Die Gartenlaube (1887)/Heft 1
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No. 1. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. — In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. — In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 25 Pfennig.
Zum Neuen Jahre.
Dem begrab’nen Alten Jahre
Werft die Schollen auf die Bahre!
Neues Wünschen, neues Hoffen
Sieht die gold’ne Zukunft offen,
Den das Neue Jahr uns bringt,
Bei dem ersten Glockenschlage,
Der die Mitternacht durchklingt.
Nimmer wird’s dem Herzen frommen,
Die mit geisterhaften Schritten
Einst durch unser Leben glitten.
Alte Sorge und Bedrängniß
Schwinde in Vergessenheit,
Finde uns zum Kampf bereit!
Heil und Glück den Lieben allen,
Die mit uns durchs Leben wallen;
Denn auch uns erfreu’n und schmücken
Heil dem Edeln, Hohen, Großen,
Das der Menschheit Adel trägt,
Das, auch von der Welt verstoßen,
Sonnenwärts die Schwingen regt.
Walte über ihm der Frieden!
Naht der Feind in Kriegeswettern,
Mög’s ihn siegreich niederschmettern!
Wachsen soll’s an Ruhm und Ehre,
Und des Geistes Schätze mehre
Deutsche Kunst und Wissenschaft!
Neues Jahr, in deinem Schoße
Ruhen die verhüllten Lose;
Eine Losung bleibt uns allen:
Muth’ger Sinn und Geistesstärke,
Freud’ge Ernte fleiß’ger Saat,
Eifer bei dem kleinsten Werke,
Rudolf von Gottschall.
Der Schnellzug hielt vor dem Perron in H.; „Eine Minute Aufenthalt!“ riefen die Schaffner, von Koupé zu Koupé eilend. Vor der Wagenreihe entwickelten sich die bekannten Abschieds- und Begrüßungsscenen; dazwischen verlangten halbverdurstete Reisende nach Bier, schrieen die Gepäckträger ihr „Vorsicht!“ in den sprechenden, hastenden Menschenknäuel, und die Glocke that ihre drei durchdringenden Schläge. Die Koupés hatten sich im Umsehen gefüllt, trotz des unverhohlenen Mißfallens der bereits darin Sitzenden, und wie mit einem Zauberschlage war Ruhe eingetreten. Eben setzte der Zugführer sein Pfeifchen an den Mund, da stürzte in athemloser Hast ein junges Mädchen aus dem Stationsgebäude.
„Wohin?“ rief ihr der Schaffner entgegen.
„Nach Hohenberg – zweite Klasse – Damen – –!“ stieß sie hervor.
„Schon besetzt!“ sagte der Mann lakonisch, riß die Thür zu einem Koupé erster Klasse auf, half der schlanken Gestalt hinein, warf Plaidbündel und Reisetasche hinterher und ging dann langsam auf dem Trittbrette des bereits fahrenden Zuges weiter, um mit dem Koupiren der Billette zu beginnen.
Indeß saß das Mädchen, noch immer athemlos, auf dem rothen Sammtpolster, betrachtete ihr Handgepäck, rückte sich das Strohhüten auf den blonden Haarflechten zurecht und tupfte mit dem Taschentuch das erhitzte Gesichtchen. Dann faßte sie die Dame ins Auge, die zum entgegengesetzten Fenster hinausschaute und nicht einmal den Kopf gewendet hatte, als sie so eilig hineinflog. Sie trug ein einfaches braunes Tuchkleid ohne irgend welchen Aufputz, aber es umschloß in tadellosem Sitz die zierlichen Formen einer jugendlichen Gestalt. Unter dem Faltenrocke schaute ein schmaler eleganter Lederstiefel hervor, vielknöpfige Marseiller Handschuhe bekleideten die schlanken Hände, und ein braunes schmuckloses Filzhütchen, welches graziös auf einer Fülle dunklen Haares saß, vervollständigte die ausgesuchte Toilette.
Auf dem Sitze der Dame gegenüber lag ein aufgeschlagenes Buch neben einer eleganten Juchtenmappe, auf deren Silberbeschlag ein H. L. unter siebenzackiger Krone gravirt war. Das Buch zeigte lateinische Lettern und schien in französischer Sprache verfaßt zu sein. Einige riesenhafte Zeitungsblätter waren zu Boden geglitten, und neben ihnen erblickten die braunen verwunderten Augen des Mädchens die Ueberreste von zwei Cigarretten. Sie wußte nun, woher der eigentümlich süßliche und doch scharfe Duft kam, der das Koupé erfüllte.
„Das Billet, ich bitte –” tönte die Stimme des Schaffners, der sich zum Fenster hinein bog. Hastig fuhr die kleine Mädchenhand in die Tasche des Kleides, um sie ebenso hastig wieder hervorzubringen. Ein eifriges Suchen begann in der Reisetasche, auf dem Sitz, an der Erde, und während dem jagten Röthe und Blässe in jähem Wechsel auf dem weichen Mädchengesicht, und die Augen hingen erschreckt an der verdrießlichen Miene des Schaffners.
„Ich muß mein Portemonnaie verloren haben, und mit ihm das Billet,“ stammelte sie endlich.
„Sehen Sie nur noch einmal nach,“ brummte der Mann, „ich komme wieder zurück.“ Damit war er verschwunden, und sie fing aufs Neue an, die Taschen ihres schwarzen Alpacakleides und die Gepäckstücke zu durchsuchen. Umsonst! Ein halblautes „Ach Gott!“ zitterte durch den Raum, und dann fragte eine eigenartig klingende Frauenstimme.
„Kann ich Dir irgendwie aushelfen, Lucie Walter?“
Die Angeredete sah erstaunt in das schöne regelmäßige Antlitz, das sich zu ihr gewendet, das ihr so bekannt erschien und dessen sie sich doch durchaus nicht zu erinnern vermochte.
„Du siehst noch eben so aus, Lucie, wie damals, als wir gemeinschaftlich durch den Gartenzaun Deines Vaters krochen, um Erdbeeren zu naschen.“
Ueber das Gesicht des Mädchens flog ein Lächeln. „Hortense von Löwen – ich hätte Dich – Sie“
„Dich! Bitte schön – wenn es Dir recht ist?“ sagte Hortense und faßte die dargebotene Hand, – „Dich nicht erkannt,“ vollendete sie dann.
„Das glaube ich wohl. Du aber gleichst noch ganz, Zug für Zug, dem blonden Kinde; als habe Dich Deine Mutter in einem Glaskästchen aufbewahrt, so unverändert und weich ist Dein Gesicht geblieben, während ich –.“ Sie stockte. „Wie alt war ich,“ sprach sie weiter. „als wir bei Euch zur Miethe wohnten – zwölf Jahre ungefähr. Jetzt bin ich fünfundzwanzig, also dreizehn Jahre sind vergangen! – Wie alt warst Du zu jener Zeit?“
„Zehn Jahre, Hortense.“
Sie saßen sich jetzt gegenüber: Hortense nachlässig zurückgelehnt, Lucie kerzengerade, wie man bei Anstandsbesuchen zu sitzen pflegt.
„Also dreiundzwanzig jetzt? Wie ist es Dir ergangen seit unserem Wegzug von D.? Ich habe nie wieder von Euch gehört. Wie geht es Deinen Eltern und Geschwistern?“
Das Lächeln wich plötzlich aus dem Mädchengesicht. Lucie sah auf ihre Hände herunter, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie mit unterdrücktem Schluchzen antwortete. „Sie sind Beide gestorben.“
Hortense von Löwen schwieg und schaute zum Fenster hinaus. „Und wo hast Du eine Heimath gefunden?“ fragte sie endlich.
„Bei meiner ältesten Schwester, die an den Oberförster Remmert verheirathet ist. Weißt Du nicht mehr, wie sie Hochzeit hatten?“
„Doch, doch, ich erinnere mich. Sie war ein hübsches Mädchen, hatte ein weißes Mullkleid an und weinte so schrecklich bei der Trauung.“
„Bei ihr bin ich gewesen bis jetzt.“
„Und nun?“ forschte Hortense.
Das klare Gesicht des Mädchens färbte sich wie Rosen. „Ich reise heute zu meiner Schwiegermutter, wo ich bis zu meiner Hochzeit bleiben werde.“
Hortense von Löwen sah lächelnd in die von inniger Seligkeit leuchtenden Augen. „Ich gratulire Dir herzlich! Und Deine Schwiegermutter lebt in Hohenberg?“
„Ja! Und er auch. Er ist praktischer Arzt dort, seit Kurzem; er war früher Assistent an der Klinik des Professor B. in H. Wie er sich dann mit mir verlobte, ließ er sich in Hohenberg nieder. Kennst Du Hohenberg?“
„Sehr gut. Ich lebe dort bei meinem Großvater.“
„Dann kennst Du auch Doktor Adler?“
Hortense schüttelte abweisend den Kopf. „Niemand!“ erwiderte sie„ „Wir leben sehr still, der alte Herr und ich; ich bin auch viel auf Reisen.“
„Und Dein Vater, Herr von Löwen – geht es ihm gut?“ fragte Lucie.
Hortense setzte sich mit einem Ruck etwas mehr in die Kissen zurück. „Hoffentlich!“ sagte sie kalt. „Da kommt übrigens der Schaffner, – darf ich Dir mein Portemonnaie anbieten? Die Dame wird nachzahlen auf der nächsten Station,“ wandte sie sich an den Beamten, „das Billet ist in der That verloren.“
Der Mann steckte ein Trinkgeld ein und empfahl sich ehrerbietig.
„Ach, ich danke tausendmal!“ stammelte Lucie.
„O, bitte sehr!“ gab Hortense zurück, griff zu ihrem Buche und begann zu lesen.
Der Zug raste weiter durch die sonnige Frühlingslandschaft. Im Koupé war es still geworden; Lucien’s Augen hingen an dem schönen Antlitz ihres Gegenüber, und vor ihrer Seele begann Scene auf Scene aus längst vergangenen Tagen aufzusteigen. Das blasse schmale Gesicht mit dem feinen Näschen, dessen Flügel beständig zu vibriren schienen, der schön geformte Mund, um den ein so hochmüthiger Zug liegen konnte, die stahlgrauen Augen, die in der Erregung grünlich zu schimmern vermochten, verschmolzen wunderbar mit dem Antlitz des kleinen Mädchens von damals, des wilden, schönen Kindes, das ihr ein lieber Spielgenosse gewesen und das jetzt wieder in ihrer Erinnerung lebendig wurde. Löwen’s waren eines Tages nach D. gekommen, hatten den ersten Stock ihres väterlichen Hauses gemiethet und dort gewohnt, Vater, Tochter und Erzieherin. Lucie erinnerte sich [3] genau des eleganten schönen Mannes mit den aristokratischen Zügen, und mit wie stürmischer Zärtlichkeit die Kleine an seinem Halse gehangen, wenn er nach wochenlanger Abwesenheit in sein Heim zurückkehrte. Damals trug Hortense noch Trauer um die Mutter; es hatte so seltsam ausgesehen, das wilde blasse Kind in der tiefschwarzen Kleidung. Auch die Erzieherin vergegenwärtigte sich ihr wieder, die beständig alterirte ältliche Person, die ewig auf der Suche nach ihrem Schützling war. „O, Mademoiselle Lucie, liebste Madame Walter, haben Sie Hortense nicht gesehen?“
Lucie war es streng verboten, sich durch den Wildfang zu Spazierfahrten mit dem Ziegenbock oder zu Ritten auf dem Pony verführen zu lassen. Mademoiselle Bertin aber hatte der Mutter förmlich gute Worte gegeben in ihrem gebrochenen Deutsch. „Lassen Sie, Frau Doktor, Mademoiselle Lucie öfter kommen! Hortense hat ein Faible für sie; sie ist sonst sehr exclusiv. – Mademoiselle Lucie ist so sanft, sie wird haben guten Einfluß auf Hortense.“
Sie erinnerte sich aller der Spiele, die Hortense angegeben, des Wettlaufens im Hofe, der heimlichen waghalsigen Klettereien auf dem Hausboden, und dann der Schelte, wenn sie mit bestäubten zerrissenen Kleidern vor der Mutter stand. Und sie meinte mit einem Male wieder die lockende unbezwingliche Sehnsucht zu fühlen, die sie damals empfanden, wenn sie an dem Tische der Kinderstube saß mit einer Schularbeit beschäftigt, und aus dem Gezweig des Birnbaumes vor den Fenstern das blasse Kindergesicht mit den winkenden grauen Augen auftauchte, von dunklem Haar umfluthet. „Kommst Du nicht? Mache rasch! Ich warte in der Scheuer.“
Hals über Kopf wurden die Exempel gerechnet: dann hockten sie in der dämmerigen Scheuer, wo es so merkwürdig dumpfig roch. Und Hortense erzählte. „Wenn ich erst groß bin, dann –.“ Sie hatten schon damals viel von einem Bräutigam gesprochen.
Sie lächelte. Es war doch wunderbar, daß sie sich hier wieder trafen nach so vielen Jahren! Wie mochte es ihr ergangen sein? Sie hätte es gern gehört, aber sie wußte nicht recht, wie sie sich erkundigen sollte. „Wie geht es Mademoiselle Bertin?“ fragte sie endlich.
„O, danke, gut! Ich habe sie noch bei mir; sie ist sehr stark und wunderlich geworden.“
Lucie schwieg wieder. Dann fiel ihr ein, wie Hortense einst eine wunderbar schöne Puppe von ihrem Onkel bekam, der sich besuchsweise bei ihrem Vater aufhielt, und wie sie diese Puppe sofort an Lucie verschenkt hatte, weil sie „solche Albernheiten, wie Puppen, nicht leiden könne“. „Wie geht es denn dem alten Onkel Ludolf? Ich erinnerte mich eben an die Puppe,“ setzte sie stotternd hinzu, als Hortense das Buch sinken ließ und sie groß anschaute.
„Alt? Ja, er war sieben Jahre älter als mein Papa,“ erwiderte sie. „Du kanntest ihn – richtig! Ich habe ihn später geheirathet, gleich als ich aus der Pension kam. Dann – vier Wochen nach unserer Hochzeit, stürzte er in Baden-Baden bei einem Rennen und starb am anderen Tage.“
Lucien’s Augen hatten sich vor Erstaunen vergrößert. „O, wie traurig,“ sagte sie herzlich, „das thut mir leid! Und nun bist Du so einsam geblieben?“
Die junge Frau antwortete nicht; sie zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen: „Es ist das Schlimmste noch lange nicht.“ Nach einer Pause setzte sie flüchtig hinzu, indem sie wieder ihr Buch aufnahm: „Ich habe mich wieder verlobt und verheirathe mich in vier Wochen.“
Lucie wagte nicht zu fragen, mit Wem? Aber Hortense gab sofort Auskunft darüber: „Mein Bräutigam heißt von Wilken und steht bei den X.-Dragonern.“ – Sie wandte wieder den Blick in ihr Buch und schien bald angelegentlich zu lesen. Endlich legte sie die Lektüre beiseite, lehnte den Kopf an die Polster und schloß die Augen. Auch Lucie setzte sich bequemer zurück; ihre Gedanken flatterten voran in die neue Heimath, und allmählich beschäftigte sie sich ganz mit ihrer nächsten Zukunft.
Als sie an ihre unbekannte Schwiegermutter dachte, überkam sie eine gewisse Angst; sie holte ein Taschenspiegelchen hervor und sah zu, ob die geschnitzte Elfenbeinrose gerade sitzen geblieben und die Stirnlöckchen nicht allzusehr zerzaust seien. Endlich nahm sie Nähnadel und Faden und vernähte einen winzigen Riß in den braunseidenen Handschuhen.
