte sich im Salon niedergelassen.

In den Kaminen der aneinanderstoßenden Zimmer knisterten und knackten die brennenden Holzscheite; man saß behaglich und warm inmitten alter Pracht und Herrlichkeit. Das Inventar des Prinzenhofes war seit Altersher dasselbe verblieben, gleichviel, ob ein apanagirter Prinz oder eine fürstliche Wittwe die jeweiligen Bewohner gewesen waren. Herrliche Möbel aus den Zeiten Ludwig’s des Vierzehnten füllten die Zimmer, und das eingelegte Schmuckwerk ihrer Holzflächen in Silber, Bronze und Schildpatt schimmerte und blitzte heute noch wie vor länger als hundert Jahren. Nur die Polsterbezüge und die Gardinen schien man für die jetzigen Bewohnerinnen erneuert zu haben; sie waren frisch und geschmackvoll, aber sehr einfach.

„Ich habe seit meinem sechszehnten Jahre in der großen Welt gelebt,“ fuhr die dicke Dame fort, „und qualifizire mich absolut nicht zum Eremitendasein. Ich würde thatsächlich hier verkümmern, wüßte ich nicht, daß nunmehr eine Erlösung kommen muß.“ Sie warf dem Landrath einen lächelnden, verständnißinnigen Blick zu, und er neigte zustimmend den Kopf. Die kleine Amtsräthin aber wuchs förmlich unter jenem Blicke. Sie sah entzückt zur Seite, wo die schöne Heloise saß.

Die junge Dame lehnte in ihrem Armstuhl, reich gekleidet und stolz nachlässig wie eine Fürstin. Sie hatte ein paar freundliche Worte zu Margarete gesprochen und verhielt sich seitdem schweigsam. Aber es sprach in der That heute mehr Seele aus ihren Zügen, und das erhöhte ihre Schönheit wahrhaft überraschend. Ziemlich entfernt, aber in gerader Linie hinter ihr an der Schmalseite des Salons hing das Oelbild einer Dame, ein Kniestück. Sie war in schwarzem Sammetkleide; herrliches blondes Haar quoll unter einem Hütchen mit langer weißer Feder hervor, und ihre linke Hand ruhte auf dem Kopfe eines neben ihr stehenden Windspieles.

Die Ähnlichkeit zwischen ihr und der schönen Heloise war eine frappante, und das sprach die Frau Amtsräthin mit bewundernden Blicken aus.

„Ja, die Ähnlichkeit ist groß und leicht begreiflich – es ist das Bild meiner Schwester Adele,“ sagte die Baronin Taubeneck. „Sie war an den Grafen Sorma verheirathet und starb zu meinem großen Schmerze vor zwei Jahren. Und denken Sie sich, mein Schwager, der sechszigjährige Mann, spielt uns jetzt den Streich und heirathet die Tochter seines Gutsverwalters! Ich bin außer mir!“

„Das begreife ich,“ sprach die Frau Amtsräthin ganz empört. „Es ist hart, solche Elemente in der Familie dulden zu müssen, wirklich deprimirend. Aber meines Erachtens sind die modernen Heirathen von der Bühne weg, wie sie die hohen Herren jetzt belieben, doch noch viel schrecklicher. Wenn ich mir denke, daß eine Theaterprinzessin, vielleicht gar eine Ballerina, die noch wenige Tage zuvor im schamlos kurzen Röckchen von der Herrenwelt beklatscht worden ist, plötzlich als Herrin in solch ein altes Grafenhaus einzieht, da schaudert mir die Haut, da empört sich jeder Blutstropfen in mir!“

Der Landrath räusperte sich, und die Dame des Hauses ergriff ein Flakon und athmete den Duft so eifrig ein, als sei ihr übel geworden.

In diesem Augenblicke trat ein Bedienter ein und überreichte Fräulein von Taubeneck auf silbernem Teller einen Brief. Sie ergriff das Schreiben mit ganz ungewohnter Hast und zog sich in das Nebenzimmer zurück, und nach wenigen Augenblicken berief sie den Landrath zu sich.

Margarete saß dem Eckkamine des Salons gerade gegenüber. Der mächtige, etwas nach vorn geneigte Spiegel über demselben warf einen Theil des Salons mit all seinen blinkenden Geräthschaften zurück, aber er fing auch eine Fensterecke des Nebenzimmers auf, einen lauschigen Winkel voll Blumen hinter Tüllgardinen.

In dieser Fensterecke stand Heloise und reichte dem eintretenden Landrath den geöffneten Brief hin. Er überflog den [243] Inhalt und trat noch näher an die junge Dame heran. Sie sprachen leise und eingehend mit einander, und mitten im Gespräche bog sich die schöne Heloise plötzlich seitwärts, brach eine voll aufgeblühte, rothe Kamelie vom Stocke und befestigte sie eigenhändig mit einem vielsagenden Lächeln in Herbert’s Knopfloch.

„Mein Gott, wie blaß Sie sind, Fräulein!“ rief die Baronin in diesem Momente und griff nach Margaretens Hand. „Sind Sie unwohl?“

Das junge Mädchen schüttelte heftig, in sich zusammenfahrend, den Kopf, und alles Blut schoß ihr in die Wangen. Sie sei gesund wie immer, versicherte sie, und das Blaßwerden sei wohl eine Nachwirkung der kalten Fahrt.

Und jetzt kam auch Fräulein von Taubeneck in Herbert’s Begleitung wieder herüber.

Die Baronin hob mit einem Lächeln den Zeigefinger drohend gegen den Landrath. „Was, mein schönstes Kamelienbäumchen haben Sie geplündert? Wissen Sie nicht, daß ich’s eigenhändig pflege? Daß jede Blüthe gezählt ist?“

Heloise lachte. „Die Schuldige bin ich, Mama!Ich habe ihn dekorirt! Und habe ich nicht alle Ursache dazu?“

Die Mama nickte lebhaft zustimmend mit dem Kopfe und nahm eine Tasse Kaffee von dem Präsentirbrett, das ein Bedienter eben herumreichte. Und nun blieben die Kamelien das Gesprächsthema. Die Baronin war eine eifrige Blumenzüchterin, und der Herzog hatte ihr deßhalb einen kleinen Wintergarten einrichten lassen.

„Den müssen Sie sich nachher ansehen, Fräulein,“ sagte sie zu Margarete. „Die Großmama kennt ihn bereits, sie bleibt bei mir, und wir plaudern derweil ein wenig, während der Landrath Sie hinüberführt.“

Herbert kam dieser Aufforderung ziemlich eilig nach. Er ließ Margarete kaum Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken, weil er meinte, es würde sehr bald dämmerig werden. Das junge Mädchen erhob sich, und während Heloise ihre seidenrauschende Gestalt auf den Sessel vor dem geöffneten Flügel sinken ließ und ziemlich ungeschickt zu präludiren begann, verließen die Beiden den Salon.

Sie durchschritten eine ziemlich lange Zimmerflucht, und von allen Wänden sahen Angehörige des Herrscherhauses auf sie herab, im gestickten Hofkleide, oder mit harnischgeschützter Brust, – ein helläugiges Geschlecht mit weißer Haut und blühenden Wangen und einem intensiven Rothgold auf den mächtigen Schnauzbärten oder dem zierlichen Henriquatre.

„In Deiner langen Wollschleppe schwebst Du geräuschlos wie die Ahnfrau der Rothbärte da oben durch das alte interessante Prinzenschlößchen,“ sagte Herbert zu seiner schweigenden Begleiterin.

„Die würden mich nicht anerkennen,“ versetzte sie mit einem über die Bilder streifenden Blicke; „ich bin zu dunkel.“

„Allerdings, ein deutsches Gretchen bist Du nicht,“ meinte er lächelnd. „Du könntest leicht das Modell zu Gustav Richter’s italienischem Knaben gewesen sein.“

„Wir haben ja auch wälsches Blut in den Adern – zwei Lamprechts haben sich ihre Frauen aus Rom und Neapel mitgebracht. Weißt Du das nicht, Onkel?“

„Nein, liebe Nichte, das weiß ich nicht; ich bin in Eurer Hauschronik nicht so bewandert. Aber so wie ich gewisse Charakterzüge an der Nachkommenschaft beurtheile, müssen diese Frauen zum Mindesten Dogentöchter oder sonstige Prinzessinnen aus italienischen Palästen gewesen sein.“

„Schade, daß ich Dir diese Illusion zerstören muß, Onkel! Sie paßt so hübsch zu Deinen und Großmamas Wünschen, und gerade unter diesen stolzen Augen allen“ – sie zeigte nach den Bildern – „wird Dir die Berichtigung nicht angenehm sein; aber daran läßt sich nichts ändern, daß die eine der Frauen ein Fischerkind, und die andere eine Steinmetztochter gewesen ist.“

„Sieh da, wie interessant! Da haben ja die alten gestrengen Handelsherren doch auch ihre romantischen Anwandlungen gehabt! … Aber im Grunde genommen, was geht denn mich die Vergangenheit des Lamprecht’schen Hauses an?“

Eine Art schmerzhaften Erschreckens ging durch die Züge des jungen Mädchens. „Nichts, gar nichts hast Du damit zu schaffen!“ antwortete sie hastig. „Es steht Dir ja frei, die Verwandtschaft zu ignoriren. Mir kann das nur lieb sein; dann habe ich von Deiner Seite keine Einmischung und Quälerei zu fürchten, wie ich sie täglich von der Großmama erleiden muß!“

„Sie quält Dich?“

Sie schwieg einen Moment. Anklagen hinter dem Rücken Anderer war nie ihre Sache gewesen, und hier sprach sie zum Sohne über seine Mutter. Aber die bösen Worte waren ihr nun einmal entschlüpft und nicht rückgängig zu machen.

„Nun, ich war ja auch ungehorsam und habe einen ihrer Lieblingswünsche nicht erfüllt!“ sagte sie, während Heloise drüben aus ihrem Präludium in ein rauschendes modernes Musikstück überging. „Diese bittere Enttäuschung nagt an ihr – das thut mir leid, und ich entschuldige ihre Mißstimmung gegen mich, so viel ich kann. Aber das ist mir unfaßlich, wie sie trotz alledem noch hoffen mag, mich umzustimmen, meine Entscheidung null und nichtig zu machen. Ich kann das leidenschaftliche Verlangen, jenem exklusiven Kreise verwandtschaftlich nahe zu kommen, überhaupt nicht verstehen, und ist es nicht auch Dir verwunderlich, daß die Großmama so selbstverständlich auf das Anathema eingehen mochte, das die Baronin gegen den Eindringling, die Zukünftige ihres Schwagers schleuderte? Was bin ich denn Anderes als diese Gutsverwalterstochter?“

Er lächelte und zuckte die Achseln. „Herr von Billingen ist kein Graf, und die Lamprechts genießen das Ansehen eines alten Patricierhauses, so mag meine Mutter denken, und deßhalb ist mir ihr Verhalten nicht so ,verwunderlich‘. Weniger verständlich dagegen bist Du mir. … Woher die leidenschaftliche Erregung gegen jene Geburtsbevorrechteten, die oft in so erbitterter Weise zu Tage tritt?“

Sie hatten bei diesen letzten Worten den Wintergarten betreten; aber weder die Farbenpracht der blühenden Pflanzen, noch der ihr entgegenströmende Blumenduft schienen für Margarete vorhanden. Sichtlich erregt blieb sie dem Eingange nahe stehen.

„Du beurtheilst mich ganz falsch, Onkel,“ sagte sie. „Nicht jene Exklusiven sind es, mit denen ich zürne – dazu kenne ich sie zu wenig. Ich weiß nur, daß sich von Alters her große Vorrechte und Privilegien an ihre Namen knüpfen, und daß vor ihrer Hochburg ein Engel mit feurigem Schwerte steht. Wie sollte mich das feindselig stimmen? Die Welt ist weit, und man kann seinen Weg gehen, ohne daß Anmaßung und Geburtsdünkel verletzend an Einen herantreten dürfen. Also darin trifft mich der Vorwurf der Verbitterung nicht; wohl aber grolle ich mit Jenen, die meines Gleichen sind, und von denen Unzählige so glücklich sind wie ich, auf eine große Summe bürgerlicher Tugenden in ihrer Familie zurückblicken zu können. Sie sind so gut ‚Geborene‘ wie Jene, sie haben auch Ahnen, von denen verschiedene in tapferer Vertheidigung ihres Eigenthums so manchen hochgeborenen Strauchritter in den Sand gestreckt haben –“

Er lachte. „Und trotzdem weist Eure gemalte Ahnensammlung keinen Mann in Wehr und Waffen auf?“

„Wozu auch?“ fragte sie bitterernst zurück. „Im Leben und Streben ist Jeder ein ganzer Mann gewesen, wie der blühende Wohlstand seines Hauses, sein Ansehen bei den Zeitgenossen bewiesen – braucht es da noch äußerer Abzeichen? – Wäre es immer so geblieben, das Bürgerthum hätte auch seine respektirte Hochburg. Aber die Nachkommen ziehen es vor, zu katzbuckeln, ja sogar in serviler Weise Steine hinzuzutragen, welche jene Anderen zum Wiederaufbau alter, gestürzter Schranken und Postamente brauchen. … Das Genie, der Reichthum, die großen Talente, sobald sie dem bürgerlichen Boden in Aufsehen erregender Weise entsteigen, werden wie von einem Magnet in jene Sphäre gezogen und gehen drin auf, Macht und Ansehen derselben immer aufs Neue stärkend, während die ‚Erhobenen‘ dem geachteten Namen ihrer Vorfahren undankbar ins Gesicht schlagen, um in dem neuen Stande mit Widerwillen und Geringschätzung von den Erbeingesessenen geduldet zu werden.“

Er war sehr ernst geworden. „Seltsames Mädchen! Wie tief geht Dir die Erbitterung über Dinge, die für andere junge Mädchen Deines Alters kaum existiren!“ sagte er kopfschüttelnd. „Und wie hart klingt die Verurtheilung in Deinem Munde! Noch vor Kurzem wußtest Du wenigstens diese herbe, strenge Auffassung unter lächelnder Satire und Grazie zu verstecken –“

„Ich habe seit dem Tode meines Vaters Lachen und Scherz verlernt,“ fiel sie mit zuckenden Lippen ein, und Thränen verdunkelten ihren Blick. „Weiß ich doch, daß gerade ihn Vorurtheil und falscher Wahn verblendet und sein Leben unheilvoll verdüstert haben, wenn ich auch den eigentlichen Grund seiner Seelenqual nicht kenne. Doch genug davon! Ich bitte Dich nur um Eines, [244] Onkel! – Nun Du weißt, wie ernst ich’s meine, wirst Du auch nicht anstehen, die Großmama zu bestimmen, daß sie mich nicht länger bestürmt – sie erreicht doch nichts!“ –

„Wenn Du den Mann liebtest, dann würden Deine strengen Principien unterliegen – er bliebe der Sieger!“

„Nein! Und tausendmal nein!“

„Margarete!“ – Er trat plötzlich auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände. „Ich sage ,wenn Du ihn liebtest‘. Kannst Du Dir wirklich nicht denken, daß man, um das Glück eines anderen Menschenlebens zu werden, seine Antipathien, seine liebsten Neigungen, ja, ganz und gar sich selbst überwindet und hingiebt?“

Sie preßte die Lippen auf einander und schüttelte heftig den Kopf.

