Die Gartenlaube (1888)/Heft 52

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<<
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[877]
Ein Scheidegruß für das Jahr 1888.


Nun leg’ dich in die Gruft, du Jahr
Der Thränen und Trauerweiden!
An zweier Kaiser Todtenbahr’
Zu klagen uns beschieden war

5
In tiefen, tiefen Leiden.


Der erste deutsche Kaiser schied,
Der Große, der Ruhmesreiche.
Kaum war verhallt das Trauerlied –
Da haben wir im Schmerz gekniet

10
An Kaiser Friedrichs Leiche!


Held Wilhelm war, dem Schnitter gleich,
Gestorben am Erntefeste.
Vom Fels zum Meer ein einzig’ Reich!
Hoch ragen sah er, Zweig an Zweig,

15
Des Zollernstammes Aeste!


Held Friedrich war der Sämann nur,
Gestorben beim Feldbestellen –
Doch nicht vergeh’n wird seine Spur!
Was er gesät; der Zukunft Flur

20
Schmückt’s einst in goldnen Wellen!


So geb’ es Gott, so hoffen wir
Und grüßen der Krone Erben.
Stolz weht Germanias Panier!
Treu sind wir, Reich und Kaiser, dir

25
Im Leben und im Sterben!
Emil Rittershaus.


[878]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Die Frau Majorin.
Von A. Oltroff.


Während Doktor Belden beruhigend auf die immer heftiger weinende Kranke einsprach, öffnete sich die Thür, und mit dem Ausrufe: „Meine Helene, meine arme Helene!“ eilte eine schlanke Gestalt dem Ruhebette zu, kniete neben demselben nieder und umfaßte die Weinende.

„Emma, meine Emma, o, nun wird alles gut!“ mit diesen Worten schlang Helene den Arm um den Hals ihrer Freundin, als wolle sie sie nie mehr von sich lassen.

„Arme Helene!“ rief diese mittlerweile, ihr die blassen Wangen streichelnd, „wer hätte gedacht, daß diese Vergnügensfahrt so tragisch enden würde! Ich erfahr das Unglück durch meinen Onkel, den Polizeipräsidenten, dem das Geschehene telegraphisch gemeldet wurde und welcher uns das Telegramm sogleich zuschickte, da er Dich in diesem Zuge wußte. Mit dem zunächst abgehenden fuhr ich hierher, hörte an der Bahn, Du seist nur ohnmächtig geworden und bei Doktor Belden in bester Pflege. Und nun finde ich Dich in solcher Erschütterung! Um Gotteswillen, was ist Dir? Bist Du doch schwerer verletzt, leidest Du Schmerzen?“ Sie sah nach dem Arzt empor: „Ich heiße Emma Wahren, bin Helenens vertrauteste Freundin und ersuche Sie, mir sofort die ganze Wahrheit zu sagen.“

„Die ist sehr einfach, mein Fräulein,“ erwiderte der Doktor, „das Befinden der gnädigen Frau läßt nichts zu wünschen übrig, und nun, da die Freundin eingetroffen ist, legt sich hoffentlich die furchtbare, unerklärliche Aufregung, in welche die Frau Majorin bei dem Anblicke ihres Mannes gerieth, den wir selbstverständlich sofort von Leipzig kommen ließen.“

Jetzt war die Reihe des Entsetzens an Emma, sie glaubte, nicht recht gehört zu haben, und hastig, in höchster Ueberraschung stieß sie die Worte heraus:

„Was sagen Sie da? Frau Majorin? – Der Mann meiner Freundin – und Sie behaupten, er wäre hier?“

„Freilich behaupte ich’s; aber jetzt wird mir’s zu bunt.“ polterte Doktor Belden heraus, dem endlich die Geduld riß. „Finden Sie es denn unnatürlich, wenn man dem Manne einer verunglückten Frau telegraphirt und wenn dieser dem Rufe Folge leistet? Professor Roditz übernahm es, den Herrn Major von Schnitzel in Leipzig zu benachrichtigen; derselbe eilte, wie wir es nicht anders erwarteten, sogleich herbei; weshalb versetzt Sie diese natürliche Thatsache in solch merkwürdiges Erstaunen, mein Fräulein?“

Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, frug Emma lebhaft: „Woher wußten Sie diesen Namen? hat meine Freundin sich selbst so genannt?“

„Natürlich, dem Herrn Professor, der mit ihr reiste,“ erwiderte Doktor Belden ungeduldig. „Uebrigens muß ich Ihnen sagen, mein gnädiges Fräulein, daß mir dieser ganze Handel mehr als seltsam vorkommt. Ein solches Wiedersehen von Ehegatten, wenn eins davon knapp dem Tode vorbeikam, dieses beiderseitige Entsetzen beim Erwähnen ihrer Kinder – das geht nicht mit rechten Dingen zu! Uebrigens geht es mich nichts an, natürlich,“ setzte er ärgerlich hinzu und machte eine halbe Wendung zum Hinausgehen.

Emma und Helene sahen sich an paar Augenblicke unverwandt in die Augen, dann verneigte sich die erstere, schon wieder mit einem kleinen Schalk um die Mundwinkel vor dem Arzt und sagte: „Darf ich Sie bitten, mich mit meiner Freundin nur kurze Zeit allein zu lassen? Alle Achtung vor Ihrer Kunst, Herr Doktor, jedoch in diesem Falle glaube ich ihr bester Arzt sein zu können, Sie werden Wunder erleben.“ Sie sah ihn, während sie das sagte, so schelmisch an, daß er ihr schmunzelnd die Hand reichtet „Nun gut, einer so hübschen Kollegin räume ich gern das Feld, also machen Sie Ihre Sache brav!“

„Noch eines, Herr Doktor, gehen Sie draußen ja nicht zu strenge ins Gericht mit dem armen Herrn Major, Sie dürften es später bereuen und möglicherweise große Abbitte leisten müssen,“ drohte Emma lächelnd mit aufgehobenem Finger; „ich komme bald nach, bis dahin ersuche ich Sie nur, von meinem Hiersein nichts zu erwähnen.“

Kaum hatte sich die Thür hinter Doktor Belden geschlossen, so fielen sich die Freundinnen in die Arme, und unter Lachen und Weinen berichtete Helene alles, was sich seit heute morgen zugetragen, die Fahrt, die herrliche Unterhaltung, ach – und die schmachvolle Lüge mit ihren schrecklichen Folgen.

„Rette mich, Emma!“ schloß sie endlich die lange Beichte. „Du hast das ganze Unheil angestiftet nun sieh, wie Du den Major wieder fortbringst, und vor allen Dingen, erkläre Herrn Professor Roditz …“ sie wandte sich verwirrt zur Seite, „erkläre ihm alles, denn, offen gestanden – es wäre mir unerträglich, von diesem Manne verkannt zu werden.“

„Du, Du!“ drohte Emma, „das letztere scheint Dir ja ganz ungeheuer am Herzen zu liegen! Sei getrost, ich werde diesem Manne den Sachverhalt aufklären und mich zum Sühnopfer anbieten, denn das scheint mir doch ausgemacht, daß Du jetzt den braven Major zum Lohn für sein ritterliches Schweigen auch thatsächlich mit Deiner Hand zu beglücken hast!“

Jetzt lachte Helene zum ersten Male wieder laut und herzhaft auf: „Warum nicht gar! Von mir wird er vollständig genug haben; aber wie wäre es, wenn Du dieses Amt übernähmst, weise Emma, was meinst Du?“ Sie sah der Freundin muthwillig in die Augen, diese gab ihr einen Schlag auf die Hand:

„Ich meine, daß Du nun wieder meine alte Helene bist, Gott so Dank dafür! Aber ums Himmelswillen,“ fuhr sie auf, „ich vergesse über unserer Plauderei völlig, in welch schrecklicher Lage ich den armen Major lasse; wie wird dem der Professor mitspielen und schließlich noch der Doktor, und ich gewissenloses Geschöpf versprach, gleich zu kommen!“

Noch einen Kuß und draußen war sie; Helene athmete tief auf und legte sich in das Sofa zurück; ihre Blicke versenkten sich träumerisch in das grüne Blättergewirr vor dem Fenster, während ein seliges Lächeln ihren Mund umspielte.




Während der Unterredung der beiden Freundinnen hatte sich ein erbitterter Wortwechsel zwischen Professor Roditz und Major von Schnitzel entsponnen, der eben nahe daran war, in einer Forderung zu gipfeln.

In den heftigsten Ausdrücken hatte der Professor den vermeintlichen Ehemann zur Rede gestellt wegen seiner Lieblosigkeit, seiner herzlosen Gleichgültigkeit gegen seine Frau.

Das ging dem Major, wenn schon er den Irrthum des Herrn bedachte, denn doch allmählich zu weit. Auch er begann heftig zu werden, indem er sich sagte, daß ja ebenso gut alles wahr sein könnte, was jener annahm, und wieso dann ein wildfremder Professor sich um seine, des Majors, eheliche Differenzen zu kümmern habe?

Seine ziemlich grobe Entgegnung. „Das geht Sie alles gar nichts an!“ versetzte den Gelehrten aber nur in größere Aufregung, die Reden flogen immer gereizter zwischen ihnen her und hin, und der Major stand eben im Begriff, sehr unangenehm zu werden, als die Thür sich öffnete und der Doktor mit Emma eintrat.

