Die Gartenlaube (1885)/Heft 5

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


6.

In dem tiefen Thorwege des alten Packhauses war es bereits stockdunkel. Herr Lenz tappte vorsichtig mit seiner Last vorwärts und schlug endlich eine Thür linker Hand geräuschvoll zurück. Gleich darauf fiel ein Lichtschein von oben über die dahinterliegende steile Treppe herab.

„Ernst?!“ rief eine Frauenstimme angstvoll fragend herunter.

„Ja, ich bin’s mit Haut und Haar, heil und gesund! Hannchen! Guten Abend auch, liebster Schatz!“

„Nun, Gott sei Lob und Dank, daß Du da bist! Aber liebster, bester Mann, wo hast Du denn gesteckt?“

„Verlaufen hatte ich mich!“ sagte er im langsamen Hinaufsteigen. „Dieser verflixt schöne Thüringer Wald lockt wie ein Irrlicht – immer ein Punkt prächtiger als der andere. Da läuft man weiter und weiter und denkt nicht an den Nachhauseweg. Entsetzlich müde Beine bringe ich heim; aber das Skizzenbuch ist auch voll, Mütterchen.“

Damit tauchte er über dem Treppengeländer auf, und seine Frau, die mit der Lampe in der Hand oben stand, prallte zurück.

„Ja, gelt, was ich da mitbringe, Hannchen? I nun, das habe ich drunten im Thorweg aufgelesen!“ sagte er, auf der obersten Stufe stehenbleibend, mit halb lächelndem, halb besorgtem Gesichtsausdruck. Er versuchte, den Kopf zu wenden und das Kind auf seinem Arme bei Licht zu besehen; allein es hatte die Arme krampfhaft fest um seinen Hals geschlungen, und das Gesichtchen, von dem wirr hereinfallenden Haar fast verdeckt, drückte sich an seine Wange.

Frau Lenz stellte die Lampe schleunigst auf den Vorsaaltisch. „Gieb mir das Kind, Ernst!“ sagte sie mit ängstlicher Hast und reichte nach dem kleinen Mädchen. „Mit Deinen armen, müden Beinen darfst Du keinen Schritt mehr thun – Gretchen aber muß auf der Stelle fort! Man sucht sie seit vielen Stunden. Gott, ist das ein Aufruhr drüben im Vorderhause! Alles rennt durcheinander, und die alte Barbe heult in ihrer Küche, daß es bis zu uns über den Hof herschallt … Komm her, Engelchen!“ lockte sie mit sanfter, zärtlicher Stimme. „Ich trage Dich hinüber!“

„Nein, nein!“ wehrte die Kleine angstvoll ab und klammerte sich noch fester an ihren Träger. Wenn drüben Alles durcheinander rannte, da war auch die Großmama unten, und so wild und wirr es ihr auch durch den schmerzenden Kopf sauste, über den Empfang von Seiten der alten Dame war sie sich doch vollkommen klar. „Nein, nicht hinübertragen!“ wiederholte sie mit fliegendem Athem. „Tante Sophie soll kommen!“

„Auch recht, Herzchen! Dann holen wir die Tante Sophie,“ beschwichtigte Herr Lenz.

„Ganz wie das Kindchen will!“ bestätigte seine Frau, die besorgt auf die heisere, nach Athem ringende Kinderstimme horchte und mit rascher Hand und prüfendem Blick den Haarwust aus dem entstellten


Großmutters Zeitvertreib. 0Nach dem Gemälde von A. Hessl.

[74] Gesichtchen strich. Schweigend nahm sie die Lampe und öffnete die Stubenthüre.

Das Packhaus, das älteste der aus der Urväter Zeiten stammenden Hintergebäude, war ein massiver Bau mit dicken Wänden und tiefen Fensternischen, dessen eigentliche Façade nach Norden, der Straße zugewendet lag. Deshalb wehte den Eintretenden eine so köstlich kühle, eine völlig reine, nur von erfrischenden Resedadüften durchhauchte Luft entgegen. Hier, in dem stillen, trauten Heim der Malerfamilie überließ sich das Kind willig der sanften, freundlichen Frau, die es auf den Schoß nahm, während Herr Lenz Hut, Plaid und Reisetasche ablegte.

„Blanka ist draußen auf dem Gange!“ sagte die Frau als Antwort auf den suchenden Blick, den ihr Mann durch das Zimmer gleiten ließ. „Sie war dabei, ihr Haar für die Nacht zu ordnen, als der Kutscher aus dem Vorderhause bei uns nach Gretchen fragte. Wir hatten freilich schon längst die Unruhe drüben bemerkt; Herr Lamprecht war zu ganz ungewohnter Zeit aus- und eingeritten, und im Hofe wurde jeder Busch durchsucht. Allein wir hielten uns wie immer streng an Deinen Befehl, nichts zu sehen, was in Haus und Hof Deines Principals vorgeht. Seit nun aber der Kutscher dagewesen ist, sitzt unser Kind draußen auf dem dunklen Gange und ist nicht hereinzubringen – das liebe, kleine Ding da ist ihr Augapfel, wenn sie es auch nur vom Sehen kennt – aber, um Gott, Kind, was ist denn das mit Deinen Füßen?“ unterbrach sie sich; das Lampenlicht fiel auf die schlamm- überzogenen Stiefelchen, die über ihrem hellen Kleide herabhingen. Mit hastigen Händen befühlte sie die Säume der zerschlitzten Röckchen, die auch die Nässe des Sumpfbodens in sich gesogen hatten.

„Das Kind ist im Wasser gewesen,“ sagte sie halblaut und alterirt zu ihrem Mann; „es muß so schnell wie möglich in trockene Kleider. Geh, rufe Blanka!“

Er öffnete die Thüre in der Rückwand der Stube. Der Raum dahinter, die Küche, war dunkel, aber durch die gegenüberliegende, weit offene Thüre, die nach dem Gange führte, sah man einzelne Lichter des Vorderhauses herüberblicken.

Auf den Ruf des Vaters eilten draußen leichte Schritte über die knarrenden Gangdielen, dann trat die schöne Blanka aus dem tiefen Dunkel auf die Thürschwelle im weißen, spitzenbesetzten Frisirmantel, mit blassem Gesicht und schlaff niederhängenden, nackten Armen, und das aufgelöste Haar wogte goldglitzernd um sie her. „Bist Du endlich gekommen, Vater?“ fragte sie vibrirenden Tones. Mit scheuer Haltung und niedergeschlagenen Augen blieb sie stehen – es sah aus, als sei ihr das Lampenlicht, das sie so plötzlich und grell überfluthete, unerträglich und sie habe den einzigen Wunsch, in das Dunkel zurückzuflüchten.

„Was – ist das der ganze Willkommgruß meiner Kleinen?“ rief Herr Lenz launig. „Weder Kuß noch Handschlag? – Und ich habe doch ein verlorenes Schäfchen mitgebracht! Siehst Du denn nichts? Wer sitzt denn dort auf dem Schoß der Mutter?“

Mit einem Ausruf der Ueberraschung fuhr das junge Mädchen empor und flog auf das Kind zu.

„Sieh, sieh!“ sagte Frau Lenz halb belustigt, aber doch auch ein wenig verletzt. „Vater könnte wohl eifersüchtig werden! Du hast Dich ja wirklich mehr um das fremde Kind geängstigt als um des Vaters Ausbleiben! ... Jetzt hilf mir aber, Deinen Liebling zu säubern und ins Trockene zu bringen. Dort im unteren Fach der Kommode müssen noch Röckchen und Strümpfe aus Deiner Kinderzeit liegen, die suche hervor!“

Sie setzte die Kleine auf das Sopha und holte Waschwasser und ein Handtuch herbei, während das junge Mädchen auf die Dielen niederkniete und mit fliegenden Händen den Inhalt des Schubfaches durch einander warf.

„Wo bist Du nur gewesen, Kindchen?“ sagte Frau Lenz beim Lösen der Schleifen und Knöpfe am Anzug des kleinen Mädchens – der Körper unter ihren Händen war in Schweiß gebadet.

„In Dambach war ich,“ stieß Margarete hervor. „Aber der Großpapa konnte mir nicht helfen, er war nicht da.“ – Und nun, während die Frau mit lauem Schwamm die beschmutzten Füßchen wusch, nun war es, als müsse alles Erduldete, das sich in die letzten Tagesstunden zusammengedrängt, von dem alterirten Kinderherzen herunter. In krankhafter Hast wurde Alles geschildert, die Schrecknisse im Teichgebüsch und die Angst, daß der Papa vom Pferde steigen und den Busch durchsuchen könne – und warum man zum Großpapa gelaufen sei? Nun, weil immer eine weiße Gestalt durch den dunklen Gang husche und die Leute erschrecke. Und die Stube sei nicht verschlossen gewesen, ganz gewiß nicht! Sie habe deutlich gehört, wie auf das Thürschloß gedrückt worden sei, dann habe sie es schneeweiß durch den Thürspalt schlüpfen sehen, und unter dem Schleier habe langes Haar herabgehangen; und weil das Mädchen so laut geschrieen, da wolle nun der Papa die Grete ins Institut stecken.

„Das ausgeprägteste Delirium! Die Kleine ist schwer krank,“ murmelte Herr Lenz mit abgewendetem Gesicht. „Beeilt Euch mit dem Umkleiden!“ Und er stahl sich leise hinaus, um Anzeige im Vorderhaus zu machen.

Die Röckchen und Kinderstrümpfe mußten sich in eine unauffindbare Ecke verirrt haben; denn die schöne Blanka kniete noch vor der Kommode und suchte. In ihrem weißen Gewand und mit dem langen, blonden, rücksichtslos über die Dielen geschleiften Haar sah sie aus wie eine zu Magddiensten erniedrigte Prinzessin. Nun wurde auch noch ein zweites Schubfach geräuschvoll aufgezogen.

Frau Lenz erhob sich ein wenig ungeduldig und trat hinzu. „Liebes Herz, das dauert mir zu lange, und ein solcher Kram, daß man Etwas nicht zu finden vermöchte, ist doch bei mir nicht Mode ... Wo hast Du denn Deine Augen, kleine Maus? Da liegt ja das blaue Flanellröckchen obenauf, hier in der Ecke stecken drei Paar Strümpfe, und da ist auch noch ein Nachthemdchen!“

Sie nahm die Sachen heraus und schob die Kasten zu.

Das junge Mädchen hatte keinen Grund mehr, in der halbdunklen Ecke zu verweilen, und als es sich zögernd dem Licht wieder zuwendete, da schien selbst aus den Lippen jeder färbende Blutstropfen gewichen zu sein.

„Kind, wie magst Du Dich nur so alteriren!“ rief die Mutter erschrocken. „Es ist nicht so schlimm, wie der Vater meint. Bei Kindern stellt sich sehr leicht starkes Fieber ein, vergeht aber auch schnell wieder. In einigen Tagen ist Dein Liebling wieder gesund – Du wirst es sehen! ... Hier, stecke die müden Beinchen in frische Strümpfe, während ich draußen einen kühlen Trank zurechtmache.“

Die Tochter rollte schweigend die Strümpfchen auseinander, kauerte vor dem Sofa nieder und schickte sich an, die kleinen, nackten Füße zu bekleiden; aber kaum war die Küchenthür hinter der Frau zugefallen, als sich das junge Mädchen mit einer leidenschaftlichen Geberde aufrichtete, das Kind mit beiden Armen umschlang und heftig an ihre Brust preßte.

Margarete öffnete die fieberglänzenden Augen weit vor Ueberraschung. „Ach, Sie haben mich lieb, Fräulein Lenz? Ja?“

Die schöne Blanka neigte bejahend den Kopf – im verhaltenen Schmerz klemmte sie die Unterlippe zwischen die Zähne, und eine Thräne stahl sich unter der gesenkten Wimper hervor.

„Es ist schön bei Ihnen in der kühlen Stube!“ murmelte die Kleine und drückte das Gesichtchen zärtlich in die blonde Haarfluth, die über die Brust des Mädchens fiel. „Ich möchte dableiben! ... Hierher kommt auch die Großmama nicht, niemals – die geht nie ins Packhaus – der Papa auch nicht. Aber Tante Sophie kommt ... Bringen Sie mich zu Bette!“

In diesem Augenblick trat die Mutter wieder in das Zimmer.

„Ach, und wie gut Sie riechen, Fräulein Lenz!“ rief das Kind lauter und hob tiefathmend den Kopf. „Wie die schönsten Rosen, gerade wie“ – ein Paar heißer, zuckender Lippen drückten sich fest auf den kleinen Mund und erstickten jedes weitere Wort.

„Aber, Blanka, das Kind ist ja noch barfuß!“ schalt Frau Lenz. „Und wer wird denn einen Patienten auch noch durch die eigene Angst aufregen! Geh’ nur weg, kleine Ungeschickte! Ich will das Anziehen selbst besorgen.“

In wenigen Minuten war sie mit dem Umkleiden fertig; Eile machte sich aber auch in der That nöthig; denn, wie schon im Kornfelde, so mischten sich jetzt wieder Fiebergebilde in die Vorstellungen des Kindes. Frau Lenz hielt ihm das hereingebrachte Trinkglas an die Lippen, und in gierigen Zügen wurde der heißersehnte Kühltrank geschlürft. Gleich nachher kamen Schritte die Treppe herauf, und Herr Lenz ließ die Tante Sophie eintreten.

Wer das humorbeseelte Gesicht der lustigen „alten Jungfer“ kannte, der mußte erschrecken, so furchtbar hatte es die Angst der letzten Stunden in Linien und Farben verändert. Mit einem stummen Gruß für die Hausfrau und das wieder in die dunkle Ecke geflüchtete schöne Mädchen trat sie auf die kleine Margarete [75] zu, die ihr matt die Arme entgegenstreckte. Ein einziger prüfender Blick, ein Befühlen der Kinderstirn und sie wußte, daß hier ein schweres Erkranken im Anzuge war.

„Das kommt davon, wenn man mit solch einem jungen Seelchen umgeht, wie mit einem schlechten Instrument, auf dem man herumdreschen kann, wie man will!“ sagte sie derb in rückhaltslosem Schmerz und unsäglicher Bitterkeit.

Sie hüllte die Kleine in einen Plaid, den sie mitgebracht hatte, nahm sie auf den Arm und reichte Herrn und Frau Lenz die Hand. „Dank, vielen Dank!“ Mehr brachte sie beim Verlassen des Zimmers nicht heraus.

Drunten im Hofe aber löste sich eine hohe Gestalt aus dem Dunkel und trat ihr entgegen. Die kleine Margarete schrak zusammen und ein Beben ging durch ihren Körper, als zwei Hände nach ihr griffen – es war der Papa, der sie mit einer ungestümen Bewegung an sich zog.