„Du willst sagen, daß Du kein Verständniß für das Wesen der Liebe hast?“ Er drückte ihre Hände fester, die sie ihm zu entziehen strebte.

Ihre Augen hafteten am Boden, sie sah nicht auf. „Muß das sein?“ murmelte sie mit tieferblaßten Lippen. „Ist ein solches Verständniß nöthig für jedes Menschenkind, und kann man nicht auch durchs Leben gehen, ohne jener dämonischen Macht Raum zu geben?“ Sie richtete sich plötzlich auf und entzog ihm mit einem gewaltsamen Ruck ihre Hände. „Ich will nichts mit ihr zu schaffen haben!“ rief sie, und in ihren Augen brannte ein wildes Feuer. „Seelenfrieden will ich, und nicht jenen mörderischen Kampf –“ einen Moment hielt sie wie erschrocken inne, als ertappe sie sich selber auf einer Unvorsichtigkeit. – „Ich würde übrigens nicht unterliegen,“ setzte sie beherrschter hinzu. „Mein bester Helfer wäre der Kopf – ich hoffe, er ist hell und stark genug dazu.“

„Glaubst Du? Nun, so versuche es und leide, bis –“ er brach ab, und sie sah scheu zu ihm auf – so tieferregt hatte sie seine Züge noch nicht gesehen. Aber er hatte eine wunderbare Gewalt über sich selbst. Nachdem er den Wintergarten einmal durchschritten, trat er wieder auf sie zu.

„Wir müssen wieder in den Salon zurückkehren,“ sagte er ganz ruhig. „Du würdest in Verlegenheit kommen, wenn man Dich drüben um Dein Urtheil befragte, denn Du hast Nichts gesehen. Drum betrachte Dir hier das prächtige Palmenexemplar, dort die canarische Dracaena. Und sieh, hier über das Tulpen- und Hyacinthenbeet hängt der spanische Flieder seine Trauben: sie sind am Aufbrechen – ein wahres Frühlingsbild! Hast Du Dich nun ein wenig orientirt?“

„Ja, Onkel!“

„,Ja, Onkel!‘“ wiederholte er spöttisch. „Der Titel kommt Dir ja heute wieder einmal recht flink von den Lippen; Du siehst hier wohl ganz besonders die altehrwürdige Respektfigur in mir?“

„Hier nicht anders, als daheim auch.“

„Also immer! Der Onkeltitel geht und steht mit mir, wie mit Jenem der Zopf, ‚der ihm hinten hing‘. Nun, ich will ihn ertragen, bis Du Dich vielleicht einmal auf meinen Namen besinnst.“

Bald nachher saßen die Drei wieder im Schlitten; aber sie fuhren nicht nach der Stadt zurück. Der Landrath lenkte in den Feldweg ein, der das Ackerland seitwärts durchschnitt und direkt nach Dambach führte. Sein Vater habe heute Morgen über Rheumatismus in der Schulter geklagt, und da wolle er doch sehen, wie es um den Patienten stünde, sagte Herbert und trieb die Pferde an.

Die Frau Amtsräthin kauerte mißgelaunt in ihrer Ecke. Der Abstecher war durchaus nicht nach ihrem Geschmack; aber sie wagte nicht, offen zu protestiren. Statt dessen sprach sie sich mißbilligend und sehr scharf über Margaretens Schweigsamkeit aus – sie habe zwischen den Damen gesessen wie eine Landpomeranze, der man jedes Wort abkaufen müsse und die nicht „drei“ zählen könne.

„Das Schweigen hat auch sein Gutes, Persönlichkeiten gegenüber, deren Antecedentien man nicht ganz genau kennt, liebe Mama,“ raunte der Landrath dicht an ihrem Ohr. „Mir wäre es heute auch lieber gewesen, Du hättest Dich nicht so rückhaltlos über die Ballerinen ausgesprochen – die Baronin Taubeneck ist auch eine gewesen.“

„Großer Gott!“ Die Frau Räthin sank mit diesem Ausruf wie vernichtet in sich zusammen. „Nein, nein, das ist ein Irrthum, Herbert, eine bodenlose Verleumdung böser Zungen!“ raffte sie sich nach kurzem Besinnen wieder auf. „Die ganze Welt weiß, daß die Gemahlin des Prinzen Ludwig von altem Adel gewesen ist –“

„Gewiß. Aber die Familie war seit Langem total verarmt. Die letzten Träger des alten Namens waren Subalternbeamte, und die zwei schönen Schwestern, die Baronin Taubeneck sowohl, als auch die verstorbene Gräfin Sorma, haben unter angenommenen Namen als Tänzerinnen ihr Brot verdient.“

„Und das sagst Du mir heute erst?“

„Ich weiß es selbst erst seit Kurzem.“

Die Frau Amtsräthin sprach kein Wort mehr. Wenige Minuten später hielt der Schlitten im Dambacher Fabrikhofe. Das Abenddunkel war längst hereingebrochen, und aus den langen Fensterreihen der Arbeitssäle fiel heller Lichtschein auf die breite Schneefläche des Hofes.

Die alte Dame zog tiefaufseufzend, unter hörbarem Frostschütteln den Pelz über der Brust zusammen und trippelte am Arm ihres Sohnes über den schneebedeckten Kiesweg des Gartens. Bei der Biegung der Weglinie um den festgefrorenen Teich sahen sie den Amtsrath am offenen Fenster seines Zimmers stehen. Die Lampe brannte auf dem Tische hinter ihm; er war im Schlafrock und klopfte seine Pfeife am Fensterbrett aus.

„Nun sehe mir Einer den Mann!“ schalt die Frau Amtsräthin geärgert mit unterdrückter Stimme. „Er behauptet rheumatisch zu sein und stellt sich bei der entsetzlichen Kälte ans offene Fenster!“

„Ja, das sind so Reckengewohnheiten, Mama – die ändern wir nicht,“ lachte der Landrath und führte sie nach der Thür des Pavillons.

„O je, was für ein rarer Besuch!“ rief der alte Herr, sich vom offenen Fenster zurückwendend, während seine Frau über die Schwelle schritt. „Potztausend, Franziska, bist Du’s denn wirklich? Und so bei Nacht und Nebel, bei Schnee und Eis? Das hat seinen Haken!“ Er schloß schleunigst das Fenster, durch welches allerdings ein eisiger Zugwind fauchte. „Soll ich Kaffee kochen lassen?“

Die alte, kleine Dame schüttelte sich förmlich. „Kaffee? Um diese Zeit? Nimm mir’s nicht übel, Heinrich, aber Du verbauerst entsetzlich in Deinem Dambach! – es ist ja nahezu Theezeit! … Wir kommen vom Prinzenhofe –“

„Dacht’ ich’s doch! Da sitzt der Haken –“

„Und wollten nicht in die Stadt zurückkehren, ohne uns zu erkundigen, wie es Dir geht.“

„Danke für gütige Nachfrage. Je nun, es reißt und zwickt mich in der linken Schulter, und der Rumor wird mir manchmal ein Bischen zu bunt – das ist richtig. Ich habe heute schon ein paarmal dazu gepfiffen, um wenigstens Takt in die Geschichte zu bringen.“

„Sollen wir Dir nicht doch den Arzt herausschicken, Vater?“ fragte Herbert besorgt.

„Nichts da, mein Sohn! In die alte Maschine, da –“ er zeigte auf seine breite Brust – „ist zeitlebens kein Tropfen Quacksalbergift gekommen, da werde ich mir doch nicht in meinen alten Tagen noch das Blut verderben! … Die Faktorin ist mir mit Senfspiritus fürchterlich zu Leibe gegangen und hat mir ein Wergbündel übergebunden; sie behauptet, das würde mir helfen –“

„Ja, besonders, wenn Du bei der Kälte ans offene Fenster trittst, wie vorhin!“, sagte die Frau Amtsräthin anzüglich und fuhr mit dem Muff zertheilend durch den Tabaksdampf, der sich nun bei geschlossenem Fenster sehr bemerklich machte. „Ich weiß schon, mit dem Arzt darf man Dir nicht kommen; aber Du solltest es wenigstens mit einem Hausmittel versuchen.“

„Vielleicht ein Täßchen Kamillenthee, Fränzchen?“

„Nein, Lindenblüthe mit Citronensaft würde praktischer sein; das hilft mir immer – Du mußt schwitzen, Heinrich!“

„Brr!“ schüttelte er sich. „Dann lieber gleich ins Fegfeuer! … Siehst Du, Maikäferchen –“ er schlang seinen Arm um Margaretens Schultern, die längst Hut und Mantel abgeworfen hatte und an seiner Seite stand – „so soll Dein alter Großvater maltraitirt werden! In den Spittel mit ihm, wenn er wirklich Lindenblüthe trinkt – meinst Du nicht?“

Sie lächelte und schmiegte sich an ihn. „In solchen Dingen bin ich unerfahren wie ein Kind, Großpapa, da darfst Du nicht an

[245]

Der Hausirer.0 Nach dem Oelgemälde von Blume-Siebert.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstängl in München.

[246] mein Urtheil appelliren. Aber erlauben mußt Du mir schon, daß ich bei Dir bleibe. Du darfst Nachts mit Deinen Schmerzen nicht allein sein. Ich stopfe Dir immer frische Pfeifen, lese vor und erzähle, bis Dir der Schlaf kommt.“

„Das wolltest Du, kleine Maus?“ rief er erfreut. „Ach ja, mir wär’s schon recht! Aber morgen ist ja Testamentseröffnung, da darfst Du nicht fehlen.“

„Ich werde den Onkel bitten, mir den Schlitten herauszuschicken –“

„Und der fürsorgliche Onkel wird pünktlich Sorge tragen,“ sagte der Landrath mit einer ironisch tiefen Verbeugung.

„Abgemacht!“ rief der Amtsrath. „Aber, Franziska, Du retirirst ja in halbem Sturmschritt nach der Thür! – Na ja, Du wirst für die da drüben –“ er hob die Hand in der Richtung des Prinzenhofes - „Deinen besten Staat angezogen haben, und der wird hier eingeräuchert. Ich hab’s freilich ein Bischen schlimm gemacht mit dem Qualmen und Dampfen -“

„Und mit was für einer Sorte!“ warf sie malitiös und naserümpfend ein und schüttelte an ihrer Seidenschleppe.

„Nun, nun, ich bitte mir’s aus. Es ist ein feines Kraut, ein kräftiges Kraut! Davon verstehst Du aber so wenig, wie ich von Deinem Peccothee, Fränzchen … Aber genire Dich nur nicht! Es prickelt Dir in Deinen kleinen Pedalen, so schnell wie möglich in die frische Luft zu kommen. Du hast mehr als Deine Schuldigkeit gethan, hast Dich in meine ‚verräucherte Spelunke‘ gewagt – wer mir das vor einer halben Stunde gesagt hätte! … Drum gieb Deiner kleinen Mama den Arm, Herbert, und bringe sie schleunigst und fein säuberlich in den Schlitten zurück.“

Er öffnete galant die Thür, und die alte Dame schlüpfte an ihm vorüber, beide Hände im Muff vergraben, und war gleich darauf im Dunkel jenseit der Hausthür verschwunden.

In diesem Augenblick bückte sich Margarete und nahm die Kamelie vom Boden auf, die Herbert beim Lüften seines Pelzes unbewußt abgestreift hatte. Stumm reichte sie ihm die Blume hin.

„Ah, beinahe wäre sie zertreten worden!“ sagte er bedauerlich und hielt die Kamelie prüfend in den Lampenschein. „Das hätte mir sehr leid gethan! Sie ist so schön, so frisch und strahlend wie die Geberin selbst – findest Du das nicht auch, Margarete?“

Sie wandte sich schweigend weg, nach dem Fenster, an welches die Großmama draußen ungeduldig klopfte, und er schob die rothe Blume, wie einst die weiße Rose, in seine Brusttasche und schüttelte seinem Vater zum Abschied die Hand – dann ging auch er.

(Fortsetzung folgt.)

Die Dynastie Naundorff.

Von Rudolf von Gottschall.

In den französischen Zeitungen las man neuerdings, daß die Legitimisten sich nach dem Tode des Grafen Chambord um die Prinzessin Amélie zu sammeln scheinen, und da diese Prinzessin in keinem Genealogischen Kalender der Welt zu finden ist, so werden viele deutsche Leser begierig sein, nähere Aufschlüsse über dieselbe zu erhalten.

In der That hat es mit dieser französischen Prinzessin eine merkwürdige Bewandtniß; sie ist die Tochter eines Uhrmachers, der einen deutschen Namen führt; aber dieser Uhrmacher selbst hat sich zeitlebens für den Dauphin von Frankreich, für den Sohn der Maria Antoinette und des Königs Ludwig XVI. gehalten, für jenen unglücklichen Ludwig XVII., der zur Zeit der großen Revolution vom Konvent und von der Kommune im Temple eingesperrt und mißhandelt wurde und, wie die allgemeine Annahme ist, in Folge der schlechten Pflege erkrankte und starb. Diese letzte Thatsache wird von den Prätendenten – denn es gab ihrer mehrere – und ihren Anhängern bestritten; Ludwig XVII. soll aus dem Temple entkommen sein. Unter den Pseudodauphins, welche Anspruch auf den Thron von Frankreich für sich und ihre Familie machen, nahm der Uhrmacher Naundorff durch die Unermüdlichkeit, womit er diesen Anspruch geltend machte, wohl den ersten Rang ein.

Der Lebenslauf jenes Pseudodauphins, dessen Herkunft keineswegs aufgeklärt ist und der daher, wie man auch über seine Berechtigung denken mag, immerhin eine geheimnißvolle Persönlichkeit bleibt, gehört zu den romanhaftesten, welche die neuere Geschichte kennt, nicht blos mit Bezug auf jenen zweifelhaften Theil seiner Biographie, den er selbst erzählt, sondern auch im Hinblick auf die Abenteuer, deren Held er wurde, seitdem er im Lichte der glaubwürdigen Geschichte wandelt.