Roditz stürzte auf sie zu und ergriff ihre rechte Hand. „Gott sei Dank, daß Sie da sind, nun reden Sie dem Gatten Ihrer armen Freundin ins Gewissen.“

„Freundin?“ rief der Major und erhaschte ihre Linke. „Jetzt Aufklärung um jeden Preis, oder ich werde verrückt bei dem fürchterlichen Unsinn.“

Emma brach in an fröhliches Lachen aus und sah voll Schelmerei von einem zum andern.

„Herr Professor, Herr Major,“ begann sie dann mit zwei zierlichen Verbeugungen, „erlauben Sie vor allen Dingen dem Rettungsengel, sich vorzustellen als Emma Wahren, intimste Freundin der schönen Unglücklichen, um welche hier, wie es scheint, sehr anzügliche Reden getauscht werden.“

„Verzeihen Sie!“ unterbrach sie hastig der Professor, – „in der furchtbaren Aufregung“ – „vergaßen wir uns vorzustellen,“ vollendete der Major.

„Ist nicht nöthig, da ich soeben von Helene komme; die Namen der Herren sind mir demnach bekannt. Der Ihrige,“ wendete sie sich mit schalkhafter Gravität an den Professor, „natürlich schon längst; selbst ein so ungelehrtes, prosaisches Naturkind


[879] wie ich weiß von dem berühmten Weltumsegler; der Ihrige jedoch,“ fuhr sie, den Major neckisch anlachend, fort, „tönt mit seinem wunderbar poetischen Klange heute zum ersten Mal an mein Ohr.“

„Zum ersten Male?“ fiel der Professor, immer noch heftig erregt ein: „um Gotteswillen, Fräulein, treiben Sie keinen grausamen Scherz mit mir!“

„Grausamen Scherz,“ versetzte Emma, „ich denke ja nicht daran. Denn wenn auch Helene meine Freundin ist, so folgt daraus noch lange nicht, daß sie die Gattin dieses armen vielgeplagten Mannes sei, der heute so schwere Proben überstanden hat.“

Sie lachte fröhlich dem Major in das aufgeheiterte Gesicht; er beugte sich auf ihre Hand und drückte einen enthusiastischen Kuß darauf.

„Ich verstehe kein Wort,“ unterbrach Robitz die Plaudernden unmuthig, "die Herrschaften scherzen hier harmlos, während ich –“

„Während Sie diesen guten Herrn Major für einen barbarischen Wütherich hielten und mich ohne Zweifel für eine vollkommene Närrin ansahen. Aber Sie sollen uns Abbitte thun, mein Herr Professor, feierliche Abbitte, denn erfahren Sie –“ hier richtete sie sich hoch auf. „Helene Elden, meine Freundin ist – – unverheirathet!“

„Unverheirathet!“ – rief der Professor aus, während sein Gesicht sich verklärte und ein Strahl unsäglichen Glückes aus seinen Augen brach, „unverheirathet!“

Er vermochte vor Ergriffenheit nichts hinzuzusetzen und stand ein paar Augenblicke in glückseligem, staunendem Schweigen da.

„Aber,“ brach es endlich von seinen Lippen, „wie vermochte es Fräulein Elden, mich so zu täuschst?“

„Still, still, Herr Professor,“ beschwichtigte Emma, „nur nicht wieder voreilig ins Gericht gehen wie mit dem armen Herrn Major; Helene ist unschuldig und hat schwer genug unter meinem unbedachten Scherze gelitten; ich werde als alleinige Sünderin nachher volle Beichte ablegen, doch vorerst versöhnen Sie hier Ihr bemitleidenswertes Opfer.“

Mit dem liebenswürdigsten Entgegenkommen eilte der Professor auf den Major zu, dessen Hände mit der dringenden Bitte ergreifend: „Können und wollen Sie mir verzeihen, was ich Ihnen angethan um dieses unglücklichen Mißverständisses willen?“

„Bitte, bitte!“ wehrte dieser lachend ab, „da ist nichts zu verzeihen; aber wissen möchte ich jetzt doch endlich einmal –“

„Ich auch,“ platzte der Doktor aus vollem Herzen los. „Da ich aber jetzt augenblicklich noch einmal auf den Bahnhof muß, so schlage ich vor, die Herrschaften bringen sämmtlich den heutigen Abend bei uns zu; ich erlaube sogar Fräulein Eldens Anwesenheit, natürlich sprechen darf sie nicht viel. Dann muß uns sowohl Fräulein Wahren als der Herr Major ausführlich erzählen, und so werden wir endlich alles erfahren.“

Der Vorschlag des Doktors wurde angenommene während dieser nun enteilte und Emma mit dem Major ein lebhaftes und lustiges Wortgefecht begann, welches diesen höchlich zu entzücken schien, war Professor Roditz still ins Nebenzimmer eingetreten, wo Helene im Lehnstuhl am offenen Fenster saß.

Sie ruhte, den feinen Kopf seitwärts geneigt, an ein purpurrothes Kissen gelehnt, von welchem sich der zarte Kopfumriß reizend abhob. Ihr jetzt vollständig aufgelöstes, schwarzes, gelocktes Haar fiel über Schultern und Brust herab, und die weißen Hände hielten einen Strauß duftender Rosen fest, den ihr Frau Doktor Belden gebracht hatte. Die langen, seidenen Wimpern lagen nicht mehr herabgesenkt auf ihren Wangen, sondern entschleierten die braunen Augen in ihrer wunderbaren Schönheit, die, voll aufgeschlagen, in die grünen Bäume des Gartens hinausschauten, durch welche soeben die letzten Sonnenstrahlen hereinfielen und die ruhende Mädchengestalt wie mit einem Glorienschimmer umwoben.

Ein leichtes Geräusch ließ Helene aufsehen mit einem leisen Freudenschrei wollte sie sich erheben, allein schon kniete der Professor neben ihr, sie sanft in den Sessel niederdrückend.

„Helene, Helene“ – das war alles, was die zitternden Lippen des sonst so starken Mannes hervorzubringen vermochten. Einen Augenblick später lag sie an seiner Brust und wieder und wieder küßte der glückselige Mann Augen, Stirn und Mund seiner holden Braut, während draußen die Abenddämmerung sich leise über die Wipfel niedersenkte.




Am Abend dieses ereignisreichen Tages saß ein Kreis froher Menschen bei der trefflichen Erdbeerbowle, welche die kleine Frau Doktorin bereitet hatte, bis spät beisammen.

Als die Hauptsünderin war Emma verurtheilt worden, von Anfang an zu erzählen, und sie that es mit solcher Lebhaftigkeit und solch drolligem Muthwillen, der Major ergänzte in so komischer Weise, daß die Zuhörer nicht aus dem Lachen herauskamen.

„Ich konnte natürlich nicht ahnen,“ schloß Emma ihren Bericht, „daß mein Scherz so folgenschwer sein würde, und dennoch sollte ich eigentlich nichts bereuen, denn“ – und ohne zu vollenden, schaute sie mit vielsagenden Blicken nach Helene, deren Augen unbekümmert um die Anwesenden an denjenigen des neben ihr sitzenden Professors hingen, der ebenso unbekümmert ihre Hand fest in der seinigen hielt.

„Das ist wieder einmal Frauenlogik: es ist gut abgelaufen, folglich bildet man sich noch etwas darauf ein,“ meinte scherzend Doktor Belden. „Sie sind übrigens am meisten zu beklagen, Herr Major, Ihnen ist übel mitgespielt worden und an Ihrer Stelle –“ er warf einen Blick über den Tisch, „ließe ich mir den Besitz einer so liebenswürdigen, mir gewissermaßen zu eigen gewesenen Frau nicht entgehen.“

„Wer weiß, was geschehen wäre,“ gab der Major zurück, „wenn nicht“ – er wurde sehr roth und räusperte sich mit einem Blick auf Emma, der an Ausdrucksfähigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Ebenfalls sehr erröthend, wandte sich diese zur Seite, der Doktor aber rief fröhlich aus:

„Ah, also so steht’s hier! Na, ich gratulire, gratulire allerseits, das ist ein prächtiger Abschluß dieser merkwürdigen Geschichte.“

Ehe sich an diesem Abend die Gesellschaft trennte, benützte der Major einen günstigen Moment , um sich Emma zu nähern welche, am offenen Fenster stehend, die balsamische Nachtluft einathmete, und ihr leise zuzuflüstern: „Fräulein Emma, ich sage auf Wiedersehen, allein ich kann es nicht ertragen, bis dahin nichts von Ihnen zu hören – darf ich Ihnen zuweilen schreiben, wollen Sie mir antworten?“

„Ja,“ flüsterte Emma, nun auch ihrerseits tief bewegt und entzog ihre Hand seinen glühenden Küssen nicht.



Sechs Wochen später veröffentlichten die Zeitungen zwei Verlobungen: diejenige Helene Eldens mit Professor Roditz und Emma Wahrens mit Major von Schnitzel; und ebenso viele Monate später fand in dem Hause von Helenens Eltern die Doppelhochzeit statt und die Hände der jungen Paare fügten sich nicht nur zusammen zu dem Bunde zweier unendlich glücklicher Ehen, sondern auch zu einem treuen unauflöslichen Freundschaftsbunde fürs Leben.






Der „wilde“ Mensch.


Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren eine Menschengattung zu Grabe getragen, an deren Vorhandensein noch vor wenigen Jahrzehnten die größten Gelehrten glaubten, den „wilden“ Menschen, der noch heute in der Einbildung vieler fortlebt, die keine Gelegenheit hatten, sich mit den neueren Forschungen zu befassen.