So fuhren die Beiden schweigend dahin. Die regelmäßige Erschütterung des Wagens wirkte allmählich einschläfernd auf das junge Mädchen. Sie erwachte erst, als Frau von Löwen ihre Schulter berührte und sagte. „Wir sind gleich in Hohenberg.“ – Lucie bekam auf einmal heftiges Herzklopfen; mit zitternden Händen rüstete sie sich zum Verlassen des Wagens, während Hortense sie halb belustigt, halb mitleidig betrachtete.
„Du scheinst sehr aufgeregt?“ sagte sie.
„Mir ist angst!“ gab die kleine Braut zurück.
„Warum? Er wird wohl mit einem Strauß auf dem Perron stehen? Nicht?“
Lucie ward dunkelroth. „Ach, ich glaube es nicht,“ stotterte sie, aber ihre glücklichen Augen widersprachen den Worten.
Nun hielt der Zug, und Hortense von Löwen sagte ihrer Reisegefährtin Adieu. „Ich werde mich freuen, Dich bei mir zu sehen, Lucie.“
„Ich komme!“ versicherte Lucie, halb erstickt vor Angst, „und vielen Dank nochmals, vorläufig –.“
Hortense stieg aus dem Wagen und schritt über den Perron, vor dessen Eingang ein eleganter Einspänner hielt. Sie trat zu dem schönen Thiere heran, klopfte ihm den glänzenden Bug und Hals, sprang auf den hohen Kutschersitz und nahm die Zügel. Sie wartete dort noch auf ihren kleinen Koffer, als zwei Damen an ihr vorüber schritten und ein paar braune enttäuschte Augen zu ihr aufschauten – die kleine Reisegefährtin mit der Schwiegermutter. Der Bräutigam war also wirklich ausgeblieben. Sie sah ihnen nach. Die alte hagere Dame mit den scharfen Gesichtszügen in dem spießigen unmodernen Kaschemirumhange hatte sie keines Blickes gewürdigt. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, als hörte sie, was jetzt über sie gesprochen wurde.
„Kennst Du die Dame, mein Kind?“
„Ja, ich fuhr mit ihr – ja, von früher her; wir haben zusammen gespielt, und heute trafen wir uns zufällig wieder.“
„Das ist aber durchaus keine Bekanntschaft, die Du fortsetzen darfst! Diese Frau von Löwen ist eine ganz verdrehte exaltirte Person, sie reitet, fährt, raucht Cigarren –
In diesem Augenblick holte das rasche Fuhrwerk die Sprechenden ein; Hortense sah in eine verlegene erschreckte Miene, und das spöttische Lächeln verschärfte sich um ihren Mund.
„Sie sieht entsetzlich herausfordernd aus,“ seufzte die Frau Steuerräthin Adler. „Das sollte meine Tochter sein!“
Lucie wagte nicht zu widersprechen, obgleich eine Vertheidigung aus ihren Lippen schwebte. Und jene zwanzig Mark, die sie dem Portemonnaie der geschmähten Frau entnommen, die eben in einer Staubwolke auf der Chaussee ihren Blicken entschwand, brannten sie wie Feuer. – Sie war ein so liebes gutes Kind gewesen, und nun so?
Indessen flog der Wagen rasselnd über das schlechte Steinpflaster der Straßen, bog am Ende einer Gasse in ein Thor, das sich sofort hinter dem Gefährt schloß, und hielt nun vor einem von uralten hohen Rüstern umstandenen Hause. In der geöffneten Thür harrte ein alter Herr mit silberweißem Scheitel und in peinlich sauberem Anzuge der Kommenden. Er hatte sich auf einen Stock gestützt und streckte nun der jungen Dame die zitternde Hand entgegen. „Grüß’ Gott, Hortense! Es ist gut, daß Du wieder daheim bist!“
„Guten Tag, Großpapa!“ erwiderte sie, und seinen Arm nehmend, trat sie mit ihm in den großen kühlen Hausflur und leitete ihn in ein Zimmer zu ebener Erde, das elegante Gemach eines Kavaliers aus vergangener Zeit. Kostbar eingelegte Möbel mit Bronzeverzierungen; am Fenster, das nach dem Garten hinaufsah, der Sorgenstuhl mit verblichenem Brokat bezogen, davor auf dem Tischchen die Kreuzzeitung und die schwere goldene Dose neben dem Gothaischen Kalender. Dicke wollene Vorhänge vor Thür und Fenster, an den Wänden Bilder, Darstellungen aus den Befreiungskriegen, ein Portrait der Königin Luise, umgeben von ihren Kindern, Familienportraits in Unzahl, gepudert und bezopft und später mit zierlichem Titusgelock. Ein Pfeifenständer mit prächtigen Meerschaumköpfen; ein ausgestopfter Hühnerhund vor dem deckenhohen Spiegel; zwei Waffenschränke mit alten kostbaren Gewehren und eine Reiterstatue unseres Kaisers, halb verdeckt durch einen Lorbeerkranz mit breiter Schleife. Eine erstickende Wärme herrschte in dem Raume und eine tabaksdunstige Luft.
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[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] „Nimmst Du eine Tasse Schokolade?“ fragte der alte Herr und ließ sich am Kamin nieder vor einem Tischchen, aus welchem eine wappengeschmückte zu Hälfte geleerte Mundtasse stand, neben einem Schachbrett, welches zum Spiel bereit gemacht war.
„Ich danke, Großpapa!“ Sie blieb ruhig vor ihm stehen.
„Wie ist’s geworden, Hortense?“
„O, nicht gar so schlimm, Großpapa; die Sache ist geordnet, aber es hat mich viel gekostet. Papa ist bereits unterwegs nach der Schweiz; er beabsichtigt in Genf zu leben.“
„Hortense, sage die Wahrheit, wie viel ist es? Konntest Du noch allen seinen Verpflichtungen nachkommen? War es noch nicht zu spät? Ist etwas bekannt geworden? – Es wäre furchtbar peinlich, Hortense! – Ließ sich Wirth beschwichtigen?“
„Mit Geld lässt sich Alles erreichen, Großpapa!“ sagte sie gleichgültig.
„Schenke mir klaren Wein ein! Wie groß ist das Opfer, das Du bringen mußtest?“
„So groß, daß ich Dillendorf zum Verkauf gestellt habe.“
Der alte Herr erblaßte und fuhr empor. „Das durftest Du nicht!“ rief er erschreckt.
„Was sollte ich machen, Großpapa? Es war nur eine Wahl – Schande oder Trennung von Dillendorf!“
„Der Ehrlose!“ murmelte der alte Mann und fuhr sich mit dem seidenen Taschentuch über die Stirn. Eine lange Pause entstand. Sie lehnte jetzt wie schwach am Kamin mit zusammengepreßten Lippen.
„Ist ein Brief hier von Wilken?“ fragte sie endlich zögernd.
„Jawohl! Jawohl! Oben in Deinem Zimmer,“ erwiderte Herr von Meerfeld.
Es war, als athme sie auf „Ich hatte seit acht Tagen keine Nachricht,“ sprach sie, „obgleich ich ihm meine Berliner Adresse geschrieben. Ich will hinauf und mich umziehen. Und, bitte, Großpapa, sprich nicht mehr von Dillendorf, es ist mir so schwer, daran zu denken.“
„Seit zweihundert Jahren gehört es den Löwens,“ jammerte der alte Herr. „Wie hat Dein verstorbener Mann daran gehangen! Und durch diesen ehrlosen Menschen muß es verloren gehen!“
Hortense wurde dunkelroth. Der Ehrlose war ihr Vater. „Ja,“ sagte sie, „es war mir auch, als wenn ein Stück von meinem Herzen losgerissen wurde, da ich dem Agenten Auftrag zum Verkaufe gab. Aber nun sei still davon – es ist nicht anders.“
„Du konntest Hypotheken aufnehmen!“
Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt nicht, wie viel schon darauf lastet. Es ist doch nicht das erste Mal, daß ich in solcher Angelegenheit zu Papa reise.“
„Und Hortense, wenn nun Wilken mit seinem Vermögen eingesprungen wäre?“
„Ich hätte es niemals angenommen! Sollte ich zu ihm gehen und sagen: ,Mein Vater hat betrogen‘? – Ich will ihm nur schreiben, und zwar nachher gleich, daß ich große pekuniäre Verluste gehabt habe.“
„Wird ihn sehr erheitern,“ meinte der alte Herr ironisch.
„Er ist kein Mensch, der Ansprüche an das Leben macht.“
„Ja, so, ich weiß, er ißt Abends Butterbrot und Käse und hält Austern für ein ekelhaftes Futter. Aber dennoch! – Du hast zwar das Vermögen Deiner Mutter, aber was ist das gegen Dillendorf und die Summen, die auf so unerhörte Weise verlumpt sind!“
„Ich soll Dich von der Baronin Santen grüßen,“ unterbrach ihn die junge Frau rasch und nahm ihren Schirm vom nächsten Stuhl, um zu gehen.
„Hortense! Hortense!“ rief ihr der alte Mann nach, „erzähle doch, wo war sie? Wie sah sie aus?“
„Ich komme bald wieder; nur eine halbe Stunde der Ruhe!“
Sie schloß die Thür und ging durch den riesenhaften Flur die breite Holztreppe hinan zum obern Stock. Ein ältliches Stubenmädchen öffnete in dem langen Korridor eine Thür, und sie trat nun in ihr eigenes Wohnzimmer. Es war ein hohes weites Gemach mit mächtigem Balkenwerk unter der Decke, Wandtäfelungen und reich vergoldeter Ledertapete aus längst vergangener Zeit. Die vielen bequemen Polstermöbel modernen Ursprunges, der reiche Smyrnateppich, der den Boden deckte, nahmen sich fast fremdartig darin aus. Die Fenster waren geschlossen, und durch das Laub der Rüstern drang ein seltsam grünliches Licht in den Raum, das noch durch schwere türkische Vorhänge gedämpft wurde. Auf der Platte des großen Schreibtisches, der schräg gestellt die eine Ecke ausfüllte, lag ein Brief. Hortense kam hinüber und betrachtete das Schreiben, ohne es zu berühren, legte Hut und Schirm ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor ein lebensgroßes Männerportrait, welches neben dem Schreibtisch an einer Staffelei seinen Platz gefunden hatte.
Es war ein grenzenlos trauriger Ausdruck in ihren Augen. „Ein Ehrloser!“ murmelte sie, „es thut so wehe, so furchtbar weh! Und ich weiß doch, wie kein Anderer, daß es wahr ist!“ Ihre Stimme war allmählich lauter geworden; sie hatte die Hände an die Schläfe gepreßt, die letzten Worte klangen wie ein Wimmern.
Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sah den Brief an. Einmal streckte sie die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück und saß eine lange Zeit, ohne sich zu rühren. Endlich nahm sie doch das Schreiben, erbrach es und las. Schon nach den ersten Zeilen richtete sie sich aus ihrer nachlässigen Stellung auf, und je weiter sie las, desto starrer wurde die Haltung ihres Kopfes, desto höher die Röthe ihrer Wangen. Sie las das Blatt noch einmal und lachte laut auf. „Natürlich!“ sagte sie, und ihre Augen funkelten, „es ist zu komisch, es ist zum Todlachen!“ Sie sprang empor und stürmte, den Brief in der Hand, durch den Korridor, die Treppe hinunter, in das Zimmer des alten Herrn.
„Noch eine Neuigkeit, Großpapa!“ rief sie mit gezwungener lauter Stimme. Der alte Herr fuhr aus leichtem Schlummer in seinem Lehnstuhl empor und sah die vor ihm Stehende blöde an.
„Eine Neuigkeit? Doch eine gute, Hortense?“
„In der That, Großpapa – meine Verlobung mit Wilken ist aufgehoben!“ Sie lachte wieder, und dabei bebten ihre Schultern wie im Fieber.
„Aber, Hortense, das ist vorschnell von Dir, das ist verkehrtes Anstandsgefühl! Was gehen ihn die Streiche Deines Vaters an? Ich bitte Dich, Hortense, schicke den Brief nicht ab, redressire die Sache!“
„Ich?“ rief sie laut. „Er sagt den Handel auf, hier hast Du es schwarz auf weiß – da! Papa hat irgend etwas mit ihm vorgehabt; er drückt sich so zart, so schonend aus! Ich denke mir, Papa hat, wie schon öfter, einmal sein Glück im Spiele zu bessern gesucht. Wahrscheinlich hat man ihn dabei ertappt, und – wie komisch – gerade Wilken’s Kameraden müssen ihn abfassen! Nicht wahr, es ist lächerlich, Großpapa? Ich begreife nicht, daß Du –”
Der alte Mann haschte nach ihrer heftig gestikulirenden Hand. „Hortense, mein armes liebes Kind,“ sagte er weich, „sei ruhig, um Gotteswillen! Gräme Dich nicht, Hortense, hörst Du? Weine nicht! Wer Dich so leicht aufgiebt, ist keiner Thräne werth.“
„Ich weine ja nicht!“
„Es ist wahr, Kind, es wäre am Ende besser, Du weintest! Deine selige Mutter, meine arme Agnes, die konnte sich alles Leid von der Seele weinen. Bitte, Hortense, lache nicht so! Ich kann es nicht hören; es ist unnatürlich,“ fuhr er angstvoll fort, als die junge Frau von Neuem lachte. „Du weißt, ich konnte Wilken nie leiden, und Du bist noch so jung und schön; der Rechte wird noch kommen.“
Sie hatte aufgehört zu lachen und wandte sich zum Gehen, die Ohren mit ihren Händen zuhaltend.
„Bleibe noch ein wenig bei mir!“ rief er ihr nach.
Sie schüttelte abweisend den Kopf und eilte in ihr Zimmer zurück, ohne auf die angstvollen Rufe des alten Herrn zu achten.
Er fuhr nervös mit seinem Taschentuch im Gesicht umher, stieß beim Aufstehen die Wappentasse um, aus der er vierzig Jahre getrunken, daß sie klirrend zerbrach, und riß so heftig an der Klingelschnur, daß er die Quaste in der Hand behielt.
„Die Bertin soll kommen!“ schrie er dem Diener zu. Und bald darauf erschien eine kleine starke Dame, die Blässe des Schreckens auf dem vollen Gesicht und so athemlos, daß sie nicht sprechen konnte. „Bertin“ jammerte er, sie mit zitternden Händen am Aermel fassend, „Bertin, eilen Sie! Schnell, schnell! Madame ist in Verzweiflung – sie hat schlechte Nachrichten – Sie wissen, mein Herr Schwiegersohn!“
[7] Die alte Französin warf einen Blick zur Decke und stieß einen Seufzer aus. „Ich konnte es mir denken, mein Herr,“ sagte sie und ging hinaus. – Ihre Zimmer lagen durch die Breite des Hausflurs getrennt von denen des alten Herrn. Sie konnte nur schlecht die Treppen ersteigen und kam selten oder garnicht in die Räume ihrer einstigen Schülerin. Sie führte in ihrem Wohngemach zwischen alten Erinnerungen ein still beschauliches Leben mit ihrer Angorakatze, murrte, wenn sie schlechter Laune war, über das langweilige Dasein, schrieb ihre Memoiren, wobei sie die früher gewissenhaft geführten Tagebücher benutzte, und spielte jeden Nachmittag ihre Schachpartie mit Monsieur le Baron, wobei es außerordentlich zierlich und complaisant zuging. Sie hatte nur einen Kummer, das war die Undankbarkeit von Hortense, mit der diese ihre zweite Mutter, wie sie sich selbst zu nennen pflegte, behandelte. Hortense war so über alle Begriffe „selbständig“; sie vertraute ihr keinen Kummer an, fragte nie um Rath, und daher kam es natürlich, daß sie Narrheiten beging. Wenn sie öfter den Weg in Mademoiselles Zimmer hätte finden können, so – dann! Aber auch heute war sie ohne „guten Tag!“ nach oben gegangen. Es ist hart, so als Null behandelt zu werden!