In einem Memoire, welches Naundorff im Jahre 1836 von England aus veröffentlichte, erzählt er seine eigene Geschichte etwa in folgender Weise. Als Dauphin von Frankreich hat er mit dem König und der Königin und seiner Schwester jene erschütternden Ereignisse der Revolution durchgemacht, welche noch in seinen Kindheitserinnerungen lebendig sind. Auf der verhängnißvollen Fahrt von Versailles nach Paris hat sich folgendes Ereigniß seinem Gedächtniß dauernd eingeprägt. „Zwei Ungeheuer trugen auf der Spitze ihrer Piken zwei Menschenköpfe und marschirten so vor dem königlichen Wagen. Zwischen ihnen ging ein Mann von schrecklichem Aussehen; er hatte einen großen Bart und trug auf der Schulter ein blutiges Beil. Vor einer Boutique ließ man halten; die Bösewichter gingen hinein, und als sie bald darauf wieder herauskamen, waren die abgeschlagenen Köpfe gepudert. Einer von ihnen näherte sich uns und hielt mir den Kopf unter die Augen. Ich stand aufrecht an der Kutschenthür, und obwohl einer unserer Freunde sich an den Kutschenschlag gelehnt hatte, um den Pöbel von uns abzuhalten, so konnte er doch das Attentat nicht verhindern. Ich wurde so heftig erschreckt von diesem entsetzlichen Anblick, daß ich mich in den Schoß der Mutter stürzte, um mein Gesicht zu verbergen.“ Dann erzählt er von der Fahrt nach Varennes, daß er von seiner Mutter als Mädchen verkleidet worden, und giebt eine Menge genauer Details dieser Reise an: bei der Rückfahrt hätte Barnave ihn auf seinen Schoß genommen und sei sehr zärtlich gegen ihn gewesen; er berichtet ferner, daß in der Nacht zwischen dem 9. und 10. August die Königin Marie Antoinette in seinem Zimmer geschlafen habe, in dem Bette seiner Wärterin. Alle diese und andere Einzelheiten sind unkontrollirbar; die Einzige aber, die Naundorff aufruft, ein Zeugniß dafür abzulegen, die Herzogin von Angoulème, die Schwester des Dauphins, hat das Zeugniß stets verweigert und sich in Schweigen gehüllt.

Interessanter und eingehender werden die Mittheilungen des Memoires, wo es sich um die Gefangenschaft im Temple handelt. Naundorff giebt eine sehr genaue Beschreibung des Grundrisses, der einzelnen Stockwerke des alten Gebäudes, seiner Kabinette, Thürme und Thürmchen: sie entspricht vollkommen den Zeichnungen und Plänen, welche Chantelauze seinem soeben erschienenen großen Werke über Ludwig XVII. eingefügt hat. Doch konnte sich der Prätendent ja auch diese Zeichnungen verschafft haben. Wohl aber giebt er eine Menge Einzelheiten an, sowohl was die Lokalitäten als auch den intimen Verkehr der königlichen Familie betrifft, welche nur Jemand wissen konnte, der wirklich in jenem Gefängniß gelebt hat. Es wird erzählt, daß Naundorff in Paris, in Gegenwart mehrerer Zeugen, eine Unterhaltung mit einem Klempner Bulot hatte, welcher von 1792 bis 1797 die Lampen im Temple zu besorgen hatte, daß dieser, als das Gespräch auf das alte Gefängniß kam, einiges Detail über seine Räumlichkeiten anführte, welches vom Prätendenten in einer Weise berichtigt und ergänzt worden sei, daß dem alten Manne sich die Augen mit Thränen füllten und er ausrief: „Sie können nur der Sohn Ludwig’s XVI. sein.“ Auch ein im Jahre 1837 gerichtlich verhörter Greis Jean Baptiste Jerome Brémond erklärte, er glaube, daß der Prinz aus dem Temple entkommen, daß Naundorff der echte Prinz sei, besonders weil er den Versteck kennt, welchen sein Vater in den Tuilerien selbst angelegt hat und bei dessen Verschluß er allein mit demselben zugegen war. Auch hatte Ludwig XVI. selbst geäußert, daß diesen Versteck für Dokumente und Gelder nur sein Sohn kenne. Der Prinz besitze den Schlüssel, den der König selbst angefertigt. Brémond war von 1788 bis zum 10. August 1792 Geheim-Sekretär Ludwig’s XVI.

Doch wie entkam der Dauphin aus dem Temple? Diese Entführungsgeschichte ist überaus romanhaft. Die Anhänger des [247] Prätendenten werden freilich behaupten können, gerade das spreche für ihre Glaubwürdigkeit; denn wenn es sich um eine Erfindung handle, so hätte es sich Naundorff bequemer machen können.

Ueber die Mißhandlungen, welche der Dauphin von dem Schuster Simon zu ertragen hatte, geht er sehr rasch fort. Seine eigenen geheimnißvollen Erlebnisse, die sich bisher der Kunde der Welt entzogen hatten, beginnen mit den Bemühungen seiner Freunde, ihn der Gewalt der Kommune zu entziehen und die Flucht aus seinem Gefängniß vorzubereiten. Wer diese Freunde waren, welche Einfluß genug besaßen, um zu ihm Zutritt zu erhalten, und trotz der strengen Bewachung und Beaufsichtigung sich unbemerkt seiner zu bemächtigen vermochten: das erwähnt er nicht; wir hören von verkleideten weiblichen Schildwachen, von Arbeitern, welche im Dienste der Royalisten waren, doch wir vermissen einen genauen Bericht, der uns begreiflich macht, wie alle diese Vorgänge unter den Augen der Municipalwache möglich waren. Prinz Ludwig kränkelte damals schon in Folge der schlechten Behandlung und des ungesunden Aufenthaltes; er war nicht mehr in den Händen Simon’s und seiner Frau, sondern wohnte und schlief allein in dem Zimmer, welches früher Cléry, des Königs treuer Diener, innegehabt. Hier gaben nun die Freunde des Prinzen ihm Opium; halb wachend, halb schlafend sah er, wie er aus dem Bette genommen, in einen Korb gelegt wurde, der darunter gestanden und aus dem man ein Gliedermännchen nahm, das man statt seiner ins Bett legte; er selbst verlor dann die Besinnung, und als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem ihm ganz unbekannten Raume, es war dies das vierte Stockwerk des Thurms, wo man ihn unter allerlei altem Gerümpel versteckt hatte; hier mußte er nun Wochen lang bleiben, ohne sich zu rühren, seine Freunde brachten ihm Speise und Trank.

Da es zunächst unmöglich schien, aus dem Thurm herauszukommen, weil jeder, der vorüberging, und alles, was man herein- und hinaustrug, auf das Genaueste von der Municipalgarde untersucht wurde, so glaubte man zunächst den Prinzen im Thurm selbst verstecken zu müssen. Inzwischen war entdeckt worden, daß der Prinz verschwunden und ein Gliedermännchen an seine Stelle gebracht worden sei: man vertauschte dasselbe mit einem stummen Kinde, weil man die Flucht des Prinzen geheim halten wollte. Das Kind sollte langsam vergiftet werden; um den Schein zu wahren, rief man, als es erkrankt war, den Arzt Dessault dazu. Dieser aber erkannte die Vergiftung, ließ durch seinen Freund den Apotheker Choppart ein Gegengift bereiten und erklärte ihm übrigens, daß das Kind nicht Ludwig’s XVI. Sohn sei, den er gekannt habe. An die Stelle des stummen Kindes, das den Intriguanten nicht den Gefallen that, zu sterben, brachte man aus dem Hôtel Dieu ein anderes Kind, welches an der englischen Krankheit litt; Dessault und Choppart starben bald darauf an Gift. Das kranke Kind aus dem Hospital erlag seinem Leiden; damit war der Zeitpunkt gekommen für die Freunde des Dauphin, energisch zu handeln und ihn aus dem Temple herauszuretten. Man nahm das verstorbene Kind aus dem Sarge, legte den Prinzen statt dessen hinein, versteckte das todte Kind im vierten Stockwerke, dort wo der Dauphin bisher versteckt gewesen, und als der Wagen kam, den Sarg auf den Kirchhof zu schaffen, lud man statt des rhachitischen Spitalknaben die Hoffnung der Monarchie auf denselben. Es verstand sich von selbst, daß eine neue Eskamotage nöthig war, damit der Prinz nicht lebend begraben werde. Unterwegs wurde er in den Kasten im Fond des Wagens gebracht und der Sarg mit Makulatur angefüllt, die bisher in diesem Kasten sich befand. Im Kirchhofe Saint Marguerite wurde dieser Sarg begraben.

So war der Prinz aus dem Gefängniß entkommen, meist in bewußtlosem Zustande, denn man hatte ihm Opium gegeben. Er weiß auch nicht genau, was in nächster Zeit mit ihm vorgegangen; später fand er sich in der Pflege einer Frau, Madame Delmar, einer Schweizerin, die als Schildwache verkleidet im Temple Posten gestanden hatte. Dann wurde er in die Mitte des Vendéerheeres gebracht; doch dort erkrankte er schwer und genas nur langsam unter der Pflege seiner Schweizer Freundin, die ihn zugleich in der deutschen Sprache unterrichtete, damit er leichter für ihren Sohn gelten könne. Hier in der Vendée besuchte ihn General Charette mit zwei anderen Freunden. Gleichwohl wurde er bald darauf wieder verhaftet und abermals gerettet durch die Vermittelung von Josephine Beauharnais, die er auch für den Schutzengel hält, der im Temple über ihn gewacht hat. Ein Graf Montmorin, als Jäger verkleidet, war bei der Befreiung behilflich und blieb lange Jahre der treue Eckhard des Dauphin. Dieser reiste nun nach Italien, anfangs nach Venedig, dann nach Rom, wo er von dem heiligen Vater beschützt wurde. Doch das Revolutionsheer drang in Italien ein. Der Dauphin wurde das Opfer einer schrecklichen Katastrophe: das Haus, in dem er gewohnt, ging in Flammen auf; einer seiner Freunde und ein junges Mädchen, das ihn begleitete, wurden ermordet; nur Montmorin entging den Verfolgern. Der Dauphin flüchtete sich zur See nach England, wurde indeß ergriffen, nach Frankreich zurückgeführt und in einen französischen Kerker gebracht. Bald darauf schiffte man ihn wieder ein; wieder betrat er das Land, um nach viertägiger Fahrt, während welcher eine bewaffnete Eskorte ihn begleitete, abermals gefangen gesetzt zu werden. In diesem Gefängniß blieb er bis 1803, wo ihn abermals Montmorin befreite, unterstützt durch den Einfluß der Kaiserin Josephine. Nun verhandelten seine Freunde mit dem Grafen von Provence, nachherigem König Ludwig XVIII, doch dieser weigerte sich hartnäckig, ihn anzuerkennen; ja er schloß sich den feindseligen Verfolgern an. Als der Dauphin sich zum Herzog von Enghien nach Mannheim begeben wollte, der von dem Geheimniß seiner Existenz wußte, wurde er in Straßburg arretirt, von dort von Gendarmen abgeholt und nach einer mehrtägigen Fahrt abermals in einen Kerker geworfen, ein finsteres Kellerloch, in welchem er, vollkommen verwahrlost und verwildert, zuletzt kaum noch einem Menschen glich.

Hier blieb er bis zum Jahre 1809, wo ihn abermals Montmorin befreite. Mit diesem begab er sich über Frankfurt nach Böhmen, wo ihnen der Herzog von Braunschweig Empfehlungsbriefe nach Preußen gab. In Dresden fanden sie keinen Einlaß; in Preußen wurden sie in einer Dorfschenke als Spione verhaftet und vor den Kommandeur eines bewaffneten Korps geführt: es war dies Major von Schill. Er nahm sich ihrer anfangs an; doch von den Franzosen mit überlegener Macht verfolgt, konnte er ihnen nicht länger Schutz gewähren und gab ihnen eine Reitereskorte mit unter der Leitung eines Grafen Vetel. Diese wurde von den Franzosen angegriffen, Graf Montmorin fiel im Kampfe; der Dauphin wurde schwer verwundet besinnungslos in ein Hospital gebracht, später mit anderen Gefangenen des Schill’schen Korps nach der Festung Wesel eskortirt, wo ihn das Kriegsgericht zu den Galeeren verurtheilte. Unterwegs erkrankt und in ein Hospital gebracht, traf er dort einen Schill’schen Husaren Namens Friedrichs, mit dem zusammen er in einer Gewitternacht entwich.

Diese romanhafte Flucht wird in allen ihren Details erzählt; nach unglaublichen Entbehrungen und mannigfachen Schicksalen gelangten die Flüchtlinge nach Westfalen; hier fiel Friedrichs den Gendarmen in die Hände; der Prätendent, der sich in einen hohlen Baumstamm versteckt hatte, wurde von einem Hirten entdeckt, der ihm die Kunde vom Schicksale seines Genossen brachte, aber ihn gastlich aufnahm und einige Zeit lang verborgen hielt. Dann begab sich der Prinz allein auf die Wanderschaft nach Berlin, um dort in ein Regiment einzutreten; er verirrte sich mehrfach, einmal in einem großen Walde, aus welchem er keinen Ausweg fand. Da hörte er ein Posthorn; es kam eine Extrapost, in der ein junger Mann saß, der sich alsbald seiner annahm: er hieß Karl Wilhelm Naundorff und wollte aus Weimar sein; mit dessen Namen und Paß ausgerüstet kam er nach Berlin. Der eigentliche Naundorff, der wie ein Märchenprinz erscheint, verliert sich bald wieder in einem seitdem nicht gelichteten Dunkel. In Berlin wendet sich der Prinz, nachdem er erfahren, daß in Preußen keine Ausländer dem Militär eingereiht werden, an den Polizeipräsidenten Le Coq und überreicht ihm Papiere, die im Kragen seines Ueberziehers eingenäht waren. Le Coq erkennt die Handschrift des Königs Ludwig XVI. und der Königin; er macht dem Staatskanzler Hardenberg Anzeige von diesen Papieren, doch hat dies für den Prinzen weiter keine Folge, als daß Le Coq, nachdem sich der Berliner Magistrat geweigert, dem Dauphin ohne Legitimation das Bürgerrecht zu gewähren, diesem räth, sich nach einer kleineren Stadt, nach Spandau zu wenden, und ihn dort durch eine Bescheinigung über seinen bisherigen tadelfreien Lebenswandel legitimirt. Die Papiere selbst hat der Prätendent nie zurückerhalten. In Spandau erhielt er das Bürgerrecht und etablirte sich als Uhrmacher. Jene Schweizerin, die einmal im Temple Wache [248] gestanden, hatte ihn in Italien wieder aufgesucht, nachdem sie inzwischen einen Uhrmacher geheirathet; von diesem lernte der Prinz schon damals dies Handwerk, das er nun zu seinem Lebensberufe machte. Den Traditionen seiner Familie widersprach es durchaus nicht: war doch sein Vater, der König, ein vortrefflicher Drechsler gewesen.

Bei dieser Station seines Lebenslaufes müssen wir eine kurze Zeit Halt machen, denn von jetzt ab tritt der Uhrmacher Naundorff in eine solide und glaubwürdige Existenz ein. Sein bisheriger Lebenslauf ist aber der abenteuerlichste, der gedacht werden kann. Siebzehn Jahre mehr oder minder strenger Gefangenschaft hat er durchgemacht; die Befreiungen und Errettungen sind nicht minder wunderbar; nirgends wird mitgetheilt, wie die Befreier immer auf seine Spur gekommen; eine große Zahl von Personen ist seinetwegen aus dem Wege geräumt worden. Handelte es sich um einen Roman, so würde man die monotonen Wiederholungen der Verhaftung und Befreiung, die geringe Motivirung der Vorgänge, die Ueberladung mit grellen, zum Theil unglaubwürdigen Vorgängen als geschmacklos rügen müssen; einige allzu grelle Episoden im Geschmacke der neufranzösischen Romantiker haben wir nicht einmal erwähnt, wie daß man einmal in einem der Gefängnisse, um ihn zu entstellen, sein Gesicht mit Instrumenten zerstochen, die einem Bündel Nadeln glichen, und dann das Blut mit einem Schwamm fortgewaschen habe, der mit einer besondern Feuchtigkeit getränkt war. Alle diese Abenteuer machen den Eindruck des phantastisch Uebertriebenen.