Der „wilde“ Mensch sollte ein eigenartiges Wesen darstellen, welches mehr dem Thiere als dem Menschen ähnlich war und ungefähr ein Zwischenglied zwischen dem Menschen und dem Affen bildete.

Die Fabel von dem Vorhandensein des „wilden“ Menschen ist ohne Zweifel in erster Linie auf ungenaue Berichte der Reisenden zurückzuführen. Wir wissen ja, welche Wunderdinge namentlich in früheren Zeiten berichtet und geglaubt wurden. Wir brauchen nur an die Menschen mit Hundsköpfen zu erinnern, welche an den Ufern des Ganges wohnen sollten, oder an die „Einschenkler“, welche auf ihrem einzigen Bein wunderbar schnell laufen und vortrefflich springen konnten und welche auch „Fußschattner“ genannt wurden, „weil sie sich bei großer Hitze auf den Rücken legten und ihren großen Fuß gleich einem Sonnenschirm über sich ausbreiteten“ – oder endlich an die „Schwanzmenschen“, welche Afrikas Urwälder und die Dschungeln von Borneo bevölkern sollten!

[880]

Bilder aus Hamburg. Originalzeichnung von C. W. Allers.
1. Kartoffelewer im Fleet. 2. Vierländerin am Jungfernstieg. 3. 76er beim Schatz. 4. Lotse. 5. Fischfrauen am Meßberg. 6. Am Millernthor. 7. Quartiersmann. 8. Schiffsjunge. 9. Kaffeemakler.10. Auswandererzug. 11. Fleet. 12. New-York-Dampfer.
13. Am Hafen. 14. An der Alster.

[881] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [882] Gegenüber solchen Menschenarten muß der „wilde“ Mensch noch als eine recht zahme Fabel erscheinen; kein Wunder darum, daß man bis in die neueste Zeit an dessen Existenz nicht zweifelte! Wurde doch noch vor vier Jahren an die Berliner Anthropologische Gesellschaft ein Bericht über die Papua-Inseln eingesandt, in dem wörtlich zu lesen ist:

„Auf der Aru-Insel soll ein Stamm vorkommen, welcher bis zu 6 Zoll lange, vom Kopfe abstehende Ohren haben und auch in seiner Gestalt sonst sehr abnorm sein soll. Herr Sisto, ein ‚achtungswerther‘ Kaufmann, hat früher einmal ein solches Individuum besessen, dasselbe ist aber in kurzer Zeit gestorben. Dieser Stamm soll mit andern keinen Umgang haben. Ein andrer Stamm soll weiße Hautfarbe und rothbraune Haare haben und auch auf Bäumen wohnen, ähnlich wie auf einer der Key-Inseln. Auch soll ihre Sprache eine ganz thierische sein, und sie sollen sich ganz abgesondert halten, ohne Kleidung, auf der niedrigsten Stufe stehend. Wie die andern Arunesen angeben, sind die Leute Abkömmlinge von Europäern, welche dort vor vielen Jahren gescheitert sein sollen.“

Wir führen gerade diesen Bericht zuerst an, denn er umfaßt so zu sagen die gesammte Frage des „wilden“ Menschen; erstens wird darin behauptet, daß es „wilde“ Menschenstämme giebt, zweitens, daß auch Abkömmlinge civilisirter Menschen „verwildern“ oder auf die thierische Stufe hinabsinken können. Auch wir werden diese Fragen nach jenen beiden Richtungen hin erörtern.

Als wilde thierartige Stämme wurden namentlich die Zwergvölker und die Buschmänner Afrikas ausgegeben.

Krapf, der bekannte Missionar und Reisende in Ostafrika, erzählte nach Berichten von Sklaven von den Doko, welche in einer unerforschten Gegend Abessiniens in dichten Bambusurwäldern wohnen und nicht höher als vier Fuß, von der Größe zehnjähriger Kinder, sein sollten. „Sie leben,“ heißt es von ihnen, „in einem durchaus thierischen Zustande ohne Wohnung, ohne Tempel, ohne heilige Bäume; sie haben keinen Häuptling und keine Waffen; sie klettern auf Bäume wie die Affen; der längen Nägel bedienen sie sich beim Ausgraben von Wurzeln und Ameisen und zum Zerreißen von Schlangen die sie roh verschlingen.“

In den Gebieten, welche augenblicklich das so viel besprochene „Reich Emin Paschas“ bilden, fand später Schweinfurth den Zwergstamm der Akka, die uns an die Doko Krapfs erinnern.

Die Mittheilungen Schweinfurths wurden in jüngster Zeit durch Emin vervollständigt; wir wissen jetzt, daß die Akka als Jäger im Lande umherziehen, in allen Schlichen und Künsten des Weidwerks wohl bewandert sind, daß sie das erlegte Wild an die ackerbautreibenden Stämme verkaufen und mit den Häuptlingen derselben Verträge abschließen; wir wissen auch, daß sie Menschenfresser, äußerst boshaft und grausam sind − aber der Gedanke, daß diese Akka näher den Thieren als dem Menschen stehen sollen, erscheint uns heute geradezu absurd. Zwischen dem rohesten grausamsten Akka und einem Chimpansen gähnt dieselbe unüberbrückbare Kluft wie zwischen dem Europäer und dem Affen.

Eine andere Abart des „wilden“ Menschen sind die sogenannten „Affenmenschen.“ In der Zeitschrift der Asiatischen Gesellschaft von Bengalen wurde noch aus dem Jahre 1824 allen Ernstes berichtet, daß unter Dhangur-Kulis, die auf einer Kaffeeplantage arbeiteten, sich zwei Personen, ein Mann und eine Frau, befunden hätten, die man Affenmenschen nannte. Durch Zeichen hatte man aus ihnen herausgebracht, daß ihr Stamm weit in den Gebirgen wohne, und man will später in den Wäldern von Terai solche Menschen lebend und vollkommen affenähnlich gefunden haben. Es kamen immer andere Reisende, die ähnliches gesehen zu haben behaupteten, bis die Nachricht auftauchte, daß es auf Sumatra in den Wäldern einen Menschenstamm gäbe, der „nackt und ganz behaart“ ist und Orang Koobos genannt wird, und einen andern, die Orang Gugur, die noch wilder seien, fast ganz ohne Kinn, mit haarigem Körper, ohne Waden, aber mit langen Fersen und noch längeren Armen, zurückliegender Stirn und vorstehenden Kinnbacken.

Das Interesse an Affenmenschen gewann durch die Darwinsche Theorie neue Nahrung. Diese Gebilde waren ja unzweifelhaft die fehlenden Kettenglieder zwischen Mensch und Affe, nach denen man so eifrig forschte, und eines Tages, vor wenigen Jahren, lasen auch die erstaunten Europäer in den Tagesblättern die Nachricht, daß ein Affenmensch, ein Mädchen von 7−8 Jahren, in dem Walde von Laos eingefangen worden sei und eine Rundreise durch Europa antreten werde. In der Ankündigung wurde erzählt, daß von dieser sonderbaren Rasse eine ganze Familie, Vater, Mutter und Tochter, gefangen worden sei, der Vater sei in Laos an der Cholera gestorben, der Beherrscher des Landes habe nicht gestattet, die Mutter zu exportiren, und so sei das Kind allein nach Europa gebracht worden. Dieses Kind war die einem jeden von unsern Lesern ohne Zweifel bekannte Krao, welche diesen Namen darum erhielt, weil die Eltern, wenn die Kleine weglief, in einem klagenden Tone „Kra-o!“ gerufen haben sollten.

Das Affenmädchen, dessen Haut in der That mit Haaren bedeckt war, wurde jedoch nicht allein von einem staunenden Publikum angegafft, sondern auch von Gelehrten, wie Virchow und Bartels, untersucht und diese stellten fest, daß die kleine Krao eine echte Siamesin sei, bei der man die längst bekannte Erscheinung der Ueberhaarung beobachten könne, daß sie also den sogenannten „Haarmenschen,“ die von Zeit zu Zeit bei den verschiedensten Völkern sich vorfinden, zuzuzählen sei.

Inzwischen kam auch aus Bangkok die Kunde, daß Krao die Tochter eines königlichen Beamten in jener Stadt sei, daß die Eltern ebenso wie jeder andere Siamese aussehen und das Kind an einen Unternehmer vermiethet hätten.

In dem Zeitalter der Dampfschiffe wurde der letzte Versuch, den Affenmenschen wieder aufleben zu lassen, in kürzester Zeit als Humbug erkannt. Alle anderen Berichte über ähnliche „Wilde“ erwiesen sich im Lichte der Forschung als Fabel und Märchen. Nirgends waren solche Stämme aufzufinden und sie existirten nur in der Phantasie einiger unkritischen Reisenden, wie das einst auch mit dem „vergoldeten König Dorado“ der Fall war. Darum sagt auch Dr. Johannes Ranke mit Recht in seinem vortrefflichen Werke „Der Mensch“ (Leipzig, Bibliogr. Institut.): „Thierartige, wilde Völker oder Stämme, welche die Mittelglieder zwischen Mensch und Affe darstellen, giebt es nicht.“

„Aber,“ fügt er noch hinzu, „es giebt auch nicht einzelne Individuen, welche wissenschaftlich als solche Mittelglieder aufgestellt werden dürften.“

Wir gelangen hiermit zu dem zweiten Theil unseres Themas, zur Erörterung der Frage, ob der Mensch, wenn er von jeder Gemeinschaft mit der Gesellschaft ausgeschlossen und sich selbst in der Wildniß überlassen bleibt, wirklich verwildern, zu einem Thier werden kann.