Mademoiselle Bertin war, sich am Geländer haltend, mühsam die Stufen hinauf geschritten; nun hallte ihr tiefes Athemholen förmlich im Korridor wider. Sie trat dann feierlich in das Zimmer der jungen Frau; da flog im nämlichen Moment krachend die gegenüberliegende Thür des Salons zu und sehr hörbar ward ein Schlüssel umgedreht. Am Boden aber lag die große Photographie von Hortensens Vater, der Rahmen zerbrochen, das Glas zertrümmert und auf dem Bilde ein Blutfleck.
„Mon dieu! mon dieu!“ jammerte die entsetzte Dame, „was ist hier geschehen? Pauvre enfant! – Hortense!“ rief sie vor der Schlafstubenthür. „Ich bin’s! Oeffnen Sie, sagen Sie mir Ihren Kummer! Wir haben doch Alles gemeinschaftlich getragen!“ Aber es blieb todtenstill dort innen.
Unterdessen saß Lucie Walter am sauber gedeckten Tisch in der peinlich geordneten Wohnstube ihrer Schwiegermutter, der Frau Steuerräthin Adler, beim Abendessen. Sie saß mit dem vollen Gefühl des Fremdseins und wagte kaum aufzuschauen unter dem musternden Blick der zwei grauen Frauenaugen, die so unablässig jede ihrer Mienen beobachteten. Sie hätte weinen mögen: denn es war Alles so anders als sie gedacht! Sie hatte ein gutes behagliches Schwiegermütterchen erwartet, das sie, die Verwaiste, in die Arme nehmen würde, um sie herzlich abzuküssen. Und nun fühlte sie noch immer die kühle Berührung auf der Stirn, und von diesem Fleck strahlte eine förmliche Kälte durch ihren ganzen Körper und machte sie unfähig, liebenswürdig zu erscheinen.
Vor ihr auf dem Tische stand ein plumpes Bouquet aus Vergißmeinnicht und Goldlack, ein Willkommen des Bräutigams, der leider verhindert war sie zu empfangen, weil er plötzlich über Land geholt worden. Man sah es dem Strauße an, daß er von einer Gemüsefrau auf dem Wochenmarkt bezogen war. – Die Wurstschnittchen waren so unsagbar dünn, der Thee so merkwürdig hellblond, das Dienstmädchen so klein und halbgewachsen und die Mama so auserwählt fein und gemessen mit dem süßsäuerlichen Zug um den Mund! Tante Dettchen, die Schwester des verstorbenen Hausherrn, die auf der andern Seite des jungen Mädchens ihren Platz hatte, war das einzige freundliche Bild in ihrer rundlichen Fülle und mit ihrem gutmüthigen Gesicht. Nachdem Alfred ins Ungebührliche hinaus gelobt worden war und Lucie immer wieder gehört hatte, daß kein Mensch auf der Welt mehr eine gute folgsame, einfache Frau verdiene, als er, nahm Frau Steuerräthin eine frische Tasse Thee und sich in eine noch geradere Positur setzend, begann sie zu ihrer Schwägerin gewendet.
„Und, denke nur, wie unangenehm, liebes Dettchen, da ist Lucie aus Zufall mit der Löwen in einem Koupé gereist.“
Dettchen schien weiter nichts darin zu finden. Sie strich sich ein Butterbrot, das heißt, sie nahm ein unendlich winziges Theilchen Butter und kratzte mit dem Messer auf der ansehnlichen Schnitte energisch umher; Lucie konnte mit dem besten Willen nicht entdecken, auf welcher Stelle die Butter ihren Platz gefunden. „O! Ach!“ sagte sie kopfschüttelnd.
„Und sie haben mit einander gesprochen!“ fuhr die alte Dame fort.
„Warum auch nicht, beste Klara?“
„Na, ich dächte, man wüßte genug von der Gesellschaft! Dettchen, frage nicht so sonderbar!“
„Da kann doch die Tochter nichts dafür?“
„Die Kinder büßen für die Eltern,“ erklärte eifrig die alte Dame. „Ich weiß mit Bestimmtheit, daß es Alfred sehr unangenehm sein wird, wenn er dieses Zusammentreffen erfährt –. Der Vater ist ein Hans Liederlich, die Tochter eine gefallsüchtiges, unweibliches, hochnäsiges Geschöpf!“
Dettchen widersprach nicht mehr; sie aß ihr Butterbrot.
„Wie hat der Vater in Berlin gelebt!“ eiferte Frau Steuerräthin weiter, „wie ein Fürst! Es ist kein Jude in der ganzen Mark, dem er nicht schuldig wäre. Lucie erzählte mir da vorhin, die Gesellschaft hätte auch einmal bei ihnen gewohnt, sie zogen überall umher und blieben immer so lange, bis er sich vor Gläubigern nicht mehr retten konnte. Dann ging’s wieder in eine andere Stadt, das heißt, der ältere Bruder mußte ihn erst auslösen. Ein paarmal soll er die Geduld verloren haben und der Herr Baron mußte sitzen; aber das ist ja keine Schande. Schulden halber – das ist nobel! Schließlich hat der Bruder noch das junge Ding geheirathet, und den Herrn Vater wollten sie in Amerika kalt stellen; ja wohl! Das ging nicht – das hätte er nicht nöthig! – Der Bruder starb, die junge Frau erbte das Ganze, und nun schwindelt er ihr wer weiß wie große Summen ab. Am liebsten schlachtete er den alten Schwiegervater auch noch ein und das mütterliche Vermögen der Tochter – aber da ist ein Riegel vorgeschoben! Wenn ich nur wüßte, wozu der allmächtige Gott solche Drohnen, solch menschliches Ungeziefer, erschaffen hat!“
„Aber Klara!“ fiel Dettchen der Entrüsteten ins Wort.
„Schweig, Dettchen!“ rief die Schwägerin. „Hat der Unmensch nicht seine Frau todt geärgert? Das weiß jedes Kind hier! Ins Grab hat er sie gekränkt mit seinem Leichtsinn, seiner Treulosigkeit, seiner schlechten Behandlung; aber so etwas wird nicht wie ein Mord bestraft! Und was hat er aus der Tochter gemacht? Eine ganz unnütze Person, die vor Hochmuth toll ist. Wenn man sie auf der Straße grüßt, weiß sie nie, ob sie danken soll, hat eine Art und Weise gleichgültig an den Leuten herunter zu sehen, die – –“
„Aber Schwägerin, weßhalb grüßest Du sie denn?“
„Ich – sie grüßen? Das sollte mir fehlen! Die Räthin Wachsmann hat es mir erzählt, die war einmal bei ihr, um sie für den Frauenverein und die Kleinkinderbewahranstalt anzusprechen. Sie wollte ja recht gern Geld geben, hat sie erklärt, müsse aber bitten, von ihrer persönlichen Betheiligung abzusehen! – Es sind doch andere Leute in unseren Nähverein gekommen und haben die Kinder inspicirt, ob sie sauber gewaschen und gekämmt sind, als Frau von Löwen! Die Frau Landräthin z. B. Und was das Lächerlichste ist: ihre alte Erzieherin ist genau so hochmuthstoll wie sie.“
Die alte Dame schwieg ganz erschöpft, räusperte sich, nahm ein Stückchen Zucker in den Mund und trank ihren Thee. Auf diese Weise versüßte sie eine große Tasse mit einem winzigen Bruchtheilchen.
Tante Dettchen, die kein Wort der Verteidigung hatte, faltete bedächtig ihre Serviette zusammen und fragte, Lucie freundlich ansehend: „Soll ich Dir einmal den Garten zeigen, Kind, damit Dir das Warten auf den Schatz nicht so lang wird? Komm!“
Das junge Mädchen athmete sichtbar auf. Sie wünschte „gesegnete Mahlzeit!“ und schickte sich an, der Tante zu folgen. Da rief die schrille Stimme hinter ihr.
„Hat sie nicht gesagt, wann sie heirathet?“
Lucie wandte sich um. „In vier Wochen, wenn Du Frau von Löwen meinst, Mutter.“
„Na, ich gratulire ihm! Es giebt eben immer Gimpel, die sich einfangen lassen – es passirt den Besten.“
„Komm, Kind,“ mahnte Tante Dettchen, und Lucie folgte ihrer Führerin die steile finstere Holztreppe hinunter über einen winzigen Hof in den Garten.
[8]
Sagen und Gebräuche aus dem Paznaunthal.
Auch noch so reizend gelegene Orte können dem „Sommerfrischler“ mitunter auf einen Augenblick langweilig werden. Das erfuhr auch ich im August 1885 in Kufstein. Nicht als ob das hübsch zwischen hohen Bergen am Inn hingelagerte Städtchen an Reiz verloren hätte; ich selbst war inzwischen, mitten in der großartigen Natur, vereinsamt. In dieser Lage fiel mir der Artikel der „Gartenlaube“ über das Hochthal Paznaun in Tirol (1885, Nr. 21 und 22) ein, und ich erinnerte mich der öfter wiederholten Aufforderung unseres liebenswürdigen Meisters Mathias Schmid, doch einmal sein Heimaththal aufzusuchen. Der Entschluß dazu war nun rasch gefaßt, und ich brauchte mein Vorhaben nicht zu bereuen, denn der Besuch des Paznaunthals gestaltete sich zu einer wahren Studienreise, die reich an Eindrücken und Ergebnissen war. Und von diesen möchte ich hier namentlich diejenigen hervorheben, welche sich auf Sagen und Gebräuche beziehen und welche die Meisterhand von Mathias Schmid den Lesern der „Gartenlaube“ in bildlicher Darstellung vorführt.
Man ist in Paznaun wie in eine Märchenwelt versetzt. In Berg und Thal, auf den Alpen und in den Häusern setzen die alten Götter und Geistergestalten unserer Väter nicht bloß ihr mythologisches, sondern, nach der Meinung der Leute, ein wirkliches Dasein fort.
Zunächst begegnen wir hier den sogenannten Pütz, unter welchem Namen in anderen Gegenden die verschiedenartigsten mythologischen Gestalten auftreten. Bei den heutigen Paznaunern gelten sie für Menschen, welche nach ihrem Tode wegen einer begangenen Missethat auf Erden herumwandeln müssen, bis sie, wenn es überhaupt möglich ist, erlöst werden. Da die Verbrechen aber nie ganz aufhören und manche überhaupt nie gesühnt werden können, so muß es natürlich solche Pütz auch immer noch geben. In der That sah im Jahre 1848 ein als sehr geübter Schütze und Gemsenjäger nah und fern bekannter Mann einen Pütz, als er von Chur nach Hause zurückkehrte und zugleich mit seinem Begleiter in einer Sennhütte übernachten mußte. Sie machten ein Feuer an, aßen und lagerten sich auf der Lagerpritsche, wo sie noch Lagerstroh angetroffen. Kaum hatten sie sich aber in dieses gebettet, da hörten sie ein furchtbares Grunzen, wie von einem Schweine, durch das Gußloch herein. Der Begleiter zitterte vor Angst, zog sein Wams über den Kopf und verhielt sich mäuschenstill. Aber da sprang die Hüttenthür mit schauerlichem Rasseln auf, ein großer Mann mit einem graulodenen Wettermantel und einem großkrämpigen, auf der rechten Seite mit einem halbgespaltenen Holze aufgestülpten Hute trat herein und ließ sich neben dem Feuerherde nieder. Der Jäger wurde aber nicht eingeschüchtert, stieg von der Pritsche zu dem Unbekannten ans Feuerloch herab, machte wieder Feuer an und nahm, da das Holz mangelte, auch Bretter vom Hüttendache. So oft er dies that, schaute ihn der Unbekannte mit drohender Miene an. Lange saßen sie so neben einander, ohne ein Wort zu sprechen; endlich fragte der Jäger doch: was er da mache und wer er sei?
Der Unbekannte antwortete, er habe vor gar langer Zeit auf dieser Alpe, die einer Wittwe gehört, gehütet; als diese die Alpe an einen Anderen verpachtet, sei er bei diesem ebenfalls Hirte gewesen. Nach einigen Jahren habe aber der Pächter die Alpe als Eigenthum angesprochen, und in dem darüber entstandenen Processe sei er, der Unbekannte, auch vernommen worden; allein er habe unter einem falschen Eide ausgesagt, er sei nie bei der Wittwe Hirte gewesen, sondern nur bei dem Pächter. Dieser habe darauf hin den Proceß gewonnen, er aber sei von der göttlichen Gerechtigkeit bis zum jüngsten Tage auf diese Alpe verbannt worden; ob er aber dann selig werden könne, das wisse er nicht. Doch dürfe er sich in dieser Alpenhütte nur von der Alpenabfahrt bis zur Zeit der Auffahrt aufhalten; die übrige Zeit müsse er im Alpenreviere zubringen. Der Junker, der ihn zum falschen Eide verführte, sei hingegen auf ewig verdammt, müsse sich auf einem Kopfe der Alpe aufhalten und könne bei schlimmem Wetter
[9]mit einem Helme und langem Rocke, vergoldete Knöpfe daran, mit Degen und Hirschfänger auf einem Rappen durch steile Felsen reitend gesehen werden. Unter diesem Gespräche war vier Uhr Morgens herangerückt. Sausend und brausend verließ dann der Unbekannte wieder die Hütte, brüllte aber nochmals grunzend durch das Gußloch herein. Bei Tagesanbruch ist großer Schnee mit Nebel gelegen. Der Putz, den der Jäger auf der Alpe sah und hörte, ist unschwer als Wuotan zu erkennen, wie sonst im Nebelmännlein.
Mathias Schmid, welcher bei seinem letzten Aufenthalte in Paznaun auch diesen Schatz zu heben und künstlerisch zu verwerthen begann, hat aus den verschiedenen Arten von Pütz eine besondere herausgegriffen und zur Darstellung gebracht. Es ist ein Weib, das von einem Raben umflattert, auf der Alpe Lorrin auf einem „Marterl“ kauern muß, bis es endlich erlöst wird; denn es ist schuld, daß ein Mädchen vom Berge abgestürzt ist. Man sieht es der Gestalt an, wie hart der Bann, welcher sie dort gefangen hält, auf ihr lastet. In schmerzlicher Sehnsucht harrt sie darauf, daß endlich die Zeit der Erlösung nahe. Noch ist es zu früh, und kummervoll harrt sie weiter. Dieser Putz unterscheidet sich aber von einer anderen Art, welche erlöst werden kann, wenn sich zu rechter Zeit der geeignete Erlöser naht. Doch gerade dieses Los ist um so peinvoller, weil möglicherweise der nahende Befreier die Bedingungen der Befreiungsthat nicht bis ans Ende zu erfüllen im Stande ist. Es ist nämlich schon gar oft vorgekommen, daß so ein armer Putz schrecklich enttäuscht wurde. Er beobachtete lange das Thun und Treiben eines Senners oder Hirten, kam ihm vielleicht auch mannigfach dienstfertig entgegen, bis er sich endlich für überzeugt hielt, derselbe müsse sich dazu eignen, den bösen Zauber von ihm zu nehmen. Er vertraut ihm seinen Jammer an, theilt ihm auch die zu erfüllenden Bedingungen mit und zeigt sich ihm etwa in der strahlenden Schönheit einer Jungfrau, wie er sie gewinnen und besitzen soll, wenn er treulich Alles erfüllt haben wird. Theils Mitleid, theils Sehnsucht läßt den Senner zu Allem bereit sein; nichts, gelobt er, soll ihn abwendig machen, kein Anerbieten ihm je höher stehen, als der Besitz der erlösten Jungfrau. Er hat auch bereits die meisten Bedingungen erfüllt und Alles zurückgewiesen, was ihn von seinem Ziele abbringen sollte. Da endlich steigt doch einmal der Gedanke in ihm auf, nach etwas Verbotenem zu greifen und Alles ist umsonst gewesen.