Ein eifriger Advokat des Prätendenten könnte freilich auch dies benutzen, um zu seinen Gunsten zu plaidiren; denn in einem Briefe an eine ihrer Freundinnen (vom 26. Juli 1789) entwirft die Königin Marie Antoinette ein Bild des vierjährigen Prinzen, dessen Vorzüge sie mit mütterlicher Liebe schildert, dessen kleine Schwächen sie aber nicht verschweigt. In diesem Briefe heißt es: „Er ist sehr indiskret; er wiederholt leicht, was er hat sagen hören, und oft, ohne die Absicht zu lügen, fügt er hinzu, was nur seiner Phantasie angehört; es ist dies sein größter Fehler, den man ihm abgewöhnen muß.“ Sollte er sich nicht auf dies Zeugniß seiner Echtheit berufen können, so gut wie auf die aus einem Adergeflecht gebildete Taube, die er als besonderes Kennzeichen an sich trug und welche als solches ihm Vater und Mutter bezeichnet hatten? Gewiß, eine Reihe sehr wunderbarer Geschichten, aber wenn sie alle erlogen sind, so bleibt doch als das größte Wunder noch die Thatsache übrig, daß ein preußischer Uhrmacher sich für den Sohn des Königs Ludwig XVI. ausgegeben hat; denn man muß sich doch fragen, wie in aller Welt kam er dazu? Auch ist es Niemand gelungen, gleichsam das Alibi seiner Herkunft nachzuweisen; ja das Gerücht, daß er ein polnischer Jude sei, wies die preußische Regierung auf eine Anfrage der französischen als unbegründet zurück.

Die späteren Erlebnisse des Uhrmachers Naundorff sind zum großen Theile beglaubigt; aber immerhin noch abenteuerlich genug. Von Spandan war er nach Brandenburg übergesiedelt: dort gerieth er in Verdacht, schwere Verbrechen begangen, einen Postmeister bestohlen und ermordet, das Theater in Brand gesteckt, falsches Geld gemünzt zu haben. Alle diese Anklagen werden widerlegt; dennoch wird er zu dreijähriger Zuchthausstrafe als grober Betrüger verurtheilt, weil er sich für den Herzog der Normandie, den Dauphin von Frankreich während des Processes ausgegeben hatte. Doch wurde ihm ein Theil der Haft später erlassen; er hatte sich im Jahre 1818 mit einem braven Bürgermädchen, Johanna Einert, verheirathet. Bei seiner Freilassung wurde er bedeutet, er möge die Umgebung von Berlin verlassen. Er siedelte nach Crossen über, wo er sich kümmerlich ernährte; Freunde, die er dort gefunden, die sich seiner annahmen, der Justizkommissarius Petzold, Lauriskus, der an seine Stelle trat, sterben plötzlich; seine Papiere, die bei diesen liegen, werden mit Beschlag belegt: er entschließt sich jetzt, im Jahre 1832, nach Frankreich zu reisen.

Vergeblich hatte er seit langen Jahren an die Herzogin von Angoulème, an seine Oheime, an den Herzog von Berry geschrieben, vergeblich hatte jener Petzold Briefe an alle Fürsten und Gesandten gerichtet und eine Revision der Untersuchung Naundorff’s verlangt. In Frankreich selbst aber fand Naundorff eifrige Anhänger: eine Madame von Rambaud, die von der Geburt des Prinzen bis zum 10. August 1792 um ihn gewesen und die von seinen Mittheilungen und Erkennungszeichen sich ganz überzeugen ließ, Herrn und Frau San Marco de Hilaire, die ihn gleichfalls als Kind gekannt hatten, und Andere.

Während gegen verschiedene falsche Dauphins, welche inzwischen aufgetreten, wegen Betrugs der Kriminalproceß angestrengt wurde, verlangte Naundorff eine Untersuchung, wendete sich selbst an die Kammer, verfocht in einem eigenen Journale seine Rechte, gab sich alle Mühe, seine Sache vor Gericht zu bringen, doch das Gericht lehnte unter allerlei formellen Vorwänden die Untersuchung ab, und durch einen Akt der Kabinetsjustiz wurde Naundorff des Landes verwiesen; er ging nach London, wo er in bedrängten Verhältnissen lebte. Schon in Paris war in der Nähe des Palais Royal ein Attentat auf ihn gemacht worden; in London wurden zwei Pistolen auf ihn abgefeuert. Die Gegner behaupteten, diese Attentate seien von ihm selbst arrangirt worden; doch ist dies höchst unwahrscheinlich. Wenn sie auch nicht beweisen, daß er der echte Prätendent ist, so doch immerhin, daß man in einflußreichen Kreisen dies glaubte. Er siedelte dann nach den Niederlanden über, wo er in Delft am 10. August 1845 starb, an einem ominösen Kalendertage, welcher an den Sturz der Monarchie der Bourbons erinnert.

Seine Familie lebte längere Zeit in Dresden, wo seine Tochter Amélie durch ihre Aehnlichkeit mit Marie Antoinette Aufsehen erregte. Diese Prinzessin Amélie versammelt jetzt in Paris einen Kreis von Gläubigen um sich, welche, wie es scheint, nach dem Tode des Grafen Chambord den Dauphin Naundorff gegen den Grafen von Paris ausspielen.

Da bei der jetzigen Lage der monarchischen Parteien in Frankreich ein Abkömmling Ludwig’s XVI. für die Legitimisten von unschätzbarem Werthe wäre, so ist dies Prätendententhum gleichsam von Neuem auf die Tagesordnung gesetzt worden. Ebenso thätig ist natürlich die Opposition, welche den Mythus, der um das Haupt der Naundorff einen legitimen Heiligenschein heften will, zu zerstören sucht. So ist denn eben ein sehr umfassendes und wichtiges Werk über Ludwig XVII. erschienen, welches R. Chantelauze nach bisher noch nicht veröffentlichten Aktenstücken aus den nationalen Archiven verfaßt hat.[1] Das Werk beruht auf sehr sorgsamer Quellenforschung, ist aber trotzdem in jener geschmackvollen Form gehalten, in welche die Franzosen auch anscheinend spröde Stoffe einzukleiden wissen. Ein ausnehmend sympathisches Bild des jungen Dauphin, mehrere Bilder, Pläne und Umrisse des Temple sind die Illustrationen, die es schmücken. Chantelauze erwähnt die falschen Dauphins nur gelegentlich; sein ausschließliches Streben ist darauf gerichtet, den Beweis zu liefern, daß Ludwig XVII. im Temple gestorben ist, womit ja jedem Prätendententhum der Boden unter den Füßen fortgezogen wird.

Unter dem König Ludwig XVIII. stellte der Minister Decazes genaue Untersuchungen über diesen Tod an und ließ alle Personen ermitteln, die zu jener Zeit oder kurz vorher im Temple Dienste gethan oder anwesend waren. Die Protokolle dieser Untersuchung werden hier zum ersten Male veröffentlicht. Bisher wurde nur der eine Wächter des Temple, Lasne, in dessen Armen der Prinz gestorben, als Zeuge für den Tod desselben angeführt: dies Zeugniß suchte man damit zu entkräften, daß derselbe den Prinzen früher nicht gekannt habe. Jetzt aber wird uns ein neuer und sehr wichtiger Zeuge vorgeführt, der Civilkommissar Damont, der ebenfalls bei dem Tode des Prinzen zugegen war, welcher ausdrücklich erklärt, diesen früher gekannt und gesehen zu haben, als er an der Hand der Königin in seinem kleinen Garten auf der Terrasse der Tuilerien spazieren ging. Und noch mehr – einige zwanzig Municipalgardisten der abziehenden und der später aufziehenden Wache seien zur Leichenschau von ihm herbeigerufen worden; die Mehrzahl hätte den Prinzen gekannt und jetzt wiedererkannt. Das ist der wichtigste Punkt in dem Werke von Chantelauze: ist Damont ein verläßlicher Zeuge, so bricht das ganze Gerüst des Prätendententhums zusammen.

Von der Glaubwürdigkeit Damont’s hängt es ab, ob Prinzessin Amélie an den Gräbern von Saint-Denis zu ihren Ahnen beten kann oder als schlichtbürgerliche Uhrmacherstochter wieder von der Weltbühne abtreten muß.


  1. Louis XVII., son enfance, sa prison et sa mort au temple, par R. Chantelauze (Paris, Firmin Didot et Cie. 1884).




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Mit dem ersten Preis gekrönter Entwurf zum Reichsgerichtsgebäude in Leipzig von Ludwig Hoffmann in Darmstadt und Peter Dybwad in Berlin.

Das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig.

Nachdem festgestellt worden war, daß der Sitz des Reichsgerichtes in Leipzig verbleibt, wurde im September vorigen Jahres eine allgemeine Konkurrenz unter den deutschen Architekten zum Zwecke der Einreichung von Entwürfen ausgeschrieben, nach deren bestem ein eigenes Heim für den höchsten Gerichtshof des deutschen Reiches aus Reichsmitteln erbaut werden soll. Als Ablieferungstermin für diese Entwürfe war der 15. Februar bestimmt, als Hauptpreis 8000 Mark, daneben noch zwei zweite Preise von je 4000 Mark und zwei dritte Preise von je 2000 Mark ausgesetzt worden. Eingegangen waren nicht weniger als 119 Entwürfe, jeder wieder aus einer Reihe Einzelblätter bestehend. Das Preisgericht hatte daher unstreitig keine leichte Aufgabe, aus dieser Fülle von mehr oder minder schönen und zugleich dem praktischen Bedürfnisse entsprechenden Entwürfen die fünf besten auszuwählen. Den ersten Preis haben zwei junge Architekten, Ludwig Hoffmann in Darmstadt und Peter Dybwad in Berlin, je einen zweiten Preis H. Lender in Straßburg sowie Eisenlohr und Weigle in Stuttgart, je einen dritten Preis E. Giese und Weidner in Dresden sowie Vischer und Fueter in Basel davongetragen, während die übrigen 114 Mitbewerber leer ausgegangen sind, obwohl unter ihren Entwürfen manche recht beachtenswerthe Leistungen sich befanden.

Das Preisgericht hat mit Recht das Hauptgewicht eben auf das rein Praktische gelegt, ohne indeß dabei das Schöne aus dem Auge zu lassen. Die Ausführungskosten des ersten preisgekrönten Planes betragen 2 311 234 Mark, die der übrigen 4 obengenannten Entwürfe sind höher und steigen bis zu 4 700 000 Mark. Der erste Preis ist somit dem Entwurf zuerkannt worden, der zugleich auch der wohlfeilste war. Dieser Entwurf ist in edlem Renaissancestil gehalten, jede säulen- und thürmereiche Prachtarchitektur absichtlich vermieden. Das Aeußere soll eben auf den ersten Blick gleich das Geschäftshaus, jedoch von monumentalem Charakter zeigen, und der Eindruck, den es auf den Beschauer macht, ist ein durchaus günstiger. Die Außenfaçaden sind in Sandstein projektirt, die Vorderseite, welche in unserer Abbildung dem Leser vorgeführt wird, ist nach der Pleiße zu gerichtet. Im Untergeschoß des Gebäudes befinden sich die Wohnungen der Unterbeamten und die Heizungsanlagen. Den Mittelpunkt bildet die architektonisch auszuzeichnende Halle, die durch das an beiden Langseiten beleuchtete Hauptvestibül direkt betreten wird. In ihrer Hauptachse liegen im unteren Hauptgeschoß die Sitzungssäle für die Strafsenate, im oberen Hauptgeschoß einerseits, über denselben, die Civilsenats-Sitzungssäle, andererseits auf der Vorderseite, nach der Pleiße zu, der 240 Quadratmeter fassende große Sitzungssaal. Die kleinere südliche Seitenfront nimmt in beiden Hauptgeschossen die Präsidentenwohnung ein mit dem 195 Quadratmeter großen Festsaal im oberen Hauptgeschoß. Im Obergeschoß der entgegengesetzten nördlichen Seitenfront wird die auf 150 000 Bände berechnete Bibliothek untergebracht. Zwei große und acht kleinere Höfe trennen und verbinden doch auch wieder die verschiedenen Theile des ganzen Gebäudes, das in seiner Vollendung sicherlich eine Zierde der Stadt Leipzig werden wird.

Karl Siegen.




Unter der Ehrenpforte.
Von Sophie Junghans.
(Fortsetzung.)


Während der selbst auferlegten Pause seiner Besuche bei Hilde wußte Georg seine heimliche Ungeduld und sehnende Unruhe noch allenfalls zu zügeln – als aber, ähnlich wie schon einmal im Anfange zwischen dem ersten und zweiten Zusammentreffen mit Hilden, auch jetzt alle Versuche, sie zu sehen, ein verborgenes, ungestörtes Zusammensein mit ihr zu verabreden, fehlschlugen, als er merken mußte, daß von ihrer Seite nichts geschah, um ihm zu begegnen – da verbrachte Georg schlimme Tage. Kaum wußte er die innere Rastlosigkeit und die Gleichgültigkeit gegen alles, was die Stunden brachten, noch im Elternhause zu verbergen. Die Mutter sah ihm zuweilen verwundert zu, wenn er nach einem rasch und zerstreut eingenommenen Imbiß wieder auf fuhr, nach dem Barett griff und davon eilte. Sie trat dann ans Fenster, um zu sehen, ob er den Weg nach Külwetters Hause einschlage, und kopfschüttelnd mußte sie wahrnehmen, daß er daran gar nicht zu denken schien, sondern mit langen Schritten quer über den Marktplatz sich entfernte. Der Vater war gerade jetzt von wichtigen Geschäften überhäuft, es galt, bei der bevorstehenden fürstlichen Vermählung alte weitreichende Privilegien der Stadt aufrecht zu erhalten und aufs Neue zu sichern – da durfte sie ihm mit häuslichen Angelegenheiten nicht dreinreden, die Bürgermeisterin hätte sonst gewiß ihrem Herzen Luft gemacht und als beste Kur für ihres Sohnes wunderliche Gemüthsverfassung den festen „Verspruch“ und die baldige Hochzeit mit Külwetters Rosine vorgeschlagen, damit er wisse, woran er sei, und Ruhe bekäme. So aber mußten die eigenen häuslichen Angelegenheiten nothgedrungen warten, bis jene öffentlichen zu einem Abschluß gediehen waren, und die Bürgermeisterin wünschte von Herzen, daß der Einzug, das fürstliche Beilager und alle dazu gehörigen Festlichkeiten erst vorüber wären, damit man endlich ernstlich an die Hochzeit in der eigenen Familie denken könne.