Wir wissen ja, daß eine derartige Isolirung gewaltige Veränderungen hervorruft und dem Menschen Fähigkeiten, die er als Kulturmensch erworben, raubt. Hatte doch der Schottländer Selkirk die Kenntniß der Sprache und das Vermögen, zu reden, fast ganz verloren, nachdem er fünf Jahre einsam aus der Insel Juan Fernandez gelebt hatte. Ein anderes Beispiel liefert uns ein schauerliches Experiment des Mongolenfürsten Akebar, der grausamerweise dreißig noch nicht sprechende Knaben so einschließen ließ, daß sie niemand sprechen hören konnten, indem er wissen wollte, wie ihr Sprechen dann werden würde. Keiner derselben brachte es aber zu artikulirten Lauten. Was nun der Barbarenfürst erfahren wollte, das hat uns mehr als einmal der Zufall geboten. Die Geschichte kennt eine Reihe von „Waldmenschen“, welche in den Wäldern Europas eingefangen wurden, die jeder Kultur bar, ohne Vernunft und stumm waren.

Diese Waldmenschen veranlaßten seiner Zeit den großen Naturforscher Linné, dem homo sapiens, dem Weisen, den homo ferus, den Wilden, in seinem System entgegenzustellen, dem er folgende Merkmale beifügte: „vierfüßig, stumm, behaart.“

Im Laufe der Zeit sind 16 derartige Menschen bekannt geworden, zumeist Knaben und Mädchen, ihr Erscheinen fällt in vergangene Zeiten, wo es in Europa noch entlegene Wälder, unzugängliche Moore und Sümpfe gab.

Liest man die Lebensgeschichten dieser Wildlinge, welche neuerdings Prof. Rauber in Leipzig zusammengestellt hat,[1] so gewinnt man die Ueberzeugung , daß die Isolirung des Menschen furchtbar in ihren Wirkungen ist, und darum verdienen jene Fälle auch in unsrer Zeit Beachtung. Die Forscher der Gegenwart können dieselbe besser deuten und erklären als die Gelehrten früherer Jahrhunderte. Wir wollen an dieser Stelle nur der besonders charakteristischen Wildlinge erwähnen.

Aus dem Jahre 1672 stammt ein Bericht über den sogenannten „irischen Jüngling“. „Es wurde,“ heißt es darin, „ein Jüngling von [883] 16 Jahren nach Amsterdam gebracht, welcher in Irland seinen Eltern entwichen war, von frühester Jugend an unter wilden Schafen gelebt und deren Natur gleichsam angenommen hatte. Er war von gelenkigem Körper, in ununterbrochener Bewegung, von trotziger Miene, festem Fleisch, trockener sonnverbrannter Haut, strammen Gliedmaßen, zurückweichender, niedriger Stirn, gewölbtem, höckerigem Hinterhaupt, roh, planlos, unerschrocken, jeder Menschlichkeit bar.

Im übrigen war er von gesunder Körperbeschaffenheit und erfreute sich des besten Wohlseins. Er hatte keine menschliche Stimme, sondern blökte wie ein Schaf, verweigerte unsre gewöhnlichen Speisen und Getränke, verzehrte dagegen nur Gras und Heu wie die Schafe. Alles mehrmals hin und herwendend und stückweise untersuchend, wählte und kostete er endlich bald dies bald jenes, je nachdem die Nase oder der Gaumen es angenehmer fand. Er hatte in rauhen Bergen und wilden Orten gelebt; er selbst war nicht weniger wild und ungebändigt, ein Freund von Höhlen, weglosen Gegenden, unzugänglichen Orten. Er war gewohnt, unter freiem Himmel zu leben, ertrug Winter und Sommer und entging sehr lange den Nachstellungen der Jäger, bis er endlich in ihre Netze gerieth. Er hatte mehr das Ansehen eines Thieres als eines Menschen. Den Waldgeist hatte er nur ungern, unter Menschen verweilend, erst nach langer Zeit ausgezogen. Seine Kehle war weit und breit, die Zunge an dem Gaumen gleichsam angefügt. Die Gegend der Herzgrube war infolge des vorwärts geneigten Ganges nach oben gerückt.“

Aehnliche thierische Gewohnheiten fand man auch bei anderen Wildlingen, wie z. B. bei den litauischen Knaben, die unter Bären gefangen wurden, und bei dem „Mädchen von Songi in der Champagne“.

Es wird genügen, was die Knaben anbelangt, nur die Geschichte des im Jahre 1661 entdeckten wiederzugeben:

„Jäger, die in den litauischen Wäldern ihre Beute verfolgten, sahen einen Trupp Bären. Unter ihnen bemerkten sie zwei kleine Wesen, welche menschliche Gestalt hatten. Sie verfolgten sie mit solchem Eifer, daß sie eins auffingen, ungeachtet seines Widerstandes und Geschreies, seines Zähnefletschens und seiner Vertheidigung mit den Nägeln, gleich der eines jungen ungezähmten Bären. Man fesselte ihn und brachte ihn nach Warschau vor den König und die Königin von Polen. Der ganze Adel und die ganze Stadt lief herbei, um das Kind zu sehen, welches damals etwa neun Jahre alt zu sein schien. Seine Haut war extrem weiß, ebenso seine Haare. Seine Glieder waren gut proportionirt und vollkräftig. Sein Gesicht war hübsch, seine Augen blau, alle seine Sinne aber so verthiert, er des Verstandes und der Vernunft so entblößt, daß er von einem Menschen nichts zu haben schien als den Körper. Er hatte nicht einmal den Gebrauch der Sprache und alle seine Neigungen waren thierischer Art … Er konnte nie die Wildheit seines Naturells aufgeben, die er unter den Thieren erworben hatte. Gleichwohl nahm er die Gewohnheit an, auf zwei Füßen zu gehen, und er ging, wohin man ihn rief. Rohes und gekochtes Fleisch waren ihm gleich willkommen; Kleider konnte er am Körper nicht leiden, ebenso wenig Schuhe; niemals bedeckte er den Kopf. Von Zeit zu Zeit floh er in die Wälder, wo er sich damit vergnügte, mit den Nägeln Baumrinde abzureißen und ihren Saft zu saugen.“

Sprechen soll er niemals gelernt haben, obwohl er eine fehlerlose Zunge hatte.

Was nun das „Mädchen von Songi“ anbelangt, so ist ihre Geschichte insofern von Bedeutung, als sie uns den Beweis liefert, daß einige der Wildlinge nach ihrer Rückkehr in die menschliche Gesellschaft Sprache und Vernunft wieder erlangt hatten.

Rauber erzählt über diesen Fall etwa folgendes: Im September 1731 trat ein Mädchen von 9 bis 10 Jahren zur Dämmerungszeit von Durst geplagt in das Dorf Songi ein, welches 4 oder 5 Lieues von Châlons entfernt liegt. Ihre Füße waren nackt, der Körper mit Lumpen und Fellen bekleidet, der Kopf mit einem Flaschenkürbis statt der Mütze bedeckt, die Hand mit einer hölzernen Keule bewaffnet. Als jemand aus dem Dorfe eine Dogge auf sie losließ, erwartete sie das Thier festen Fußes und versetzte ihm, als es auf sie zustürzte, einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß das Thier todt zu ihren Füßen sank.

Voll Freude über ihren Sieg warf sie sich mehrmals auf den Körper des Hundes. Darauf suchte sie eine Thür zu öffnen, ging aber, da ihr dies nicht gelang, auf das Feld zur Seite des Flusses zurück, bestieg einen Baum und schlief hier ruhig ein. Durch eine Frau wurde sie danach vom Baume herabgelockt und gerieth so in die Gefangenschaft der Dorfbewohner. Als sie in die Küche eines hier befindlichen Schlosses gebracht wurde, fielen ihre Blicke auf einiges Geflügel, welches der Koch zubereitete. Sie warf sich mit Lebhaftigkeit und Begier auf dasselbe und begann es sofort zu verzehren. Ein ihr mit der Haut gegebenes Kaninchen würgte sie ebenfalls hinunter.

Wie spätere Beobachtung erwies, war das Mädchen äußerst geschickt im Klettern auf den Bäumen; es hatte einen eigenartigen gleitenden Gang, war aber dabei so behend, daß es ihm gelang, das Wild im Laufe zu Haschen. Ebenso geschickt war es im Tauchen und im Fangen der Fische und Frösche, die es roh verzehrte.

Fräulein „Le Blanc“, wie das Mädchen später genannt wurde, erwies sich bildungsfähig, erlernte die französische Sprache und wurde Nonne. Aber nur mit großer Mühe gelang es, ihr den Genuß von rohem blutigen Fleisch, sowie von Blättern, Zweigen und Wurzeln abzugewöhnen. Noch zwei Jahre nach ihrer Einfangung hatte sie die Neigung, den Fisch im Wasser zu fangen, nicht verloren.