Einen mythologischen Ursprung haben natürlich auch die Salige Fräulein. Die Mythologen wissen noch nicht mit Sicherheit, auf welche Gestalt der alten Mythe sie dieselben zurückführen sollen; man darf es daher auch den Paznaunern nicht verübeln, wenn sie sich um diesen Zusammenhang nicht kümmerten und aus den Salige Fräulein sich eigenartige Gestalten schufen. Jetzt sind sie Töchter Adam’s, welche noch im Paradies vor der Sünde ihres Vaters geboren wurden. Die Erbsünde ging auch deßhalb nicht auf sie über, sondern sie blieben in paradiesischer [10] Unschuld. Das Paradies verloren jedoch auch sie; ja, wenn sie nicht selbst durch den Umgang mit den sündigen Menschen verdorben werden sollten, so mußten sie sich vor denselben zurückziehen, und je weiter die Menschen sich verbreiteten, je mehr sie alle Ebenen und Thäler besiedelten, desto weiter mußten die Salige Fräulein fliehen, bis sie endlich nur noch auf Höhlen und Wälder angewiesen waren. Ganz entsprechend stehen sie mit ihrer nächsten Umgebung, den menschenscheuen Gemsen, auf dem vertrautesten Fuße. Sie, die sich selbst leicht und sicher, wie die Gemsen, an den Felsen hinauf- und hinunterbewegen, sind auch die Beschützerinnen dieser Thiere und hassen Niemand mehr, als die Gemsenjäger. Doch jeden Verkehr mit den Menschen meiden sie keineswegs. Manchmal kommt es schon vor, daß eines derselben an einen Hirten, dessen braves Walten und fromme Art, auch gegen die Gemsen, es beobachtet, herantritt, ihm leise auf die Schulter klopft und ihn anspricht. Es lädt ihn dann ein, das verlorene Paradies zu sehen und dessen Freuden zu genießen; denn wenn auch das biblische Paradies für sie selbst aufgehört hat, einen Ersatz haben sie doch dafür. Nur liegt es nicht mehr auf der Erde, sondern hat sich, damit die Menschen ungeheißen nicht dahinkommen, in die Erde geflüchtet. Wer da hineingekommen ist, der kann gar nicht sagen, welche Wunder an Reichthum und Schönheit er gesehen hat. Alles übertreffen aber die Salige Fräulein selbst, mit solchem Liebreiz und so zauberischem Gesange sind sie begabt. Wie rauh und armselig kommt dem Menschen, der dieses Glück gesehen und genossen, seine Welt vor! Unwiderstehlich zieht es ihn zu den Salige Fräulein zurück. Sie verwehren es auch demjenigen, welchen sie einmal in ihr Paradies geleitet, nicht, wiederzukommen und sich zu freuen, so oft er immer will; nur darf er anderen Menschen nichts davon verrathen. Das ist nun aber eine harte Probe. Den Sommer über geht’s, da kann man Tag für Tag den Bergsteig hinaufklimmen; aber wenn der Schnee das Wiederkommen unmöglich macht, dann nagt die Sehnsucht so schmerzlich an dem Herzen des Bevorzugten, daß er sein Geheimniß wenigstens dem theilnehmenden Mutterherzen verräth. Damit ist auch das wiedergefundene Paradies verscherzt. Wenn er wieder an den Eingang kommt, ist er ihm versperrt, und keines der Salige Fräulein ist mehr zu sehen. Sein Schmerz steigert sich zur Verzweiflung. Er weiß jedoch, wie er sie dafür strafen kann, und wird Gemsenjäger. Da sieht er freilich nochmals eine der Adamstöchter, wie sie ihre Gemse vor seinem Schusse schützt und an ihn herantritt, zornig und doch schmerzerfüllt. Er kann ihren Anblick nicht mehr ertragen. Sein Fuß wankt; er stürzt, und zerschmettert liegt er unten im Thale.
Die künstlerische Phantasie Mathias Schmid’s hat die Salige Fräulein am Jamthaler Gletscher gesehen, und ich kann es nur als einen glücklichen Gedanken bezeichnen, daß er ihr Bild sofort mit dem Stifte festgehalten hat. (Vgl. S. 13.) Er hat damit nicht bloß gezeigt, welche reiche Motive der Kunst unsere germanische Mythologie und der Volksglaube bieten können, sondern seinem Heimaththale einen neuen Reiz verliehen. Gar Manchem, der es künftighin besuchen und den mühelosen Steig zum Jamthaler Gletscher gehen wird, werden nunmehr dort auch die Salige Fräulein erscheinen.
Scheinbar einen modernen Gegenstand, eine thalübliche Sitte stellt unsere Vignette, das Spalunkesgehen (S. 8), dar. Ein junger Bursche, welcher endlich den letzten Schritt zur Verlobung thun will, geht in der Abendstunde, begleitet von seinem besten Freunde, zum Hause seiner Auserkorenen, nachdem vorher ein Fäßchen an seiner Seite im Wirthshause mit Wein gefüllt worden. An dem Hause angekommen, legen die beiden eine Leiter an, der Bursche steigt auf derselben, die vom Freunde gehalten wird, an das Fenster des Mädchens, klopft und fordert ein entscheidendes Wort. Ist es zu gleichem Entschlusse bereit wie der Bursche, so geht Alles in die Wohnstube. Am Herde beginnt das Backen, und darauf folgt ein einfaches, aber, es läßt sich denken, fröhliches Mahl. „Ich siech (sehe) Di,“ sagt der Freier und stößt an. „Ich hör Di,“ antwortet ihm das Mädchen. „Ich han Di scho öfter g’sehn“, ergreift jener nochmals das Wort, worauf dieses versetzt: „Wenn’s mir’s bringst, lass’ ich’s g’schehn.“ Die Verlobung ist fertig. Das Paznauner Völkchen weiß nicht mehr, warum es gerade so seine Verlobung feiert. Es ist eben Sitte. Aber die Forscher vermuthen mit Recht, daß diese Sitte in alten Ueberlieferungen wurzelt. Die Ehen kamen in heidnischer Zeit durch Kauf zu Stande, der Kauf aber durch Vertrag, und der Vertrag wurde durch einen Weinkauf bestätigt, welcher jedoch öffentlich sein mußte, weßhalb an die Personen, welche Zeugen des Geschäftes sein sollten, Wein vertheilt wurde. Ein so ausgesprochenes Beispiel von wirklichem Weinkaufe bei der Ehe scheint sich außer in Paznaun nirgends erhalten zu haben, und wir müssen Mathias Schmid dafür dankbar sein, daß er uns auf diesen Zug aufmerksam gemacht hat.
Die Nervenschwäche (Neurasthenie).
Ein französischer Philosoph, Michelet, that den Ausspruch, gewisse Jahrhunderte seien durch bestimmte vorherrschende Krankheiten charakterisirt, so das 13. Jahrhundert durch das Herrschen des Aussatzes, das 14. Jahrhundert durch die Verheerungen der Pest, des „schwarzen Todes“. Wollte man dieser Behauptung eine Berechtigung zusprechen und demgemäß nach der Krankheit forschen, welche als unserem Jahrhunderte eigenthümlich zu bezeichnen sei, so würde ich das 19. Jahrhundert das der Neurasthenie nennen.
In der That, es hat manch Bestechendes für sich, unser Zeitalter als das nervenschwache Jahrhundert zu bezeichnen. Die Zeit, in welcher die Dampfkraft das All beherrscht und jegliche Arbeit sich mit überstürzender Hast vollzieht, stellt auch die höchsten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der menschlichen Maschine, besonders aber an den Motor der Letzteren, das Nervensystem. Der Kampf um das Dasein, den die Gegenwart mit vollkommneren Waffen als in früheren Jahrhunderten, aber auch hartnäckiger und eingreifender führt, veranlaßt in allen seinen Stadien ein stürmisches Aufgebot der Kräfte unseres Organismus, hält jedoch vor Allem das Denken und Fühlen, das Sinnen und Trachten, das Forschen und Erwägen, kurzum die Thätigkeit der Nerven in steter Spannung. Was Wunder, daß die Maschine frühzeitig abgenutzt, daß die Nervenkraft leicht erschöpft wird.
Das Nervensystem des Kindes wird schon durch die Schule mit ihren immer höher geschraubten Anforderungen in einer Weise in Anspruch genommen, welche in Bezug auf körperliche wie geistige Anstrengung nicht immer der zarten Organisation des kindlichen Alters Rechnung trägt. Mit den staunenswerthen Leistungen der Schule der Gegenwart geht als dunkler Schatten eine beklagenswerthe Nervenschwächung der Jugend einher. In der weiteren Entwickelung des Menschenlebens bringt die Periode der Berufsarbeit dem Manne im Wettbewerbe um den Preis der Existenz gar viele Momente der Ueberanstrengung der nervösen Apparate, während auf der anderen Seite das gesellschaftliche Leben mit seiner Jagd nach raffinirten Genüssen Ueberreizung und Uebermüdung des Nervensystems herbeiführt. Die moderne Erziehung unserer Mädchen mit der Ueberbürdung durch geistigen Ballast und mit Vernachlässigung der körperlichen Entwickelung führt zu Angriffen auf die Nervenkraft, welche nicht spurlos später an der Gattin und Mutter vorübergehen und als schlimmste Folge die erbliche Belastung der neuen Generation mit angeborener Nervenschwäche mit sich bringen.
Als Nervenschwäche, Neurasthenie, bezeichnet man jenen abnormen Zustand des Nervensystems, der sich im Wesentlichen und in erster Reihe durch erhöhte Reizbarkeit und herabgeminderte Leistungsfähigkeit der Nerven kennzeichnet. Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, die feine und vielgestaltige Organisation des Nervensystems näher zu schildern und das Detail anzugeben über die nervösen Apparate des Gehirnes, des Rückenmarkes und der Nerven, durch welche die Seelenthätigkeit, das Bewußtsein, die Empfindung, das Denken, Fühlen und Wollen, die der Willkür unterworfenen und unwillkürlichen Bewegungen, die ernährenden und absondernden Vorgänge im Organismus zu Stande gebracht werden. Nur so viel sei erwähnt, daß all dies vorerst auf der Fähigkeit der Nerven beruht, durch Reize in erregten Zustand versetzt zu werden, Reize, welche vom centralen Nervensystem ausgehen oder die Endausbreitungen der Sinnes- und Gefühlsnerven treffen und welche mannigfaltiger Natur, mechanischer, thermischer, chemischer Art sein können. Damit die Nerven durch solche Reize in eine normale, dem Zwecke der Nervenfunktion entsprechende Erregung versetzt werden, müssen in der Nervensubstanz reguläre Ernährungsvorgänge stattfinden. Sobald diese letzteren, aus welchem Anlasse immer, beeinträchtigt sind, leidet auch die Arbeitskraft der Nerven. Wenn die Ernährung der Nerven in unzureichendem Maße erfolgt, so ist Erhöhung ihrer normalen Erregbarkeit gewöhnlich die erste Folgeerscheinung. Bei länger dauernder wesentlicher Beeinträchtigung der Nervenernährung wird die Erregbarkeit der Nerven unter die Norm herabgesetzt, ja unter Umständen völlig aufgehoben und vernichtet.
Der Anlässe, durch welche die Ernährungsvorgänge in den Nerven leiden, giebt es gar viele. Sie können in schlechter Blutbeschaffenheit, in krankhaftem Stoffwechsel, in übermäßiger Anstrengung der Nerven, in gehäufter Erregung ohne Ruhepausen, überhaupt in jeder unzweckmäßigen Lebensweise gelegen sein. Darum tritt die Nervenschwäche so häufig als Begleiterin der mannigfachen fieberhaften wie fieberlosen (chronischen) Erkrankungen auf. Deßhalb ist dieser Zustand auch beiden Geschlechtern [11] gemeinsam, wenngleich naturgemäß bei dem „zarten Geschlechte“ häufiger auftretend, als bei dem männlichen. Daß die Neurasthenie in den sogenannten gebildeten Kreisen der Großstädter, unter den oberen Zehntausend, weit häufiger herrscht als auf dem Lande, unter Arbeitern und Oekonomen, findet in dem Umstande Erklärung, daß bei den Letzteren glücklicherweise den Nerven noch keine übernatürlich große Rolle eingeräumt zu werden pflegt.
Die Neurasthenie, nebenbei bemerkt ein Zustand, welcher schon vor Jahrtausenden, wenn auch nicht so oft wie in der Gegenwart, den Menschen heimsuchte, giebt sich durch die verschiedenartigsten Zeichen und Erscheinungen kund, welche, in so bunter Gestalt sie immer auftreten, doch nur darauf beruhen, daß das Nervensystem durch geringe Reize, also bei scheinbar unbedeutenden Anlässen rasch und hochgradig in Erregung versetzt wird, daß es seine Widerstandskraft mehr oder minder eingebüßt hat und daß es nach kurzer Zeit seiner Thätigkeit in Ermüdung verfällt, welche bis zur Erschöpfung herabsinken kann. Solch geschwächtes Nervensystem vermag sich gegen krankmachende Ursachen nicht energisch zu behaupten, und so bietet die Nervenschwäche häufig genug den Ausgangspunkt ernster Nervenleiden und Geisteskrankheiten. Nervenschwache Personen sind schon durch ihr Auftreten und Benehmen, durch ihr Wesen und Gebahren kenntlich. Ihre hohe Reizbarkeit und gesteigerte Empfindlichkeit, ihre körperliche und geistige Unruhe, ihr rascher Wechsel in Empfindung und Anschauung, ihre leichte Ermüdung giebt sich äußerlich genugsam kund. Sie vermögen nicht lange auf einem Platze ruhig zu bleiben, sie lieben in ihren Arbeiten und Erholungen die Abwechslung, sind durch Kleinigkeiten in Zorn und Erregung zu bringen und bereuen schnell wieder diese Aufwallung, zeigen große Launenhaftigkeit, in derselben Stunde oft ohne ernsten Anlaß himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt.