Einmal, als Georg, erfüllt von Plänen, wie er Hilden wenigstens eine Botschaft zukommen lassen könnte, aus dem Hause trat, sah er in geringer Entfernung den alten Weber heran kommen. [250] Sein erster Gedanke war: jetzt ist Hilde allein – und er zögerte in der Hoffnung, daß Meister Lukas, ohne ihn zu sehen, vorüber gehen und ihm so das Feld frei lassen werde. Da blickte der alte Mann in die Höhe und ein eigner, bekümmerter Blick haftete auf dem jungen Mann, der sich nicht enthalten konnte, den schlichten Greis mit einer Art Ehrfurcht zu grüßen.

Meister Lukas erwiderte den Gruß. „Nun, wie steht es, Meister Lukas? ist Alles bei Euch wohlauf?“ zwang sich Georg leichthin zu fragen, da er nun doch nicht wohl ohne Wort vorüber konnte. Sofort aber bannte ihn die Geberde des Alten an die Stelle, auf der er stand. Der Weber hatte langsam den Kopf geschüttelt und sagte: „Nein, Herr – bei mir ist die Sorge eingekehrt, denn meine Tochter Hilde liegt krank. Mir ist nicht anders, wie einem müden, schwachen Mann, dem der Stab, darauf er sich stützte, aus den Händen gewunden worden. Nun, Gottes Wille muß an ihr gescheheu ...“

Damit ging er langsam weiter, und Georg blieb wie ein Träumender steheu. Warum hielt er den Alten nicht fest, damit er ihm ferner Red’ und Antwort stehe ... welcher Art Hildens Erkrankung sei, ob, was Gott verhüten wolle, Gefahr vorhanden ... ob für guten ärztlichen Beistand und erfahrene Pflege gesorgt worden. Er that von dem Allen nichts, weil ihm sonderbarer Weise nicht anders zu Muthe war, als habe der alte Mann eine Anklage gegen ihn ausgesprochen mit jenen Worten. Der Weber hatte ihn so eindringlich und wie vorwurfsvoll bei denselben angesehen. Er wollte dem Altea nachgehen, wollte fernere Auskunft verlangen, wie sie ja schon die gewöhnliche Theilnahme an dem Mädchen, als an des Meister Lukas Tochter, fordern konnte – aber er fand jetzt nicht mehr den Muth dazu ... er mußte fürchten, sich durch seine Verstörtheit zu verrathen.

„Was zum Henker ist denn in Dich gefahren, Görge?“ fragte Hans Veit, als die Beiden einander wenig später antrafen. Sie waren nach kurzem Gruße eine Weile neben einander hergegangen, in einem Schweigen, von dem Georg gar nichts zu merken schien, während sein Genoß ihn dann und wann kopfschüttelnd von der Seite ansah. „Welch ein trübseliger stummer Geist ist über Dich gekommen! Hat Rosinchen dem Gadendiener einmal zuviel zugelacht? oder bist Du dahinter gekommen, daß sie zuweilen die Suppe anbrennen läßt?“

Georg hatte auf diese Fragen nur ein ungeduldiges Achselzucken. Hans Veit war von jeher sein Vertrauter gewesen, soweit Georg’s eigenmächtiger, zu raschem willkürlichen Handeln geneigter Charakter eines solchen bedurfte. In Bologna hatte Hans um Georg’s sämmtliche Abenteuer gewußt, um so mehr, da hier die deutschen Studenten immer bereit sein mußten, alle für einen einzustehen im Fall der Gefahr, an welcher es bei derartigen Händeln selten fehlte. Hilden aber hatte der junge Mensch seit dem Tage des Einritts in die Stadt mit keiner Silbe wieder gegen den alten Genossen erwähnt.

Hans Veit fragte niemals, aber er hielt die Augen offen, schon in dem kameradschaftlichen Gefühl, daß er im Falle der Noth oder Verlegenheit auch hier vielleicht eintreten müsse. Jetzt sagte er nach einer abermaligen ziemlich langen Pause gelassen: „Friß die Geschichte nicht länger in Dich hinein, Georg. Sie setzt Dir mehr zu als billig. So kenn’ ich Dich noch gar nicht. Die Weberstochter muß den Teufel im Leibe haben. Was ist’s mit ihr?“

Jetzt blieb Georg stehen und packte den Genossen am Handgelenk. „Sie ist krank, Hans!“ sagte er mit gepreßter Stimme.

„Krank!“ das Gesicht des Hans Veit verlängerte sich. „Nun, so wird sie wieder gesund werden. Ein krankes Liebchen – das ist allerdings ein schlechter Spaß.“

„Nenne sie nicht so,“ sagte Georg. „Du weißt nicht –“ er brach ab und zwang sich zu einem andern, dem Freunde verständlichern Ton. „Das ist eine Art, die wir noch nicht kannten ... Sieh mich an – das hat noch keine aus mir gemacht ... da mußte ich erst an eine halbe Heilige kommen! Tag und Nacht läßt es mir keine Ruhe ... und Wochen vergehen, ehe ich sie einmal zu sehen kriege.“

Er hatte dem Genossen das hübsche verstörte Gesicht zugewendet. Da waren allerdings deutliche Spuren ruheloser Tage und halb durchwachter Nächte. Die blauen Augen schienen tiefer zu liegen und sahen müde und doch schlaflos aus. Auf des Freundes halblauten Fluch, der des Hans’ wohlwollende Mißbilligung eines solchen Gemüthszustandes ausdrücken sollte, hatte Georg nur ein schwaches, rasch verfliegendes Lächeln. „Es thut nichts,“ sagte er, und nun leuchteten seine Augen auf. „Noch möchte ich keinen Tag aus meinem Leben missen. Aber jetzt mußt Du mir helfen, Hans! Noch vor heute Abend muß ich wissen, wie es mit ihr steht ... Du erfindungsreicher Odysseus bist mir nicht umsonst in den Weg gekommen. Mach Dir vor dem Thore etwas zu thun ... Du kannst in ihre Nähe gelangen, ohne daß Jemand Arg daraus hat. Vielleicht triffst Du auch eine Nachbarin ... der Alte ist in der Stadt, darum ist keine Zeit zu verlieren!“

Hans Veit zeigte sich willig, ging und traf verabredeter Maßen nach einiger Zeit im Rathskeller wieder mit seinem Freunde zusammen. Georg saß im dunkelsten Winkel des dämmernden Raumes hinter einem Kruge. Schweigend rückte er, um dem Andern Platz zu machen, mit zusammengepreßten Lippen die ungeduldige Erwartung niederhaltend. Hans Veit setzte sich zurecht und befeuchtete erst reichlich die Kehle. Dann erzählte er umständlich, wie klug er die Sache angefangen habe, so daß die Frau aus dem Nachbarhause Hildens, mit der er wie von ungefähr ins Gespräch gekommen sei, nicht den mindesten Argwohn habe schöpfen können, um was es ihm eigentlich zu thun gewesen. „Die frommen Weiblein helfen alle abwechselnd bei der Pflege,“ sagte er gemächlich. „Das ist so Sitte bei den Leuten dort unten –- aber es scheint, daß Dein armer Schatz nicht allzu viel Wartung bedarf. Sie liege stille vor sich hin und habe einen absonderlichen Widerwillen gegen alle Speise ... Ihr Vater meine, sie müsse einen Schrecken gehabt haben – die gute Frau gab mir aber zu verstehen, ihrer Ansicht nach sei die Jungfer in nächtlicher Stille einer überirdischen Erscheinung gewürdigt worden – dergleichen komme in der Gemeinde immer von Zeit zu Zeit einmal vor. Die Sache sieht übel aus für Dich, Bruderherz ... denn wessen kann man sich nicht alles versehen bei Leuten, die einen so ganz besondern Kredit dort oben genießen! Vielleicht hat sie von dorther eine Verwarnung erhalten, mit Dir räudigem Schafe fürderhin nichts mehr zu schaffen zu haben.“

Der versuchte Scherz verfehlte seine Wirkung. Georg senkte den Kopf in die Hände und vergrub aufstöhnend die Finger in das dichte Blondhaar. Hans Veit begriff ihn schon längst nicht mehr. Ihm wäre es verständlicher gewesen, wenn in einem solchen Falle, wo alles Verlockende am Weibe, die Schönheit, die Heiterkeit und Jugendkraft einstweilen wenigstens nicht zur Geltung kamen, auch die Neigung seines Gefährten gleichmüthig gestockt hätte. Georg aber liebte diesmal anders als bisher. Etwas in Hildens Wesen hatte seine innerste Seele berührt. Und vom ersten Augenblick an, da er von ihrer Erkrankung gehört, hatte ihn die Ueberzeugung nicht verlassen, daß er, daß der mächtige Eingriff in ihr Leben, dessen er sich schuldig fühlte, mit der Ursache derselben auch zusammenhing.

„Nun?“ fragte Hans Veit, da sich Georg endlich langsam, wie ein müder Mann, von seinem Sitze erhob. „Du kommst mir wunderlich vor, Georg. Sitzt die Sache so tief? Na höre einmal –“ als der Aeltere und Gesetztere von Beiden mochte sich Hans berufen fühlen, doch dann und wann auf Seite der gerechteren Sache, der künftigen Ehefrau, zu treten – „das könnte Dir die Rosine doch eigentlich übelnehmen!“

Georg erwiderte kein Wort; der Name der Rosine Külwetter war in diesem Augenblicke ein völlig tauber Schall für ihn. Sein Entschluß war gefaßt, da ihm in seiner derzeitigen Gemüthsverfassung nunmehr kein anderer übrig blieb. Er mußte Hilden selber sehen und sprechen, öffentlich, da es nicht heimlich sein konnte – wie wenn sie vielleicht nur daran krankte, daß er damit so lange gezögert hatte? –

Hilde hatte einer schweren körperlichen Mattigkeit nachgegeben, als sie am andern Morgen nach jener nächtlichen Ohnmacht, die vielmehr eine lange währende dumpfe Lähmung aller Sinne war, ihr Lager nicht verließ. Ihr guter Vater war tief erschrocken und bekümmert ... in seinen Augen las sie, daß sie krank sei, wirklich krank, nicht nur zum Sterben müde und jedes Tones und jedes Lichtstrahles, der die gewohnte Umgebung jetzt mit Tagesanbruch erhellte, unsäglich überdrüssig. Wie würde seine Sorge ihr sonst ins Herz geschnitten haben – jetzt aber gebrach ihr die [251] Fähigkeit, über seinen Kummer sich zu bekümmern. Was sich um sie bewegte, Vater und Freunde und Nachbarinnen, erschien ihr wie Schatten … alles Leben in ihr hatte sich gleichsam zurückgezogen in ein Gefühl dumpfen Schmerzes. Nur in sofern sie diesen empfand, lebte sie noch; von jedem anderen Antheil am Dasein, wie sie es bisher gekannt hatte, war sie abgeschnitten.

Der Schlag war zu schwer gewesen, den sie an jenem Abend so ahnungslos erhalten hatte: seine Folgen konnten kaum andere sein bei einer Natur von ursprünglich starkem und völlig unabgenutztem Empfinden. Da man ihr aber Zeit ließ, wieder zu sich selber zu kommen – und das wohlgemeinte, aber etwas trockene und sehr lange Beten einzelner besonders begnadeter Nachbarn an ihrem Bette hinderte sie daran nicht –, so begann ihre Natur sich langsam wieder aufzurichten. Und zuerst trat das Gefühl, welches in ihrem Leben vor dem Erscheinen Georg’s das stärkste gewesen war, die Empfindung für den Vater, wieder in seine Rechte. Wenn gerade Niemand von den Nachbarn in der Stube war, folgte Hilde dem alten Manne mit den Augen, wie er, gebeugter als sonst, im Gemache umherschlich und mit steifen Fingern sich das Geräth mühsam zusammen trug. Sobald sie einmal ganz allein war, versuchte sie sich aufzurichten und mit einem Seufzer, einer leisen Regung sehnsüchtigen Bedauerns, welches einem ganz anderen Ziel galt, dem sie sich nahe gewähnt hatte, mußte sie bemerken, daß ihre Kräfte wiederkehrten. Das Leben erschien ihr künftighin als eine Bürde, aber Hilde schickte sich an, dieselbe aufzunehmen, denn wie hätte sie die doppelte Last den müden Schultern des alten Mannes allein auflegen dürfen!

So trat denn Hilde eines Morgens zu früher Stunde völlig angekleidet wie sonst aus ihrer Kammer. Der Vater schlug zitternd die Hände zusammen, als sie mit einem etwas müden Lächeln auf ihn zukam. Er sah sie forschend an, dann nahm er die Bibel vom Sims, wo sie immer ganz nahe zur Hand lag, und während Hilde ruhig ihren gewohnten Platz an der Ecke des Tisches einnahm, schlug er auf und las mit bewegter Stimme in dem Berichte des Evangelisten Lukas die Auferweckung von Jairi Töchterlein. Das war, statt aller eigenen Worte, seine Weise, zu bezeugen, was er in einem wichtigen Augenblicke etwa empfand, und so waren das heilige Buch und der Lebensgang des Meister Lukas mit einander verwachsen, daß vermöge der Erinnerung besonderer Momente, welche sich daran hefteten, viele Abschnitte der Bibel für ihn als ebensoviel Kapitel seines eigenen Lebens gelten konnten.

Hilde hörte träumerisch auf die wohlbekannten Worte. Dem Vater war also zu Muthe, als sei sie ihm neu geschenkt … und sie, sie fühlte mit innerer Beschämung und Reue, daß sie doch lieber gestorben wäre. Der Tag schleppte sich hin … die Arbeit wurde ihr noch schwer; die Nachbarn kamen und verwunderten sich, doch merkte man wohl, daß sie der Kraft ihres Gebets die Genesung zuschrieben.

Gegen Abend, als die beiden im Stillen wieder noch inniger verbundenen Menschen an ihren gewohnten Plätzen saßen, der Vater am Webstuhl, Hilde in der Nähe des anderen Fensters ihm gegenüber, da fühlte das Mädchen ihren Blick in die Höhe gezogen. Ein Vorübergehender hatte draußen gezögert; jetzt verschwand er, aber Hilde hatte die Gestalt erkannt. Ihr Herz stockte. Als aber gleich darauf an die Hausthür gepocht wurde, trat sie zu dem Alten an den Webstuhl, hielt mit einer sanften Bewegung seinen Arm zurück und sagte ruhig: „Vater, der Sohn des Bürgermeisters ist draußen; da klopft er, hört Ihr? ich bitte Euch, gönnt mir eine Zwiesprache mit ihm … laßt uns allein.“

Meister Lukas sah seine Tochter betroffen an, aber er erhob sich. „Du bist meine gute Tochter, Du weißt, was Du thust …“ sagte er zögernd.

„Ja, Vater … er kommt zum letzten Male …“

Der Weber schüttelte bekümmert den Kopf. „Ich glaube, Hilde, uns beiden wäre besser, wenn er nie gekommen wäre –“ sagte er. „Bist Du auch auf dem richtigen Wege? hast Du um einen Fingerzeig von oben gebeten?“

Hilde wurde unruhig. „Lieber Vater, wenn Ihr mich nur jetzt nicht fragen wolltet!“ sagte sie flehentlich. „Die Sache liegt zwischen mir und ihm. Laßt mich sie zu Ende bringen.“

Meister Lukas machte keinen Einwand mehr … er wußte sich in ungewöhnliche äußere wie innere Vorgänge zu finden. Ohne weiteres Zögern stieg er die Treppe zu einer oberen Kammer des Hauses hinauf. Hilde wartete, bis sein Schritt verhallt war, dann zog sie den Riegel an der schon für den Abend geschlossenen Thür zurück.