„Mein liebes Kind, mein gutes Gretchen, erschrick nicht! Ich bin’s, der Papa!“ sagte seine tiefe Stimme vibrirend. Er hielt sie fest an seiner schwerathmenden Brust, während er sie über den Hof trug, und in dem hellerleuchteten Hausflur, wo alle Hausbewohner auf ihn und das Kind einstürmten, hob er Schweigen gebietend die Hand und ging an den Verstummenden vorüber nach der Schlafstube der Kinder. – –

„Na, dann ist’s ja gut! Zigeuner haben sie nicht gestohlen, und umgekommen ist sie ja sonst auch nicht, Gott sei gelobt und gepriesen!“ sagte Bärbe nachher in der Küche zu den Anderen und nahm den „ersten Ohnmachtsbissen“ nach so vielen Angststunden. „Aber sag’ mir nur Keiner, daß nun auch die Geschichte aus und vorbei ist! Wer den armen Wurm mit seinen schlenkernden Aermchen und Beinchen gesehen hat, wie ihn der Herr vorbeitrug, der weiß genug ... Was hab’ ich heute Nachmittag gesagt? ‚Ein Unglück giebt’s‘, hab ich gesagt ... Aber da heißt’s immer: ‚die abergläubische Bärbe, der Unglücksrabe, die Jammerbase!‘ J ja, spotten kann ein Jeder, das ist keine Kunst, aber beweisen, ja beweisen, das steht auf einem anderen Blatte. Wollen ’mal sehen, wer Recht behält, die klugen Leute, die an gar nichts glauben, oder die alte Bärbe mit ihrer Einfältigkeit! So Eine, wie die mit den Karfunkelsteinen, die wird sich wohl für Nichts und wider Nichts in dem Gang da oben rumtreiben! Es ist nicht das erste Mal, daß solch ein armes, unschuldiges Kindchen ‚nachgeholt‘ wird – denkt an mich – mit unserem armen Gretchen geht’s schief!“

Bei diesen Worten legte sie die Gabel mit dem angespießten Bissen wieder hin und verhüllte ihr Gesicht mit der blauleinenen Schürze. – –

Und wochenlang hatte die Küchenprophetin die schmerzliche Genugthuung, Tag für Tag mit gesteigertem Nachdruck auf „das, was sie gesagt“ hinweisen zu können. Bei all ihrem wirklichen Kummer dachte sie doch schon – ganz im Stillen zwar, aber wehmutsvoll ausmalend – an den schönsten Blumenkranz, der zu haben, und an das goldgedruckte Carmen mit dem Namen „Barbara Wenzel“ auf breitem, weißem Atlasband, als die tüchtige Natur des Kindes siegte und eine plötzliche glückliche Wendung eintrat.

Nun war wieder Sonnenschein im Hause. Herr Lamprecht, der in den Stunden der Gefahr fast nicht vom Bette des Kindes gewichen war, richtete seine gebeugte Gestalt auf, und in Blick und Geberden brach sein feuriges Naturell wieder durch, ja, die Leute meinten, er habe in seinem ganzen Leben nicht so „siegerhaft“ und herausfordernd ausgesehen, wie eben jetzt. Was aber die Anderen im Hause freudig bemerkten, das erbitterte die alte Bärbe förmlich. Er hatte nämlich seinen Vorsatz, die spukhaften Appartements der verstorbenen Frau Dorothea für eine Zeit selbst zu bewohnen, ausgeführt; auch der Korridor war durch eine Thüre vom Flursaal abgeschlossen worden ... Für die alte Köchin war es fast noch schlimmer als eine Gotteslästerung, wenn sie ihn droben ungenirt die verblichenen Gardinen zurückziehen und in sündhafter Herausforderung an das Fenster treten sah. Von der huschenden weißen Frau sprach auch Niemand mehr – natürlich! – durch eine dicke Bohlenthüre konnte doch kein Christenmensch sehen! Aber es wollte auch durchaus der Morgen nicht kommen, an welchem man den Herrn mit umgedrehtem Genick in seinem Zimmer fand – im Gegentheil, es war, wie gesagt, als lebe er neu auf.

Und der Großpapa, der in der „Unglücksnacht“, von Hermsleben kommend, gar nicht vom Pferde gestiegen, sondern gleich nach der Stadt weiter geritten war, er schäkerte und scherzte auch wieder in seiner derbjovialen Weise, aber an dem Tage, wo sein Liebling zum erstenmal die ganzen Nachmittagsstunden außer Bett sein durfte, da brannte ihm doch der Boden unter den Füßen, und er ritt auf und davon. Der infame Schreihals, das verzogene Beest in der oberen Etage jage ihn aus seinen eigenen vier Pfählen, sagte er noch lachend vom Pferde herunter; und die Frau Amtsräthin stand oben am Fenster und streichelte ihren Papagei und reichte ihm mit zierlich gespitzten Fingern ein Stückchen Zucker.

Zwei Tage nachher reiste auch Herr Lamprecht fort – auf lange, sagten seine Leute im Komptoir ... Die kleine Margarete sah verwundert in sein Gesicht, als er sich abschiednehmend über sie bog und ihr die herrlichsten Dinge zu schicken versprach. So habe sie den Papa noch nie gesehen, so „schrecklich vergnügt“ und so wunderlich mit seinen funkelnden Augen, meinte sie.

„Das glaub’ ich gerne,“ sagte Tante Sophie. „Er freut sich, daß sein kleiner Ausreißer wieder gesund ist, und wenn er die Geschäftstour hinter sich hat, dann geht er nach Italien, und wohl noch weiter. Er will sich wieder einmal die Welt ansehen, und er hat Recht! Nach der Angstzeit ist ihm der Spaß zu gönnen – wir Alle haben auf lange genug. Ja, Gretel, an den Bleichtag werd’ ich denken, so lange mir ein Auge im Kopfe steht!“ –

Und die Linden vor der Weberei hatten sich inzwischen sommerlich verdunkelt; aus dem Rosenlaub leuchteten nur ganz vereinzelt, wie vom Himmel gefallene Blutstropfen, die Blüthen des Jacqueminot, und auf den glitzernden Wassern des Brunnenbassins schwammen schon die ersten herabgewehten herbstgelben Blättchen, als die kleine Genesene ins Freie entlassen wurde. Es war Vieles anders geworden, am verwunderlichsten ober war es doch, daß der Papa da oben gewohnt hatte, wo nun, nach seiner Abreise, gerade gründlich gelüftet wurde. Die Fenster standen weit offen, man sah die wundervolle Malerei am Plafond des großen, dreifensterigen Wohnzimmers, und im anstoßenden Gemach den Baldachin eines grünseidenen Himmelbettes. Und auf den Fenstersimsen standen und lagen behufs des Abstäubens allerhand moderne Gegenstände, Rauch-Utensilien, Statuetten, Albums und ganze Stöße von Zeitungen – Herr Lamprecht hatte sich die verfehmten Räume vollkommen wohnlich und nach Bedürfniß eingerichtet.

Die Kleine sah nachdenklich hinauf – aus dem Zimmer mit dem herrlichen Deckengemälde war die Verschleierte geschlüpft, es war die zweite der Thüren im Korridor gewesen, hinter welcher der kleine Fuß im zierlichen Hackenschuh zum Vorschein gekommen war. Seit sie wieder gesund war, wußte sie das Alles ganz genau, allein sie sprach nicht mehr darüber, aus Verdruß, weil Niemand auf ihr Fragen und Erzählen einging – sie wußte ja nicht, daß die Aerzte erklärt hatten, die „Vision“ im Korridor sei bereits der Ausbruch ihrer nervösen Krankheit gewesen. Und so wurde der ganze Vorgang mit seinen unglücklichen Folgen todtgeschwiegen, wie auch nie wieder ein Wort über das Unterbringen der „unmanierlichen Grete“ in einem Institut verlautete.

Auf dem offenen Gang des Packhauses war es auch todtenstill, nur der lustige Sommerwind fuhr manchmal durch das grünschuppige Geschlinge des Pfeifenstrauches, stäubte es muthwillig aus einander und erregte ein flüsterndes Gepläpper der zurückfallenden Blätterzungen ... In der hübschen Stube voll Resedodüfte ober saß gewiß die Frau mit dem lieben zärtlichen Muttergesicht und trauerte; denn die schöne Blanka war nun auch fort; sie war heute früh abgereist und „wohl wieder in Kondition nach dem weltfremden Engelland gegangen“, wie Bärbe heute Morgen zu Tante Sophie gesagt hatte; und darüber war die kleine Margarete aus ihrem halben Morgenschlaf emporgefahren und hatte still, damit die Tante und Bärbe es nicht hören sollten, in ihr Kissen hineingeweint. In diesem Augenblick aber, wo Reinhold in das Haus gegangen war, um seinen Baukasten zu holen, und das kleine Mädchen allein unter den Linden saß, kam die alte Köchin über den Hof her, die Hand unter der Schürze und mit einem wahren Inquisitorenblick die Fenster der obersten Etage im Vorderhaus streifend.

„Fräulein Sophie weiß drum und will, daß ich Dir’s geben soll, Gretchen; aber die Frau Amtsräthin braucht’s nicht gerade

[76]

Auf dem Eise.
Nach dem Oelgemälde von Friedrich Bodenmüller.

[77] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [78] mit anzusehen,“ sagte sie. „Wie Du krank warst, da hat das schöne Mädchen dort auf dem Gange gar manchmal stundenlang auf mich gelauert, weil ich ihr immer sagen mußte, wie es gerade um Dich stand. In den Hof ’runter gekommen ist sie kein einziges Mal, so lange sie auch dagewesen ist – du lieber Gott, freilich, Dein Papa und die Großmama sind stolze Leute und leiden keine Zuthulichkeit und Dreistigkeit – nun aber heute in aller Frühe, wie ich das Kaffeewasser am Brunnen holte, da kam sie über den Hof her, schon im Schleierhut und mit der Reisetasche, und blaß wie der Tod und konnte aus keinem Auge sehen vor Weinen, weil’s ja gerade fortgehen sollte in die weite Welt. Und sie sagte, ich sollte Dich vieltausendmal grüßen und Dir das geben.“

Sie zog die Hand unter der Schürze hervor und legte ein kleines, weißes Packet auf den Gartentisch – jubelnd zog die Kleine ein gesticktes Margaretentäschchen aus dem Papier.

„Still, still, Gretchen – mußt nicht so schreien!“ mahnte Bärbe. „Das war gar eine eigene Geschichte heute früh, und schön war’s nicht von der Frau Amtsräthin, nein – ‚Alles was recht ist‘, sag’ ich immer! ’s ist ja doch kein Unglück, wenn der junge Herr Herbert auch gerade in dem Moment mit seinem Trinkglas ’runter an den Brunnen kommt, wie er es ja jeden Morgen die ganzen letzten Wochen gethan hat! Er sah ganz krank aus, wie eine Leiche, und kam auf das Mädchen zu – ich glaube, er hat ’was sagen wollen, vielleicht ‚glückliche Reise‘, oder sonst eine Höflichkeit; aber da stand auch schon die Frau Amtsräthin da, hat noch das Nachtmützchen aufgehabt, und der Schlafrock hat ihr um den Leib gehangen, als ob sie geradeswegs aus dem Bette hineingefahren sei, und Augen hat sie gemacht, als wollte sie das Mädchen aufspießen. Die hat sich aber nur tief vor ihr verneigt und ist zu ihren Eltern gegangen, die im Thorweg auf sie gewartet haben – weißt Du, Gretchen, unsere Frau Herzogin kann sich nicht stolzer und vornehmer haben, als die Malerstochter, von der Schönheit gar nicht zu reden; und es kann wohl sein, daß das Stolze an ihr Deine Großmama geärgert hat, denn eh’ ich nur recht wußte wie, hat sie das Papier in meiner Hand aufgerissen und hineingeguckt.

‚Fürs Gretchen ist’s, Frau Amtsräthin!‘ sag’ ich.

‚So?‘ sagt sie ganz laut und böse. ‚Wie kommt denn Fräulein Lenz dazu, meiner Enkelin ein Andenken zu schenken?‘ Und das hat das arme Mädchen noch in ihre Ohren hineingehört und Vater und Mutter auch ... Und den jungen Herrn hat’s gerade so gedauert wie mich – er hat schreckliche Augen gemacht und ist ins Haus gestürmt ... So, das war die Geschichte, Gretchen! Die Frau Amtsräthin wollte mir zwar das Packetchen partout wegnehmen, aber ich hab’ Fersengeld gegeben und Fräulein Sophie sagt, sie sähe gar nicht ein, warum Du das Täschchen nicht tragen solltest.“

Sie ging wieder in ihre Küche, und die kleine Margarete sann und grübelte. Das Herz that ihr weh, und Zornesthränen stiegen ihr auf, weil die guten Leute im Packhaus gekränkt worden waren. Und Bärbe hatte Recht, Herbert sah ganz anders aus, so blaß und so schrecklich ernsthaft; er sprach mit Niemand mehr, nicht einmal mit Reinhold, der doch sein Liebling war. Ja, die Großmama! Sie konnte manchmal so furchtbar strenge Augen machen, und davor fürchtete sich der große Primaner Herbert auch – das hatte die Kleine wohl bemerkt ... Aber es half doch Alles nichts, und wenn die Großmama noch so sehr zankte und noch so schlimme Augen machte, sie trug das Täschchen doch, sie trug es alle Tage, auch wenn einmal der Papa von seiner Reise zurückkam und sie ausschalt; denn stolz war er, der Papa, vielleicht noch schlimmer als die Großmama; das hörte man an seinem barschen Ton, wenn er Befehle gab, und außerdem sprach er nie mit den Arbeitern, die unter ihm standen. Auch die Malersleute waren ihm zu gering; er sah immer so aus, als wisse er gar nicht, daß Jemand im Packhaus wohne, und auf dem offenen Gange mochte sein, wer wollte, er grüßte nie hinauf. An dem Unglücksabend war er ja auch nicht in das Haus gegangen und hatte lieber im dunklen Hofe gewartet, bis sie herausgebracht worden. Nur während ihrer Krankheit hatte er nicht so stolz ausgesehen; sie hatte ihm sogar, als es besser mit ihr ging und er allein an ihrem Bett gesessen, von der hübschen Stube im Packhaus erzählen dürfen und von dem schönen Mädchen, wie es so weiß und mit offenem Haar vom Gange hereingekommen, wie es ihren Kopf so fest an die Brust gedrückt habe, daß ihr das weiche, dicke Haar ganz schwer über das Gesicht gefallen sei. Und da hatte der Papa gar nicht gezankt – er war ganz still gewesen; er hatte sie auf die Stirn geküßt und gerade so fest an sein starkpochendes Herz gedrückt, wie es die schöne Blanka gethan. Und darüber verwunderte sie sich heute noch ...


7

Die Stadt B. war nicht die Residenz des Landes; aber ihre schöne, gesunde Lage machte sie zum bevorzugten Sommeraufenthalt des regierenden Herrn, trotzdem das Schloß, auch in seinem Aeußeren nichts weniger als imposant, für eine größere Hofhaltung kaum den nöthigen Raum bot ... In den letzten drei Jahren übrigens machte sich „das nahe Zusammenrücken“ der Sommergäste im Schlosse nicht mehr so nöthig – die beiden schönen Prinzessinnen waren, kaum dem Kindesalter entwachsen, weggeholt worden und hatten, selbst für Prinzessinnen, glänzende Partien gemacht, und der Erbprinz befand sich auf Reisen.