Wir verzichten darauf, weitere Beispiele anzuführen. Die Wildlinge, von denen einige, wie z. B. der „wilde Peter von Hameln“, der damaligen gelehrten Welt Stoff zu vielfachen Untersuchungen boten, sind, wie jedermann zugeben muß, durchaus abnorme Erscheinungen. Die Geschichte kennt nur 16 derartige Fälle und dabei muß noch in Betracht gezogen werden, daß in diesen Schilderungen Wahrheit und Dichtung nicht mehr von einander zu trennen sind.

Für den Psychologen sind diese Fälle äußerst wichtig, aber kein ernster Forscher der Gegenwart würde sich veranlaßt finden, diese Menschen, von denen man nicht einmal weiß, ob sie geisteskrank waren, als eine Rasse oder Menschenart hinzustellen.

Der Mensch ist nicht für die Einsamkeit geboren; löst man ihn los von dem Verbande der Gesellschaft, so muß er zu Grunde gehen, wie eine Biene, die sich von ihrem Schwarm getrennt hat.

Die heutige Wissenschaft kennt keine „wilden“ Menschen; selbst bei den rohesten Stämmen findet sie Zeichen der Kultur und Gesittung, die zwischen dem Menschen und dem Thiere eine tiefe Kluft wahrnehmen lassen.




Waldemars Brautfahrt.
Novellette von Julie Ludwig.
(Schluß.)

Elsbeth schaute dem Treiben ihres einstigen Vertrauten mit wachsendem Unwillen zu. Wie eilig er es hatte, dieser treulose Waldemar, der Hausfrau seinen Arm zu bieten, als man sich an die kleine Festtafel im Nebenraum begab! Wie unbefangen er sie, Elsbeth, als sein vis-à-vis am Tisch begrüßte! Und mit welch weltmännischer Gewandtheit er den Faden des Gespräches zu ergreifen und zu lenken wußte, um die Gesellschaft nach und nach auf den Ton der höchsten Heiterkeit zu stimmen! Nein! nein! das war nicht mehr der vulkanisch glühende Verehrer von vorhin, dieser von Witz, Humor, ja Uebermuth sprühende Genosse. Der Bürgermeister lachte Thränen, selbst die Hausfrau lächelte voll Würde, und was der allgemeine Frohsinn und der gute Wein aus „Karlchen“ machte – es war unerträglich!

Nur eine blieb scheinbar in ihrer Ruhe. Hilde waltete still ihres Amtes. Ihre Augen hoben sich nicht einmal nach dem fremden Gaste. Sie hatte auf Krystall und Porzellan, auf Braten, Sauce und Pudding zu achten, der plumpen Magd die Schüsseln abzunehmen und herumzureichen – kaum, daß sie nur einmal zum Sitzen kam, um mit dem Vormund auf die neue Kochmaschine oder mit Karl Dittmann auf fernere getreue – Kundschaft [884] anzustoßen. Denn die Toaste wurden immer ausgesuchter, und wer, außer einem, welcher noch dazu ein Fremder war, hatte eine Ahnung, wie viel an Poesie und dunkler Sehnsucht hinter dieser reinen Mädchenstirn verkümmerte? Waldemar lag freilich der Vergleich mit seinem eigenen Jugendlose auch am nächsten. Aber welcher Unterschied zwischen dem, wie er es einst ertragen oder vielmehr nicht ertragen hatte, und der Art, wie dieses Kind nur stets an seine nächsten Pflichten dachte!

Als man vom Tisch aufstand, hatte sich Waldemar die völlige Zufriedenheit der Hausfrau, das vergnügte Wohlwollen des Bürgermeisters und die dankbare Freundschaft von Karl Dittmann gewonnen. Wie hatte der junge, wohlsituirte Inhaber des Goldenen Engels sich diesen leichten, frohgemuthen Künstler überhaupt als ernsthaften Rivalen denken können? Noch niemals hatte Elsbeth seine Händedrücke inniger erwidert, noch niemals hatten ihre blauen Augen solche Flammen in

„Hilde, leuchten!“

sein Herz geworfen, die weder Wein, noch der zuletzt aufgetragene Champagner löschen wollten. Da mußte etwas anderes geschehen, etwas großes, etwas, zu welchem er bei seiner angeborenen Bedächtigkeit noch nicht gekommen war – –

Draußen neigte sich der trübe Regentag zum Ende, drinnen wurden Lampen und Lichter angezündet – es ward Abend. Verlobungsabend! sagte sich Waldemar und wunderte sich selbst, wie zufrieden er das sagte. Nur dabei sein mochte er nicht grade. Hatte er schon vorher die wirklich herzliche Einladung abgeschlagen, im Bürgermeisterhause zu logiren, so widerstand er jetzt den Bitten um längeres Bleiben und empfahl sich, indem er Müdigkeit nicht bloß vorschützte. In gewissem Sinne war er wirklich müde.

„Hilde, leuchten!“ befahl der Bürgermeister, als Waldemar, nochmals nach allen Seiten grüßend, auf die Thür zutrat. Da – war es nicht, als ob Elsbeth an Stelle der Gerufenen das Licht ergreifen und den Jugendfreund geleiten wolle? Im nächsten Augenblicke lag die Hand – ob sie zurückgezogen worden war? ob sie sich selbst zurückgezogen hatte? – wieder rosig zart und lilienweiß, wie sie vorher gelegen, auf dem dunklen Polsterarm ihres Sessels, Karl Dittmann flüsterte ihr etwas in das Ohr und beide riefen ihm ein freundliches „Auf Wiedersehen!“ nach.

„Darf ich wiederkommen, Fräulein Hildegard?“ fragte Waldemar, als beide draußen in dem langen, dunklen, nur von der schwachen Lichtflamme erhellten Hausflur standen.

Verwundert sah sie zu ihm auf: „Ich soll es Ihnen sagen, ich?“

„Ja: Sie – allein!“ Er mußte wohl sehr deutlich, mehr mit dem Ton und seinem ganzen Wesen, als mit dem bloßen Wort gesprochen haben, denn da hatte er, was er vorhin gewollt, zum dritten Mal: den vollen Augenaufschlag Hildes. Aber wie verstanden diese sanften braunen Sterne auch das Lodern und Blitzen! Die Hand, mitsammt dem Leuchter und der ganzen weichen, biegsamen Gestalt des Mädchens zitterte vor innerer Erregung: „Herr – Herr“ – sie kam in Eile nicht auf seinen Namen – „wie können Sie so rasch vergessen – und verleugnen – was –“

„Was mich hergeführt? Ein Bild – ein Trugbild!“ unterbrach er sie tiefernst. „Aber Gott sei Dank! es giebt noch Echtes.“ Und ehe sie noch daran denken konnte, es zu hindern, hatte er schon ihrer freien Linken sich bemächtigt und küßte sie so zart und ehrfurchtsvoll, als ob die schlanken, festen Arbeitsfinger dem Händchen einer Königin gehörten. In diesem Augenblick erlosch die Kerze. Dafür floß heller Lichtschein aus der hastig aufgerissenen Stubenthür. „Hilde!“, rief es ungeduldig: „Leinwand! Wasser!“ Drinnen im Zimmer war etwas geschehen, Elsbeth hatte nicht allein ihr Glas zerbrochen, sondern sich auch noch die zarten Fingerchen daran verletzt. Waldemar schritt unbekümmert um das „Unglück“ mitten durch die Ueberschwemmung auf dem Marktplatz nach dem „Weißen Hirschen“.


„Das hat hart gehalten. Hilde, liebe Hilde! wie hast Du Dich so lang besinnen können?“

„Lang? – o Du Spötter! Aber – mußte ich nicht denken, daß – daß Du mich nur gewollt – aus –“

„Aus Rache?“ lachte Waldemar hellauf: „Und zum Racheengel wolltest Du nicht genommen sein, während ich es schon zufrieden war, wenn Du mich überhaupt nur nahmst. Denn gesteh’ es nur, es war allein das Mitleid mit dem armen Maler und ditto abgeblitzten Freier, aus dem das bißchen Liebe zu mir aufwuchs?“

„Das bißchen – o! Und wenn Du alles wüßtest –“

„Was alles?“

„Nichts.“

„Und die Alten! Hab’ ich kämpfen müssen! Am Ende hätte ich die eigne Tochter leichter noch bekommen –“

Hilde lachte, wurde wieder ernst: „Die Armen! sie würden sie in einer Art auch weniger vermissen. Elsbeth ist so verwöhnt.“

„Durch Dich. Nun, Dittmann junior wird auch dies Geschäft fortsetzen.“

Hilde schüttelte den Kopf: „Er ist nicht mehr so arglos, wie er war. Du, Waldemar! ich glaube, daß sie mich beneidet – trotz –“

„Trotz des ,unsich’ren Künstlerbrotes’, das mir Dein gewissenhafter Vormund so lange vorhielt –“

„Bis Du mir Dein väterliches Kapital verschriebst! Ich weiß es,“ sagte Hilde, nachträglich noch vor Scham und Unwillen erröthend.

„Er hatte recht. Du hast Dein Ja doch schließlich noch recht leichtsinnig verhandelt – Liebling!“

„Nun sieh’, da lachst Du mich schon wieder aus, Du Böser, Lieber, Guter, Allerbester!“ Hilde verbarg ihr glühendes Gesicht an seiner Brust, riß sich aber augenblicklich wieder los und blickte scheu umher, denn der Ort, an dem sie sich befanden, war ein Wartesaal und ringsum saßen oder standen einzeln und in Gruppen eine Menge Menschen, Reisende, gleich ihnen und die meisten mit dem Ausdruck ungeduldigster Erwartung. Einige hatten es sich auf Stühlen oder Sofas, bequem gemacht und ihre Sachen um sich her gebreitet, als ob sie hier zu übernachten dächten. Es waren die Resignirten der Gesellschaft, die hier eingeschneit dem Weihnachtsabend auf der einsamen Station entgegensah, statt ihn daheim oder im Kreise lieber Freunde zu erwarten.