Draußen stand Georg. Seine Augen drangen vorwärts in den dunkelnden Flur und leuchteten hell auf, als sie auf das seitwärts stehende Mädchen trafen. Sein ganzes Wesen athmete verhaltene Leidenschaft und mit einem Laut, der halb ein Stöhnen, halb ein Jauchzen war, wollte er auf sie zu stürzen, als er sich, seinem Auge kaum trauend, gleich darauf im Wohngemach mit der Geliebten ganz allein fand.

Aber Hilde hob sanft die Hand auf. Georg, der sie nicht verstand, ließ noch einmal die heißen Augen durch die schon dämmernde große Stube schweifen, in der er, nach der abwehrenden Geberde Hildens, den alten Weber noch irgendwo vermuthete. „Nein, Georg, wir sind allein und werden ungestört bleiben,“ sagte darauf Hilde mit der tieftraurigen Ruhe, die jetzt, in Georg’s Gegenwart und gerade beim Gewahrwerden seiner leidenschaftlichen Gluth, über sie gekommen war. „Wir sind allein – wollt Ihr mich anhören?“

„Alles will ich, alles, Liebchen,“ sagte Georg zärtlich, fast flüsternd. „Aber zuerst gönne mir einen Gruß – guter Gott, warum weichst Du zurück? die Sehnsucht nach Dir hat mich fast von Sinnen gebracht … und Du bist krank gewesen! ...“

„Ja, Georg, auch davon will ich Euch erzählen.“

Georg, von einer Ahnung von Unheil erfaßt, suchte in den lieben Zügen zu lesen und das seltsame, schattenhafte Lächeln zu enträthseln, mit dem sie gesprochen hatte. Er setzte sich auf ihren Wink … war es denn möglich, er setzte sich und hatte die liebe Gestalt noch nicht berührt, nach der ihn eine hungrige Sehnsucht Tag und Nacht fast verzehrt hatte! Aber Hilde hatte eine eigne Macht über ihn; schon ihre bloße Nähe beglückte ihn, schon die Luft, in der sie athmete, linderte und löste das brennende schmerzliche Verlangen.

Er hing an ihren Lippen, während sie, die einige Schritte weit entfernt vor ihm saß, nach Worten zu suchen schien. „Ich habe Euch zu sagen, was ein Mädchen beschämen muß,“ hob Hilde endlich mit gesenktem Blick und leiser Stimme an. „Seht, ich bin stille vor mich hin in unsern Bräuchen aufgewachsen … deren, die sonst in der Welt gelten, war ich ganz unkundig. Daher hattet Ihr es leicht, mich zu täuschen …“ jetzt hob sie die Augen, während er die seinen zum ersten Male in flüchtiger Verwirrung abwendete. „Eures Gleichen lacht wohl im Herzen über eine solche thörichte Dirne aber noch niemals war mir Aehnliches mit einem Manne begegnet … mich hatte noch keiner angerührt, Georg … und als Ihr neulich von mir ginget, da glaubte die Thörin, sie sei Euere Braut …“

Georg war aufgesprungen, glühend roth. Er brach in ein kurzes, halb verlegenes halb ärgerliches Lachen aus, dann aber war er dicht neben ihr und wollte sie umfassen. Sie aber entzog sich ihm, mit einem heiligen Ernste, ja mit einer Art Entsetzen in den großen Augen … „Und als der Vater nach Hause kam am nämlichen Abend noch, an dem ich so glücklich gewesen war, da erfuhr ich, Ihr seiet einer Andern versprochen. Ich meinte daran zu sterben, Georg –“ Georg stöhnte und hatte die Hand über die Augen gelegt – „denn bei uns ist es nicht Sitte, daß man eine Andere zum Liebchen begehrt, als diejenige, welche die Ehefrau werden soll. Das wollte ich Euch sagen …“

Sie stockte. Jetzt fuhr Georg mit einem plötzlichen Entsetzen auf. „Und nun verstößest Du mich, Hilde?“

Das Mädchen sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. „Ich Euch? ich Euch …“

„Ja, Hilde, Du mich. Denn ich liebe Dich, Dich, Mädchen, hörst Du?“ –

Hilde sah ihn an, blickte lange in das schöne, aber von innerer Qual entstellte junge Gesicht, und nun glitt es wie ein Erbarmen über ihre Züge, und ein weiches, sehnsüchtiges Licht ging in den stillen Augen auf. Georg breitete zärtlich die Arme aus, aber wieder wich sie zurück, und er griff in die leere Luft, wie Einer, der einen Schatten zu umfassen strebt. Da fuhr er wild in die Höhe. „So sollt’ ich Dich nie mehr berühren, nicht ein einziges Mal mehr küssen dürfen? Aber ich will, Mädchen … und ich muß! sieh zu, ob Du mir es wehren kannst!“

„Ihr wollt – Ihr müßt?!“ Jetzt gellte auch Hildens Stimme laut durch das Gemach und zugleich ging von oben ein Geräusch durch das Haus. Georg achtete nicht darauf, seine [252] heißen Blicke verschlangen das Mädchen, in dem mit einem Male die Natur des kriegerischen Ahns erwacht schien.

Sie hatte sich wild umgewendet und blitzschnell etwas vom Tische gerafft. „Ihr wollt eine Wehrlose zur Schande zwingen? Pfui über Euch! Hütet Euch, daß nicht Eure Sünde dem Bösen Macht gebe über uns beide. Seht –“ sie hob halb die Rechte mit dem fest umklammerten Messer, welches sie ergriffen hatte – „ich glaube, ich würde Euch tödten, Euch und mir zum ewigen Verderben.“

In dem verzweifelnden Blicke Georg’s lag nichts von Todesfurcht. Es war die bittere Qual der über ihn kommenden Gewißheit, daß die Geliebte sich von ihm scheide, die in seinen Zügen wühlte. Als ihn das Mädchen so sah, schmolz ihre Härte ... mit einem leisen Wehruf warf sie das Messer von sich und schlug beide Hände vor das Antlitz. Da tönte, von einer leisen Stimme genannt, die sie nicht zu kennen schien, ihr Name an ihr Ohr. Georg war vor ihr auf ein Knie gesunken; er streckte die Hände gegen sie aus, aber ohne sie zu berühren. „Fürchte nichts, Hilde, ich schwöre Dir, daß ich Dich nicht gegen Deinen Willen anrühren werde. Aber habe Du Erbarmen ... einen Kuß gönne mir, einen einzigen, letzten ...“

„Seht, ich glaube, ich würde Euch tödten, Euch und mir zum ewigen Verderben.“

Hilde beugte sich über ihn; sie legte die Hände auf seine Schultern; einzelne schwere heiße Tropfen rannen über ihre Wangen und unendliche Sehnsucht bebte in den erschütternden Lauten, mit denen sie sprach: „Ja, Du magst es wissen, daß mir das Herz fast bricht, Du Süßer, immer noch Geliebter ... Wie gerne küßte ich Dich, zur Schmach mir – zu der Du heimlich kommst, die Du zu gering zur ehelichen Liebsten hältst. Aber wie darf ich einen Raub an Deiner verlobten Braut begehen!“

Georg stampfte mit dem Fuße. „Sie ist es noch nicht, Hilde,“ stieß er hervor. Eine plötzliche Gluth der Freude loderte in Hilden auf. Aber nur auf einen Augenblick, dann erstarb die Flamme wieder. „Nicht Deine angelobte Braut?“ fragte sie.

„Noch nicht.“

Der Ton seiner Stimme sagte ihr alles. „Die Stadt spricht davon. Euere Eltern sind lange schon einig. Sie sieht in Dir den künftigen Gatten, und Du bist ihr Liebe und Treue schuldig, wir müssen scheiden,“ sagte sie leise, mehr wie zu sich selber als zu ihm.

Fast schüchtern hatte sich Georg nun ihrer Hand bemächtigt, und nahe an ihrem Ohr flüsterte er leidenschaftlich: „Wir müssen scheiden, Du sagst es. Aber laß mich hoffen. nicht für immer, Hilde ... bei Gott, ich kann es nicht ... komm, Hilde, komm – laß uns Alles vergessen, nur das Eine nicht: daß wir uns lieben!“

Hilde hatte kein Wort weiter. Wie nach Erlösung aus dieser Qual dürstend, hilfesuchend, richtete sie das Antlitz empor, während Georg heiße Küsse auf ihre Hände drückte. Da endlich kam ihr Beistand. Die Thür wurde leise aufgeklinkt und ihr Vater trat ein.

(Fortsetzung folgt.)


Marokkanische Marktscenen.

Die Völker arabischen Stammes, die wir Mauren, Sarazenen, Kabylen nennen, hatten auf ihren Kriegszügen und Meerfahrten im Laufe der Jahrhunderte alle Küsten des Mittelmeeres erobert, besiedelt, durch ihre eigenartige, höhere Kultur die frühchristliche verdrängt. Längst sind die Herrschersitze der Sarazenen mit ihren phantastischen Prachtarchitekturen von den christlichen Europäern wieder zurück erobert: Palermo, Granada, Malta und kleinere Mittelpunkte maurischen Lebens zeigen dem Wanderer nur noch wenige kostbare Reste der entschwundenen märchenhaften Herrlichkeit und Pracht. Langsamer und sehr viel später haben die Bekenner des Islam am Südgestade des Mittelländischen Meeres den Rückzug anzutreten begonnen. Wer den Orient nicht im äußersten Osten aufsuchen wollte, wo die Araberstämme gemischt mit den verschiedensten anderen Völkergruppen leben, der fand in Algier, Tunis, Tripolis, Fez und Marokko die reine Rasse, die sich Kultur, Lebensgewohnheiten und Sitten streng erhalten hatte. Algier aber ist seit länger als einem halben Jahrhundert von den Franzosen erobert und zu kolonisiren versucht worden. Im letzten Jahrzehnte sind dieselben auch in Tunis eingedrungen, haben den Staat des Bey nach ihrer Weise zu civilisiren begonnen. Tunis war vordem schon stark herunter gekommen. Von der früheren Kraft und Tapferkeit des Korsarenstaates

[253]

Auf dem Markt in Fez. Nach dem Oelgemälde von Ric. de Madrazo.
Photographie von B. Schlesinger’s Kunstverlag in Stuttgart (J. Laurent u. Comp. in Madrid).

[254] zu Schwäche entartet sind seine Bewohner, geschwunden Ueppigkeit und Pracht aus Palästen und Gärten. Aber die Reinheit des Blutes, die eigenthümliche Schönheit der Art hatten sie sich in der Freiheit erhalten. Nun sitzen, befehlen und organisiren Franzosen überall, scheu ziehen die Eingeborenen sich zurück, mit finsterem Ingrimm blicken die sonst so zuversichtlichen und stolzen Eingeborenen auf jeden Fremdling.

So finden wir eigentlich nur in dem Kaiserthum Marokko noch das Araberthum so unverfälscht, so frei sich gebend wie in seiner fernen Heimath im Osten. Schon darum erwecken Land und Leute besonderes Interesse, heute aber, wo der Herrscher von Marokko seine Soldaten nach Deutschland schickt, um sie in der Kriegskunst ausbilden zu lassen, und der Einfluß des Deutschen Reiches auch in jenem Theile Afrikas im Steigen begriffen ist, dürften Bilder aus jenem eigenartigen Lande um so willkommener erscheinen.

In den größeren Städten Marokkos treffen sich alle Abarten des arabischen Menschenschlages, der an imponirender, hoheitsvoller Erscheinung, an Adel der Gesichtsbildung den mongolisch-tatarischen Stamm der Türken weit übertrifft. Auf Eseln oder Pferden, seltener auf dem Kamel zieht der Kabyle, in weite Gewänder gehüllt, von den Bergen herein, aus dem Innern kommen braune Biskris oder ebenholzschwarze Neger; der Araber reiner Abstammung, der vornehmste unter allen, windet streifige oder golddurchwirkte Krepptücher turbanartig um den Fez oder schlingt Schnüre von braunem Kamelgarn unzählig oft um die blendend weißen Kopfhüllen. Sein Burnus ist von farbig gestreiftem Stoffe oder von feinem hellen Tuche mit farbiger Seide gestickt. Eine kurze, über und über mit Stickerei bedeckte Jacke, weite Pumphosen von zartfarbigem Tuche und die geflickte Gürteltasche, in der kostbare Waffen, Dolche und Messer, kunstvoll eingelegt und ciselirt, stecken, vervollständigen den Anzug. Unscheinbarer, in dunkle Gewandung, hüllen sich die Juden des Landes, während die Braunen und Schwarzen mit äußerst Wenigem an Kleidung vorlieb nehmen, einem Schurz, einem kunstvoll um Hüften und Lenden gewundenen Streifen Zeug, einem Hemde.

Der architektonische Hintergrund, auf dem diese Völkertypen sich bewegen, ist in ganz Nordafrika ein fast gleicher. Man irrt, wenn man in diesen Städten irgend welche gleichmäßige Schönheit der Bauwerke sucht. Schmale, winklige Gassen, kleine schmucklose Häuser, todte, fensterlose Mauern ermüden durch ihre Einförmigkeit das Auge. Gelegentlich aber blicken wir dann in einen von Arkaden umzogenen Gartenhof in das malerische Innere eines Hauses, dessen Wände ganz mit „Azulejos“, jenen in lebhaften Farben bemalten und glasirten Thonplatten, bedeckt sind; ein zierliches Gitter von Schmiede-Eisen, ein schlanker Thorbogen, phantastische Formenverschlingungen von Stuck fallen uns ins Auge, durch reizvolle Einzelheiten wird die Einförmigkeit angenehm unterbrochen.

Vorliebe. für das Zierliche, Kleine, malerisch Wirkende, Phantastische charakterisirt die maurische Architektur, deren Schöpfer niemals einen imposanten Gesammteindruck zu erstreben scheinen. Nur im Innern der Häuser entfaltet die Architektur eine gleiche, vielleicht sogar noch größere dekorative Pracht. Aber dieses Innere des vornehmen Privathauses bleibt unseren Blicken entzogen, höchstens einmal bei Audienzen lernen wir einige Prunksäle der Fürsten kennen, aber diese werden leider entstellt durch moderne europäische Einrichtungen, die als Geschenke oder Erwerbungen hierher gekommen sind.