Die gesteigerte Empfindlichkeit tritt in den verschiedensten Nervenbahnen hervor. Die Nervenschwachen klagen über heftiges Kopfweh, Eingenommensein des Kopfes, Augenschmerzen, Flimmern vor den Augen, Schwindelgefühl, Ohrensausen, Empfinden eigenthümlicher Geräusche in den Ohren, sonderbare Geruchsempfindungen, Rückenschmerzen, Gliederreißen, schmerzhafte Gefühle in den Muskeln und Knochen, ohne daß sich selbst durch die genaueste ärztliche Untersuchung in diesen Organen Veränderungen nachweisen lassen, welche eine Erklärung für den Sturm von Schmerz und Qual zu bieten vermögen. Die Klagen solcher in ihrem Nervensysteme geschwächter Personen finden aus diesem Grunde bei der Umgebung und auch bei Aerzten oft genug nur taube Ohren. Anfangs bemitleidet man die ewig Klagenden; später findet man sie langweilig, und endlich werden sie zum Gegenstande des Spottes. Um so ungerechtfertigter ist das Letztere, als die Nervenschwachen sich ja all die unangenehmen und peinlichen Empfindungen nicht etwa „einbilden“, wie der Laie sich ausdrückt, sondern thatsächlich fühlen. Durch die erhöhte Reizbarkeit des Gehirnes und der gesammten Nerven, welche mit der Neurasthenie einhergeht, kommt es bei den nervenschwachen Personen häufig zu peinigenden Angstgefühlen und quälenden Zwangsvorstellungen, die bei den geringsten Anlässen auftreten und hoch anschwellend alles Denken und Trachten gefangen nehmen, so daß es zuweilen schwierig wird, die Entscheidung zu treffen, ob es nicht bereits zur wirklichen Umnachtung des Geistes gekommen ist.
Eine eigenthümliche Form solcher Angstgefühle ist, daß mancher Nervenschwache, der sich sonst beim Gehen selbst weiter Strecken und beim Steigen auch hoher Berge ganz wohl fühlt, außer Stande ist, allein über einen großen, freien Platz zu gehen. Sobald er nur den Platz erblickt, tritt bei dem Bedauernswerthen sogleich Herzklopfen und Schwindel ein; auf der Stirne perlen die Schweißtropfen, die Hände und Füße fangen zu zittern an, vor den Augen flimmert, vor den Ohren saust es, und während der Kranke sich wie an den Boden gefesselt fühlt, ist ihm ein Vorwärtsschreiten fast unmöglich. Der Arme ist nicht im Stande, über den Platz zu kommen, und schlägt lieber einen größeren Umweg ein, um an sein Ziel zu gelangen; hat er sich aber dennoch zu überwinden vermocht und den Versuch zum Ueberschreiten des Platzes gemacht, dann kehrt er sicherlich auf halbem Wege zurück, und nichts vermag ihn zu bewegen, wieder vorwärts zu gehen. Wenn der solchermaßen von „Platzangst“ Gequälte Jemand neben sich hat, und wenn es auch nur ein Kind wäre, an das er sich halten kann, so kann er seinen Weg über den Platz nehmen. Ebenso genügt zuweilen zur Bannung dieser Angst, wenn der Betreffende sich auf einen Stock oder Schirm stützen kann, oder wenn er langsam dicht hinter einem Wagen, welcher den Platz passirt, einherschreitet und sich des Fuhrwerkes gleichsam als Führers bedient. Ein ähnliches Angstgefühl befällt wiederum andere nervenschwache Personen, wenn sie in geschlossene Räume eintreten, welche von Menschen erfüllt sind. Es ist ihnen darum nicht möglich, das Theater, den Concertsaal, die Kirche zu besuchen, und machen sie den Versuch hierzu, so treten mit unwiderstehlicher Gewalt beängstigende Vorstellungen, Schwindelanfälle, ja selbst Ohnmacht ein. Solche mit zwingender Macht plötzlich auftauchende Angstgefühle machen sich zuweilen auch beim Alleinsein in einem Zimmer, bei geschlossenen Fenstern und Thüren, beim Ueberschreiten einer Brücke, beim Fahren auf der Eisenbahn, bei Benutzung eines Bootes bemerkbar.
Der eingreifende Einfluß, den die allgemeine Nervenschwäche auf die Verdauungsorgane, auf den Magen und Darm mit ihrem Drüsenapparate übt, giebt sich durch wesentliche Störungen in der Thätigkeit dieser für die Erhaltung des Körpers so wichtigen Werkzeuge kund. Das normale Hunger- und Sättigungsgefühl ist beeinträchtigt, die Verdauungsflüssigkeiten werden in abnorm veränderter Menge oder krankhafter Beschaffenheit abgesondert, die Bewegungen des Magens und Darmes sind gehemmt oder beschleunigt, und eine Menge von Beschwerden und Unbehaglichkeiten begleitet jenen Akt, der beim gesunden Menschen stets mit einem gewissen Wohligkeitsgefühle verbunden ist, das Verdauen einer Mahlzeit. Gerade die Störung und Beeinträchtigung, welche die Verdauungsorgane bei Neurasthenie erleiden, sind von einschneidender Bedeutung, indem hierdurch die Gesammternährung des Körpers leidet und so der geschwächte Organismus dem Weiterschreiten der Krankheit noch geringeren Widerstand zu leisten vermag.
Schon aus den wenigen Strichen, mit denen ich in voranstehenden Zeilen die Neurasthenie skizzirte, ist ersichtlich, daß diese Krankheit unter wechselreichen Erscheinungen auftritt. Da sie aber erfahrungsgemäß einen fruchtbaren Boden für das Emporwuchern ernster Nervenkrankheiten abgiebt, müssen schon die frühesten Zeichen einer erhöhten Reizbarkeit, leichten Hinfälligkeit und herabgesetzter Widerstandsfähigkeit der Nerven wohl beachtet und bekämpft werden.
Es geschieht dies Letztere sowohl durch angemessene Kräftigung des Gesammtorganismus und hierdurch verbesserte Ernährung des Nervensystems, als auch durch psychische Beeinflussung und Hebung der Willensenergie. Ein Haupterforderniß jeder Kur der Neurasthenie, das allerdings oft schwer zu erfüllen ist, geht dahin, die Ursachen, welche die Nervenschwäche hervorriefen oder förderten, zu heben. Darum ist es so wichtig, den Nervenschwachen, wenn irgend möglich, aus seinen gewohnten Verhältnissen herauszureißen und in eine angenehme ruhige Landgegend zu versetzen, wo der Stoffwechsel neu belebt und angeregt wird, dabei aber an die Nerventhätigkeit die geringsten Ansprüche gestellt werden. Jede Gelegenheit zur Anspannung, Aufregung und Ueberreizung der Nerven muß sorgfältig vermieden; jegliche Arbeit des Körpers und Geistes, jeder Genuß soll nur mit Maß gestattet werden, damit die Nervenkraft sich erhalten oder wiederherstellen kann.
Wo Nervenschwäche in einer Familie den Kindern als unwillkommene Erbschaft bereits in der Wiege zufällt, erfordert die Erziehung von frühester Jugend an ganz besondere Sorgfalt. Man muß vorzüglich bestrebt sein, die Widerstandsfähigkeit des Nervensystems zu heben. Die Kinder dürfen bei aller Sorgfalt für ihr körperliches Gedeihen nicht verweichlicht und verwöhnt werden; sie müssen angehalten werden, ihre Launen und Stimmungen zu beherrschen. Ihr Geist bedarf ebenso wie ihr Körper einer strengen, richtigen Schulung, ausreichender Kräftigung und Uebung ohne Ueberanstrengung. Zu Jünglingen herangereift, müssen solche angeboren Nervenschwache sich vor übermäßigem Genusse geistiger Getränke hüten, Ausschweifungen aller Art meiden, aber auch das Gehirn nicht durch allzu emsiges Studiren überbürden. Bei Tage ist der körperlichen Bewegung im Freien, zweckentsprechender Gymnastik, genügende Zeit zu widmen, die Nacht aber der vollen Ruhe, ausreichend langem Schlafe zu bestimmen. Manchem Studenten, der von Haus aus nervenschwach veranlagt ist, hat nicht so sehr die wissenschaftliche Tagesarbeit als das nächtliche Kneipen und Schwärmen das Nervensystem ruinirt. Wichtig ist es aber, wenn bei nervenschwachen Kindern [12] der Beruf mit Vorsicht gewählt wird. Wo die in der Familie herrschende Nervenschwäche hochgradig ist und sich in früher Jugend bereits bedenkliche Zeichen dieses Krankheitskeimes kundgeben, da soll der junge Mann einem solchen Berufe zugeführt werden, welcher dem Ehrgeize und den Leidenschaften geringen Antrieb gewährt und eine mehr beschauliche, ruhige Lebensweise gestattet, wie dies ja bei manchem bürgerlichen Gewerbe und in der Landwirthschaft der Fall sein kann. Die jungen zur Nervenschwäche erblich geneigten Mädchen müssen besonders vor dem Lesen schlechter Bücher und vor dem Umgange mit überspannten Genossinnen bewahrt werden, damit nicht die Phantasie ungezügelte Herrschaft gewinne und Ideen wecke, welche in einer vernünftigen Ehe ihre Erfüllung nicht finden können.
In der Behandlung der Nervenschwäche kommen vorzugsweise die den Organismus kräftigenden Methoden in Anbetracht, bei denen kühle und kalte Abreibungen, Seebäder, Stahlbäder, Eisenmoorbäder neben stärkenden inneren Mitteln, einer geeigneten Ernährungsweise und Aufenthalt in gesunder schöner Landschaft die Hauptrolle spielen und je nach der Konstitution des Kranken zur Anwendung gebracht werden. Bei hohen Graden von Neurasthenie ist die Unterbringung in einer Kuranstalt, welche den Kranken frei von äußeren Beeinflussungen und Eindrücken unter besondere Beobachtung und Pflege stellt, von großem Nutzen.
Auf die kräftige Ernährung ist bei Nervenschwachen ein Hauptgewicht zu legen und nach dieser Richtung sucht besonders eine Nährmethode zu wirken, welche zuerst von einem amerikanischen Arzte, Weir-Mitchel, gegen schwere Formen von Neurasthenie empfohlen und seither von hervorragenden Autoritäten erprobt wurde. Dieses Verfahren, die sogenannte Fütterungskur, zielt dahin, in einer kurzen Zeit, innerhalb weniger Wochen den allgemeinen Kräftezustand, die Ernährungsverhältnisse sämmtlicher Körpergewebe und besonders diejenigen des Nervengewebes in auffälliger Weise aufzubessern. Durch systematische Zufuhr einer allmählich sich steigernden, enormen Menge von Speisen innerhalb vierundzwanzig Stunden wird Blut und Fett in reichlichem Maße neu gebildet und das Gewicht des Kranken in kurzer Zeit um viele Pfunde vermehrt. Zu dieser Kur gehört jedoch, daß der Nervenschwache aus seiner gewohnten Umgebung entfernt (ja sogar unter Umständen in eine besondere Anstalt gebracht) werde und absolute geistige Ruhe bewahre, während die körperliche Bewegung fast nur auf Massage beschränkt wird. Es ist staunenswerth, welche Unzahl von Speisen die Kranken bei solcher Fütterungskur vertragen, und die günstigen Resultate bezüglich der Besserung des Nervenleidens sind zuweilen überraschend. Aber auch ohne derartige strenge Mastdiät vermag schon eine kräftig nährende, leicht verdauliche Kost zur Hebung der gesunkenen Nervenernährung ganz Bedeutendes zu leisten.
Wenn bei einer solchen Nährweise schwere Weine und starkes Bier oft eine wichtige Rolle zur Hebung der Kräfte spielen, so müssen doch andrerseits Nervenschwache vor dem unmäßigen Genusse geistiger Getränke gewarnt werden. Dazu sowie zu dem Mißbrauche der Opiummittel sind gerade Nervenschwache sehr geneigt, weil sie im Weine und Alkohol ein Reizmittel und im Opium ein angenehmes Beruhigungsmittel finden; doch Wein und Opium sollen hier nur als Arzneimittel zum sorgsamen und seltenen Gebrauche Anwendung finden. Nur zu leicht gewöhnen sich die in ihren Nerven geschwächten Personen daran, durch stärkere alkoholhaltige Getränke künstlich die Nerven aufzustacheln und anzuspornen, und sinken dadurch von Stufe zu Stufe in den Sumpf der Alkoholvergiftung. Oder sie lassen sich, um ihre Schmerzen zu stillen, zum Genusse von Opium verleiten, spritzen sich Morphium unter die Haut ein und verfallen in das Siechthum des Morphinismus. Auch mit anderen Reizmitteln, mit dem Trinken von starkem Kaffee und Thee sowie mit Tabakrauchen, welche ja für einige Zeit die ermüdeten und geschwächten Nerven flüchtig zu beleben vermögen, treiben die Nervösen leicht Mißbrauch, der sich dann durch dauernde Verschlimmerung des Nervenleidens rächt.
Von Wichtigkeit ist bei Behandlung der Nervenschwäche, daß der Arzt auch einen psychischen Einfluß auf den Kranken übe, daß er diesen lehre, die Willenskraft zu erhöhen, die Nerven zu stählen, daß er ihm Selbstvertrauen einflöße und daß er ihm eine geeignete Diätetik der Seele vorschreibe. Dazu aber, daß die Nervenschwäche keine noch größere Verbreitung nehme und nicht unsere ganze Generation erfasse, dazu sollte jeder Gebildete in seinem Kreise durch Beispiel und erzieherisches Wirken beitragen. Er sollte eintreten in den Kampf gegen jene Mächte, welche unser Geschlecht entkräften, gegen das wüste Jagen nach Reichthum, das ruhelose Streben nach „Immer mehr!“, das schrankenlose Genießen der Sinnenlüste, das ewige Hasten nach Geld, Auszeichnung und Macht. Er sollte dahin mit streben, daß sittliche Selbstzucht und geistige Beherrschung gepflegt werde, daß Jedermann in seiner Arbeit Befriedigung finde, daß edlere Genüsse als nur materielle anzustreben sind und daß das reine Glück still friedlichen Familienlebens zur höchsten Schätzung gelange.
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Ein seltsam ergreifendes Bild war es, das sich an jenem Märzabend des Jahres 14.., in einem wilden Felsenthale, an der Ostküste Siziliens, dem Auge darbot. Auf einem Felsblock, die schmalen weißen Hände über die Kniee gefaltet, saß eine Jungfrau; sie trug das Gewand der Novizen des Ordens des San Benedetto. Ein wunderbarer Adel aber lag über der feinen, unter diesem einfach groben Anzug wie verschleierten Gestalt. Nicht für diese Nonnentracht schien das Mädchen geschaffen; nicht für hölzerne Sandalen dieser kleine Fuß, der unter der Kutte hervorblickte, nicht für die schmalanliegende Klosterhaube dies edelgeformte Haupt und das von schwarzen Locken umrahmte, griechisch geschnittene Antlitz; und dies tiefe Auge, mit den langen, wie aus Seide gewebten Wimpern und mit dem feuchtverklärten, so wunderbar leuchtenden Blick – nein! für die matte, kerzenzitternde Dämmerung einer engen Kapelle war dies Auge nicht geschaffen, sondern für die weiten, goldblitzenden Räume eines Fürstenschlosses, für das Wogen und Weben eines königlichen Hofstaates, unter schimmerndem Kronleuchter, inmitten von Rittern und Edelfrauen, mit Diamantengeflimmer und Geschmeidegefunkel!