Um so freudiger war der Tumult, als der Bahnhofsinspektor in den Saal trat und verkündete, die Bahn sei frei und wenn nicht neue Schneewehungen einträten, könne der Zug heute noch bis D. gelangen. „So telegraphir’ ich doch noch, daß wir kommen,“ rief Waldemar erfreut und wollte rasch nach dem betreffenden Bureau abbiegen, als ihn Hilde noch am Arm zurückhielt. „Wozu die alte Frau – es ist doch eine alte,“ frug sie schelmisch, „die Dein kleines Hauswesen besorgt? – so spät und am Ende doch umsonst bemühen! Ein Feuerchen ist bald geschürt und hier“ – sie wies auf die gebauschte Reisetasche – „ist für das erste Nöthige gesorgt. Wart nur, ich will Dir’s bald gemüthlich machen in Deinem – unserem Daheim,“ verbesserte sie rasch. „Sagtest Du etwas?“

Er hatte etwas sagen wollen, that es aber nicht, sondern wandte nur sein zuckendes Gesicht zur Seite, in welchem ein fast knabenhafter Uebermuth mit einer niegekannten Weichheit kämpfte.

[885] Sie blickte ängstlich zu ihm auf: „Was fehlt Dir?“

„Mir – nichts! Im Gegentheil – es ist zu viel – das Glück! Das Glück, daß ich Dich habe, Dich!“ jubelte es jetzt voll aus ihm heraus. Er preßte Hildes Arm fest in den seinen und schien nicht übel Lust zu haben, sie mitsammt der schweren Reisetasche, den Schirmen, Plaids und allem, was er sonst zu tragen hatte, wie ein verliebter Kirmeßbursche seine Tänzerin, ein wenig in die Luft zu heben. „Nimm’ Dich in acht mit Deinen Augen, Hilde! Ich weiß wahrhaftig sonst nicht, was ich thue,“ drohte er.

„Waldemar!“ – Welch köstliche Standrede in dem einen Worte! Er hätte sie dafür todtküssen mögen.

„Ein Weihnachtsmärchen!“ dachte Hilde. Originalzeichnung von Fritz Bergen.

Ja, das Glück, das war es, was sie einsam zu zweien machte mitten in der Menge, die ungeduldig nach den Wagen drängte; es saß mit ihnen in dem überfüllten dunstigen Coupé und legte Rosenwolken um sie her mitten in der Schneewildniß, die sie durchfuhren. Dazwischen tauchten Lichter auf, verschwanden wieder, Christbäume leuchteten im Fluge aus der Fensterreih eines Städtchens; an jedem Bahnhof gab es Willkommsscenen zwischen sehnsüchtig Erwarteten und Wartenden – schließlich saßen die beiden fast allein im Wagen.

Endlich war D. erreicht. Sie stiegen aus und wandelten aus der mit blauem Mondlicht zauberhaft erfüllten Bahnhofshalle durch menschenleere, mitternächtige Straßen, zwischen Gärten, Anlagen und über Plätze; sie umgingen ein Gewirr von Häusern, Mauern und Fabriken, bis sich das weite, weiße Feld vor ihnen aufthat und die neue Villenvorstadt wie ein schöner, stiller Wintertraum, ein Märchen, gegen Berg und Wald hinan lag, Ein Weihnachtsmärchen! dachte Hilde; sie lauschte auf den schönen Gleichklang ihrer Tritte durch das tiefe feierliche Schweigen und erschrak, als käme nun das Ende, da Waldemar mit einmal stehen blieb, in seine Tasche faßte und ein kleines Schlüsselbund herauszog.

Doch es wurde nur noch märchenhafter. Sie standen vor einem reichverzierten Gitterthor, dahinter zwischen Bäumen und Gebüsch ein Haus mit breitem Treppenaufgang, mit Erker und Balkon geheimnißvoll hervortrat. In den hohen Fenstern, spiegelte sich der Mond, von Dach Und Simsen blinkten lange Eiszapfen wie Fransen und alles war so duftig, weiß und weich in den jüngstgefall’nen tiefen Schnee gebettet, daß Hilde kaum zu flüstern wagte: „Hier wohnst Du – wohnen wir? Dort oben – ach! wie schön!“ Sie hatte im Giebel ein großes halbrundes Fenster, der Beschreibung nach zu einem Atelier gehörig, und rechts und links davon zwei kleinere entdeckt. Zwei Stübchen! rechnete sie rasch – das war genügend; die Küche mochte nach dem Walde liegen – kühl und lauschig, ihr zukünftiges Atelier!

Lautlos schloß Waldemar das schwere Thor auf und lautlos schritten sie auf einem breiten, von weißvermummtem Strauchwerk eingefaßten Wege nach dem stillen Hause, dessen Thür ein zweiter, kleiner Schlüssel öffnete. Eine milde Wärme schlug den beiden aus der Frostnacht Kommenden entgegen und im Scheine eines kleinen Wachslichtes, das Waldemar entzündete, sah Hilde weißen Marmor an den Wänden glitzern, von dem sich dunkle Säulenbogen hoben. Auf einer breiten, schöngeschwung’nen Treppe mit Purpurläufern stiegen sie nach oben, „vorsichtig, daß sie niemand erweckten“, wie Hilde sich gleich ausbedungen hatte. Dann kam ein Korridor mit buntbemaltem Fenster, dem das schwache Lichtchen glühende Reflexe an den Metallbeschlägen einer alterthümlich reichgeschnitzten Thür entlockte. Sie führe zu den Wohnzimmern der Herrschaft, sagte Waldemar, indem er vor derselben stehen blieb, wie zögernd.

„Die sind wohl sehr schön?“ fragte Hilde schüchtern.

Er lächelte. „Willst Du sie sehen Liebling?“ Und ehe sie noch widersprechen oder fragen konnte, ob denn die Leute nicht zu Hause seien, hätte er auch diese Thür geöffnet und zog sie mit sich in einen Vorraum, in welchem es nach frischen Blumen duftete und die Umrisse von weißen Statuen aus Pflanzengruppen dämmerten. Muthiger – er mußte wissen, was er wagen konnte – und mit mehr und mehr erwachter Neugier folgte sie dem Gatten in die fremden und sie doch sofort anheimelnden Räume.

Das Wachslicht war erloschen, aber der Schein, der durch die halbgeschlossenen Gardinen von außen einfiel, war eben wie gemacht, um die wohnliche geschmackvolle Einrichtung halb zu zeigen, halb mit dem Reize des Geheimnißvollen zu umschleiern.

Da war als erstes rechts das Speisezimmer. Bis zur halben Höhe holzgetäfelt, schien es von da an bis zur Deckenwölbung eine kunstvoll gemalte Wein- und Roselaube vorzustellen. Hochlehnige, aus dunklem Holz geschnitzte Stühle, die um den festen Eichentisch standen, ein riesiges Büffet, von welchem Silber und Krystall aufblinkte, und ein Kamin, auf dessen Bronzegitter ein verirrter Mondstrahl zitterte, vollendeten die einfache, doch, wie Hilde dünkte, hochpoetische Einrichtung. Dann kam der Salon, mit einem Teppich, in den ihr Füßchen tief einsank. Sofas und Sessel wären aufs traulichste gruppirt, als ob sich eben eine

[886]

heitere Gesellschaft da erhoben hätte; die hohen Spiegel und das Gold der Bilderahmen und Gaskronen durchleuchteten die Dämmerung des Raumes. Ein zweites, drittes Nebenzimmer folgte, alles gleich behaglich eingerichtet – zuletzt betraten sie ein Kabinett mit Bücherschränken und einem breiten Fenstersitze nach dem Walde. „Hier ergänzt ein glückliches Paar die Lücken seiner Bildung, denn sie hatten beide eine schwere Jugend,“ erklärte Waldemar. „Und hier“ – er schob wie zögernd einen schweren Plüschvorhang zur Seite – „hier ist das Heiligthum der jungen Hausfrau – Liebe, liebe Hilde!“ –

Weiter kam er nicht, denn Hilde hatte sich schon von ihm losgerissen und stand mit einem Ausruf des Entzückens in dem halbrunden mäßig großen Raum, durch dessen nur mit Spitzenwolken leicht drapirte Bogenfenster der volle Mond fast tageshell hereinschien. Die schönsten Rosen, sammetartig glühend, schienen aus der lichten Wand hervorzubrechen, dieselben leuchteten zu ihren Füßen auf dem Teppich, blühten und dufteten lebendig in den köstlichsten Gefäßen. Dazu zierlich gedrehte leichte Möbel, Sesselchen und Sofa, Schreib- und Nähtisch, Spiegel mit Konsolen, Ampeln mit zartem, grünem, lustigem Geranke – es war ein Frühlingstraum mitten im Winter.