So findet der Fremde denn das Interessanteste auf den Gassen und Plätzen. In den Bazaren, vor den Moscheen, auf den Märkten kann man stundenlang umherschlendern, immer sieht man neue, malerische Straßenbilder. Die Frauen fehlen gänzlich in ihnen, höchstens begegnet man mitunter jüdischen Weibern, grell geputzt, mit weiten Seidenhosen, kurzer Jacke, die neugierig die Edelsteine und Geschmeide der Bazare mustern. Desto bunter mischen sich die Gruppen der verschiedenen Männergestalten, die aus der weiten Landschaft hier zusammenströmen. An den Vorhöfen der Moscheen knieen sie, den Kopf zur Erde geneigt, inbrünstig betend; dort verrichten sie an den unzähligen Brunnenröhrchen, die den Sockel des Gotteshauses umgeben, eifrig ihre Waschungen. In den Bazaren sehen wir sie nicht nur vor den verlockend aufgestapelten Waaren: in den engen Stuben der öffentlichen Schreiber und Rechtskundigen erholen sie sich Raths, kauern auf Polstern, in irgend ein Buch, eine Schriftrolle vertieft; dem Schreiber diktiren sie Verträge, Urkunden, Briefe. Ein Blick in diese Räume zeigt uns eine Menge interessanter Charakterköpfe in malerischer Gruppirung. Lebbafter geht es in den zahllosen Kaffeehäusern zu. Mit untergeschlagenen Beinen sitzen die Araber umher, plaudern, spielen Schach, horchen dem Erzähler zu, der sie unterhält. Aehnlich ist’s in den mit allerlei Becken und Firlefanz geputzten Barbierstuben.

Die meisten der einheimischen und fremden Männer sind aber auf den freien Plätzen zu finden. Da hocken die Verkäufer von Sesamkringeln, Broten und Näschereien längs der Häuser und Mauern, da kommen Wasserträger, den Henkelkrug auf dem Kopfe, zum öffentlichen Brunnen, da stieben die Leute aus einander, wenn eine Karavane vorüberzieht, das Leitkamel mit der lautlärmenden Glocke vorauf, die anderen Höckerthiere bedächtig hinterhertrottend. Ueberall bilden sich Gruppen von prächtigen Arabergestalten in malerischer Gewandung, um zu feilschen, zu prüfen, zu handeln. Das geschieht mit so gravitätischer Wichtigkeit, als ob es ein Vermögen gelte. Hier handelt es sich um einen gestickten Sattel, dort mustert das scharfe Auge Dolche und kostbare Damascenerklingen, drüben wieder untersucht man die lange kunstvoll gearbeitete Flinte, die der würdige Araber, eine prachtvolle Patriarchengestalt, den braunen Landbewohnern anbietet. Auch alterthümliche kunstgewerbliche Erzeugnisse kommen dort zum Verkauf, und um diese sammeln sich die europäischen Landsleute besonders, um einen Teppich, eine stilvolle Stickerei, um Waffen und Gürtelsachen zu erstehen.

Die Vormittagsstunden vergehen schnell auf solchen Schlenderwegen durch Gassen, Bazare und Märkte. Hier ist noch ein Stück reale orientalische Welt rein erhalten geblieben, hier glauben wir uns in die Scenerie eines Märchens versetzt, umgeben von schönen Völkertypen, echt und treu, die wir auf Bildern als phantastisch übertrieben und theatralisch ansehen. Weiter und weiter zieht diese bunte malerische Araberwelt sich jedoch zurück von den Küsten des Mittelmeeres; in Algier und Tunis finden wir sie längst nicht mehr in reiner originaler Rassenschönheit, dort mischen schon fränkische, maltesische und andere Elemente sich den Semitenstämmen bei. Nur in Marokko noch und auch dort nur in kleineren, entlegeneren Städten ist das arabische Straßeleben unverfälscht, ungemischt geblieben bis heute. Fritz Wernick.     




Blätter und Blüthen.


Kaisers Geburtstag in Berlin. Ueber den Königsplatz dröhnen die Kanonen, von den Kirchen läuten die Glocken, mit Blumen und bunten Fahnen schmücken sich die Häuser, die Geschäfte sind geschlossen, das Militär hat keinen Dienst, im festlichen Gepränge liegen die Straßen, überall wogt’s in gehobener Stimmung auf und ab, und die Militärmusik spielt und im Gold der Sonne – fliegen die weißen silbernen Schneeflocken.

So war’s diesmal an des deutschen Kaisers Geburtstage! Aber trotz wirbelnden Schnees kam das Licht von oben in Strömen herab, und trotz des Unwetters, das sich auf Hüte und Mäntel festsetzte und in Naturthränen zerfloß, drängten sich Hunderttausende in Berlin unter den Linden am Sonntag, den 22. März!

Kaisers Geburtstag! Er ist ein nationales Fest geworden im ganzen deutschen Reiche! –

Einst schaute die Welt angstvollen Blickes in die verschlossenen Mienen eines Napoleon, der die Welt zu beherrschen schien, und heute richten sich die Blicke auf die grandiose Gestalt des Mannes, in dessen Brust die höchsten Mannestugenden wohnen, in dessen Hand die Kraft ruht, um ein Volk zu regieren und nach Blut, Kampf und Weltenwirrwarr nicht nur dem eigenen Volke, nein, den Nationen in Europa den Frieden zu geben!

Kaisers Geburtstag! Je älter der greise Held, je silberner sein Scheitel, um so erhabener leuchtet seine Gestalt auf in der Zeit mit ihrer nie rastenden Bewegung, ihrem heißen Athem und ihren nie schwindenden Gegensätzen. –

Kaisers Geburtstag! In der Nationalgalerie hängt ein Bild von Adolf Menzel. Wir sehen auf demselben die Linden mit ihrem Treiben, mit ihrem Schmucke, mit ihren erregten, begeisterten Menschen im Jahre 1870, als König Wilhelm Berlin verließ, um zur Armee zu stoßen. Ein kleines, aber musterhaftes Bild! und ein ähnliches Bild stieg vor den Augen auf an diesem Ehrentage unseres Kaisers! Bereits um acht Uhr früh begann das bunte Treiben Unter den Linden, [255] vornehmlich vorm Palais und um das Standbild Friedrichs des Großen, das mit Kränzen und Blumen reich geschmückt war. Ein märchenhafter Anblick entwickelte sich. Bunte und vergoldete Galawagen und Karossen in schier endloser Zahl fuhren auf die Rampe des kaiserlichen Gebäudes. Das blitzte von reichgeschirrten Pferden, Uniformen, Federbüschen und Ordenssternen nicht minder, als von dem Gold der Epauletten und dem Silber der Harnische. Fürsten und höchste Herrschaften, diesmal von auswärts zahlreicher, denn jemals, nahten sich zur Gratulation, und erst gegen zehn Uhr, als die Klänge vom Dom zur kirchlichen Feier einluden, vertheilte sich das Publikum.

Das Gotteshaus war überfüllt. Kopf an Kopf drängte sich die Menschenmenge bis an den Ausgang, und die feierliche Stimmung ward gehoben durch die Orgeltöne, die vom Chore herabdrangen. Nach beendeter Feier begann abermals die Auffahrt am Palais, und unter brausenden Hurrahs und Hüteschwenken des nun wieder herbeiströmenden Publikums fuhren neue Glückwunschbringende vor.

Und nach dieser Zeit begann sich die Stadt zu besonderen Feiern zu regen. In der Akademie der Künste und in der Universität wurden Festreden gehalten, in den höheren Schulen vollzogen sich schon am Sonnabend gleiche, den Tag würdigende Feiern, und in dem ganzen Berlin erhob sich heute der Blick zu der bekränzten Büste oder dem Bilde des Kaisers, das fast in keinem Hause fehlt.

Um 12 Uhr erfolgten die Salutschüsse vom Königsplatz, und etwa um dieselbe Zeit ward im Kastanienwäldchen unter Beisein der höchsten militärischen Chargen die Parole ausgegeben. Abermals ein überaus anziehendes Bild, denn gerade brach die Sonne wieder hervor und bestrahlte die zahllosen glänzenden Helme und bunten Uniformen. Und vom Rathhaus in der Königstraße brausten die Klänge der Militärmusik zu Ehren des Tages herab, und auch hier stauten sich die Menschenmassen und feierten durch ihre Anwesenheit den Tag.

Mit Beginn des Nachmittages begannen die zahlreichen, dem Tage gewidmeten Festessen. Im Kronprinzlichen Palais fand die Familientafel statt, im Rathhause tafelten 250 Stadtverordnete und hörten auf die zündende Festrede des Oberbürgermeisters von Forckenbeck. Der eiserne Kanzler hatte die Botschafter und Gesandten um sich versammelt, und bei sämmtlichen Häuptern der Reichs- und preußischen Ministerien erschienen die Geladenen. Aber auch der Reichs- und Landtag und zahlreiche Civilbeamten- und Militär-Korporationen hatten Vorbereitungen für diesen Tag getroffen, um Kaiser Wilhelm zu ehren.

Am Abend stürzte sich fast die ganze Bevölkerung in den Rausch des Vergnügens. Alle Theater brachten Festvorstellungen mit Prologen und Jubel-Ouvertüren. In allen öffentlichen Lokalen, bis auf den Keller herab, herrschte, wohin man blickte, eine gehobene, begeisterte Stimmung, und namentlich an den vornehmeren Häusern der Hauptstraßen entzündeten sich die Lichter zu einer wahrhaft feenhaften Illumination.

Die großen Ministerialgebäude in der Wilhelmstraße versanken fast in dem Lichte der Transparente, und von dem Rathhausthurm flammten rothe Flammengarben in die dunkle Nacht. Gesang, Jubel, Bewegung, Hochs, Hurrah, Begeisterung! Ein fröhlicher, ausgelassener Taumel der Berliner Bevölkerung, wie kaum eine Feder ihn zu beschreiben vermag!

Und als endlich die Nacht allmählich alle Lichter löschte, stand noch Kaiser Wilhelm’s Glücksstern am Himmel und in ihm leuchtete verheißungsvoll:

„Noch lange Jahre glänze ich ihm zum Ruhme, dem deutschen Volke zum Segen.“ Hermann Heiberg.     


Deutschlands merkwürdige Bäume. Nr. 5. Die Heinrichs-Linde in Braunschweig. (Mit Illustration S. 241.) Als in Braunschweig, nach der Rückkunft Herzogs Karl II. von Paris, in den ersten Tagen des Monats September 1830 die Unruhen ausbrachen, welche am 7. September mit der Flucht des „Souverains“ und dem Brande des Residenzschlosses endeten, da wurde, um den murrenden Arbeitern Verdienst zu verschaffen, höchsten Ortes der Abbruch der an der Südseite des Domes stehenden mittelalterlichen Gebäude beschlossen, welche zu dem von Heinrich dem Löwen im Jahre 1170 neu begründeten Stifte St. Blasii gehörten. Nachdem dann der letzte Rest der Stiftsgebäude weggeräumt war, entstand dort der Wilhelmsplatz, dem am 18. Oktober v. J. heimgegangenen Herzoge zu Ehren so benannt.

An der Westseite desselben steht, als letztes Ueberbleibsel des ehemaligen Domkirchhofes, ein alter mächtiger Lindenbaum, an den, gebannt von dem Zauber der Sage, man im Sturmjahre 1830 die Axt nicht zu legen wagte. Dieser Sage zufolge soll Heinrich der Löwe den Baum mit eigener Hand gepflanzt haben, weßhalb er vom Volksmunde die „Heinrichs-Linde“ genannt wird und, wie der von diesem mächtigen Fürsten einst vor seiner Burg aufgestellte eherne Löwe, zu dem Wahrzeichen der Stadt Braunschweig gehört. Ist auch jene Sage unverbürgt, so steht doch unzweifelhaft fest, daß dieser Baum, dessen Stamm einen Umfang von nahe 20 Fuß hat, so alt ist wie der Dom selbst, dessen südliche Giebel er in jedem Lenz mit frischem Grün bekränzt. Seine Berühmtheit reicht ins Mittelalter zurück, und von seiner Popularität zeugt es, daß man ohne nähere Bezeichnung von der „Linde in Braunschweig“ sprach und daß damit Jedermann in Niedersachsen wußte, welche Linde gemeint sei.

Wie für das Herzogthum Braunschweig, so ist das Jahr 1830 auch für den berühmten alten Baum verhängnißvoll geworden. Man hatte ihn damals zwar vor einem jähen Tode bewahrt, aber seitdem nichts für seine fernere Erhaltung gethan. So lange die Linde, geschützt durch die sie umgebenden Gebäude, ihre Wurzeln in dem lockeren, fruchtreichen Boden des Domfriedhofes ausstreckte, trug sie in jedem Sommer eine über 70 Fuß hohe üppige Laubkrone. Nachdem sich aber das Straßenpflaster um ihren Stamm her fester und immer fester schloß, da begann die Krone abzusterben, und jetzt ist, wie unser Bild zeigt, der eine ihrer beiden mächtigen Hauptäste fast vollständig verdorrt. Dem weiteren Fortschreiten dieses Absterbens hat man durch eine theilweise Entfernung des Straßenpflasters und durch Zuführung von Wasser in dürrer Jahreszeit zu wehren gesucht, ein zu der ferneren Erhaltung des Baumes Hoffnung gebendes Resultat scheint aber erst dadurch erzielt worden zu sein, daß man vor zwei Jahren den nördlichen Theil des Wilhelmsplatzes nach dem Dome zu in eine Rasenfläche mit Bosquetanlagen verwandelt hat, in welche auch die alte Linde mit aufgenommen ist. – C. St.     


Der Hausirer. (Mit Illustration S. 245.) Ein Stücklein alter „Landstraßen-Poesie“ ist noch in dem Hausirer übrig geblieben, der seinen Weg von Dorf zu Dorf zieht, fernab der Eisenbahn und der großen Heerstraße. In jeder Hütte ist er ein willkommener Gast, den man gern zum Wiederkommen auffordert. Aber er versteht auch sein Geschäft, Jedem weiß er das Passende anzubieten. Ei, ei, das Passende? Ist etwa die kurze Pfeife mit dem schön gemalten Porcellankopfe, die der alte Hausirer unseres Bildes der prächtigen, lachenden jungen Dirne anbietet, für diese ein „passender“ Einkauf? Daß die moderne Städterin ihre Cigarette qualmt, ist schon richtig, aber auf dem Dorfe ist das weibliche Geschlecht noch nicht bis zur Pfeife herabgesunken. Doch der hausirende Menschenkenner weiß schon, warum er die Pfeife dem Mädchen zeigt, und sicher ist in der nächsten halben Stunde nach üblichem Feilschen und Dingen die Pfeife im Besitze Liesens, des Abends aber in dem Hansens, der sie – ganz gewiß ohne Feilschen – gegen ungezählte Küsse von Liesen eingehandelt hat. –r.     


Das Klettern der Fliegen. Es giebt in der Natur eine große Zahl einfachster Erscheinungen, die wir tagtäglich sehen und deren Deutung doch ungemein schwierig ist. So blieb auch die Kunstfertigkeit, mit welcher die Fliegen und andere Insekten an senkrechten glatten Wänden auf und ab laufen können, lange Zeit ein undurchdringliches Geheimniß. Aber auch der gymnastischen Tausendkünstlerin, die selbst über die Decke zu laufen versteht, ist man endlich auf die Spur gekommen. Anfangs, da man gefunden hatte, daß die Füße der Thierchen mit zahllosen Härchen besetzt sind, nahm man an, daß die Haare in die Poren der Wände eindringen und so das Festhaften der Insekten ermöglichen. Das war aber eine unglückliche Erklärung, denn die Fliegen laufen auch auf Glasflächen, die bekanntlich keine Poren besitzen. Dann hatte man eine recht tiefsinnige Theorie aufgestellt, nach der die Fliegen den mittleren Theil ihrer Fußsohle nach dem Aufsetzen heben und auf diese Weise einen luftleeren Raum erzeugen sollten; nun konnten sie an den Wänden hängen, wie ein kleines Fläschchen, aus dem wir die Luft ausgesogen, an unserer Lippe oder Zunge hängen bleibt. Auch das war weiter nichts als graue Theorie, denn das Mikroskop belehrte uns, daß den Fliegenfüßen die zu dieser Manipulation nöthigen Muskeln gänzlich fehlen. Das Geheimniß der Kletterkunst der Fliege blieb also ungelöst und das reizte die Forscher zu neuen Untersuchungen an.