Ob nun bereits der Wonnemond durch weiche Lüfte und süße Düfte seine köstlich klingende Bezeichnung verdiente, oder ob er, noch über liegengebliebene Schneefelder der Berggipfel einherziehend, einen rauhen Aprilathem in die letzten, zum flachen Land auslaufenden Thäler des Thüringer Waldes hineinblies, gleichviel – pünktlich mit dem fünfzehnten Mai rückte alljährlich die Wagenkolonne aus der Residenz in das hübsche B. ein, und bald darauf sah man die Schlöte des Schlosses gastlich dampfen, die wohlbekannte Livrée der herzoglichen Bedienten tauchte in den Straßen auf, und vor den vornehmsten Häusern hielt dann und wann eine Equipage – die Hofdamen machten Besuche. Auch das Lamprecht’sche Haus war eines der wenigen bürgerlichen, denen diese Auszeichnung widerfuhr – die Frau Amtsräthin Marschall war heute noch so wohlgelitten bei Hofe wie vor zehn Jahren; denn volle zehn Jahre waren verstrichen seit jenem unglückseligen Bleichtag, an welchem die kleine Margarete aus Furcht vor dem Institut nach Dambach gelaufen war.

Die herzogliche Gnadensonne bestrahlte selbstverständlich auch Alles, was der alten Dame verwandtschaftlich nahe stand; so zum Beispiel wurde jetzt die Firma Lamprecht u. Sohn durch einen Kommerzienrath repräsentirt, den einzigen der Stadt B., denn Serenissimus kargte sehr mit diesem Titel-Geschenk. Herr Balduin Lamprecht war auch gegen die seltene Anszeichnung durchaus nicht unempfindlich; seine Geschäftsfreunde behaupteten, er trüge seine Nase so hoch, daß kaum noch mit ihm auszukommen sei. Früher habe er doch wenigstens verbindliche Manieren gehabt, aber auch die seien untergegangen in einem abstoßend finsteren Hochmuth. Seit Jahren hatte ihn Niemand lächeln sehen. Er reiste viel in Geschäften und war thätig wie kaum in den ersten Jahren seiner Selbständigkeit; aber wenn er heimkam, da wurde es förmlich dunkel im Hause, da sanken die Stimmen der Untergebenen zum Flüstern herab, in Aller Mienen lag ängstliche Spannung, und die Fußtritte klangen gedämpft, als fürchte Jedes, einen in irgend einer Ecke lauernden bösen Geist aufzuscheuchen. „Die leidige Hypochondrie – ein Lamprecht’sches Erbstückchen!“ sagte achselzuckend der Hausarzt im Hinblick auf die düstere Stimmung des Heimgekehrten, der sich oft tagelang einschloß. „Tüchtig Wasser trinken und Holz sägen, das wäre am Platze!“ Und die Frau Amtsräthin nickte eifrig mit dem Kopfe dazu – einzig und allein das alte Erbübel war’s – sonst absolut Nichts! – Tante Sophie aber lächelte ingrimmig, wenn ihr dieser salomonische Ausspruch zu Ohren kam. „Ja wohl, sonst absolut nichts!“ pflegte sie ihn ironisch zu bekräftigen. „Beileibe nicht etwa das Bischen Sehnsucht nach einem richtigen Familienleben – ei bewahre! Der Mann muß ja Gott danken, daß er einmal vor so und so viel Jahren eine Frau gehabt hat, und kann nun bis an sein seliges Ende von der Erinnerung zehren ... Der Fanny muß doch die letzte Bosheit der seligen Judith gar zu gut gefallen haben, weil sie’s gerade so gemacht hat. Na meinetwegen, ich wollte nichts sagen, wenn sie dem armen Kerl, dem Wittwer, wenigstens ein paar stramme Buben hinterlassen hätte; aber der Reinhold, das Angstmännchen – du lieber Gott, dem sah man’s ja schon im Wickel an, daß es irgendwo haperte!“

Reinhold Lamprecht war in der That das Angstkind des Hauses verblieben. Er litt an einem Herzfehler, der ihm jede [79] geistige und körperliche Anstrengung verbot. Er selbst fühlte die Entbehrung aller schönen Jugendfreuden wohl kaum, denn sein ganzes Dichten und Trachten ging im Geschäft auf. Wenn aber der Kommerzienrath den langen, bleichen, dünnen Zahlenmenschen mit der kühlen Gemessenheit eines Greises am Schreibtisch stehen sah, unbekümmert, ob draußen Blüthenschnee von den Bäumen flog, oder wirkliche winterliche Flocken vor den Scherben wirbelten, da ging es wie Zorn und Grimm durch seine Züge, und ein bitter verächtlicher Blick streifte das Häuflein Gebrechlichkeit, welches dereinst das Haus Lamprecht repräsentiren sollte. Aber er sprach nie darüber; er ballte nur im Stillen krampfhaft die Faust, wenn die Frau Amtsräthin sich freute, daß die vornehme Ruhe der seligen Fanny in so frappanter Weise auf den Sohn übergegangen sei. Und eigentlich kränklich war der Stammhalter der Lamprechts nach ihrem Dafürhalten absolut nicht – Gott behüte! Er war nur zarter, empfindlicher Konstitution – eine Frau wie Fanny konnte selbstverständlich nicht die Mutter von robusten Bauernkindern gewesen sein. Margarete war ja auch bleich und schmächtig, aber kerngesund. Man mußte nur ihre Reisebriefe lesen – das Mädchen ertrug ja Strapazen und Anstrengungen wie ein Mann! ... Diese Bravourstücke waren übrigens durchaus nicht nach dem Geschmack der alten Dame; der Entwickelungsgang der Enkelin mißfiel ihr gründlich. Ein langjähriger Aufenthalt in einem vom Adel frequentirten, etwas orthodox angehauchten Pensionat, dann Vorstellung bei Hofe, und nach einigen Jahren der Auszeichnung und des Triumphes als Abschluß eine gute Partie – so mußte eigentlich die Jugendzeit der einzigen Tochter eines reichen Hauses verlaufen. Aber schon der Plan bezüglich des Institutes hatte ja an Margaretens Trotzkopf scheitern müssen, und das Mädchen war zum stillen Aerger der Großmama bis über das vierzehnte Lebensjahr in seiner „entsetzlichen Urwüchsigkeit“ verblieben. Dann war allerdings ein plötzlicher Umschwung eingetreten.

(Fortsetzung folgt.)

Ferienstudien am Seestrande.

Von Carl Vogt.
Weiber und Männlein.

Wir sind durch den Anblick unserer eigenen Gattung sowie der uns näher stehenden Säugethiere und Vögel, besonders unserer Hausthiere, so sehr daran gewöhnt, das männliche Geschlecht als das stärkere, größere, ja selbst in bestimmter Richtung weiter ausgebildete anzusehen, daß, wir uns nur schwer mit Thatsachen befreunden können, welche uns ein umgekehrtes Verhältniß vor Augen führen.

Das Weibchen der grünen Bonellie in halber Größe.

Der neugeborene Knabe wiegt etwas schwerer, ist etwas länger, als das neugeborene Mädchen (es kann hier natürlich nur von Mittelzahlen, aus Tausenden von Wägungen und Messungen entnommen, die Rede sein), und dieses Verhältniß erhält sich das ganze Leben hindurch. Unsere Hausthiere weichen von dieser für den Menschen geltenden Regel nicht ab, ich brauche nur an Stier und Kuh, Hengst und Stute, Bock und Ziege, Hund und Hündin, Kater und Katze, Hahn und Henne zu erinnern. Werfen wir den Blick auf die Thiere des Waldes und Feldes, findet auch hier das Gesetz, das wir uns aus der nächsten Umgebung abgeleitet haben, in den meisten Fällen seine Anwendung, bei Hirsch, Reh, Hase und Wildschwein, wie bei Fasanen, Auerwild und Enten. Doch fällt uns hier schon eine Ausnahme auf: die männliche Raubvögel sind stets kleiner, schwächer, wenn auch meist intensiver gefärbt, als die Weibchen. Die meisten Lehrbücher der Naturgeschichte fassen in der That dies Verhältniß als eine Ausnahme auf, und der Leser denkt gutmüthig: Ja, ja! Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wir können noch weiter gehen. Es ist unleugbar, daß in allen angeführten Fällen das weibliche Geschlecht eine größere Aehnlichkeit mit den Jugendformen hat, als das männliche. Am leichtesten läßt sich dies in der Befiederung, der Farbe und Zeichnung der meisten Vögel nachweisen, aber auch genauere Untersuchung des inneren Baues führt zu demselben Resultate. Die weibliche Schädelbildung ähnelt der kindlichen; die meisten Organe zeigen bei dem weiblichen Geschlechte, wenn es dem männlichen gegenüber gestellt wird, ein mehr oder minder auffälliges Stehenbleiben auf der Stufe des Jugendalters. Ich will gern zugeben, daß die Weiterentwickelung des männlichen Geschlechtes eine einseitige ist, daß sie namentlich in den Charakteren hervortritt, welche mit der größeren Ausbildung der Muskelkraft, der Bewaffnung zu Schutz und Trutz in Verbindung stehen; aber trotz der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter, deren Anhänger ich bis zu einem gewissen Grade bin, ist diese weitere Entwickelung des männlichen Geschlechtes thatsächlich vorhanden.

Wie aber, wenn das Verhältniß sich umkehrte, wenn die Ausnahme, welche die Raubvögel bieten, nicht nur Regel würde, sondern sogar sich ins Ungeheuerliche aufbauschte in solcher Weise, daß das Weib eine Riesin würde gegenüber dem zwerghaften Manne, und daß letzterer nachweisbar auf einer niedrigen Stufe der Entwickelung stehen bliebe, während das Weib von der Larvenform, die dem Männlein zeitlebens erhalten bleibt, weiter fortschritte zu höheren Stufen der Ausbildung?

Das Männchen der grünen Bonellie, etwa fünfzigfach vergrößert.

Solche Vorkommnisse sind nicht selten.

„Was für Streiche machen Sie uns!“ sagte mir lachend Herr Faye, der berühmte Astronom in Paris, als ich ihn in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften begrüßte. „Sie unterminiren die Suprematie des männlichen Geschlechts, auf der alle unsere socialen Einrichtungen beruhen!“

„Ich wüßte nicht! Woraus schließen Sie das?“ fragte ich zurück.

„Freilich,“ antwortete er. „Ich komme eben von Cette, wohin mich mein Amt als Generalinspektor der höheren Schulen rief. Man hat mir dort in der zoologischen Station Zeichen und Wunder von einem Wurme erzählt, den Sie entdeckt hätten und dessen mehrere Fuß langes Weibchen seine mikroskopisch kleinen Männchen in einer Tasche mit sich herumtrüge. Was wird da aus unserer Ueberlegenheit? Wie nennen Sie die Bestie? Warum haben Sie der Akademie noch keine Mittheilung von einer so unerhörten Beobachtung gemacht?“

„Ganz einfach, lieber Freund, weil ich nichts entdeckt habe; weil die Sache längst bekannt ist, weil Ihr Kollege Lacaze Duthiers schon vor Jahren eine mustergültige Anatomie des Weibchens veröffentlicht hat, und weil ich weiter nichts gethan habe, als den Wurm aus den Händen des Fischers, der ihn freilich nicht kannte und zum ersten Male gefunden hatte, in Empfang zu nehmen und den gerade anwesenden Studenten zu demonstriren.“

„Sie sprechen nur vom Weibchen. Hat Lacaze auch das Männchen untersucht?“

„Nein! Gesehen hat er es wohl, aber für ein schmarotzendes Eingeweidewürmchen gehalten. Seine wahre Natur hat er nicht erkannt.“

„Merkwürdig!“

[80] „Aber doch leicht erklärlich,“ fiel ich ein. „Als Lacaze seine Monographie ausarbeitete, konnte ihm der Gedanke gar nicht aufkommen, daß er ein verkümmertes, in seinem äußeren und inneren Bau von dem Weibchen gänzlich verschiedenes Männchen vor sich habe. Um so weniger, als er diese Würmchen in dem Schlunde der Weibchen fand. Man kannte damals und noch lange nachher nur einige wenige Beispiele von Zwergmännchen bei an Fischen schmarotzenden Krustenthierchen und war durchaus in der Anschauung befangen, daß sie nur bei diesen vorkommen könnten. Dies ging soweit, daß man glaubte, die Räderthierchen, bei welchen ebenfalls solche verkümmerte Männchen vorkommen, mit aus diesem Grunde für Krustenthierchen halten zu müssen. Ich habe manchen scharfen Widerspruch von gewiegten Forschern erfahren müssen, als ich dieser Meinung entgegentrat. Jetzt rechnet Jedermann mit mir die Räderthierchen zu den Würmern.“

„Was Sie nicht sagen!“

„Wir stehen, trotz allen Strebens nach Selbständigkeit, doch immer mitten in den Anschauungen unserer Zeit und folgen oft unbewußt den Strömungen, die sie erzeugt.“

„Sehr wahr! Aber, um auf unseren Wurm zurückzukommen, wie nennen Sie ihn?“

„Die grüne Bonellie (Bonellia viridis). Mit diesem Namen hat ihn ein italienischer Naturforscher, Rolando, schon im Jahre 1822 zu Ehren eines anderen Forschers, Bonelli, getauft.“

„Kommen Sie,“ sagte Faye, „Sie müssen mir das Thier näher erklären und zeichnen, denn ich kann mir keine rechte Vorstellung davon machen!“

Ich entwarf aus dem Gedächtniß einige freilich sehr unvollkommene Skizzen mit der Feder auf ein Blatt Papier und erläuterte sie, so gut ich konnte.

Die weibliche Bonellie ist ein stattlicher Wurm von sehr sonderbarer Gestalt und tief saftgrüner Farbe. An dem sackartigen dicken Körper, der seine Form durch unaufhörliche Zusammenziehungen und Ausdehnungen beständig ändert, aber in der Ruhe etwa einer unreifen Citrone ähnlich sieht, sitzt ein Rüssel, der sich an seinem Ende in zwei blattartige Lappen gabelt. Mit dem dicken Körper gräbt sich der Wurm in festeren Schlamm, in Sand, ja selbst in die Höhlungen weicher Kalksteine oder in die Lücken zwischen den so häufigen Kalk-Algen ein und mit dem Rüssel tastet er auf dem Meeresgrunde umher.