Weitgeöffnet, mit dem Ausdrucke des Schreckens und doch wieder des trotzigen Muthes, haftete das Auge auf der Erde, wo, zu Füßen der Jungfrau, von den Wellen des aus dem Felsen brechenden Quells bespült, mit zerschmettertem Kopfe ein mächtiger Wolf lag, langsam zog sich ein Streifen schwarzen Blutes von der klaffenden Wunde in dem Wasser hin. Den nackten Fuß aber auf des Ungethüms Nacken gestemmt, mit der Linken an seinen langen, knorrigen Hirtenstab gelehnt, und mit einem siegreich kühnen Jubel im Auge, beugte sich ein Jüngling – fast ein Kind noch war er zu nennen – zu dem Mädchen hin. Stolzer sah wohl auf dem Altarbilde kein drachentödtender Erzengel Michael aus, als dieser kleine Hirt, in seinem zerrissenen Lumpenanzug, mit dem lose flatternden Schaffell über dem Rücken. Sein Auge suchte des Mädchens Blick, es suchte ihn mit einem Ausdruck von verzehrender Sehnsucht, die aber zugleich mit wilddrohender Entschlossenheit um Erwiderung flehte. Unter seiner von krausem Lockenhaar halbverdeckten Stirn zogen sich des Knaben Brauen zusammen und krampfhaft zuckte sein Mund, als dränge sich gewaltsam eine nach Antwort ringende Frage über seine Lippen.
Langsam erhoben sich jetzt der Jungfrau Augen zu ihrem Retter empor, und wie der Blick dieser wundersamen Augen den Knaben traf, da war es, als eröffne sich der Himmel über ihm, so ergoß sich über sein Antlitz ein Leuchten von seliger Freude.
„Wie gut bist Du, und wie stark!“ sprach das Mädchen, „Du hast mich geschützt und gerettet, nimm hin meinen Dank aus vollem Herzen.“
Sie reichte ihm ihre Hand hin. Es war eine Gebärde, wie von einer Fürstin, langsam und voll würdevoller Grazie, zum Handschlage wohl weniger, als zum ehrerbietigen Handkusse hingereicht. Ihre Hand faßte der Knabe rasch in die seinige, und – kam es von jener eine Huldigung herausfordernden Gebärde? – auf ein Knie ließ er sich nieder vor der Jungfrau und sagte:
„Ach, Schwester Speranza, wie glücklich bin ich heute!“
Mehr vermochte der Knabe nicht über seine Lippen zu bringen. Die Worte, die er suchte, die den Gefühlen, welche so gewaltig in seinem Herzen tobten, Ausdruck geben sollten, er fand sie nicht. Was waren aber auch Worte? und was brauchte er zu sprechen? Er war glücklich, und er hatte es ihr gesagt, und weiter hatte er ihr nichts zu sagen.
Speranza zog langsam ihre Hand aus der seinigen. Ein trauriges Lächeln flog über ihre Züge, als sie sagte:
„Nino, liebes Kind! so gerne gäb’ ich Dir Etwas, und die Dankesgefühle, die ich von diesem Tage an für Dich im Herzen trage, in ein Erinnerungsgeschenk möchte ich sie einschließen, auf daß Du diese Stunde und meine Dankbarkeit niemals vergessen mögest; sprich, Nino! was soll ich Dir geben? Dein Wunsch soll für mich wie ein Befehl der heiligen Jungfrau sein. Hier freilich nenne ich nichts mehr mein Eigen, aber später, wenn ich wieder frei sein werde ...!“
„Doch, ja!“ rief aufspringend der Knabe, und ein Blitz schoß aus seinem Auge, „ja! Etwas nennst Du Dein Eigen, Speranza! Und wenn Du mir es geben wolltest ... ach! den Saum Deines Kleides würde ich küssen, als wärst Du die heilige Madonna selber, und ich Dein Knecht für alle Ewigkeit!“
Sie schien zu errathen, wovon er sprach: aus einer Brustfalte ihres Gewandes blinkte der goldene Arm eines kleinen Kreuzes hervor, das sie, an einem schwarzen Bande befestigt, um den Hals gebunden trug.
„Mein Kreuz willst Du haben?“ fragte sie, aber mit welchem Beben in der Stimme! Und wie umflorte plötzlich ein Ausdruck tiefen Schmerzes ihr schönes, sinniges Auge!
„Wie ein Befehl der heiligen Jungfrau, sagtest Du, solle mein Wunsch für Dich sein,“ erwiderte Nino rasch. „Siehe! auf Deinem Herzen trägst Du das Kreuz, ... laß es auf meinem Herzen ruhen!“
Sie antwortete nicht. Leichenblässe bedeckte ihr Angesicht. Sie ließ das Haupt auf ihre Brust sinken. Leise bewegten sich ihre Lippen.
„Heilige Madonna!“ seufzte es tief aus ihrem Herzen heraus, „wurde von Dir, wie ein göttlicher Befehl, dieser Wunsch auf dieses Kindes Zunge gelegt? O Madonna! o Madonna! Gehorsam hab’ ich Dir gelobet, Gehorsam in allen meinen Nöthen; die Wege, die Du mich führst, sind finster, und begreifen soll ich sie nicht, aber zum Leben und zur Freiheit und zum Glücke willst Du mich geleiten, heilige Jungfrau, und Deinem Befehle darf ich mich nicht widersetzen ... O mein schönes Liebespfand, o meine letzte Erinnerung an mein süßes Erdenglück – so fahre denn hin!“
Und rasch entschlossen, mit heftigem Ruck, riß sie das Kreuz von ihrem Halse und reichte es dem Knaben hin. Aus lauterem Golde war es getrieben, kostbare Perlen verzierten seinen Rand; ein Wappen, von einer Herzogskrone überragt, war in der Mitte, in erhabener feiner Arbeit, ausgeschnitten. Wie der Knabe die Hand ausstreckte, schien es plötzlich, als bebe sie zurück und könne den Entschluß nicht mehr ausführen, mit leidenschaftlicher Gebärde führte sie das Kleinod an ihre Lippen, als wolle sie es nie und nimmermehr hergeben.
„Bei der Madonna hast Du’s gelobt, Speranza!“ rief ihr Nino zu.
Da entfloß ein Thränenstrom ihren Augen. „Fahre hin, mein Leben, fahre hin!“ flüsterte sie, und mit umgewandtem Antlitze überließ sie dem Kinde das Kreuz. Nino riß es mit einer zornigen, wilden Hast an sich; in seinen Augen flammte ein drohender Blitz und seine Lippen zuckten wieder, wie vorhin, als sie ihm zu antworten gezögert hatte.
„Speranza !“ sagte er dann, „von dieser Stunde an bin ich Dein Knecht, gebiete über mich! Mehr als eine Heilige des Himmels liebe ich Dich! – und siehe! wie ich diesem Wolf heute den Schädel zerschlagen! – Jedem, Speranza!“ fügte er mit wildem Ausrufe hinzu. „Jedem!“
Und, den todten Wolf über seine Schultern werfend, setzte er über den Bach und verschwand zwischen den Felsen.
Speranza schaute ihm lange nach. Armes Kind!“ seufzte sie vor sich hin. Endlich erhob sie sich ihrerseits und schlug den Weg zu dem Kloster ein, das umschattet von hohem Platanenwalde dort unten im Thale lag.
Es war ein alter Normannenbau. König Roger, der Sarazenenbesieger, hatte Kirche und Kloster erbaut, um ein Gelübde zu erfüllen, das er den Bürgern der Stadt Messina gethan hatte, als er deren Mithilfe zur Befreiung Siciliens von den Ungläubigen erflehte. Ein Wunderbild der heiligen Madonna hatte der fromme Krieger dem Kloster geschenkt, und lange Jahre hatte es über dem Hochaltar gestanden, von den Schwestern des San Benedetto wie ein unvergleichliches Heiligthum bewahrt, bis es, bei Ausbruch einer verheerenden Seuche, von dem Erzbischof zum Schutze der geängstigten Bevölkerung in die nahe Stadt getragen und dort mit großer Feierlichkeit in einer neuen Kirche untergebracht worden war. Dem Bilde waren die Schwestern gefolgt, und jetzt lag die alte Kirche verlassen im verödeten Thal, ein Verbannungsort für die von der gestrengen Oberin zur Buße verurtheilten Nonnen und Novizinnen. Noch erhoben wie früher die zinnengekrönten [15] Mauern ihr stolzes Haupt; noch ruhte in festen Angeln die schwere, eisenbeschlagene Thür; noch fiel durch die in feurigem Farbenspiel leuchtenden Fenster die Sonne auf den im Dämmerschein der himmelanstrebenden Spitzbogen ruhenden, reichverzierten Altar: – schon züngelte aber der kletternde Epheu an den von manchen Rissen klaffenden Mauern empor; schon sproßte der duftende Thymian aus den Spalten des flachen Daches, und durch die in früheren Zeiten so sorgsam gepflegten Platanenanlagen und in reichem Blumenflor prangenden Gärten rieselten schon die Waldbäche und rankten nach allen Seiten hin, Wege und Pfade überziehend, die gelben Ginsterstauden und das weiße Heidekraut, vermischt mit Rosen und Veilchen, ein traurig liebliches Zeugniß der vergessenen Herrlichkeit vergangener Jahrzehnte.
Als Speranza, langsamen Schrittes durch den verwilderten Klostergarten schreitend, den Fuß des alten Gemäuers erreichte, wo, an der Kirche angebaut, sich die engen Wohnräume der Nonnen befanden, öffnete sich, im Abendwind klirrend, ein Fensterchen im einzigen Stockwerke des halb schon wie eine Ruine auf seinem niederen Hügel liegenden Klosters.
„Was treibst Du Dich wieder so lange in den Bergen herum, Speranza?“ rief eine schrille Stimme herunter, „kaum kommst Du noch zur rechten Zeit, um zum Ave Maria zu läuten – und die Glocke, das weißt Du doch, soll von keiner andern Hand, als von der Deinigen geläütet werden! Gedenke der Buße, welche die Oberin Dir auferlegte, und spute Dich!“
Speranza erhob das Haupt. Wundersam spielte die untergehende Sonne auf ihrem Antlitz und übergoß die feinen, edlen Züge wie mit einem goldenen Märchenschimmer.
„Schwester Josefa!“ antwortete das Mädchen der älteren, aus dem Fenster zu ihm herunter schauenden Schwester, „meine Schuld ist es nicht! Nicht weiter in den Bergen war ich, als bis zu dem Quell, wie Du es mir erlaubtest – und siehe! ich zittere noch, und kaum vermochten meine Glieder mich bis hierher zu tragen. Von einem wilden Wolfe wurde ich dort überfallen, und wenn ich noch zu den Lebenden zähle, Schwester Josefa, so verdanke ich es nur dem kleinen Nino, dem Sohne Letterio’s, des Klosterbauern, der noch zur rechten Zeit ...“
Aber die mageren Arme wie zur Abwehr gegen sie ausstreckend, unterbrach sie die Schwester Josefa:
„Willst Du Dich an dem Himmel versündigen, Du unbußfertige, sündenbefleckte Magd? Der heiligen Jungfrau danke für Deine wunderbare Errettung, nicht aber jenem Hirtenknaben! – Ja, nur Nino heißt es seit einiger Zeit, und immer und überall nur Nino! – Am Quell findest Du diesen Nino jeden Morgen, und von den Bergen steigt er herunter, um Dir Blumen zu bringen, und im Klostergarten wartet er jeden Abend, daß Du Dich von Deinem Fenster herunter mit ihm unterhaltest! – So vergiltst Du meine Nachsicht und die Milde, mit der ich Dich, dem Willen der Oberin entgegen, behandle? Nun ist es aber auch genug; im Kloster werde ich Dich einschließen, daß Dir weder reißende Wölfe, noch lebensrettende Hirtenbuben über den Weg laufen! Heilige Madonna! wie schlimm sieht es in Deinem Herzen aus! Dem gleißnerischen, frechen Spanier hast Du noch nicht entsagt, und nun bethört schon dieser Hirtenknabe Dein sündiges Herz!“
Bei diesen letzten Worten Josefa’s war es aber, als zucke ein Beben durch alle Glieder des jungen Mädchens. Hoch richtete sich Speranza auf und mit anderem Klange als bisher tönte ihre Stimme, fest und herrisch, als sie der Schwester Josefa antwortete:
„Meinen Händen darfst Du gebieten, Schwester Josefa, so lange die heilige Madonna mir die Pflicht des Gehorsams auferlegt; meine Füße darfst Du in Sandalen schnüren; eine härene Kutte darfst Du über meine Schultern werfen; – über mein Herz aber hast Du keine Gewalt. Hier steht der Grenzstein für Deine Macht und für die Macht von Euch Allen! Und hier, vergiß es nicht, hier bin ich allein die Gebieterin und werde die einzige Herrin bleiben, heute und morgen und auf immerdar! – Und nun ... weil es die Madonna gebietet ... öffne mir die Thür und reiche mir die Glockenstränge, daß die Fürstentochter ihres Amtes walte!“
„Ha! zeigst Du wieder Dein wahres Gesicht, und bricht der alte Stolz und sündige Trotz wieder hervor aus Deinem nur scheinbar in Demuth ergebenen Herzen?“ rief es mit heiser kreischender Stimme aus Schwester Josefa’s zahnlosem Munde zurück. „Ja! walte Deines Amtes, Fürstentochter! Verrichte Deinen Dienst, Du stolzes Fürstenkind! Ziehe am Glockenstrange, bis Deiner weißen Hände Fürstenblut auf des Altars Stufen tröpfle, ja, bis Dein trotziges Herz, gedemüthigt und gebrochen, der Hoffahrt der Welt entsage! Ziehe am Glockenstrang, Du Fürstentochter, wie die niedrigste Magd!“
Länger als gewöhnlich und wie mit scharfem, hartem Klingen tönte an diesem Abende das Glöcklein des Ave Maria durch das einsame Thal. Zur Erde gebückt, mit gefalteten Händen, hörten es die Bauern und Hirten und murmelten andächtig ihre Gebete, und leise fragend sprachen sie zu einander: „Wie ein Weinen tönt die Glocke durch die Dämmerung, dort büßt wohl eine fromme Schwester ihre Sünden ab? Die heilige Madonna beschütze und befreie sie vom Bösen!“
Am Fuße des Hochaltars in der stillen Klosterkirche sank Schwester Speranza zur Erde, blutige Striemen zogen sich über ihre weichen Hände.
„Nun bete! bete für Dich und für die Anderen!“ rief ihr beim Scheiden Schwester Josefa zu. „thue Buße in Staub und Asche vor der barmherzigen Mutter Gottes für die Sünden Deines Herzens und Deiner Gedanken!“
Barmherziger als die Menschen aber war die gnädige Mutter Gottes, denn leise träufelte sie himmlische Ruhe in des Mädchens Seele und dem linden Schlummer erlaubte sie die Sinne der flehenden Magd zu umfangen, daß sie entrückt wurde aus der nachtumhüllten Kirche in die Erinnerung an ihr früheres, sonniges Leben voll Glückverheißungen und wonniger Liebe.