„Gefällt Dir’s, Liebling?“ fragte Waldemar sehr leise. Es war, als schnüre ihm etwas die Kehle zu; doch auch ihr erstarb das Wort im Munde – vor Schrecken. Sie hörte Thüren gehen – Schritte – in dem stillen Hause wurde es lebendig – Man kam – man kam hierher! Und sie, als Eindringlinge! Es war gräßlich. Schamvoll flüchtete sie an die Brust des Mannes, der sie hierher geführt und der jetzt selbst ein wenig zu erschrecken schien. „Ich hätte Dir es eher sagen sollen, ich –“

Da fluthete auch schon ein greller Lichtschein um sie her und unter der zurückgeschlagenen Portière, den Armleuchter weit in das Zimmer haltend, stand ein weißbärtiger, verwitterter Gesell in langem Dienerrock, hinter dem zwei weibliche Gestalten, eine ältere und eine jüngere, in weißen Küchenschürzen sichtbar wurden. „Da haben wir’s: der Herr Professor!“ rief er ihnen zu. „Und die junge, gnädige Frau!“ flüsterten die Mädchen, die knixend und verlegen näher kamen.

„Und kein Empfang und keine Vorberatung!“ ergänzte der entlarvte „Herr Professor“. „Nicht wahr, die Kränze und Guirlanden liegen noch im Keller?“ lachte er.

„Ja wohl! Und wir, da sitzen wir tief hinten in der Küche und warten auf das Telegramm, und währenddessen –“

„Nicht ’mal den Wagen hat man rollen hören.“

„Weil er nicht gerollt hat,“ tröstete Waldemar. „Und telegraphiren – ging nicht,“ log er lustig. „Die bösen Schneeverwehungen! Ihr wißt –“

Ja, sie wußten, sie hatten in den Zeitungen gelesen und schrecklich Angst gehabt um ihren Herrn Professor und um die junge gnädige Frau. Und wenn sie nur geahnt, daß sie doch heute, am Christabend, noch kämen, so wäre eine gute Mahlzeit hergerichtet, jammerte die Köchin.

„Die große Weihnachtstanne hätte brennen und der Name überm Eingang hätte leuchten müssen,“ brummte Schmidt, der als ehemaliger „Maldiener“ die großen Künstlerfeste hatte „arrangiren“ helfen.

„Schad’ um Ihr großes Transparent da draußen auf der Treppe!“ bemerkte das freundliche Hausmädchen.

Schmidt war versöhnt. „So reden wir es! Mit Erlaubniß. ‚Es lebe unser hochberühmter Meister und sein junges Hausglück! Hoch!‘“ rief er mit einem Meisterstücke von Verbeugung gegen Hilde, die in ihrer Verwirrtheit und Verstummtheit unaussprechlich lieblich aussah.


Endlich waren sie allein. „Sei mir nicht böse, liebe, liebe Hilde!“ bat Waldemar, indem er zärtlich vor ihr niederkniete.

Sie schüttelte den Kopf: „Es war doch eine Täuschung, wenn auch – wenn auch –“

„Eine furchtbar nette, willst Du sagen?“

Da siehe! stand das Lachen und die Freude und die große, große Liebe wie eine Sonne wieder hinter ihren Thränen. Er küßte ihr die letzten aus den Augen.

„Nur eine Weihnachtsüberraschung!“ rief er fröhlich. „Mein erstes Christgeschenk an meine Frau. Das Häuschen, wenn es Dir gefällt, ist Dein. Villa Hildegard steht überm Eingang. Doch mußt Da mich darin mit wohnen lassen. Mein Atelier ist oben. Willst Du’s sehen?“

„Ja, Liebster! morgen!“

„Dann weihe ich Dich ein in meine Kunst, Du kleine Hinterwäldlerin!“

„O Du! Ich bin mehr eingeweiht, als Du wohl denkst. Deine Erstlingsbilder – ich fand sie ganz und gar verstaubt ’mal auf dem Boden – schmückten jahrelang mein stilles Stübchen. Ich habe sie mit eingepackt. Willst Du sie sehen?“

Waldemar fuhr sich mit allen Zeichen eines komischen Entsetzens durch die Haare.

„Ja, Liebste! morgen.“

O dieses „morgen“ mit seiner Perspektive reinster Freuden im Glanz und Glücke eines netten Daseins!


Deutsche Städtebilder.
Hamburg.
(Mit Illustrationen S. 880 und 881 und S. 889).

Aus der alten Freien und Hansestadt Hamburg ist im Monat Oktober so manches Telegramm gekommen, welches das gesammte Deutschland interessirte: am 15. Oktober die Nachricht vom vollzogenen „Zollanschlusse“, am 18. sodann die Kunde von der Beendigung des Nachversteuerungsgeschäftes und Herstellung des freien Verkehrs mit dem Zollvereinsgebiet, und endlich am 29. Oktober die Botschaft von dem begeisterten Empfange, welchen die Hamburger dem Deutschen Kaiser bereiteten, als derselbe unter glänzenden Feierlichkeiten die Schlußsteinsetzung der neuen Freihafenbauten vollzog.

„Zollanschluß“ – dieses vor zwei Jahrzehnten in den Hansestädten gebildete Wort ist erst in neuester Zeit auch anderswo gäng und gäbe geworden. Die rein sprachliche Erklärung würde lauten: „Uebergang der Stadt Hamburg aus der bisherigen Freihafenstellung in die Gemeinschaft des deutschen Zollvereins-Inlandes, unter Beibehaltung eines kleineren, auf den Hafen und einige Strecken am Elbufer beschränkten neuen Freihafens (Zollvereins-Auslandes)“. Der Begriff aber dürfte auch jetzt noch wohl manchem unserer Leser ziemlich dunkel geblieben sein. Die Geschichte ist auch in der That verwickelt. Selbst der deutsche [887] Reichskanzler erklärte dereinst, und zwar noch lange vor dem Beginn des sogenannten „Zollkrieges“ zwischen der Reichsregierung einerseits und dem Bundesstaate Hamburg andererseits, er habe nie begreifen können, weshalb laut der Reichsverfassung die Hansestädte solange in ihrer bisherigen Freihafenstellung verbleiben sollten, bis sie selbst den Anschluß beantragen würden.

Greifen wir die Sache einmal vom anderen Ende an: Was bedeutete denn die bisherige „Freihafenstellung“ der Hansestädte?

Die Antwort lautet: Die gesammte Wohnstadt Hamburg, einschließlich des Hafens und der Unterelbe bis ans Meer, sowie der Nachbarstädte Altona und Wandsbeck, bildete eine große „zollfreie Niederlage“ innerhalb des Zollvereins, nach dem übrigen Deutschland hin ringsum mit Zollgrenzen umschlossen, aber mit vollständig freiem Verkehr (ohne jegliche zollamtliche Kontrolle) innerhalb dieser Schranken. Gleicher Art war die Stellung Bremens. Hamburg und Bremen waren, so lautete der technische Ausdruck, „Zollvereins-Ausland“.

Aehnliche Stücke „Ausland“ giebt es freilich im Deutschen Reich auch jetzt noch unzählige. Alle Städte, welche überhaupt Handel in ausländischen Waaren auch mit auswärtigen Staaten betreiben, bedürfen hierzu der „zollfreien Niederlagen“, in welchen die eingebrachten Güter zunächst unverzollt lagern, getheilt, nach Sorten geschieden, umgepackt, oft auch bearbeitet werden können, um dann entweder ganz zollfrei oder gegen Entrichtung eines bloßen Durchgangszolles wieder ins Ausland versendet zu werden, oder gegen Erlegung des Eingangszolles zum einheimischen Verbrauch des Landes zu gelangen, dem der Freihafen oder die „zollfreie Niederlage“ angehört. Diese letzteren sind aber gewöhnlich nur zur Aufnahme von Waaren bestimmt, fast nie dürfen sie zu Wohnzwecken benutzt werden. In Hamburg wie in Bremen jedoch war eine ganze Wohnstadt in die zollfreie Niederlage mit eingeschlossen. Ein gleiches Verhältniß findet sich heutzutage nur noch in Triest und Singapore.

Daß 1866 auch nach der Neuordnung der Dinge in Deutschland den Hansestädten diese alte, sozusagen „Wohnstadt-Freihafenstellung“ einstweilen belassen und sogar durch das Grundgesetz garantirt wurde, sah der Durchschnitts-Deutsche als ein Sonderrecht an, welches je eher je lieber abgeschafft werden sollte: „Weshalb genießt Ihr Euren Kaffee, Euren Zucker, Euer Salz unversteuert?“ fragte er den ihn besuchenden Hanseaten. Dieser antwortetet „Dafür zahlen wir ein Aversum an die Reichskasse, allein für Hamburg etwa 5 Millionen Mark jährlich, welches uns bedeutend theurer zu stehest kommt als eine indirekte Versteuerung unseres Bedarfs, während die Reichskasse dabei noch die Erhebungskosten erspart.“

Weshalb schloß sich aber Hamburg nicht schon 1867 dem Zollverein an, weshalb gewährte man damals den Hamburgern eine sich auf die Wohnstadt erstreckende Freihafenstellung?