Der Rüssel windet sich dabei wie eine Schlange hin und her und zieht oft den Körper, der durch seine Kontraktionen nachhilft, langsam hinter sich her. Die Ausdehnbarkeit des Rüssels streift an das Unglaubliche. Große Bonellien, deren Körper 5 bis 6 Centimeter in der Länge mißt, können den Rüssel fast bis zu einem Meter ausdehnen und dann wieder so zusammenziehen, daß die beiden Flügelblätter des Endes fast stiellos an dem Körper anzusitzen scheinen. In Neapel habe ich mich oft an dem Spiele dieses Organes ergötzt, während ich die Würmer in meinen Aquarien lebend erhielt. Die Thiere tasteten damit offenbar den ganzen Bodenraum des geräumigen Beckens aus, das mit strömendem Seewasser gespeist war und worin sie sich lange am Leben erhielten. Wie es scheint, findet sich die Bonellie nur an sehr vereinzelten Punkten in geringer Tiefe über die Küsten des Mittelmeeres zerstreut. Lacaze fand sie im Hafen von Mahon auf den balearischen Inseln; dem alten Fischer der zoologischen Station in Cette, der seit Jahren den Grund des Etang de Thau nach Clovisses, den in der Provence beliebten eßbaren Muscheln, durchkratzt, war der Wurm ganz unbekannt geblieben, bis er ihn zufällig auffand. Da er sich aber die Stelle gemerkt hatte, fand er dort später noch einige Exemplare. In dem Busen von Neapel war seit langer Zeit nur ein einziges Exemplar vorgefunden und erst nach angestrengtem, mehrere Jahre hindurch fortgesetztem Suchen wurden einige Stellen auf den sogenannten Secca’s (erhabene Felsrücken) entdeckt, wo man fast sicher mit dem Schleppnetze einige, freilich meist ihres Rüssels beraubte Bonellien heraufbringt. Aehnlich verhält sich das Vorkommen in der Nähe von Marseille und Triest. So mögen im Mittelmeere noch manche beschränkte Fundstellen existiren, die der Zufall entdecken lassen wird.

Sehen wir uns nun das Thier etwas näher an. Die beiden Lappen des Rüssels sind platte Ausbreitungen, an ihrem inneren Rande wellenförmig eingekerbt; der Rüsselstiel ist ebenfalls abgeplattet, wie ein in der Mittellinie dickeres Bändchen; seine Ränder aber schlagen sich nach innen ein, um so eine Rinne zu bilden, die mit in steter Bewegung befindlichen Flimmerhaaren ausgekleidet ist und an dem Körper in der engen, trichterförmigen Mundöffnung endet. Die Wimperhaare erzeugen einen beständigen Strom, der kleine Körperchen, Zellen von Algen, Infusionsthierchen etc. zu dem Munde hinführt. Der Darm dreht sich von diesem Munde aus in doppelter Spiralwindung durch die geräumige Leibeshöhle, um endlich an dem Hinterende des Thieres in den After auszumünden, an welchem innen sonderbare Büschel von Organen sitzen, die mit bewimperten Trichtern in die Leibeshöhle sich öffnen und dieser wohl Seewasser zuführen mögen. Der saftgrüne Farbstoff des mit Wärzchen dicht besetzten Körpers sitzt großentheils in der Oberhaut und löst sich leicht ab. Die Haut selbst ist dicht und fest.

Das Nervensystem besteht aus einer auf der Mittellinie der inneren Bauchfläche gelegenen Ganglienkette, die eine weite Schlinge in den Rüssel sendet. Von Sinnesorganen, außer mikroskopischen Tastorganen, keine Spur; weder Augen, noch Ohrbläschen. Ebenso wenig finden sich Athemorgane, wenn man nicht die an dem Mastdarme sitzenden Wimperbüschel dafür halten will. Blutgefäße sind vorhanden; sie treiben das farblose Blut durch wellenförmige Zusammenziehungen um. Der eigenthümlich gebildete Eierstock liegt neben dem Nervenstrang und dem Hauptblutgefäße in den Windungen des Darmes verborgen. Die reifen Eier lösen sich los, fallen in die Leibeshöhle, werden dort einige Zeit hindurch umgetrieben und dann von einem mit einer weiten Trichtermündung versehenen Eibehälter aufgenommen, der sich unter dem Munde nach außen durch einen kleinen Schlitz öffnet. In diesem Eibehälter nun leben die reifen Männchen als wahre Schmarotzerthiere. Sie befruchten die Eier, welche dann nach außen entleert werden. Die Jungen, welche sich in diesen Eiern bilden, durchlaufen, frei im Meere schwimmend, eine Reihe von Metamorphosen, bevor sie ihre definitive Gestalt erhalten, in welcher sie zum Schwimmen unfähig sind und nur in der beschriebenen Weise auf dem Grunde langsam umherkriechen können. Der Rüssel mit den Endlappen bildet sich bei den weiblichen Larven erst ganz zuletzt aus; anfänglich haben dieselben einen eiförmigen, etwas in die Länge gezogenen Körper, der von zwei Wimperreifen umgeben ist und an dem abgerundeten Kopfende zwei Augen trägt.

Das ist in Kurzem der Bau und die Geschichte des Weibchens, wie sie Spengel uns kennen gelehrt hat. In den meisten Punkten schließt sich die Bonellie eng an eine kleine Gruppe von Würmern an, welche man die Sternwürmer oder Gephyreen genannt hat.

Aber das Männchen?

Ich hätte gerne, um das Verhältniß in Beziehung auf die Größe recht deutlich hervortreten zu lassen, neben die in halber natürlicher Größe ausgeführte Zeichnung des Weibchens ein in gleichem Maßstabe gezeichnetes Bild des Männchens gestellt. Es war nicht möglich, denn ein solches Bild wäre nicht einmal so lang geworden, wie ein Komma des Druckes der „Gartenlaube“, und mit Kommas hat man überhaupt in den jetzigen Cholerazeiten nicht gerne zu thun. Das Männchen erreicht in der That höchstens die Länge von einem Millimeter; es ist sechshundertmal bis eintausendmal kleiner als das Weibchen! Meist findet sich ein halbes Dutzend etwa dieser kleinen, wie ein gelbliches Würmchen aussehenden Männchen vor, die mittelst eines allgemeinen Flimmerüberzuges, wie ihn viele Infusorien und die Strudelwürmer besitzen, munter in der Flüssigkeit umherschwimmen, welche den Schlund erfüllt oder die in dem Eibehälter angehäuften Eier umspült. Es gehört gewiß nicht zu den geringsten Verdiensten Kowalewski’s, des ausgezeichneten russischen Forschers, daß er, wenn ich nicht irre, im Jahre 1873 in diesen schmarotzenden Strudelwürmchen ähnlichen Wesen die Männchen des sie beherbergenden Kolosses erkannte, die später von Vejdowski, Marion, Selenka und Spengel noch näher untersucht wurden. Man hat bis zu vierzig dieser Thierchen in dem Eibehälter gesehen – ich muß gestehen, daß ich nie mehr als acht darin gefunden habe.

Man kennt jetzt die Anatomie und Entwickelungsgeschichte dieser Zwerge ziemlich vollständig. Sie haben etwa die Gestalt einer Rübe mit abgerundetem Vorder-Ende und zugespitztem Schwanze. Durch den Besitz eines allgemeinen Wimperüberzuges ähneln sie freilich den Strudelwürmern; im Uebrigen aber zeigt ihr Bau die Grundzüge der Organisation des Weibchens, wenn auch mit bedeutenden Verschiedenheiten in der Ausführung. Die

[81]

Chloris.
Nach einem Oelgemälde von R. Sorbi.

[82] Haut, die Muskeln, das Nervensystem, die Fortpflanzungsorgane verhalten sich in entsprechender Weise, der Darm dagegen zeigt sich wesentlich verschieden; es ist ein gerades, mit öliger Flüssigkeit gefülltes, oben und unten geschlossenes Rohr ohne Mund und After. Das Würmchen nährt sich nur durch Austausch und Aufsaugung der Flüssigkeit, in welcher es schwimmt, ähnlich wie der Bandwurm, bei welchem sogar jede Spur eines Darmkanals verschwunden ist. Man kann sagen, daß die meisten Eigenthümlichkeiten, durch welche der Bau des winzigen Männchens von demjenigen des riesigen Weibchens sich unterscheidet, einerseits auf Erhaltung von Charakteren des Jugendzustandes, der Larve beruhen, wie z. B. das Fehlen des Rüssels, andrerseits und großentheils aber Wirkungen des Schmarotzerthums sind, in welchem das Männchen die größte Zeit seines wahrscheinlich kurzen Lebens verbringt. Es schwimmt nur kurze Zeit als Larve umher; dann heftet es sich an die Außenseite des Rüssels der älteren, reifen Weibchen an dessen Wurzel an und gleitet von dort aus in den Eibehälter, nachdem es längere Zeit in dem Munde und Schlunde des Weibchens sich aufgehalten und dort seine letzten Metamorphosen überstanden hat. Successive und fortschreitende Rückbildung der meisten Organe, einseitige Ausbildung der Fortpflanzungsapparate sind die gewöhnlichen Folgen des Schmarotzerthums, und wir sehen diese auch bei dem Männchen der grünen Bonellie deutlich ausgeprägt.

(Schluß folgt.)




Kleine Blumen, kleine Blätter.

Allerlei Schelmenweisheit von Edwin Bormann.


 Getrost!

Kommt dir auch manchmal ein leises Beben,
Tritt, liebe Seele, nur tapfer ins Leben
Und lasse die Augen munter schweifen,
Auf daß du lernst die Welt begreifen!
Und meine nicht, hast du was Bittres vernommen,
Es müsse dein Herz gleich zu Schaden kommen.
Denn Verstand und Herz, sie sind nimmer zu trennen;
Lerne getrost nur die Dinge erkennen,
Und ehe du’s ahnst, erblüht im Gemüthe
Dir heimlich die Blume Herzensgüte.


 Lesefrucht.

’s ist mit dem Lesen ein eigen Ding.
Sagt, ob’s euch nicht oft grad so ging:
Was gar so einfach, klar und schlicht,
Dünkt erst uns was Besondres nicht;
Und doch ist’s gerade das gewesen,
Was dann nur wieder und wieder gelesen.
Warum? – Ei drum, weil’s eben gar
Warum? ESo schlicht und klar.


 Zum Kapitel der Weltklugheit.

Wer allzuleicht vertraut der Welt,
Wohl manchmal in die Dornen fällt.
Wer aber, daß ja ihm kein Leids geschieht,
Voll Mißtraun auf all’ und jedes sieht.
Der meint, wer weiß wie klug zu sein,
Und – bettet sich gleich in die Dornen hinein.


 Doch und Wenn.

Da giebt es Leutchen - mit glühenden Worten
Loben sie allzeit uns allerorten;
Aber was es auch immer mag sein,
hinkt noch ein „doch“ und ein „wenn“ hinterdrein.

Und strahlte die Sonne im himmlischen Blau
Vom Morgenduft bis zum Abendthau –
Ihr volles Lob würde sie doch erst verdienen,
Wenn sie noch ein wenig schöner geschienen.


 Humor und Satire.

Fast dünkt’s mich ein Majestätsverbrechen
In einem Athem sie auszusprechen.
Denn wo die Satire sich blicken läßt,
Da welkt das Gras wie vom Hauche der Pest;
Doch Rosen streut auf all seinen Pfaden
Humor, der lächelnde König der Gnaden.


 Im Schritt.

Fehlen zum Fluge dir die Schwingen,
Versuch’s im Schritt ans Ziel zu dringen
Und laß es dir zum Troste sein:
Erkämpftes Gut ist doppelt dein!


 Manneswort.

Der steht ein Mann vor Männern da –:
Zu froher That ein freudig Ja;
Doch will’s die Zeit, und muß es sein –
Doch will’s dEin kräftig Nein!




Lotti.

Skizze von Max Bernstein.

Liebst du die Kinder? Wenn du sie nicht liebst, dann kennst du sie nicht. Dann hast du eine ganz falsche Meinung von ihnen.

Da ist zum Beispiel die kleine Lotti. Ein schönes Kind, mit ihren losen, langen dunklen Haaren, die immer so ungeduldig hin und her geschleudert werden, wenn sie das Trotzköpfchen schüttelt; mit ihren tiefen dunklen Augen, die eine besondere Fähigkeit besitzen, versteckte süße Sachen auszufinden; mit ihrem rosigen Mündchen, dem diese süßen Sachen so gut schmecken, und das sich zum Schmollen und Weinen verzieht, wenn man sie ihm nicht geben will.

Also – wird Einer sagen – ein unartiges, unleidliches Kind!

O nein! Nur ein kindliches Kind; ganz wie sich’s gehört. Der liebe Gott weiß schon, warum er das so eingerichtet hat, daß die Kinder eben – Kinder sind, daß sie manchmal unartig sind und gern naschen und gern fragen …

Das Fragen! Das verstand Lotti. Es machte ihr Spaß. Sie wollte Alles wissen. Sie frug immer. Oft wartete sie die Antwort gar nicht ab. Denn ehe die kam, fiel ihr schon wieder etwas Anderes ein. Dann plapperte sie ... immer zu, immer zu ... aber es hörte sich hübsch an. Sie war lieb und klug.

So klug war sie freilich nicht, daß sie während des Gewitters keine Angst gehabt und allein in der Kinderstube ausgehalten hätte.

Die Mama war gleich nach Tisch ausgegangen, zu Besuch: die Magd war auch nicht da. Es blitzte und donnerte in Einem fort.

Einen Apfel in der linken Hand – den ließ sie trotz aller Augst nicht los – schlich sie aus der Stube, durchs Wohnzimmer, bis zu dem Zimmer, wo der Papa immer schrieb.

Er schrieb auch jetzt. Es war ein Abschiedsbrief – an das Leben. Er war ein reicher junger Kaufmann. Aber damit war es seit einer Stunde vorbei. Er hatte guten Freunden helfen wollen. Die guten Freunde hatten ihn belogen. Sein Reichthum war dahin. Auf dem Tische vor ihm lag das Telegramm, welches ihm sagte, daß er ein Bettler sei. Deßhalb war er, mit seinen dreißig Jahren, nun nicht mehr jung. Seit einer [83] Stunde war er um Jahrzehnte gealtert, gebrochen, fertig mit dem Leben, ein Greis. Wie ein verlorenes Paradies lag die Vergangenheit hinter ihm: sein glückseliges Leben mit Weib und Kind. Sein junges Weib, das nie die Sorge gekannt, dem er ein Dasein voll Sonnenschein verheißen – sie sollte die Nacht des Elends, der Armuth, der Schande kennen lernen!

Der Schande! Denn die Welt verzeiht es nicht, daß ein reicher Mann arm wird, sie stößt ihn aus, sie kennt ihn nicht mehr. Und ihm vollends, der aus gutem Herzen so leichtsinnig Alles hingegeben - wer wird ihm das glauben? Sie werden sagen: Er ist ein Betrüger, er muß ein Betrüger sein. Sie werden ihn verachten.

Und wenn die Welt ihm vergab - konnte er selbst sich vergeben? Konnte er seinem nichts ahnenden Weibe sagen: Darbe, ertrage Alles, um meinetwillen? War er, der sie eben des Glückes beraubt, des Opfers werth?