Man fand nun, daß die Fliegenfüße eine Flüssigkeit absondern, deren Spuren sich auf Glasflächen etc. nachweisen lassen, und nahm an, daß dies ein Klebestoff sei, der schnell fest werde und die Fliegen festhalte. Aber auch diese Erklärung gefiel den Gelehrten nicht, denn so scharfsinnig sie war, es fanden sich Scharfsinnigere, welche mit Recht einwarfen, daß eine Fliege, die längere Zeit an einem Orte sitzt, schließlich festkleben müßte, während sie sich doch in Wirklichkeit mit der größten Leichtigkeit zu jeder Zeit weiterbewegen kann. Endlich stellte man die neueste und plausibelste Theorie auf. Danach sollen die Füße unserer Fliegen nur ein wenig flüssiges Fett absondern, das die Härchen der Füße benetzt und, wenn es mit den glatten Wänden in Berührung kommt, vollständig genügt, um das Herabfallen des Insektes zu verhüten. Man wies die Richtigkeit dieser Behauptung mit Zahlen nach. Man sah nämlich, daß Haare von 16 Centimeter Länge mittelst eines Oeltröpfchens, das nicht größer war, als der Haardurchmesser, an einer Glasplatte haften blieben. Nun sind aber die Fliegenfüße mit Haaren sehr reich gesegnet, denn an der Unterseite eines jeden der sechs Füße befinden sich nicht weniger als 1600 bis 2000 Härchen, und diese vermögen mit ein bischen Oel getränkt wohl eine Fliege an der glattesten Wand zu halten, da sie im Durchschnitt nur 45 Milligramm wiegt. Jetzt erklärt es sich auch, warum die Fliege auf angehauchter Glasfläche nicht gut laufen kann. Das Fett ihrer Füße mischt sich nicht mit den Wassertröpfchen des Hauches, kann also an dem Glase nicht haften, sodaß die Fliege in Folge dessen herunterfallen muß. Aus demselben Grunde bewegt sich die Fliege höchst ungeschickt auf bestäubten Flächen. Die Zwischenräume zwischen den Härchen füllen sich nämlich mit Staub, der die Wirkung der abgesonderten öligen Flüssigkeit paralysirt. Aber diesem Uebelstande weiß die Fliege abzuhelfen, denn sie trägt ihre Staubbürste mit sich. Sie hebt dann ihre Füße in die Höhe und reibt sie tüchtig an den mit rauhen Haaren besetzten Flügeln ab. In kurzer Zeit sind sie gereinigt, und die Fliege kann wieder prächtig laufen. Die meisten Menschen denken, die Insekten putzten sich dabei ihre Flügel – nun, wenn die Fliegen das wüßten, würden sie Manchen ob seiner Weisheit auslachen. –i.     


Die „Bismarck-Literatur“ ist, wie vorauszusehen war, gelegentlich des Jubiläums des Reichskanzlers zu einer wahren Hochfluth angeschwollen. Auch nur die Titel der einzelnen Werke an dieser Stelle aufzuführen, wäre eine Unmöglichkeit, wir beschränken uns daher darauf, unseren Lesern nur einige derselben namhaft zu machen, aus denen das Gesammtbild unseres großen Staatsmannes sich übersichtlich und scharf abhebt. Vor allen ist hier zu nennen die von dem bekannten Tübinger Historiker Professor Wilhelm Müller veranstaltete Jubiläumsausgabe „Reichskanzler Fürst Bismarck 1815 bis 1885“ (Stuttgart, Verlag von Karl Krabbe) – ein treffliches, von jeder Parteileidenschaft sich fern haltendes Buch, dessen Zweck der Verfasser darin sieht, daß es die Kenntniß eines so reichen und großartigen Lebens in den verschiedenen Stadien seiner Entwickelung vermittelt, eine Kenntniß, die „Sache jedes nationalgesinnten [256] Deutschen sein muß“. Ergänzt gewissermaßen wird dieses Lebensbild durch ein anderes, im Verlage von J. G. Findel in Leipzig erschienenes Werk, welches „Kernworte Bismarck’s“ heißt. Der Herausgeber giebt darin aus der öffentlichen Wirksamkeit des Reichskanzlers eine Sammlung solcher Aeußerungen desselben, welche die Eigenart des Wesens, die Beweggründe, Auffassungen und Zielpunkte der Bestrebungen und Handlungen des Fürsten in besonders treffender Weise kennzeichnen. Als ein Volksbuch, dessen billiger Preis von 50 Pfennig die Anschaffung in den weitesten Kreisen ermöglicht, nennen wir schließlich Ernst Scherenberg’sFürst Bismarck – Ein Charakterbild für das deutsche Volk“ (Elberfeld, Bädeker’sche Buch- und Kunsthandlung [A. Martin und Grüttefien]). Der Verfasser will in dieser Schrift weniger eine erschöpfende Biographie des Reichskanzlers geben, als eine Charakteristik seines Werdens und Wachsens. – Auch eine musikalische Jubiläumsgabe wollen wir noch erwähnen, welche der Komponist der Gavotte „Goldelse“ Otto Fuchs unter dem Titel „Bismarck-Marsch“ in C. A. Koch’s Verlag (J. Sengbusch) in Leipzig herausgegeben. – r.     


Das Grubenunglück bei Camphausen. Durch die Tagesblätter sind unsere Leser von dem entsetzlichen Unglück unterrichtet, welches im Camphausen-Schachte (unmittelbar an der Station Camphausen der Strecke Saarbrücken-Neunkirchen) über 219 Bergarbeiter hereinbrach und, nach den bis jetzt vorliegenden Erhebungen, 175 von ihnen das Leben kostete. 141 Wittwen mit 416 Kindern unter 16 Jahren[WS 1] trauern um den Verlust ihrer Männer und Ernährer: die meisten der Verunglückten – etwa vier Fünftel – waren verheirathet, manche hinterlassen vier und mehr Kinder, einige sogar sieben.

Hier gilt es einmüthiglich zu helfen, reich und rasch zu helfen. Noch niemals richteten wir die Bitte: Gedenket der Unglücklichen und helfet ihnen, ein Jeder nach seinen Kräften! vergeblich an unsere Leser, und so möge sie auch diesmal einen segensreichen Erfolg haben! Zur Entgegennahme von Spenden ist Herr Kommerzienrath Haldy zu St. Johann a. d. Saar bereit.


„In Ostafrika, Forschungsreise zu den Schneebergen und wilden Stämmen des Massailandes bis zum Victoria Nyanza in den Jahren 1883 und 1884“ – unter diesem Titel wird in nächster Zeit die deutsche Uebersetzung des hochinteressanten Werkes von Joseph Thomson „Through Masailand“ bei F. A. Brockhaus in Leipzig erscheinen. Auf die englische Ausgabe ist schon in dem Originalartikel über das Massailand von Dr. G. A. Fischer in Nr. 13 hingewiesen, und wir können die vortreffliche deutsche Uebersetzung von W. von Freeden, die uns in den Aushängebogen vorliegt, bei dem großen Interesse, das gegenwärtig für Ostafrika rege geworden ist, der allgemeinsten Beachtung empfehlen. – i.     


Werth der Arbeit. Wie aus unscheinbaren, ihrer Werthlosigkeit halber oft kaum ziffermäßig schätzbaren Gaben der Natur durch Verarbeitung und Verfeinerung ungeheure Werthe und Preise erzielt werden, beweist das Eisen. Man hat schon oft darauf hinweisen hören, wie viel theurer eine Uhrfeder als ein ganzes Pfund Eisen sei, aber die folgende Vergleichung der verschiedenen Stadien in der Bearbeitung des Eisens zeigt es erst deutlich, welchen Werth die „Arbeit“ besitzt, denn die Differenz der Preise bezeichnet eben die Leistung der inzwischen vorgenommenen Bearbeitung. Der Centner Eisenerz, wie er aus dem Schoße der Berge genommen wird, kostet 30 Pfennig, man bedenke: ein ganzer Centner 30 Pfennig! Zu Roh-Eisen verarbeitet kostet der Centner bereits 3 Mark, in der Form von Gußwaaren schon 9 Mark, als Stabeisen 9,30 Mark, als Blech 11,50 Mark, als Draht 12 Mark, als Gußstahl 27 Mark, als Messerklingen 1500 bis 2100 Mark, als feinste Uhrfedern 6 Millionen Mark! In der feinsten Bearbeitung vermehrt sich also der Werth des Eisens 20 Millionen Mal! R.     


Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Eine Illustration zu diesem „klassischen“ Ausspruche moderner Schwarzkünstler liefert die Photographie, welche in ihren neuesten Leistungen die sogenannten Momentbilder weit hinter sich läßt und dieselben als überwundenen Standpunkt betrachtet, indem sie zur Aufnahme eines Bildes nur ein paar Hundertstel eines „Momentes“ bedarf. So hat ein Photograph in Boulogne in 1/300 Sekunde einen dahinrasenden Schnellzug abkonterfeit. Das Bild ist nach den Berichten Pariser Blätter vollkommen gelungen. Wagen und Tender sind deutlich; auch ist der Abdampf aus dem Schornstein sehr gut erkennbar, wogegen die arbeitenden Theile an der Maschine nicht gut zu unterscheiden sind, mit Ausnahme jedoch der die Triebräder verbindenden glänzenden Stange, welche sehr deutlich zu erkennen ist. Da der Zug im Augenblick der Aufnahme mit einer Geschwindigkeit von nahe an 70 km fuhr, so hat er sich in 1/300 Sekunde um etwa 6 cm fortbewegt und es haben in derselben Zeit die Triebräder etwa 1/100 Umdrehung vollzogen. So rasch erfolgte die Aufnahme, daß man die Radspeichen, welche bei rascher Fahrt eines Zuges nicht mehr wahrnehmbar sind, deutlich zu unterscheiden vermag. –k.     


Die Welt des Scheines herrscht nicht nur auf der Bühne selber, sondern auch – wer sollte es wohl vermuthen! – im Zuschauerraume, und die Zuschauer spielen hierbei sogar eine „Rolle“, wenn auch nur als Komparsen. In dem Nachrufe, welcher einem jüngst verstorbenen Berliner Theaterkassirer gewidmet wird, heißt es, zum Beweise dessen: „… er war außerdem bekannt als strategisches Genie, als genialer Gruppirer des Theaterpublikums. Er verstand die schwierige Kunst, die Theaterbesucher im Parkett und in den Logen so zu vertheilen, daß ein halbvolles Haus den Anschein eines ganz gefüllten bekam.“ A.     


Chorlied der Deutschen in Amerika.[1]

Im deutschen Geist und Herzen sind wir eins!

Nicht festgebannt an Deutschlands mächt’ge Eichen,
An deutsche Erde ist der deutsche Geist!
Er soll der hohen, ew’gen Sonne gleichen,
Die segenbringend eine Welt umkreist,
Die mit dem Licht verleiht der Wärme Spende,
Die Rosen weckt und nährt die Gluth des Weins. –
Ihr Brüder, reicht zum Bunde euch die Hände!
Im deutschen Geiste wissen wir uns eins! –

Es blüht ein Blümlein in der deutschen Seele,
Das ist vom Thau des Himmels übersprüht,
Das gilt uns mehr als Perlen und Juwele –
Die fromme Wunderblume heißt: Gemüth!
Draus quillt im Leide süßen Trostes Segen,
Das ist der Duft, die Würze unsres Seins! –
Laßt Hand in Hand uns zieh’n auf unsren Wegen!
Im deutschen Herzen wissen wir uns eins! –

Wir fühlen stolz uns Bürger eines Landes,
Wo hoch die Freiheit ihre Fahne schwingt,
Doch sind wir eingedenk des heil’gen Bandes,
Das sich um eines Stamms Genossen schlingt! –
Gruß, Bruder, Dir, entsproßt in Alpengründen,
Und Dir, gekommen von dem Strand des Rheins! –
Mit Jauchzen soll es unser Lied verkünden:
Im deutschen Geist und Herzen sind wir eins! Emil Rittershaus.


  1. Um die Pflege des Männergesanges auch unserseits zu fördern, bestimmen wir für die beste Komposition eines vierstimmigen Männerchors zu dem vorstehenden, auf Wunsch deutsch-amerikanischer Vereine von Rittershaus gedichteten Chorliede einen Preis von 500 Mark.
    Das Preisrichteramt haben die Herren Hof-Kapellmeister Abert-Stuttgart, Kapellmeister Dr. Reinecke-Leipzig und Hof-Kapellmeister Dr. Wüllner-Köln freundlichst übernommen.
    Den genannten Preis von 500 Mark erhält die mit Stimmenmehrheit von den Preisrichtern als beste bezeichnete Komposition, die in das Eigenthum der „Gartenlaube“ übergeht und in derselben veröffentlicht werden wird.
    Die konkurrirenden Kompositionen dürfen vorher weder durch Druck noch sonstwie veröffentlicht sein und müssen, mit einem Motto versehen,
    bis 31. Mai d. J.

    an die Redaktion der „Gartenlaube“ eingesandt werden. Der Name des Einsenders darf dabei nicht genannt sein, sondern muß sich in einem versiegelten Kouvert befinden, welches als Aufschrift dasselbe Motto trägt wie die Komposition.
    Leipzig, Ende März 1885. Die Redaktion der „Gartenlaube“. 



Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Fortsetzung). S. 241. – Die Dynastie Naundorff. Von Rudolf von Gottschall. S. 246. – Das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig. Von Karl Siegen. Mit Abbildung. S. 249. – Unter der Ehrenpforte. Von Sophie Junghans (Fortsetzung). S. 249. – Mit Illustration S. 252. – Marokkanische Marktscenen. S. 252. Mit Illustration S. 253. – Blätter und Blüthen: Kaisers Geburtstag in Berlin. Von Hermann Heiberg. S. 254. – Deutschlands merkwürdige Bäume. Nr. 5. Die Heinrichs-Linde in Braunschweig. S. 255. Mit Abbildung S. 241. – Der Hausirer. S. 255. Mit Illustration S. 245. – Das Klettern der Fliegen. S. 255. – Die „Bismarck-Litteratur. S. 255. – Das Grubenunglück bei Camphausen. – „In Ostafrika“. – Werth der Arbeit. – Geschwindigkeit ist keine Hexerei. – Die Welt des Scheines. – Chorlied der Deutschen in Amerika. Von Emil Rittershaus. Preisausschreiben. S. 256.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jahreu