Sie sah sich wieder im Fürstenschloß zu Palermo in dem in blauer Mondesnacht schimmernden Garten, wo unter leise rauschenden Bäumen die Marmortreppe zum Meere hinunterzog und plätschernd auf den weißen, leuchtenden Steinen die Wellen ihr einig kosendes Liebes- und Lebenslied sangen. Fast bespülten die Wellen den kleinen Fuß der über die flimmernde Meeresfläche hingebeugten Jungfrau, den Arm hatte sie um eine Säule geschlungen und den Blick, den suchenden, liebenden, sandte sie hinaus, weit hinaus in die Mondesnacht, ob er wohl noch lange säume, der herrliche Ritter, der ihr ewige Liebe geschworen, dem sie ewige Liehe wiedergeschworen hatte? Und siehe! dort blitzte kräuselnder Silberschaum um einen leise schwebenden Nachen, und dem Ufer nahte das Boot – und wie herrlich und edel und männlich schön trat er herauf zu ihr, der Einziggeliebte! und wie erbebte ihr Herz, als sein Arm sich um ihre Hüfte legte und als sie seine Stimme vernahm:
„Blandina!“ flüsterte er leise zu ihr, „was zitterst und was zagest Du? Wenn Du es willst, Deine Hand in die meinige zu legen, wird Dein Vater sich nicht weigern: zu der Tochter der sicilischen Fürsten von Roccaguelfonia darf der Sohn und einzige Erbe des spanischen Herzogs von Gonzaga seine Blicke erheben!“ –
Und von seiner Brust nahm er jetzt ein blinkendes Kleinod – ein Kreuz war es, mit Perlen besäet, mit einer in Gold gearbeiteten Herzogskrone über seinem Wappen – und um ihren Hals flocht er die Kette und flocht er seine Arme. „Nimm das Kreuz, Blandina, als Zeichen und Pfand unserer ewigen Liebe!“ Und im Schlafe suchte ihre Hand nach dem Kreuz, aber jäh wachte sie auf, mit einem Aufschrei von Angst und Schrecken, als ihre Finger das Kreuz nicht mehr fanden! Düster brannte das ewige Lämpchen in seiner Kupferkapsel über dem Altar, und die tanzende Flamme warf unheimlich wehende Schatten auf die alten Normannengewölbe und auf die grinsenden Steingesichter der massigen Säulenkapitäle.
„Hilf, Maria, Madonna!“ entfuhr es den Lippen des Mädchens. Oben an der Steintreppe, die aus der Kirche zu den Klosterzellen führte, knarrte eine Thür, und, mit der Hand ihr welkes Gesicht gegen den Schein der dampfenden Oellampe beschirmend, trat die alte Josefa an das wurmstichige Holzgeländer, und dumpf hallte der Kirchenraum nach, als es von dort zu der Jungfrau herunterrief:
„Ja, rufe sie an! denn ihrer Barmherzigkeit thut es Noth! Und nun kehre zurück in Dein Kämmerlein, Fürstentochter! Den Riegel schiebe ich vor; – Du aber schiebe einen andern Riegel vor Deines Herzens sündige Gedanken! – und daß Du mir nicht von jenem Hirtenknaben träumst! Auf den Bergen warst Du mir heute zum letzten Male! Zu viel Wölfe hausen dort oben!“
Im Mai vorigen Jahres machte die Nachricht, daß das Originalmanuskript des Schneckenburger’schen „Die Wacht am Rhein“ durch Vermittelung eines Berner Banquiers in die Hände der deutschen Gesandtschaft gelangt sei, die Runde durch die Tagesblätter.
Unterzeichneter war hierüber nicht wenig erstaunt, da er bisher der Meinung gewesen war, selber der glückliche Besitzer dieses Schriftstückes zu sein, und das mit um so größerer Berechtigung, als seiner Zeit die näheren Umstände in Burgdorf allgemein bekannt waren und viel besprochen wurden, ohne daß von irgend welcher Seite Einwendungen erhoben worden wären.
Gerade diese näheren Umstände aber sind es, die für die Echtheit des Manuskriptes entscheidend sprechen, und es dürfte auch für ein größeres Publikum von Interesse sein, dieselben kennen zu lernen.
Vor Allem werfen wir einen Blick auf das Manuskript selbst, das wir nachstehend in getreuer zinkographischer Nachbildung, um ein Geringes verkleinert, wiedergeben. Es zeigt sich sofort, daß wir es nicht etwa mit einer späteren Abschrift von der Hand des Dichters zu thun haben; denn obgleich das Manuskript mit Tinte geschrieben ist, findet sich eine ganze Anzahl Abänderungen: die Endreime sind zum Theil korrigirt, auch der Titel ist verbessert; die beiden Zeilen, die den bekannten Refrain bilden, schlossen in der ursprünglichen Fassung des Liedes nur die letzte Strophe ab und lauteten zuerst:
„Lieb Vaterland, magst ruhig seyn
Fest steht die treue Wach’ am Rhein!“
sodann:
„Fest steht wie treu die Wach’ am Rhein“
zuletzt:
„Fest steht und treu die Wach’ am Rhein!“
und endlich, gleichzeitig mit Feststellung des Titels „Die Rheinwacht“ wird aus der „Wach’“ die „Wacht“ am Rhein. Das aber sind Korrekturen,
wie sie später bei einer bloßen Abschrift nicht mehr vorgekommen wären. Lassen wir ferner einem Manne das Wort, der selbst dabei gewesen, als das Lied zum ersten Male verlesen und gesungen wurde.
Bekanntlich war es der verstorbene Professor der Theologie K. Hundeshagen in Bonn, der zuerst den Namen des Dichters nannte sowie über die Entstehungsgeschichte der „Wacht am Rhein“ nähere Einzelheiten veröffentlichte. Es geschah dies durch die „Köln. Zeitung“ im August des Jahres 1870. Der betreffende Aufsatz steht mir gegenwärtig nur noch in der Form zur Verfügung, wie ihn J. C. Lion seinem Buche „Kleine Schriften über Turnen von A. Spieß, nebst Beiträgen zu seiner Lebensgeschichte“[1] einverleibt hat. Er trägt den Titel „Wie die Wacht am Rhein zum ersten Male gesungen ward“. U. a. sagt Hundeshagen darin:
„Die Entstehung des Liedes fällt in die Monate Januar und Februar 1840[2], die Zeit, als die französische Regierung, den kriegslustigen Thiers an der Spitze, um den Pascha von Aegypten, Mehemed Ali, wider die zum Schutze der hart bedrängten Pforte ins Mittel getretene Quadrupel-Allianz der Großmächte zu unterstützen, einen europäischen Krieg in Aussicht stellte, welcher ausgesprochenermaßen Frankreich zugleich die durch die letzten Friedensschlüsse verloren gegangene Rheingrenze wieder verschaffen sollte.
Aus der damaligen Begeisterung der Deutschen für den Schutz des bedrohten vaterländischen Bodens, aus welcher unter Anderem das berühmte Rheinlied von N. Becker: ‚Sie sollen ihn nicht haben‘ hervorging, entsprang auch das Lied Max Schneckenburger’s: ‚Die Wacht am Rhein‘. Ich selbst habe um jene Zeit das Lied in Gegenwart des Dichters in einem Kreise von Freunden zu Burgdorf im Kanton Bern unter stürmischem Beifall verlesen und, wenn auch noch nicht künstlerisch in Musik gesetzt, singen hören.
Es hatte sich nämlich in dieser regsamen Schweizerstadt, um jene Zeit zugleich ein Mittelpunkt der Bewegung des Kantons Bern, seit dem Anfange der dreißiger Jahre auch eine ziemlich zahlreiche Kolonie von Deutschen gesammelt, theils den geschäftlichen Kreisen, theils dem Lehrerstande angehörig. Ein Theil derselben bildete, zusammengehalten durch lebendiges deutsches Nationalgefühl und gemeinsame Anschauungen in Sachen des Vaterlandes, einen auch in geselliger Hinsicht unter sich verbundenen Kreis, welcher sich besonders im Winter Samstag Abends zu einem Glase Wein in dem ‚Stadthause‘ zu versammeln pflegte, dem sich aber auch gern einzelne der besten Männer aus der schweizerischen Einwohnerschaft der Stadt anschlossen. Die Seele dieses Vereins war mein leider längst verstorbener unvergeßlicher hessischer Landsmann und Universitätsfreund von Gießen und Halle her, Adolf Spieß von Offenbach, damals Lehrer an der Stadtschule in Burgdorf, nachmals in der pädagogischen Welt so berühmt geworden durch seine zahlreichen und eingreifenden Schriften über das Turnwesen und als Begründer der Musterturnanstalt in Darmstadt, ein Mann voll Geist, Feuer und Leben. Außerdem gehörten zu diesem Kreise zwei Lützow’sche Jäger, die Pädagogen Langenthal aus Erfurt und Middendorf aus Unna in Westfalen, bereits ältere Männer, welche durch ihre Mittheilungen aus den Befreiungskriegen der Unterhaltung patriotischen Nahrungsstoff zuführten und namentlich oft auf Spieß eine zündende Wirkung ausübten …
In diesen Kreis trat nach seiner Uebersiedelung auch Max Schneckenburger ein, und bald bildete sich zwischen ihm und Spieß ein warmes Freundschaftsverhältniß, welches für beide Männer reiche Früchte trug. Durch Spieß wurde mir häufig Nachricht über die fortgehenden wissenschaftlichen Beschäftigungen des Freundes zu Theil, der damals zugleich anfing, in einige politische Zeitschriften Beiträge zu liefern; außerdem waren gelegentliche Besuche in Burgdorf zum ‚Samstag‘ mir eine erquickende Erholung.
Es läßt sich denken, welch lebhafte Bewegung in diesem kleinen Kreise die Thiers’sche Kriegsdrohung hervorrief. Wiederholt hatte zwischen Spieß und mir schon ein Gedanken- und Gefühlsaustausch über dieselbe stattgefunden. Da schrieb mir der Freund plötzlich: „Komm doch zum nächsten Samstage unfehlbar zu uns nach Burgdorf; Max Schneckenburger hat ein herrliches Lied gedichtet ‚Die Wacht am Rhein‘.“ Ich ermangelte nicht, der Einladung zu folgen und war kaum angelangt, als Spieß mit gewohntem Ungestüme an mich heranstürmte und das Lied vorlas, welches jetzt in Aller Munde ist. Am Abend aber wurde die Vorlesung im Stadthause in Gegenwart des Dichters selbst wiederholt und diesem für seine schöne Schöpfung der wärmste Dank von Seiten aller Anwesenden dargebracht. Spieß aber, der zwar kein Komponist war, aber ein trefflicher Sänger und gewaltiger Gesangsfreund, auch auf dem Klaviere leidlich Bescheid wußte, setzte sich an das Instrument und intonirte mit seiner mächtigen Koncertstimme nach irgend einer von ihm improvisirten Melodie das Lied des Freundes unter einer von ihm eben so improvisirten Klavierbegleitung. Wir Uebrigen hörten zuerst andächtig zu, fielen aber schon vom zweiten oder dritten Verse an in den schönen Refrain mit ein ‚Lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein.‘ Von dieser getrosten, durch die großen Ereignisse der letzten Tage so wunderbar bestätigten Ueberzeugung erfüllt, gingen wir aus einander. Seit jenem Abende sind dreißig Jahre verflossen. Die wenigsten von den Samstagsgenossen, welche damals das Lied zum ersten Male hörten und mit sangen, sind noch am Leben. –
Erst der unvergessene Refrain führte mich auf eine sichere Spur, und die Nachricht von der Mendel’schen Komposition mit ihrem M. Sch. machte schließlich aller meiner Ungewißheit ein Ende. So macht es mir nicht [19] geringe Freude, dem deutschen Publikum den so lange gesuchten Namen des Dichters nennen und dem mir aus vielen speciellen Gründen überaus theuern Württemberg zur Einreihung in seinen ohnehin so reichen Sängerkreis übergeben zu können.
Bonn, 11. August 1870.
Während Hundeshagen diese Zeilen schrieb, befand sich das Original-Manuskript der „Wacht am Rhein“, das an jenem denkwürdigen „Samstagsabende“ meinem Vater gedient und von da ab in seinen Besitz gekommen war, in unserer damaligen Wohnung in Paris. Es hatte sich unter den Papieren meines Vaters im Verein mit einer Anzahl anderer Schneckenburger’scher Dichtungen vorgefunden, die sämmtlich von des Dichters Hand geschrieben sind und von denen einzelne als Unterschrift die Buchstaben M. Sch. tragen. Mir waren die Papiere wohl bekannt, nur glaubte ich, sie rührten von Max von Schenkendorff her, und diesem Umstande ist es denn zu danken, daß sie trotz vieler Hin- und Herzüge unseres Hauses dennoch erhalten blieben. Bei Ausbruch des Krieges bewohnten wir mit unserer Mutter ein Logis am Boulevard Montparnasse im südlichen Theile der Stadt. Bis August waren wir, als Schweizer Bürger, obgleich unsere Sympathien für die „Prussiens“ keineswegs unbekannt geblieben waren, doch in keiner Weise angefochten worden. Am 31. August jedoch wurden wir durch einen sergent de ville persönlich aufgefordert, als zu den „bouches inutiles“ gehörend, Paris sofort zu verlassen; so reisten wir, Alles im Stiche lassend, am 1. September über Dijon nach der Schweiz. In Bern erfuhren wir zum ersten Male von den Kriegsereignissen; gleichzeitig hörten wir auch das Lied, das in Aller Munde war. Erst in Burgdorf, der Heimat meiner Mutter, wurde mir klar, daß das M. Sch. meiner Schriften Max Schneckenburger bedeute; hier erkannte ich in einigen Geschäftsbüchern der Firma Schnell u. Komp., der Schneckenberger als Theilhaber angehört hatte, dieselben charakteristischen langgestreckten Züge wieder, wie sie auch meine Schriften trugen; es war also kein Zweifel mehr, das Originalmanuskript der „Wacht am Rhein“ war gefunden, nur freilich einstweilen nicht zugänglich, weil es sich noch in Paris befand. Dort hat es denn auch die Zeit der Belagerung und der Kommune zugebracht, nicht ohne Gefahr zwar, am Schlusse der letzteren noch zu Grunde zu gehen. Als wir im Frühjahr 1871 nach Paris zurückkehrten, um unsere Sachen zu holen, da erzählte man uns, wie nahe unserem Hause Verderben gedroht hatte. Denn als die Versailler Truppen, die bekanntlich durch die Avenue du Maine in Paris ihren Einzug hielten, aus dieser in den durch eine Barrikade versperrten Boulevard Montparnasse einbogen, fiel ein Schuß und tödtete einen Officier. Der Verrath sollte durch Zerstörung des Hauses, aus welchem gefeuert worden, geahndet werden, falls der Thäter nicht erscheine. Schon war eine Kanone aufgefahren, da fand man den Schuldigen im Keller eines benachbarten Hauses; derselbe wurde sofort standrechtlich erschossen; unser Haus war gerettet.
Das Manuskript fand sich unversehrt vor. Völlig veränderte neue Lebensverhältnisse jedoch lenkten bald meine Gedanken von diesem Gegenstande ab, und da es auch an einer äußeren Veranlassung fehlte, so unterblieb jede Veröffentlichung dieser Thatsachen.
Heute jedoch, wo die Heimat des Dichters, die Gemeinde Thalheim, die
Asche ihres verehrten Bürgers vom Burgdorfer Kirchhofe auf den ihrigen
übergeführt und damit einem Lieblingswunsche des früh Entschlafenen
Ausdruck gegeben hat, dürfte der Moment gekommen sein, wo auch obige Zeilen
einem größeren deutschen Publikum zur Kenntniß gebracht werden mögen;
gleichzeitig soll damit einem Irrthume begegnet werden, der hierdurch wohl
seine Erledigung gefunden haben wird. Eduard Spieß.
Blätter und Blüthen.
Deutschland und Frankreich. Während die beiden Völker sich, die Hand am Schwertesgriff, gegenüberstehen und „die Wacht am Rhein“ keinen Augenblick die Waffe aus der Hand legt, in jüngster Zeit, wo die Gerüchte einer drohenden russisch-französischen Allianz die Luft durchschwirren, noch weniger als früher: hören die beiden Völker nicht auf, sich für einander zu interessiren und ihre geistigen Schätze mit einander auszutauschen.