Das verwirrte seine Gedanken, das trieb ihn in den Tod. Darum schrieb er den Abschiedsbrief. Er marterte sein Gehirn, die rechten Worte zu finden, seinem Weibe auseinanderzusetzen, wie Alles gekommen, und sie um Verzeihung zu bitten. Neben dem Papier, auf das er schrieb, lag die Waffe. Wenn er den Brief beendet hatte, wollte er sie ergreifen, und dann –

Da sah er eine kleine Hand an der Pistole. Er hatte bei dem Tosen des Sturmes das Kind nicht eintreten hören. Nun hielt er erschrocken sein Händchen fest.

„Was willst Du?“ frug er mit rauher Stimme und abgewendetem Gesicht. Er konnte das Kind, das er zur Waise machen wollte, nicht ansehen.

„Ich fürchte mich so,“ sagte sie. „Es blitzt so arg. Ich will bei Dir bleiben.“

Er antwortete nicht, sondern schrieb hastig weiter. Er konnte später immer noch das Kind hinausschicken und dann –

„Papa,“ sagte sie, „was ist denn das?“

„Eine Pistole ... zum Schießen.“

„Wie der Willi vom Christkindl bekommen hat?“ (Der Willi war des Nachbars Kind; seine Holzpistole war ein Weihnachtsgeschenk)

„Ja. Aber sei still, laß mich schreiben.“

Doch es litt sie nicht lange schweigend.

„Papa,“ fing sie wieder an, „hast Du sie auch vom Christkindl bekommen? Thust Du auch schießen damit?“

Er gab keine Antwort. Er schrieb – und schrieb.

„Papa, wer donnert denn immer so?“

„Der liebe Gott,“ sagte er – und schrieb.

„Weißt Du, ich will den lieben Gott bitten, daß er aufhört. Es ist so schrecklich.“

Ihre Lippen bewegten sich leise.

Dann frug sie wieder. „Papa, wann ist denn dem lieben Gott sein Geburtstag? Ich hab’ ihm etwas zum Geburtstag versprochen, wenn er aufhört.“

Er schrieb weiter, schrieb von zerstörtem Leben, Todesqualen und Verzweiflung, während sein Kind neben ihm stand und plauderte.

„Papa, hat der liebe Gott auch Kinder? Die müssen aber schöne Sachen zum Christkindl bekommen! Der liebe Gott hat doch viel schöne Sachen, nicht? Papa, weißt Du nicht, wo der Storch wohnt? Ich hab’ die Mama gefragt, aber sie sagt, er hat mich gebracht und ist gleich wieder fort, ganz weit fort. Ich möcht’ ihn einmal sehen. Der Willi sagt, er hat ihn gesehen. Er weiß aber nicht, ob das auch mein Storch ist.“

Sie wollte endlich in den Apfel beißen. Da fiel ihr ein, daß die Mama ihr verboten hatte, ungeschälte Aepfel zu essen. Sie legte das Händchen auf den Arm des Schreibenden und hielt ihn auf.

„Thu’ mir den Apfel schälen!“

Er wandte sich heftig um und wollte schelten. Als er aber die treuen Augen mit so herzlicher Bitte aufschauen sah, fand er nicht den Muth dazu. Er nahm sein Taschenmesser und begann den Apfel zu schälen. Lotti sah zu.

„Warum haben denn die Aepfel solche Schalen? Erst läßt sie der liebe Gott wachsen und dann soll ich sie doch nicht mitessen. Warum sind sie denn drauf? Gelt, daß sie’s nicht friert?“

„Freilich. wenn’s im Winter kalt ist,“ erwiderte er, ihr den geschälten Apfel zurückgebend.

Nun wollte sie wieder hineinbeißen, besann sich aber anders und frug erst: „Magst was davon?“

Da überkam es ihn; er zog sie an sich, hob sie auf seinen Schoß und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Endlich, endlich konnte er weinen!

Sie glaubte, er fürchte sich vor dem Gewitter, da wurde sie wieder ängstlich, und auch ihre Thränen begannen zu fließen.

„Ach, es ist so schrecklich!“ flüsterte sie. „Du mußt ihm auch was versprechen, daß er aufhört.“

„Was soll ich ihm denn versprechen, Lotti?“

Sie konnte sich nur dessen erinnern, was sie immer versprach, um den Zorn der Eltern zu beschwichtigen:

„Sag ihm nur, Du willst recht brav sein.“

Das traf ihn ins Herz. Brav sein! Aus dem Leben fliehen, Weib und Kind verlassen – war das brav? – Er antwortete nicht.

„Hast Du es ihm gesagt?“ frug sie nach einer kleinen Weile. Und, da eben ein greller Blitz zuckte – „Sag’s ihm doch!“ drängte sie. Und in wachsender Angst begann sie selbst laut zu beten; was ihr eben einfiel ... ihr Nachtgebet ...

„Müde bin ich. geh’ zur Ruh,
Schließe meine Aeuglein zu.
Vater, laß die Augen Dein
Ueber meinem Bette sein.“

Vater! sprach es in seinem Herzen nach. Du bist ein Vater, dieses Kindes Vater, das in vertrauender Zärtlichkeit an deine Brust sich schmiegt, das von dir Schutz und Hilfe erwartet, du aber willst von ihr gehen, nimmer werden deine Augen über ihrem Bette sein, nimmer wirst du wachen über ihren Schlummer, und was auch kommt, Glück oder Unglück, sie wird keinen Vater mehr haben ... doch ist’s nicht besser, als zusehen zu müssen wie sie aufwächst in Armuth und Entbehrung?

Er griff wieder nach der Feder.

„Wenn nur die Mama da wäre!“ seufzte das Kind. „Gelt, Papa. wenn die Mama da ist, fürchtest Du Dich auch nicht?“

„Gewiß nicht,“ sagte er aus tiefster Seele. Was sollte er fürchten, wenn sie da war, sein treues, liebendes Weib, an seiner Seite, mit ihm Alles zu tragen bereit?

Wieder ein Blitz und Donnerschlag. Ein Morgengebet, das sie auswendig gelernt hatte, fiel ihr ein und sie sagte es her, als ob sie ein Gedicht vortrüge, halb singend, die Silben einzeln betonend:

„Lieber Gott, an diesem Morgen
Segne Du die Eltern mein.
Und damit sie ohne Sorgen,
Laß ein gutes Kind mich sein.“

„Und hör’ jetzt auf!“ setzte sie hinzu. Dann legte sie das Köpfchen an des Vaters Brust.

Der aber spann den Gedanken weiter. „Und damit sie ohne Sorgen, laß ein gutes Kind mich sein.“ Bedarf es weiter nichts zum Glücke? Liebende Eltern, ein gutes Kind – ist das alles? Ist das schon das Glück?

Und in seinem Herzen antwortete eine leise Stimme: Das ist das Glück.

Und die Welt? sprach es aus dem unvollendeten Briefe. Armuth und Entbehrung? Kannst du glücklich sein, trotzalledem?

Aber die leise Stimme sagte wieder: Das ist das Glück. – So sprach und stritt es in seinem Herzen.

Lotti war indessen, immer noch den Apfel in der Hand, eingeschlafen. Sie ruhte an seiner Brust. Er konnte sich nicht rühren, ohne sie zu erwecken. So konnte er nicht weiter schreiben.

Eine lange, schwere Stunde verging. Das Gewitter verzog sich; die Sonne kam. Und mit ihr – sein Weib.

Als sie in der Thür erschien, wies er auf Lotti, legte den Finger an die Lippen und reichte ihr schweigend das Telegramm und den Brief. Sie ward bleich und sah ihn fragend an. Da leuchtete es in seinen Augen; sein Mund neigte sich küssend auf Lotti’s Stirn. Sie verstand das heilige Gelöbniß und trat zu ihnen und legte die Hand auf des Kindes Haupt.

So standen sie, muthig und glücklich, zu neuem Leben bereit.


[84]

Bilder aus der Südsee.

Mit Illustrationen aus dem Museum Godeffroy in Hamburg.

Die bunte Völkerwelt der Südsee eilt mit raschen Schritten einer völligen Umwandlung entgegen. An hundert Orten sind längst vor dem Kreuze die fratzenhaften Götzen gewichen, an tausend Stellen hat das Gewehr die Lanze, die Klinge von Stahl das Muschelmesser verdrängt, und wie von dem großen Religionsmythus oceanischer Völker nur spärliche unzusammenhängende Bruchstücke erhalten blieben, so sind es auch nur Trümmer einer eigenartigen Kultur, die heute der Forscher in den Hütten des großen Inselgewirrs im Stillen Ocean findet. Wie gering auch jene Kultur gewesen sein mag, für die vergleichende Völkerkunde ist ihre genaue Kenntniß von hoher Bedeutung, da die Stämme der Südsee Jahrhunderte lang ohne jede Berührung mit anderen Erdtheilen geblieben sind und einen besondern Typus in der Völkerfamilie gebildet haben.

Aus diesem Grunde werden seit Jahren mit unermüdlichem Eifer große Sammlungen ethnographisch wichtiger Gegenstände in jenen Gegenden veranstaltet, damit für die Forschung noch das gerettet werde, was von jener eigenartigen „Kultur der Wilden“ übrig geblieben ist.

Auch die Museen Deutschlands bergen in reicher Anzahl jene sonderbaren Waffen und Geräthe, jenen originellen Schmuck und die Trachten der Oceanier, die in ihrer tropischen Heimath mehr und mehr verschwinden oder trotz der größten Bemühungen nicht mehr aufzutreiben sind.

Den hervorragendsten Platz unter allen derartigen Sammlungen nimmt unbestritten das Hamburger Museum Godeffroy ein, das schon im Jahre 1860 von J. C. Godeffroy, einem der Kaufherren der alten Hansestadt, gegründet wurde. In geschickter Weise wußte er die ausgedehnten Handelsverbindungen, die sein Haus mit den Südsee-Inseln unterhielt, für wissenschaftliche Zwecke auszunützen, regte seine in dem Stillen Ocean beschäftigten Kapitäne zum Sammeln an, sandte selbst wissenschaftlich ausgebildete Reisende nach jenen fernen Eilanden und schuf in einer Reihe von Jahren ein Institut, das nicht allein in Deutschland, sondern auch in Europa einzig in seiner Art dasteht.

Gegenwärtig, wo die Südsee-Inseln endlich in den Bereich der deutschen Kolonisation gezogen wurden, verdient dieses Museum eine besondere Beachtung, und wir wollen im Nachstehenden versuchen, an der Hand unserer den reichen Hamburger Sammlungen entlehnten Abbildungen einige charakteristische Züge aus dem Leben der Oceanier unsern Lesern mittheilen, die als Ergänzungen der früheren Berichte von Dr. O. Finsch gelten mögen.

Die Wilden der Südsee erfreuten sich vor etwa hundert Jahren einer besonderen Sympathie vieler europäischer Schriftsteller. In einer sentimentalen Anwandlung pflegte man diese reinen Naturkinder zu verherrlichen als den Gegensatz zu den verdorbenen und schuldbeladenen Söhnen der europäischen Civilisation. Die unbefangene Forschung hat diesen Wahn längst zerstört, sie hat gezeigt, daß die Sittlichkeit jener Naturkinder auf einer tiefen Stufe stehen geblieben war, die mit einer moralischen Versunkenheit zu vergleichen ist, und unter den Lastern, die dort das Bild des Menschen verzerren, mußte sie die grausame Sitte des Kannibalismus obenan stellen. Nirgends in der Welt war dieselbe so weit verbreitet und so fest eingewurzelt, wie auf den Inseln des Stillen Oceans, und trotz aller Bemühungen der Missionäre und der weißen Händler ist sie bis jetzt noch nicht vollständig ausgerottet. Namentlich auf den Viti-Inseln trieb sie ihre scheußlichsten Blüthen, und hier ist auch das Unerhörte geschehen, daß nichtswürdige Weiße, die vor langen Jahren von den Insulanern das kostbare Sandelholz eintauschen wollten, kein Bedenken trugen, Jagd auf Eingeborene zu machen und das Gelüst der Wilden nach Menschenfleisch befriedigen zu helfen.

Duck-Duck-Tänzer.

In die Entstehungsgeschichte des Kannibalismus vermochte selbst die neueste Forschung kein Licht zu bringen. Wohl ist es möglich, daß der Mangel an größeren Säugethieren – nur das Känguru und das Schwein sind von größeren Arten hier vertreten – den Menschen dazu getrieben hat, den unwiderstehlichen Fleischhunger mit Menschenfleisch zu sättigen. So viel steht aber auch fest, daß diese Unsitte mit der Religion jener Völker im engsten Zusammenhang steht und daß ferner Menschenfleisch wenigstens in unsern Tagen nicht aus Noth, sondern aus Gourmandise verzehrt wird. Menschenschlächtereien bilden Feste im vollsten Sinne des Wortes, Feste, die vom religiösen Nimbus umgeben werden. Auch dürfte der Aberglaube, daß die guten Eigenschaften des Opfers auf denjenigen übergehen, der dessen Fleisch genossen, viel zur Erhaltung des Kannibalismus beigetragen haben. – Eins unserer Bilder zeigt uns einen Tempel der Eingeborenen, die Bure zu Lega, gelegen am Wairikifluß auf Viti Levu, dessen Name deutsch „Wohnung des Geistes“ lautet. Es war ein grausamer Gott, der dort hauste, der unaufhörlich Menschenopfer verlangte und dessen Tempel den Mittelpunkt des Kannibalismus bildeten. Der Reisende Theodor Kleinschmidt, der im Jahre 1881 von den Eingeborenen auf Utuan in der Duke of York-Gruppe erschlagen wurde und von dem die Skizze des oben erwähnten Tempels herstammt, berichtet, daß in diesen „Gotteshäusern“ die Zahl der abgeschlachteten und verzehrten Opfer durch Aufstellen nach oben abgerundeter Steine markirt wird. Er selbst hat in einem derselben gegen 60 dieser Steine gezählt, andere Berichte melden dagegen, daß in dem größten Tempel über 840 steinerne Zeugen der Gräuelthat errichtet waren. – An gleich grausame Sitten erinnert uns die nebenstehende Abbildung, welche die Duck-Duck-Tänzer darstellt. Der Duck-Duck ist [85] auf den Inseln des neu-britannischen Archipels zu Hause. Nach den Berichten des Reisenden Hübner ist die Duck-Duck-Ceremoine eine Art religiösen Umzuges, der etwa eine Woche dauert, und wobei die Verkleideten Sammlungen vornehmen, an denen sich auch die anwesenden Europäer durch Darreichung von Tabak und Muschelgeld betheiligen müssen. Der Träger der Verkleidung wird bis an die Kniee mit Laubkränzen umhüllt und ihm dann die Kopfmaske aufgesetzt; verliert er diese oder fällt er, so wird er getödtet. Kinder und Weiber dürfen ihn nicht sehen, müssen sich also während des Umzuges verborgen halten. Die erwachsenen Männer führen aber während des Spiels Tänze und Scheinkämpfe auf.

Todten- und Tanzmasken der Eingeborenen von Neu-Britannien.

Interessant ist die Beschreibung des Duck-Duck, die der englische Reisende J. Powell in seinem Werke „Unter den Kannibalen von Neu-Britannien“ (in deutscher Uebersetzung von Dr. F. M. Schröter 1884 bei Ferdinand Hirt u. Sohn in Leipzig erschienen) bietet:

Der Duck-Duck kann nach diesem Berichte als die personificirte Justizverwaltung bezeichnet werden; er ist gleichzeitig Richter, Polizist und Henker zusammen, legt alle Streitigkeiten bei und bestraft alle Uebelthäter.

Diese geheimnißvolle Macht ist in Wirklichkeit ein einziger vom Häuptling dazu bestimmter Mann. Sein Körper ist bis über die Lenden herunter in Blätter gehüllt; Kopf und Gesicht bedeckt ganz und gar ein auf den Schultern aufsitzender großer Helm, in seiner Form einem Lichtauslöscher ähnlich. Der Helm besteht aus Flechtwerk, so daß sein Träger athmen und sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden, und ist mit einem scheußlichen Gesichte bemalt. Diese sonderbare Gestalt wandert durch den Busch, jedes Dorf besuchend; und wenn jemand von seinem Nachbar beleidigt oder geschädigt worden ist, so zahlt er dem Duck-Duck so und so viel Diwarra (Muschelgeld) behufs Beilegung der Sache. Der Beamte geht fort zum Hause des Angeklagten und verlangt Rückgabe der gestohlenen Habseligkeiten oder Schadenersatz. Gehorcht der Angeklagte nicht sofort, so zündet der Duck-Duck dessen Haus an oder durchbohrt ihn im äußersten Falle mit dem Speere.

Wenn die jungen Männer alt genug sind, so werden sie gegen Zahlung von etwa 100 Faden Diwarra in das Geheimniß eingeweiht; können sie diese Faden nicht ermöglichen, so müssen sie dem Duck-Duck stets aus dem Wege gehen.

Derselbe Reisende giebt uns auch eine Erzählung über die Entstehung des Duck-Duck-Systems wieder, wie sie im Munde der Eingeborenen fortlebt und die folgendermaßen lautet:

„Viele Monsune ist’s her, da zankte sich ein junger Mann mit seinem Vater und seiner ganzen Familie und ging eigenmächtig in den Busch. Da er nichts zu essen hatte, wurde er sehr hungrig und verfiel zuletzt auf ein Mittel, sich Eßfleisch zu verschaffen.

Er machte sich einen großen Kopfputz aus Rohr, malte ihn mit Betelnußsaft und brachte Augen auf ihm an wie die des Kasuars. Er bekleidete sich dann mit Blättern, sodaß seine Hände vollkommen frei und doch nicht sichtbar waren, nahm eine Keule und wanderte fort durch den Busch, wobei er, um die Leute zu erschrecken, Lärm machte. So überraschte er viele Knaben und Mädchen, welche er tödtete und aß. Schließlich wurde das so arg und Jedermann war so entsetzt, daß des jungen Mannes Vater, ein großer Krieger und Häuptling, das Ungeheuer zu besiegen beschloß. Er überwältigte den Duck-Duck im Kampfe und warf ihn zu Boden; da rief der Besiegte aus, er sei des Häuptlings Sohn, und wenn der Vater ihn leben lassen werde, so wolle er ihm zeigen, wie er mächtig werden und viel Diwarra bekommen könne.

Da schenkte ihm der Häuptling das Leben, und das Ungeheuer, welches so viele erschreckt und getödtet hatte, wurde seinem Besieger unterthan. Hinfort lebte der Duck-Duck allein in einem Tabuhause, und Jeder fürchtete sich, dem Platze nahe zu kommen.

Wenn irgend jemand so kühn war, dem Häuptlinge nicht zu gehorchen oder ihn zu beleidigen, so nahm der Duck-Duck Rache und ließ ihn seine Unbesonnenheit bitter bereuen.

Das wirkliche Geheimniß der Furcht der Leute beruhte darauf, daß sie nicht wußten, was jener Duck-Duck war; sie schrieben ihm übermenschliche Kräfte zu, und dies gab ihm natürlich großen Vortheil, namentlich im Falle eines Kampfes. Weiber und Kinder erhielten den Befehl, ihm aus dem Wege zu gehen, da er sie sonst gewiß tödten würde, wenn er sie im Busche träfe. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen.

Im Verlaufe der Zeit stellte sich die Nothwendigkeit heraus, andere in das Geheimniß einzuweihen. Dies geschah stets unter dem Eid der Verschwiegenheit, und so verbreitete sich die Sache von einem Platze zum andern.“

Diese Erzählung erinnert uns daran, daß die Südsee-Insulaner ihren eigenen Sagen- und Märchenschatz besitzen und auch für die Erzeugnisse fremder Litteraturen nicht unempfänglich sind. So lebte einst ein Europäer recht flott mit Kind und Kegel auf einer der Inseln und seine Hauptbeschäftigung bestand in dem Recitiren der Märchen von „Tausend und einer Nacht“, für das ihn die Eingeborenen reichlich belohnten.

Die Bure zu Lega auf Viti Levu.

Der Duck-Duck führt uns außerdem in eine andere Eigenthümlichkeit der Oceanier ein: er zeigt uns ihre Vorliebe für Masken, welche den meisten Naturvölkern eigen ist. Diese Masken finden namentlich bei Aufführung von Tänzen, die oft dramatischer Natur sind, Verwendung. Der Tanz ist überhaupt das eigentliche Theater des Südsee-Insulaners. Er ist wohl hier und dort zu einem elenden Cancan herabgesunken, oder widert uns bei Menschenschlächtereien an; oft aber ist er harmloser Natur und manchmal sogar graziös und schön in der Gruppenbildung und einzelnen Bewegungen. Wer hätte z. B. nicht von jenen Tanzmaskeraden gehört, bei denen die Eingeborenen das Leben einzelner Thiere und Vögel, wie z. B. die Lebensgeschichte des Känguru oder des Pelikan darstellen? Das sind urwüchsige Ballete, bei welchen die Masken gut verwendet werden können.

Die von uns abgebildeten Masken stammen sämmtlich von Neu-Britannien her. Die erste derselben ist eine echte Schädelmaske, die aus einem wirklichen Oberschädel besteht, an den der Unterkiefer angefügt ist. Durch Auftragung von Kittmasse wird ihr eine Aehnlichkeit mit den Zügen des Verstorbenen, die sie wiedergeben soll, verliehen. Daß diese Masken mit dem Todtenkultus zusammenhängen, ist nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls sind sie wirklich getragen worden, denn man findet an der Hinterseite des Unterkiefers ein Querholz für die Zähne des Tragenden. Als in Pompeji im vorigen Jahre bei den großen Festen das Bild eines altrömischen Begräbnisses wieder aufgeführt wurde, da sah man auch den Mimen im Zuge, der eine Maske des Verstorbenen trug. [86] Ein sonderbarer Anklang in den Sitten der weltbeherrschenden Römer und der wilden Neu-Britannier!

Die Maskensammlung des Godeffroy-Museums ist eine sehr lehrreiche, denn die verschiedenen Masken, die im Laufe vieler Jahre gesammelt sind, beweisen, daß die Kunst der Schnitzerei bei den Eingeborenen abnimmt, bis zuletzt offenbar zum Verkauf gearbeitete Nachahmungen erscheinen, denen man es schon deutlich ansieht, daß sie mit den neu erworbenen eisernen Werkzeugen und nicht wie früher in jahrelanger geduldiger Arbeit mit Muschelmessern und Obsidiansplittern verfertigt sind.

Dasselbe gilt auch von den Waffen, namentlich von den hübschen Keulen von Viti (vergl. Kopfvignette); die älteren Stücke sind sorgfältiger gearbeitet und oft höchst geschmackvoll geschnitzt mit allerhand zierlichen Zeichnungen; man kann sich denken, welche Zeit oft gebraucht worden sein mag zur Herstellung solcher Waffen, die zumeist aus recht hartem Holz bestehen. Die Formen sind sehr verschieden; man hat sie stab- und ruderförmig etc., neuere Fabrikate erinnern an die Form der Muskete, indeß ist es nicht durchaus nothwendig, daß diese Form aus der neuesten Zeit sein müsse, man findet auch ältere Stücke mit dieser Form. Die in der Gruppe vorhandenen Lanzen kommen von den Neuhebriden; die zahlreichen Spitzen am Oberende von einigen derselben sind aus geschliffenen Arm und Beinknochen des Menschen hergestellt.

Ja, die Oceanier waren überhaupt Meister in allerlei Handarbeiten. Sie sind zwar in ihrem Schiffsbau auf jener primitiven Stufe der Kunstfertigkeit geblieben, die Noah bei der Sintfluth angewendet hatte, nur daß sie statt des Erdpechs Nußkerne als Kittmasse brauchen; aber sie können doch Kriegskanoes bauen, welche zwei- bis dreihundert Mann bequem fassen. Ein solches Kanoe stellt den Mittelpunkt der Kopfvignette dieses Artikels dar, auf welcher auch ein einfaches[WS 1] neu-britannisches Boot mit einem seltenen Anker sich befindet. Dieser Anker veranlaßt uns zu interessanten geschichtlichen Erinnerungen, denn einen ganz ähnlichen können wir im Museum zu Kalmar in Schweden sehen. Nur ist der letzte nicht unter den Palmen gefunden worden, sondern er ist ein Produkt nerviger nordischer Fäuste und mußte in grauen Vorzeiten ein Vikingerboot gegen die Fluthen der See festhalten.

Die kurzen Rückblicke auf römische Begräbnisse, Noah und die Vikinger mögen dem Leser beweisen, daß in der That die in der Südsee vorgenommenen Sammlungen für die Wissenschaft von hoher Bedeutung sind, und in ihm die Lust erwecken, später einmal Einiges über die naturwissenschaftliche Abtheilung des genannten Museums zu erfahren.


Das unterirdische Florenz.

Wieder soll ein lebendiges Stück Geschichte und Alterthum von der Erde verschwinden: dem Mercato Vecchio zu Florenz – dem Midollo[1] der Altstadt, Stammsitz und Wiege der alten florentinischen Herrlichkeit – hat das letzte Stündlein geschlagen. Bald wird die Piazza del Mercato mit ihrer schlanken Säule, die den Mittelpunkt der Stadt bedeuten sollte und dabei seltsamer Weise zum Schandpfahl diente, mit der originellen Fischhalle aus dem 16. Jahrhundert, mit den uralten Kirchlein Santa Maria in Campidoglio, San Pierino, San Tommaso und San Andrea, mit dem festungsartigen Palaste der Amieri und dem bescheidenen Stammhaus der Mediceer – das Alles wird nur noch der Erinnerung angehören. Das alte Viertel der Ghibellinen auf der einen und das der Guelfen auf der andern Seite, die beide nur durch diesen Platz geschieden waren, werden vielleicht an einem Tage in das Nichts zurücksinken und mit ihnen manches Unersetzliche – so der Thurm der Wollezunft mit seinem düstern, doch anheimelnden Eingang von Or San Michele her, der so trauliche Bilder des altbürgerlichen Lebens der Republik heraufzaubert.

Ich liebe diesen Platz, den die noch übrigen Thürme wie Veteranen umstehen, innerlich gebrochen doch aufrecht, und der zur Nachtzeit von den Geistern der Vergangenheit wimmelt. Dann steht die alte Beccheria[2] wieder vor der Phantasie, die wir noch in unsern Tagen gesehen haben mit dem seltsamen Kranz von Buden, der sie umgab; ein Wald von schlanken, himmelhohen Thürmen, von denen die Banner der Familien flattern, umkränzt die Piazza, verdunkelt den Hintergrund, füllt und verhüllt den ganzen Horizont. Von der Colonne läutet die Glocke zum Feierabend, in die offenen Kirchlein strömen die Weiber, Woll- und Seidehändler stehen plaudernd unter ihren Werkstätten und Gewölben, die Capitani delle Arti[3] ziehen mit ihren bunten Gonfalonen vorbei, Gassenjungen singen Spottlieder auf die eben geschlagene Partei, aber plötzlich ertönt Hufschlag auf dem Pflaster, aus einem der engen Quergäßchen sprengt ein in Eisen starrender Reiter hervor und durchbricht, die Sporen zum Insult nach auswärts gekehrt, die Menge – vielleicht ist es der schreckliche Corso Donati, Dante’s großer Feind, der lieber unter den Hufen des eigenen Pferdes sterben wollte, als schimpflich gefangen in die Vaterstadt zurückkehren, die so lange vor ihm gezittert hatte.

Aber ach, während wir dieser glorreichen Vision nachstarren, ruft uns ein trivialer Gedanke in die Gegenwart zurück, und wir greifen erschrocken nach Börse und Uhrkette, denn eine von den menschlichen Fledermäusen mit den lichtscheuen Augen, die diesen Ort mit den Gespenstern der Vorzeit theilen, ist in der Dunkelheit an uns vorübergestrichen. Dann erinnern wir uns, daß hier in dem Viereck, das den Kern der Stadt bildet und von den vornehmsten Straßen umschlossen ist, eine Welt lebt und webt, die mit der unserigen nichts gemein hat, die unsere Gesetze nicht anerkennt und jeden, der einen anständigen Rock und ganze Stiefeln trägt, als einen Feind und Fremdling betrachtet.

Wenn ein solcher „Fremdling“ sich auch bei hellem Tag in das Gewirr der Gäßchen auf dem Mercato verirrt, erregt er hier mehr Aufsehen als im kleinsten Apenninendorf. Aus dem alten Mauerwerk unter der Erde kriechen sie hervor, zerlumpte, kranke, verkrüppelte Gestalten, starren den Eindringling mit ihren rothen, halb erblindeten Augen an und geben auf seine Fragen keine Antwort. An allen Fenstern tauchen Gesichter auf und verschwinden, es ertönen Pfiffe und Signale, aus allen Mienen spricht Neugier und drohendes Mißtrauen, und wer sich nicht mit großem Muthe bewaffnet hat, tritt gern den Rückweg aus diesen Gäßchen an, die oft gar keinen Ausgang haben oder in eine Hausthür münden.

Wer aber wagte es die Häuser zu betreten, die oft noch mit dem stolzen Wappen der sechs Kugeln[4] oder mit wundervollen Steinfriesen geschmückt sind; aus denen ein fürchterlicher Geruch entgegendringt, wo bei jedem Schritt eine Fallthür hinter uns zufallen kann oder wo man vielleicht in eine Versenkung tritt, aus der man nie wieder an das Tageslicht zurückkehrt? Es sind Häuser, in die kein anderes menschliches Wesen den Fuß setzt, als die Polizei, zuweilen der Arzt oder die Brüder der Misericordia. Denn ihre traurigen Bewohner selbst können nicht mehr Menschen heißen.