Neuerdings interessirt es die Franzosen zu erfahren, wie man in
Deutschland über sie denkt und urtheilt, und ein französischer Autor,
Grand-Carteret, hat sich die Mühe nicht verdrießen lassen, Urtheile
deutscher Politiker und Schriftsteller über Frankreich aus mehreren Jahrhunderten
zusammenzustellen in einer Schrift: „Frankreich beurtheilt von
Deutschland“ [3] Nun, unsere Nachbarn brauchen sich im ganzen nicht zu
beklagen über diese Aussprüche, denn sie lassen auch ihren guten
Eigenschaften Gerechtigkeit widerfahren. Einige dieser Urtheile werden als
durchaus zutreffend von dem französischen Autor selbst bezeichnet. Neben
der schwunghaften und begeisterten Kampfesmuse der Jahre 1813 und
1870 ging stets die unbefangene Würdigung der Vorzüge unseres
Nachbarvolkes einher. Die Schrift führt auch die Urtheile unserer großen
Regenten und Staatsmänner, Friedrich’s II. und Bismarck’s über
Frankreich an. Bekannt ist, daß Heine und Börne begeisterte
Franzosenfreunde waren und das junge Deutschland ebenfalls von Paris aus sehr
viele Anregungen empfing, während Wolfgang Menzel von Börne als
Franzosenfresser angegriffen wurde. Die späteren deutschen Touristen
und Feuilletonisten geben ebenfalls
Anlaß zu einer sehr reichen
Blüthenlese von Bemerkungen über
französisches Wesen, von
charakteristischen Schilderungen französischer
Zustände, besonders des Theaters.
Frankreich setzt sich gleichsam auf den
Lästerstuhl und läßt sich von Deutschland
lorgnettiren und bekritteln, hält es
aber doch der Mühe werth, alle diese
kritischen Randglossen in einem Album
zu sammeln und dem französischen
Volke vorzuhalten. Man legt drüben
Gewicht auf unser Urtheil: das war
in früheren Zeiten nicht der Fall.
Deroulède hat in seiner Zeitschrift:
„Le Drapeau“ (Die Fahne) nur die
deutschen Kriegslieder übersetzt, um
die Franzosen zur Rache anzustacheln:
Jetzt erfahren sie auch, wie
viel wohlwollendes, mindestens
Antheilvolles in Deutschland über sie
geschrieben worden ist. Schwerlich
wird dies ihren Groll über die
Niederlagen von 1870 und 1871
entwaffnen; wir sind gerüstet und rüsten
uns immer mehr, ihm zu begegnen:
aber das geistige Zusammenstreben
der so verschiedenartigen und doch
sich ergänzenden Völker würde als
schöner Zukunftstraum selbst einen
abermaligen blutigen Kampf überleben. †
Die Mammuthbäume Kaliforniens. (Mit Illustration Seite 12.) Eine halbe Tagereise von dem herrlichen Yosemitethal in Kalifornien entfernt, ragen aus dem Urwalddickicht zahlreiche Wunder der Pflanzenwelt auf, riesige Sequoien, welchen die Amerikaner den Namen Mammuthbäume beigelegt haben.
Wie leuchtende, zimmtfarbene Thürme, steigen die kalifornischen Baumgiganten aus dem Waldesdunkel empor, an Umfang, Höhe, Massenhaftigkeit und Alter Alles hinter sich lassend, was die Erde bisher an Pflanzenwundern kennt. Neben die Pyramiden gestellt, würden manche der noch stehenden Baumriesen mit ihren Wipfeln die Spitzen dieser Bauwerke beschatten. Und doch lassen einzelne im Dickicht modernde Baumruinen darauf schließen, daß sie dereinst noch gewaltigere Maßverhältnisse aufzuweisen hatten. In Calaveras Grove liegt, durch sein eignes Gewicht halb in die Erde gesunken, der „Vater des Waldes“, an der Basis einen Umfang von 112 Fuß aufweisend. Zweihundert Fuß hat man an dem Stamme hinzuschreiten, bis man die Stelle erreicht, wo er seinen ersten Seitenast – einen Riesenbaum für sich – entsandte. Obschon der Baum seines Wipfels längst beraubt ist, lassen doch alle Maßverhältnisse erkennen, daß er zur Zeit seiner Glorie eine Höhe von gegen 450 Fuß gehabt haben muß. Nahe diesem gefallenen Monarchen stand ein zweiter Riesenbaum, den zu Anfang der fünfziger Jahre ein spekulativer Yankee zu Falle brachte. Der Stumpf ward sauber geglättet und zu einem Tanzboden umgewandelt, auf welchem 32 Personen bequem einen Kotillon abhalten können. Eine Zeit lang befand sich hier auch eine Druckerei, aus welcher ein Wochenblatt, das „Big-tree-bulletin“ hervorging.
Gleichfalls im Calaveras-Haine erhebt sich ein anderer Mammuthbaum, grünend in voller Pracht, trotzdem ein Urwaldfeuer eine Höhlung in seinen Fuß hineingefressen hat, welche groß genug ist, um 16 Reitern auf einmal Obdach zu gewähren.
Im Mariposa-Haine sind es die kolossalen Maßverhältnisse des 93 Fuß im Umfange zählenden „Grizzly Giant“ und des „Ohio“, welche den Besucher in Erstaunen versetzen; hier auch finden wir den auf unserer Abbildung wiedergegebenen, wohl einzig dastehenden Thorweg, durch welchen der Reisende sammt seinem von sechs feurigen Pferden gezogenen Gefährt wie durch einen Triumphbogen hindurchsaust.
Einen weiteren Begriff von der Massigkeit der Mammuthbäume mag eine Berechnung des amerikanischen Professors Whitney geben, der zufolge ein einziger Baum 537 000 Fuß zolldicker Bretter liefern würde, die einem Werthe von 25 000 Dollars gleichkämen.
Zu den Taxus-Nadelhölzern gehörend, werden die Riesenbäume botanisch Sequoia gigantea genannt; man findet sie allein am westlichen
[20] Abhange der Sierra Nevada und kennt gegenwärtig neun verschiedene, zusammen mehrere tausend Exemplare zählende Haine, unter welchen diejenigen von Calaveras und Mariposa am zugänglichsten und besuchtesten sind. Angesichts des außerordentlich langsamen Wachsthums der Sequoien haben manche Reisende den Pflanzenkolossen ein Alter von drei- ja viertausend Jahren beilegen wollen, doch sind dies Hypothesen, die sich nicht leicht beweisen lassen. Kühn aber darf man das Alter der kalifornischen Riesenbäume auf mindestens 1500 bis 1800 Jahre bemessen, neben welchem Zeitraum ein Menschenalter nur als eine kaum in Betracht kommende Zeitspanne erscheint.
Wie die amerikanische Regierung im Jahre 1871 den weltberühmten Yellowstone-Park in Wyoming als unantastbares Nationaleigenthum erklärte, so hat sie auch das Yosemitethal und die Sequoienhaine von jeder Besiedlung ausgeschlossen, damit der ursprüngliche Reiz dieser Gebiete unvermindert sich bis auf späte Geschlechter erhalten möge. Rudolf Cronau.
Desdemona rechtfertigt ihre Flucht. (Mit Illustration S. 4 u. 5.) Eine der lieblichsten Frauengestalten Shakespeare’s ist Desdemona, des venetianischen Senators Tochter, die den Mohren, den Feldherrn der Republik, liebt. Im ersten Akt des „Othello“ sitzt der Senat zu Gericht; Brabantio, Desdemona’s Vater, hat Anklage gegen den Mohren und gegen sein Kind erhoben, welches das väterliche Haus verlassen und in Liebe dem General der Republik gefolgt ist. Desdemona, die selbst herbeigerufen wird, vertheidigt sich vor den strengen Richtern mit den Worten:
„Mein edler Vater!
Ich sehe hier zwiefach getheilte Pflicht;
Euch muss ich Leben danken und Erziehung.
Und Leben und Erziehung lehren mich
Euch ehren; Ihr seid Herrscher meiner Pflicht,
Wie ich Euch Tochter. Doch hier steht mein Gatte,
Und soviel Pflicht, als meine Mutter auch
Gezeigt, da sie Euch vorzog Eurem Vater,
Soviel muß ich auch meinem Gatten widmen,
Dem Mohren, meinem Herrn.“
Mit so überzeugender Innigkeit spricht das sanfte anmuthige Mädchen, durch die Nähe des Geliebten ermuthigt; doch Brabantio, der Vater, mit seinen scharfgeschnittenen Zügen, zeigt die Unerbittlichkeit, welche den hohen Würdenträgern der Republik auch sonst eigen zu sein pflegt; die richtenden Senatoren aber lauschen dem Worte des Mädchens nicht ohne Antheil, von seinem sanften und festen Wesen bestochen. Daß Desdemona dem Mohren folgte gegen des Vaters Willen war eine Schuld, welche sie schwer büßen sollte durch den Tod von der Hand des eifersüchtigen Gatten, und wir sehen bei dieser Scene gleichsam schon im Hintergrunde das traurige Verhängniß, dem sie verfallen ist. †
Gesunder Schlaf ist ohne Zweifel eins der kostbarsten Güter, mit welchem die Natur den Menschen ausgestattet hat. Wer eine Reihe unruhiger oder gar schlafloser Nächte durchgemacht hat, der weiß dieses Gut zu schätzen. Kein Wunder also, daß die Hygiene in neuester Zeit auch diesem Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Ein Schweizer Arzt, Dr. Johann Menli Hiltly,[WS 1] ist unter Anderem als Reformator unserer von altersher überkommenen Art und Weise zu schlafen aufgetreten und zieht namentlich gegen die vielfach landesübliche Lagerung des Körpers während des Schlafens zu Felde. Die von ihm erstrebte Reform ist eine gründliche in des Wortes vollster Bedeutung, denn er stellt die Sache regelrecht auf den Kopf. Bis jetzt schliefen wir Alle so, daß der Kopf durch Kissen etc. erhöht wurde; Hiltly verlangt dagegen, daß die Kopfkissen in Wegfall kommen und dafür die Füße erhöht werden. Er selbst schläft in einem Bette, unter dessen beide Füße am Fußende des Bettgestells dicke Holzklötze geschoben sind, und rühmt außerordentlich diese praktische Neuerung. Die Idee ist originell, und Hiltly weiß sie mit einer ganzen Reihe gelehrter Beweise zu vertheidigen. Ein vorsichtiger Arzt darf die Ausführung derselben jedoch nicht unbedenklich empfehlen. Die tiefe Lagerung des Kopfes verbietet sich von selbst bei Leuten, die an Krankheiten verschiedener Kopftheile leiden. Entzündungen des Ohres, Erkrankungen des Auges, die namentlich auf eine Blutüberfüllung zurückzuführen sind, werden durch die tiefe Lagerung des Kopfes verschlimmert. Für den gesunden Menschen ist jedoch die Reform sehr beachtenswerth, und wenn wir auch nicht Jedermann rathen möchten, sofort die verkehrte Lage mit den nach oben gerichteten Füßen zu versuchen, so müssen wir dennoch in Uebereinstimmung mit Hiltly entschieden den Unfug verdammen, welcher namentlich bei der Landbevölkerung mit der überreichlichen Anwendung der Kopfkissen getrieben wird. *
Opferung. (Mit Illustration S. 16.) Zogen die alten Griechen und Römer in die Schlacht, so brachten sie den Göttern Opfer für einen glücklichen Ausgang derselben; kehrten sie siegreich heim, so wurde ebenfalls durch Opferung den Göttern gedankt. Jedes Fest im Staate oder im engen Kreise des Hauses und der Familie wurde durch solchen feierlichen Akt verherrlicht, bei jedem wichtigen Schritte, jedem denkwürdigen Ereigniß die Gottheit angerufen. So zahlreich und verschieden wie die Gottheiten selbst, waren aber auch die Arten der Opfer, und eines der eigenthümlichsten derselben wohl dasjenige, von welchem wir durch H. Coomans’ Bild eine so lebendige Vorstellung erhalten.
Jugendliche Gestalten sind es, die sich der Göttin nahen, dieser ihren Tribut darzubringen, Mädchen, welche die Grenzen der Kindheit überschritten haben, zu Jungfrauen erblüht sind und jetzt der schirmenden
Göttin das zu opfern kommen, was ihnen in der Kindheit werth war, sich für die Jungfrauen aber nicht mehr geziemt: die Puppen, die bunten Bälle und all’ den Kindertand, für welchen die Göttin es an reichem Ersatze nicht fehlen lassen wird – oder für den sie bereits ein Anderes, Besseres eingetauscht haben: die beglückende Liebe des erwählten Mannes. * *
Welche Kegel müssen auf den ersten, und welche auf den zweiten Schub fallen, damit sich aus den Buchstaben der Kegel ein zusammengesetztes Wort als Lösung ergiebt?
Die Battenberger. Auf Wunsch eines Abonnenten in Offenbach vervollständigen wir unsere Mittheilung über die Nachkommenschaft des Prinzen Alexander von Hessen und seiner Gemahlin Julie, Prinzessin von Battenberg (Tochter des russischen Artilleriegenerals Moritz von Hauki) – siehe „Gartenlaube“ 1885 Nr. 52 – wie folgt: Es sind aus dieser Ehe fünf Kinder vorhanden: 1) Prinzessin Karoline, geboren 15. Juli 1852, seit 29. April 1871 verheirathet mit dem Grafen Erbach-Schönburg; 2) Prinz Ludwig, geboren 24. Mai 1854, seit 30. April 1884 vermählt mit Viktoria Prinzessin von Hessen, Tochter des regierenden Großherzogs Ludwig IV., englischer Marine-Officier; 3) Prinz Alexander, geboren 5. April 1857, der spätere Fürst von Bulgarien; 4) Prinz Heinrich Moritz, geb. 5. Oktober 1858, Gemahl der englischen Prinzeß Beatrice, also Schwiegersohn der Königin Victoria; 5) Prinz Franz Joseph, geb. 24. September 1861, früher Gardelieutenant in Berlin, jetzt in die hessische Division eingetreten. Die Prinzen Alexander und Heinrich Moritz sind noch unvermählt.
K. F. in Moskau. Ausführliches Programm und Jahresbericht des Technikum Mittweida im Königreich Sachsen, sowie jede weitere Auskunft erhalten Sie stets gratis von der Direktion dieser Anstalt.
Inhalt: Zum Neuen Jahr. Gedicht von Rudolf v. Gottschall. Mit Illustration. S. 1. – Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg. S. 2. – Sagen und Gebräuche aus dem Paznaunthal. Von Prof. Dr. Friedrich in München. S. 8. Mit Illustrationen auf S. 8, 9 und 13. – Die Nervenschwäche (Neurasthenie). Von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad. S. 10. – Speranza. Novelle von A. Schneegans. S. 14. – Das Original-Manuskript der „Wacht am Rhein“. Von Eduard Spieß. Mit Faksimile. S. 17. – Blätter und Blüthen: Deutschland und Frankreich. S. 19. – Der Reichskanzler auf dem Wege zum Reichstag. Illustration S. 19. – Die Mammuthbäume Kaliforniens. Von Rudolf Cronau. S. 19. Mit Illustration S. 12. – Desdemona rechtfertigt ihre Flucht. S. 20. Mit Illustration S. 4 und 5. – Gesunder Schlaf. S. 20. – Opferung. S. 20. Mit Illustration S. 16. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 20. – Kegel-Problem. S. 20. – Kleiner Briefkasten. S. 20.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ wohl: J. MEULI-HILTY (Das rationelle Schlafen, Bonn 1886)