In feuchten Spelunken geboren, aufgezogen in Schmutz und Laster, von Krankheiten zerfressen, wohnen sie zu acht bis zehn Personen jeden Alters und Geschlechts in einer einzigen Stube mit oft nur einem Bett, dessen Ausstattung vielleicht nie gewechselt worden ist, und wer diesen Aufenthalt mit einigen Jahren in den „Murate“[5] vertauschen kann, scheint seinen Gefährten beneidenswerth. Zuweilen, wo man sehr skrupulös ist, sind solche Kammern, in denen zwei Familien hausen, durch eine Scheidewand aus altem Zeitungspapier getrennt, und ein solches Kulturbestreben in einer solchen Umgebung wirkt noch grauenhafter als die völlig nackte Schamlosigkeit. Unter diesen Unglücklichen giebt es viele Grade und Abstufungen von dem bewußten jammervollen Elend bis zur stumpfsinnigen Verthierung.

Wie Dante’s Hölle ist dieser Ort der Verdammten in Kreise abgetheilt, die je eine Stufe menschlichen Verlorenseins bedeuten. Da ist die äußerste Peripherie, die schon an die reichen und vornehmen Stadttheile angrenzt, mit den unglücklichen Armen, die selber ehrlich und keines Verbrechens fähig sind, die aber um ihrer Sicherheit willen beide Augen zudrücken, den Dieben Unterschlupf gewähren und wohl auch vor Gericht für sie zeugen müssen. Dann kommen die Hehler, die den „Gewinst“ mit den Dieben theilen, und zuletzt die große Pflanzschule alles Lasters und Gräuels – der Ghetto.

Bis vor Kurzem waren diese Zustände nicht öffentlich bekannt. Man hörte wohl dann und wann, daß ein berüchtigter Verbrecher aus dem Gefängniß entkommen und im Mercato Vecchio verschwunden sei, man konnte in den Zeitungen lesen, daß Der und Jener, dem die Justiz auf den Fersen war, nicht handfest gemacht werden könne, weil er sich nach dem Ghetto gewandt habe und von der Camorra beschützt sei, aber wenn auch die Verbrechen und Mysterien des Mercato Vecchio die Spalten der städtischen Chronik und die Phantasie der Sensationsschriftsteller füllten, in das innerste Leben dieser fremden Welt inmitten der unsrigen war Niemand eingedrungen.

Da trat vor Kurzem ein unerschrockener Mann in einer Broschüre „Firenze sotterranea“ (das unterirdische Florenz) mit erschütternden Enthüllungen hervor und deckte Zustände auf, die man bis jetzt nur am Westende Londons für möglich gehalten.

Jarro – so nennt sich der Verfasser – hat Jahre seines Lebens darauf verwendet, diese Welt zu studiren, hat die Polizei auf ihren nächtlichen Streifzügen im Ghetto begleitet, hat mit einigen dieser Höhlenbewohner Freundschaft geschlossen, um ihre Lebensgeschichte kennen zu lernen, und hat verkleidet ihren Zusammenkünften beigewohnt.

Seine Enthüllungen haben solches Aufsehen erregt, daß das kleine Büchlein in kurzer Zeit mehrmals aufgelegt werden mußte und daß selbst die Alterthumsfreunde in Florenz nicht mehr laut gegen das Zerstörungswerk zu protestiren wagen, das zwar schon längst geplant war, das aber ohne dieses Büchlein wohl noch Jahr und Tag seiner Ausführung entgegen geschlummert hätte.

Ehe nun diese nächtliche Welt von der Erde verschwunden ist, begleiten wir Jarro auf einer seiner Wanderungen. Er führt uns durch die Vorstufen der Hölle hindurch in den Ghetto:

„Per me si va tra la perduta gente.“[6]

Auch hier standen einst Paläste der Großen, und eine elende Piazzetta, die jetzt in einen Hofraum eingeschlossen ist, führt noch den stolzen Namen Medici. Später wurden hier die Juden eingesperrt, die der Magistrat von Florenz berufen hatte, um dem Wucher der eigenen Mitbürger zu steuern – doch ward ihnen nicht allzu weich gebettet, und noch ist ein altes Dokument vorhanden, worin einer von ihnen „dem Papst zu Liebe und wegen anderer Verbrechen“ zum Tode verurtheilt wird.

Aber still! und folgen wir Jarro. Er führt uns durch dunkle Gänge, gewundene Treppen, Höfe und Terrassen, die von Dach zu Dach, von Keller zu Keller alle Häuser mit einander verbinden, durch Katakomben, in die nie das Tageslicht fällt und wo ein Mensch mit oder ohne seinen Willen auf immer verschwinden kann. Er läßt uns in die Diebsherbergen blicken, wo 15 bis 20 schmutzige Strohsäcke am Boden liegen und wo die Diebe für einen Soldo zu übernachten pflegen; er zeigt uns Frauen, die [87] zu dreien und vieren nur ein einziges Kleid besitzen, das sie der Reihe nach anziehen, Kinder, die schon mehr Gerichtsstrafen als Lebensjahre aufzuzählen haben und die auf jede Frage - sei es auch die einfachste - unfehlbar mit einer Lüge antworten; er giebt uns Proben aus der Gaunersprache des Mercato und stellt uns einzeln die merkwürdigsten Typen vor.

Im Vorbeigehen sehen wir die große Diebskaserne im Vicolo del fuoco, in der 32 Familien von Allem entblößt beisammen wohnen, die sämmtlich auf ein besonderes Genre des Stehlens eindressirt sind. Sie gehen des Nachts mit einer langen Schnur, woran ein großer Haken befestigt, durch die Gassen, und wo sie Wäschegegenstände an den Fenstern hängen sehen, werfen sie diese Schnur sehr geschickt wie einen Lasso hinauf und entfliehen mit der herabgezerrten Beute.

Von da bringt uns Jarro nach der Schule, wo die künftigen Diebe von erprobten Meistern der Profession herangebildet werden. Die Kinder sind unter den Begabtesten ausgewählt, haben ihre Prüfungen zu bestehen und erhalten demgemäß ihre Aufträge.

Eines Abends läßt Jarro sich von einem seiner im Ghetto ansässigen Freunde zu der Unterrichtsstunde der Gauner führen. Mit einem großen schmutzigen Hut, den ihm der Freund aufnöthigt, und mit einem Korb am Arm, über dessen legitimen Besitz Jarro selber Zweifel aufsteigen, macht er sich auf den Weg.

In einem elenden Wirthszimmer, wo sonst nur die anrüchigsten Subjekte mit ihren Dirnen sich versammeln, sieht er vier Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren.

Ihr Lehrer, so erzählt Jarro, hatte sie darauf aufmerksam gemacht, daß ein Bauer in das Zimmer kommen werde, mit einem Bündel in der Hand und einem Portemonnaie in der Tasche. Also aufgepaßt!

Der Gast kam mit dem Bündel, das er neben sich auf die Bank legte. Er war selbst ein Dieb und einer von den erfahrensten, aber er war so gut verkleidet und kam mit so harmloser Bauernmiene herein, daß ihn die Kinder nicht erkannten. Der Bauer setzt sich, der Lehrer tritt auf ihn zu und knüpft ein Gespräch an. Der Bauer ladet ihn zu einem Glas Wein ein, der Andere setzt sich gleichfalls, giebt aber den Knaben einen Wink. Die Kinder drängen sich nun um den vermeintlichen Bauer, als wollten sie Späße mit ihm treiben. Ich sah, wie Einer ihm das Portemonnaie herauszog, wie der zweite das Bündel nahm, die zwei Anderen empfingen die gestohlenen Gegenstände und warfen sie neben unser Versteck, wo mein Führer vor Angst zitterte.

Wir gingen sogleich, ich hatte genug. „Der vermeintliche Bauer,“ so erklärte mir mein Führer unterwegs, „hat sich still verhalten, weil ihn die Kinder gut bestohlen haben. Das Portemonnaie, das sie hierher warfen, ist leer und ich kann Ihnen sagen, daß es vielleicht erst heute Morgen zu diesem Zweck gestohlen worden ist.“

Wundersam sind die Erinnerungen eines andern seiner Freunde, die ich noch der Merkwürdigkeit wegen hierher setzen will, obgleich sie nicht auf dem Mercato spielen.

Der alte G. war in seiner Jugend Briefträger zwischen Florenz und Pontasieva. Eines Nachts wurde er unterwegs von unbekannten Strolchen aufgegriffen und durch Drohungen genöthigt, in Gemeinschaft mit ihnen in einer benachbarten Kirche einzubrechen und die Leiche eines kürzlich Bestatteten zu berauben. Als er seinen Gefährten Schmuck und Kleider des Todten heraufgereicht hatte und wieder aus dem Grabe steigen wollte, stießen ihn die Strolche zurück und nach einem verzweifelten Ringen wurde die Gruft über ihm geschlossen.

Kaum hatte er Zeit gehabt, sich über seine furchtbare Lage klar zu werden, als er schon wieder Schritte über seinem Kopfe hörte, der Stein wurde aufgehoben. und ein Individuum stieg in die Gruft herab, offenbar ebenfalls in der Absicht die Leiche zu plündern, bat aber gleich die Gefährten, ihm eine Prise Tabak zu reichen wegen des unerträglichen Geruchs.

Da sprang unser G. auf die Füße und forderte mit hohler Stimme gleichfalls eine Prise. Von Schreck gepackt rannten die Diebe davon und G. konnte sich retten.

Unverschuldetes Elend hat den Unglücklichen später ebenfalls in das Grab der Lebendigen, nach dem Mercato Vecchio, gebracht.

Die Feder sträubt sich, all das Elend und die Gräuel nachzuerzählen, die in diesem Büchlein verzeichnet stehen. Wir wollen weder in die unterirdischen, von Feuchtigkeit triefenden Höhlen treten, wohin die Gossen abträufeln, wo sieben bis acht Personen auf einer Lagerstätte beisammen liegen, wo Morgens Kinder todt gefunden werden, von den Großen im Schlaf erdrückt, noch wollen wir hinter die Treppen kriechen, wo in einem Raum von wenigen Metern mehrere Schlafstellen zum Vermiethen aufgeschlagen sind, noch in die vermauerten Winkel, wo menschliche Gerippe ausgegraben werden. Aber ich kann es mir nicht versagen, noch einige der merkwürdigsten Typen dieser unbekannten Welt hierher zu stellen.

Hier ist z. B. das Exemplar eines Hehlers: „Er geht immer schwarz gekleidet, im Cylinder, sucht jeden Anlaß, um auf der Straße Jemand zu grüßen und zu thun, als habe er vornehme Bekanntschaften. Zuweilen zieht er den Hut ab, wenn ein Herrschaftswagen vorüberfährt, und schneidet seine unterthänigsten und auffallendsten Kratzfüße. Die so Gegrüßten geben den Gruß zurück und fragen sich, wer wohl dieser ceremoniöse Patron sein möge. – Er ist glatt, rothwangig, wohlgenährt. Er geht viel in die Kirche, legt sein Sacktuch unter die Kniee, zieht den Rosenkranz hervor – dieser Fromme ist ausgezeichnet in der Herstellung falscher Schlüssel.“

Die Hehler üben gewöhnlich eine bürgerliche Profession aus, aber der Kramladen, die Werkstatt sind nur Aushängeschilde. Ihre eigentlichen Geschäfte machen sie mit den Dieben, die in ihren Diensten stehen und denen sie das sauer erworbene Stück Brot schmälern. Denn der Dieb ist meist so arm wie eine Kirchenmaus, während der Hehler immer reich wird.

Ein anderer eigenthümlicher Typus ist der Spion, der übrigens selten vorkommt. Diese verwahrloste Gesellschaft hat auch ihren Ehrenpunkt. Stehlen, besonders mit Geschick und straflos, ist rühmlich. Wer schon zehn bis zwanzig Mal im Gefängniß gesessen, genießt hohes Ansehen, wer gar in so und so viel Processen freigesprochen worden, steht auf der obersten Sprosse ihrer Hierarchie. Aber den Dieb, den Gefährten des Geldes wegen verrathen, gilt für schmachvoll. Wenn es doch vorkommt, geschieht es aus Rache oder Eifersucht.

Ein gewisser E. war ein berühmter Spion. Jahrelang war er einer der durchtriebensten Diebe gewesen, aber eines Tages hatte er sich von den Seinigen losgesagt und sich in den Dienst der Polizei begeben. Er kleidete sich mit einem gewissen Pomp, ging nur im Cylinder, aber er stand in tiefster Verachtung und wurde tödlich gehaßt.

Wenn gewisse Geschäftsleute, bei denen das niedere Volk einkauft, einen Hut, eine Kravatte oder dergleichen aus der Mode bringen wollten, so ließen sie den E. rufen und schenkten ihm den betreffenden Gegenstand. Wer nun ein ähnliches Stück besaß, warf es alsbald weg, kam in den Laden und kaufte sich ein anderes.

E. besaß einen unerschütterlichen Muth. Die Polizei bat ihn stets zu sagen, was er wisse, aber sich nicht auszusetzen. Es war jedoch alles vergebens. Er wollte um jeden Preis die Patrouillen begleiten, es war seine Passion, die Vergehen seiner früheren Kameraden aufzudecken, mit der Polizei in ihre Höhlen einzudringen, sich zuerst der Gefahr entgegenzustürzen und die Gauner bei der Brust zu packen, die er sonst umarmt hatte. – Die Rache, welche die Polizei fürchtete, ließ nicht lange auf sich warten. Eines Tages wurde er bei hellem Sonnenlicht in einer der belebtesten Straßen von Florenz erdolcht. Aber er starb zufrieden, nachdem er seinen Mörder angezeigt, froh, daß sein Tod wenigstens einen seiner ehemaligen Genossen ins Zuchthaus brachte.

Wir sind am Ziele unserer Wanderung. Aus den Höhlen des Ghetto heraus führt uns ein einziger Schritt in die breite elegante Via de Cerretani, und über die Katakomben des unterirdischen Florenz hinweg sehen wir, oben im lichten Sonnenschein zwischen den Ständen der Blumenverkäufer durch, die Herrschaftswagen zum Corso donnern. Da liegen sie hinter uns in ihrer Bettlermajestät, die zerbröckelten Paläste, Thürme und Kirchen des Mercato, und wir wissen jetzt, warum keine Fürbitte der Kunstkenner ihnen ihr historisches Dasein mehr fristen kann.

Ein schweres Stück Arbeit mag es werden, diese nächtliche Welt aus ihren Verstecken heraus zu treiben. Haben wir doch vor Kurzem gesehen, wie verzweifelt die Besitzer der alten Buden des Mercato sich wehrten, als sie bei Niederreißung der Beccheria expropriirt wurden, bis es der bewaffneten Macht gelang, sie mit Gewalt nach der neuen eleganten Markthalle in Via dell'Ariento zu versetzen.

Ganz Florenz aber sieht diesem Tag mit Spannung entgegen. Die Gelehrten erwarten von der Demolirung des Mercato die wichtigsten topographischen Aufschlüsse und hoffen mit Bestimmtheit, unter der Erde die Grundmauern des alten Kapitols und vielleicht unschätzbare Kunstwerke aus der Römerzeit zu finden. Das Volk dagegen glaubt, daß in den geheimen Gängen des Ghetto die Schätze der Juden aus den Zeiten ihrer Unterdrückung vergraben liegen.

Dann wird an die Stelle des alten Mercato ein weiter luftiger Platz mit bequemen Häusern und Säulengängen treten, von breiten schnurgeraden Straßen durchzogen, die den „modernen Erfordernissen“ entsprechen, ein Platz, auf dem Schutzmann und Spazzaturajo [7] herrschen, reinlich, sicher – aber langweilig. Isolde Kurz.     



  1. Das Mark – so genannt zur Zeit der Republik.
  2. Schlachthaus.
  3. Kapitäne der Zünfte, ein Magistrat.
  4. Wappen der Mediceer.
  5. Gefängnisse von Florenz.
  6. „Durch mich gelangt man zum verlornen Volke.“0 Dante.
  7. Straßenkehrer.

Blätter und Blüthen.

Auf dem Eise. (Mit Illustration S. 76 und 77.) Parkettboden und Eisbahn sind wahlverwandte Dinge und – identische Begriffe, wenigstens in den Augen eines gewissen Alters. Beide sind der fröhlichen Jugend unentbehrlich in einem regelrecht genießbaren Winter, denn wie sollten sich wohl all die jungen, ungestüm pochenden Herzen zusammenfinden, wenn nicht auf jenem glatten blanken Boden, auf dem es sich so graziös gleiten und tändeln läßt, und wo die Blicke und Herzen so leichtbeschwingt sind wie Schmetterlinge über dem Blumenbeete. Sei’s „koloniale“ Hitze, sei’s Nordpolkälte, auf diesem Boden gedeiht das Pflänzlein Liebe stets wohlgemuth und entfaltet sich zu stattlicher Blüthe. Und welch herrliche Schnippchen werden nicht all den argwöhnischen „Eismüttern“ geschlagen, diesen beklagenswerthesten aller Mütter! Hier maskirt die Schlittschuhbefestigung den Fußfall des liebeglühenden Jünglings, dort befördert die anscheinende Furcht vor einer „Carambolage“ die zündenden Blicke der Verliebten, hier verbirgt das „helfende“ Führen der Unsicheren den beredten Händedruck und dort gar fällt man plötzlich nieder, um sich von zärtlichen Armen wieder aufrichten zu lassen. – Doch verrathen wir nicht zu viel, um den glatten Boden nicht in Mißkredit zu bringen und Jenen keine Verlegenheiten zu bereiten, die in heiterer Lust sich darauf bewegen. Man soll nicht „aus der Schule plaudern“, und es thut nicht gut, der Jugend das Spiel zu verderben! – r.     


Chloris. (Mit Illustration S. 81.) In einer Lenznacht erblickte Zephyr die schöne Chloris, wie sie lieblich und träumerisch aus ihres Vaters Hallen ins Freie getreten war. Der Gott hob sie zu sich empor, verlieh ihr als Morgengabe die Herrschaft über das Reich der Blumen und gewährte ihr, [88] die selbst eine Blume, unverwelklichen Reiz und ewige Jugendfrische. Sie gebar ihm den Karpos, die personificirte Frucht, den Zeus zum Patron des Obstes machte.

Chloris ist die griechische Flora – ihr Name, in den neueren Schäferspielen neben Phyllis und Amaryllis oft genannt, bezieht sich, wie der Name Chloe, anf die blaßgrüne, gelbliche Farbe der jungen Saat oder der ersten Keime, er bedeutet die Grüne, daher auch der Grünfink im Griechischen Chloris heißt.

Die Blumen, welche die Chloris unseres Bildes in der Hand hält, sind Nelken, und der Künstler möge mir verzeihen, wenn ich ihn bezüglich dieses Attributs eines kleinen Anachronismus beschuldige. Die herrliche Nelke, welche, angeblich aus Südfrankreich stammend, um ihrer Schönheit, ihrer lebhaften Farbe und ihres würzigen Duftes willen in den Gärten von ganz Europa den ersten Rang nach der Rose einnimmt und von den heutigen Römern mit Vorliebe gepflegt wird, war den Alten unbekannt, wenigstens findet sie sich in ihren Schriften nirgends erwähnt; das Wort Dianthus, welches soviel wie Zeusblume bedeutet, ist eine Erfindung Linné’s. Erst im 15. Jahrhundert wird der Nelke unter dem Namen Flos Tunicus gedacht, welcher von dem langen, röhrigen, einer Tunica gleichen Kelche hergenommen ist – die Flores de Tunica standen damals als Heilmittel in hohen Ehren, man machte Essenzen, Essige, Sirope, Thees aus Nelken und gab sie gegen Herzklopfen, Epilepsie und Wechselfieber.

Daher glaube ich, daß Chloris ihrem Zephyr keine Nelken entgegengebracht hat; daß aber nnter dem Peplon ein heißes Herz voll Liebe und Sehnsucht klopfte, gegen dessen ungestüme Schläge keinerlei Nelkenessenz ein Arcanum geboten hätte, das glaubt wohl jeder, der dieser Chloris nur einen Blick geschenkt. N. K.     


Das „ätherische“ Geschütz. Vor etwa zwei Jahren spukte in amerikanischen Blättern die Kunde, ein gewisser Keely in New-York habe eine funkelnagelneue Naturkraft entdeckt und einen Motor zur Ausnutzung derselben gebaut, der sich zu den bisher bekannten Kraftmaschinen verhalte, wie etwa die Dampfmaschine zur Pferdekraft. Der Schwindel war so gut in Scene gesetzt, daß Keely die Gründung einer Aktiengesellschaft zur Ausbeutung seiner Erfindung zu Wege brachte und auf diese Weise seinen allzu vertrauensseligen Landsleuten einige hunderttausend Dollars aus der Tasche lockte.

Hierauf ward es ganz still, so still, daß die 100-Dollaraktien auf 9 Cents fielen. Da machte Keely vor einigen Wochen die unliebsame Entdeckuug, daß der nervus rerum ihm auszugehen beginne, und er beschloß, einen neuen Coup in Scene zu setzen. Urbi et orbi verkündete er durch die Blätter seiner Heimath, denen die meisten europäischen bald pflichtschuldig folgten, es sei der sogenannte „ätherische“ Motor endlich zu Stande gebracht und es stehe dem dadurch herbeigeführten industriellen Aufschwung nichts mehr im Wege. In Folge der nicht ungeschickten Reklame stiegen nun die wohl von Keely zum Spottpreise aufgekauften Aktien auf Dollar 1,15, doch die Käufer hatten wiederum das Nachsehen.

Bei den von Keely aus Anlaß der Philadelphiaer Ausstellung veranstalteten Versuchen stellte es sich nämlich für jeden Kundigen sofort heraus, der Keely-Motor sei weiter nichts wie eine Luftkompressionsmaschine und die „ätherische Substanz“, welche den Kolben trieb, habe mit der gemeinen atmosphärischen Luft eine so verzweifelte Aehnlichkeit, daß Niemand sie von dieser zu unterscheiden vermöge. Das gleiche Schicksal theilte desselben Erfinders „ätherisches“ Geschütz, dessen Kampfeigenthümlichkeit darin liegt, daß es zur Abwechselung nach hinten schießt. Sonst ist das Geschütz eigentlich weiter nichts als eine Windbüchse. Zwei Cylinder sind mit verdichteter Luft angefüllt. Will man nun einen Schuß abfeuern, so öffnet man einen Hahn, und die Luft gelangt in die Geschützkammer. Nun gilt es, den bereits verdichteten „inter-atomischen Aether“, zu deutsch Luft, durch einen Schlag plötzlich noch mehr zu komprimiren, damit er das Geschoß aus dem Rohr zu treiben vermag. Dies besorgt der „ätherische“ Artillerist, indem er besagten Aether in der Kammer durch einen wohlgezielten Schlag mit einem Holzhammer auf den „Resonator“ „vitalidirt“, das heißt zum Leben bringt. Die kleine Kugel fliegt alsdann in der That mit großer Geschwindigkeit aus dem Rohr; das Kunststück haben indessen Viele vor Keely zu Wege gebracht und sich darum keineswegs als Weltverbesserer ausgegeben. Doch „nur die Lumpen sind bescheiden“, und Herr Keely ist keiner. G. v. Muyden.     


Die Treppe der Walhalla bei Regensburg. Wer kennt wohl nicht – wenn auch mancher nur aus Beschreibungen und Abbildungen – jenes großartige und erhabene Denkmal deutschen Ruhmes und deutscher Große, welches der kunstsinnige König Ludwig I. von Bayern auf dem Brauberge bei Regensburg in edler patriotischer Begeisterung errichten ließ. Leo von Klenze, dem berühmten Erbauer der Glyptothek in München, der Pinakothek, des königlichen Schlosses, wurden die Entwürfe zu der Walhalla übertragen, und höchst interessant ist es, was Friedrich Pecht hierüber in seinem Buche „Deutsche Künstler des 19. Jahrhunderts“, das wir bereits in Nr. 51 v. J. besprochen haben, berichtet: Zunächst malte Klenze in einem großen Oelbilde die Walhalla mit der Aussicht auf das untere Donauthal und komponirte dann die Treppe auf ein besonderes Stück Papier, sodaß man sie mit Leichtigkeit draufkleben und wieder hinwegnehmen konnte. Hierauf lud er bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, den ihn ohnehin sehr oft besuchenden König ein, sich das Gemälde anzusehen. Schon am andern Morgen war der Monarch da und freute sich an dem Bild – ohne Treppe.

Nun bat Klenze den König, doch eine kleine Ergänzung zu betrachten, die er dazu komponirt, und klebte die Treppe unten hin. Dadurch gewann die Wirkung des Gebäudes freilich ganz außerordentlich. Der König, der nun wohl merkte, auf was es abgesehen war, betrachtete das Bild zwar lange und aufmerksam, sagte aber gleich: „Damit ist nichts, Klenze, das kostet mir viel zu viel Geld.“

„Aber Majestät würden dadurch Ihrer Schöpfung erst einen neuen Ruhmestitel hinzufügen.“

„Was kostet denn die Treppe?“

„Achtzigtausend Gulden.“

„Sind Sie toll, Klenze? fällt mir gar nicht ein, kommen Sie mir nie wieder damit!“

„Aber Majestät könnten das ja auf vier Ratenzahlungen vertheilen.“

„Klenze, Sie sind aber wieder einmal schon so eigensinnig wie ein .......“ Sprachs und rannte im höchsten Grade gereizt mit großen Schritten davon. Indeß nicht ohne im Hinausgehen noch einen Blick auf die Tafel zu werfen. Klenze aber blieb ebenso gereizt zurück, so hatte ihn der König noch nie angefahren, und er wollte sofort seinen Abschied nehmen, nach London oder Petersburg gehen etc. Darüber vergingen ein paar Stunden, dann schellte es heftig. Es war ein königlicher Diener, der den Herrn Geheimrath zum König rief. „Aha, jetzt habe ich meine Treppe,“ rief triumphirend der Architekt und traf es auch; der König hatte inzwischen seinen Etat noch einmal nachgerechnet und die ersten 20000 Gulden noch herausgetrieben. – r.     


Die Erdbeben in Spanien. Ein Komité, an dessen Spitze der Präsident des Reichstages Herr von Wedell-Piesdorf steht, erläßt einen Aufruf zum Besten der Opfer der Erdbeben in Spanien. Ein so großes und über weite Gebiete verbreitetes Unglück fordert überall Theilnahme und werkthätige Hilfe heraus, und unter den Nationen, welche sich beeifern, jenen Gegenden beizustehen, wird auch die deutsche nicht zurückbleiben wollen, die niemals fremdem Unglück sich verschloß. Beiträge wolle man nicht an uns, sondern an die königl. Haupt-Seehandlungskasse in Berlin senden.


Allerlei Kurzweil.

Kryptogramm: Die Vignette.

Gebrüder Rügen, – solchen Wein
Bezöget wirklich Ihr vom – Rhein?!



Auflösung der Schachaufgabe in Nr. 2:
 Weiß:  Schwarz:
1. S c 3 – e 4: S g 3 – h 1:
2. S e 4 – c 5 d 6 – c 5: (A.)
3. S g 7 – f 5 ! K d 4 – e 4
4. d 2 – d 3 matt.

(A.) 2. ..., K : S c 5; 3. S e 6 !, K c 6; 4. b 7 – b 8 S matt. Oder: 2. ..., L : S g 7; 3. L : d 6, beliebig; 4. e 2 – e 3 matt. Oder: 2. ..., beliebig anders; 3. S g e 6 !, K e 5; 4. d 2 – d 4 matt.

Von den zahlreichen Varianten dieses vorzüglich construirten Problems führen wir wegen Mangel an Raum nur folgende an: a) 1. ..., S : S e 4; 2. D g 1 †, K e 5; 3. d 4 †, K f 4; 4. S e 6 matt. b) 1. ..., S e 2:; 2. D f 3, S c 3 †; 3. S : S etc oder 2. ..., beliebig; 3. D e 3 etc. c) 1. ..., L : S g 7; (K e 5) 2. S c 5, S f 6; 3. e 3 †; 4. d 4 matt.


Kleiner Briefkasten.

A. G. in Dresden. Die E. Marlitt gewidmete Gavotte für Pianoforte „Goldelse“ ist nicht im Verlag von Ernst Keil’s Nachf., sondern in C. A. Koch’s Verlag (J. Sengbusch) in Leipzig kürzlich erschienen.

Herrn Justizrath K. B. in L. Sie haben Recht: der Vicepräsident des Reichstages ist Abgeordneter für Schwarzburg-Rudolstadt und nicht für Gera, wie in Nr. 2 irrthümlich angegeben ist.

S. R. in Hamburg. Die Tiedge-Stiftung hat ihren Sitz in Dresden; stellvertretender Vorsitzender ist der Geheime Hofrath Dr. W. Roßmann ebenda.

Frau Emilie E–n 500 in Braunschweig. Der auf Ihren Wunsch postlagernd an Sie abgesandte Brief ist als „nicht abgeholt“ an uns zurückgelangt.

E. G. in Berlin. Manuskripte sollen nur auf einer Seite beschrieben sein.

V. St. Abonnent seit 1857. Soviel uns bekannt ist, herrschen augenblicklich in dem betreffenden Lande geordnete Zustände.

Unglücklicher in Magdeburg. Wenden Sie sich an einen Arzt. Das betreffende Buch beruht auf Schwindel.

J. A. in Dresden. Wenden Sie sich an den Dekan der medicinischen Fakultät der Universität Berlin.

Abonnent in Laibach. Ein alter Abonnent in Halle. Abonnent X. M. E. in Nürnberg. Omega 100. Ein Abonnent in Köln a. Rh. G. G. in Preßburg (Ungarn). L. G. in Leipzig. J. G. in Danzig. W. v. H. „Maler G. C. wohnt –“. Lina W. Derartige anonyme Anfragen können wir nicht berücksichtigen.


Inhalt: [ Verzeichnis zu diesem Heft, hier noch nicht transkribiert. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einaches