Die Verhältnisse Hamburgs waren eben ganz besondere und eigenartige. Das „nordische Venedig“, mittelst der Elbarme und der Flüsse Alster und Bille von einem Kanalnetz durchzogen, an welchem die meisten Waarenspeicher liegen, hegte gegenüber einer Zollabfertigung im Hafen und einer Zollkontrolle der zollfreien Niederlagen ein wahres Grauen. Hier gilt der Spruch: „Zeit ist Geld“. Die ankommenden Seeschiffe, namentlich die Dampfer, müssen so rasch wie irgend möglich entladen und wieder beladen werden. Sofortige genaue Feststellung des Gewichts, der Stückzahl, der Qualität etc., wie solche die Zollämter verlangen müssen, würde in vielen Fällen völlig unthunlich sein, den Wettbewerb mit anderen Welthandelsplätzen wie London, Antwerpen etc. aufs bedenklichste erschwert haben. Auch muß die Kolonialwaare oft eine ganz andere Gestalt annehmen oder ein anderes Gewand anlegen, ehe sie ist das Inland verkauft wird. So z. B. ist das „Stürzen“ (eigenartiges Sortiren) des Kaffees eine Spezialität der Hamburger „Quartiersleute“, einer Art Werkführer der Speicherarbeiten.

Viel Gewicht legten die Hamburger auch auf ihre umfangreiche „Export-Industrie“, welche sich in der Freihafen-Wohnstadt entwickelt hatte: Sprit-Rektifikations-Anstalten, mit Hefefabrikation verbundene Kornbrennereien, Schmalz-Raffinerien, Reisschälmühlen, Exportschlächtereien (ein einziges Etablissement dieser Art bringt in belebtester Jahreszeit täglich tausend Schweine vom Leben zum Tode und verarbeitet sie wesentlich zu Schiffsproviant), und eine Reihe ähnlicher Betriebe konnte ihrer besonderen Eigenart halber nur im Freihafen bestehen.

Aus diesen Gründen wünschten damals die Hamburger sowohl wie die Bremer (bei denen die Verhältnisse so ziemlich dieselben waren wie in Hamburg) die Beibehaltung der die gesammte Wohnstadt umfassenden Freihafenstellung. Der Wunsch ward gewährt, und die beiden Städte befanden sich im „Zollauslande“ so wohl, daß ihrerseits aus eigenem Antriebe wohl nie der Antrag auf „Zollanschluß“ gestellt worden wäre.

Zwar tauchten schon damals Zollanschlußvorschläge in Hamburg wie in Bremen selbst auf. Daß mancher im einer Freihafen-Wohnstadt ansässige Industrielle und Handwerker von seiner natürlichen Kundschaft in dem die Stadt umgebenden Lande durch Zollschranken abgesperrt wird, liegt auf der Hand und muß stets ein erheblicher Nachtheil derartiger Ausnahmestellungen sein. Auch eine Anzahl hamburgischer Großkaufleute und Kleinhändler, welche zollvereinsländische Waaren führten und in der Umgebung der Stadt ihren Kundenkreis suchten, waren mit dem Notbehelf der ihnen gewährten „Zollvereinsniederlage“ (ein Stück Zollvereinsinland innerhalb des Freihafens, 1871 in der „Gartenlaube“ des Näheren beschrieben) nicht völlig zufrieden. Die große Mehrzahl der Bevölkerung, in erster Linie die sehr einflußreichen Einfuhrhändler und Schiffsrheder, war entschieden gegen alle Zollanschlußpläne eingenommen, und selbst die Mehrheit der Hamburger Handwerker stand entschieden auf Seite der „Freihäfler“.

Die Minderheit, „die Zollanschlüßler“, wandte sich jedoch an den Fürsten Bismarck, und auch aus dem Zollvereinsinlande mahnten zahlreiche Stimmen den Reichskanzler, doch die Hansestädte zur Beantragung des Anschlusses zu bewegen. Deutsche Fabrikanten klagten, daß Hamburg und Bremen „Einfallsthore der englischen Industrie“ seien. Auch ward Gewicht darauf gelegt, daß der Eintritt der Hansestädte in den Zollverein die Zahl der Kunden der deutschen Industrie um 800 000 Köpfe vermehren würde. Der Umschwung der deutschen Wirtschaftspolitik 1879 bezw. die Erhöhung der Schutzzölle und die Vermehrung der Positionen des Zolltarifs ließ sodann die Lage derjenigen Einwohner der Hansestädte, welche durch die Freihafenstellung benachtheiligt waren, noch kritischer werden. Ihre Vorstellungen im Reichskanzleramte fanden Gehör, und nach verschiedenen sanften Anstößen erfolgte eine ernstliche Aufforderung des Reichskanzlers an die Hansestädte zum Eintritt in den Zollverband. Hamburg verhielt sich entschieden ablehnend, der „Zollkrieg“ ward eröffnet, und es begannen die sogenannten „Pressionen“ seitens der Reichsregierung: die preußischen Städte Altona und Wandsbeck sollten vom „Zollauslande“ abgetrennt und unter Ziehung von Zollschranken gegenüber Hamburg dem Zollverein angeschlossen werden; ein Gleiches beantragte Preußen auch beim Bundesrathe mit Bezug auf die hamburgische Vorstadt St. Pauli, unter lebhaftem Protest Hamburgs. Die Unterelbe ward in den Zollverein gezogen, die Hauptzollämter in Hamburg wurden aufgehoben – das war der „Zollkrieg“, der zum Glück kein Blut, wohl aber viel Tinte und Druckerschwärze kostete!

Den Hamburgern war hierbei keineswegs wohl zu Muthe; sie sehnten sich nach einem annehmbaren Friedensschlusse, und der Senat pflog eingehende Unterhandlungen mit dem Reichskanzler. Die Freihafenstellung in ihrem bisherigen, die Wohnstadt einschließenden Umfange aufzugeben, erklärte sich Hamburg bereit, ein für die Bedürfnisse des Welthandelsbetriebes ausreichender Raum würde genügen können; freilich mußten die Kosten der Umwälzung der gesammten städtischen Verhältnisse ungeheuer und für Hamburg allein unerschwinglich sein.

Da gab denn seinerseits Fürst Bismarck mit gewohnter Offenheit die Erklärung ab, daß seine Freigebigkeit Hamburg in Erstaunen setzen werde, und dies traf ein. Hamburg erhielt die Zusage, daß der Hafen nebst angrenzenden Gebietstheilen, im ganzen etwa 700 Hektaren Land- und 300 Hektaren Wasserfläche, nach wie vor in völliger Freihafenstellung ohne jegliche Zollkontrolle (außer der Zollbewachung von außen) verbleiben solle und daselbst auch die Exportindustrie unverändert betriebst werden dürfe. Da aber ein nicht geringer, von etwa 19 000 Menschen bewohnter Theil der inneren Stadt der Abbruchshacke verfallen mußte, um für die anzulegenden Speicher und Kanäle des neuen Freihafens Raum zu schaffen, gewährte das Reich einen Zuschuß der Hälfte der hierdurch erwachsenden Kosten, bis zum Höchstbetrage von 40 Millionen Mark. Hamburg war in der That erstaunt, ja so freudig überrascht, daß in der denkwürdigen Bürgerschaftssitzung [888] vom 15. Juni 1881 die vom Senate vorgelegte Zollanschlußvereinbarung mit dem Reiche sofort angenommen wurde: die Mehrheit betrug 106 gegen 46 Stimmen.

So schritt man denn frischen Muthes an die ungeheure Umwälzung, für welche ein Zeitraum von sieben Jahren, aufs knappste berechnet, gewährt worden war und auch gerade ausreichte, obgleich sie sich noch weit umfassender gestaltete, als man je geahnt hatte. Hamburg verausgabte für die abzubrechenden Häuser, sowie für die Neuanlegung von Land- und Wasserstraßen, von Brücken, Krähnen, Zollgebäuden, Pontons, Quais etc. das runde Sümmchen von 120 Millionen Mark, so daß der Reichszuschuß voll und ganz in Anspruch genommen werden konnte. Darin sind die neuen Speicher noch gar nicht einbegriffen, denn diese, in großartigster Weise wahrhaft imposant angelegt, hat die „Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft“ für eigene Rechnung erbaut. Auch eine neue Elbbrücke für Wagen- und Pferdebahnverkehr ward neben der bestehenden, welche der Venloer Eisenbahnlinie dient, über den Strom geschlagen (vergl. Nr. 2 dieses Jahrg., welche auch eine Abbildung der Brücke enthält). Ein neuer Elbarm ward gegraben, der sog. „Zollkanal“, 45 bis 60 Meter breit, welcher als zollinländischer Wasserweg von der zollangeschlossenen Unterelbe um das Restchen Freihafenelbe herum nach der Oberelbe führt; er erhielt, wie das gesammte neue Freihafenviertel nördlich der Elbe, elektrische Beleuchtung. Durch diesen Zollkanal ist auch der frühere Hamburger Segelschiffhafen, dessen Mastenwald wohl jeder Besucher Hamburgs bewundert hat, völlig verdrängt worden; er hat am jenseitigen Elbufer in vergrößerter und verschönerter Art (sechs Reihen Seekolosse liegen neben einander) sein neues Heim erhalten. Daneben findet man noch eine ganze Reihe neuer Häfen für asiatische, amerikanische, afrikanische Dampfer, für Flußschiffe, für Petroleumfahrzeuge etc., sämmtlich umgeben von langgestreckten Quais mit Lagerschuppen und Zollabfertigungsgebäuden (Hamburg, welchem auch die eigene Zollverwaltung übertragen wurde, hat mehrere tausend Zollbeamte und Zollwächter angestellt, welche etwa 30 Zollstellen zugetheilt sind, bezw. die Zolldampfbarkassen auf dem Strom besetzen und die Landzollgrenze bewachen), ferner zahlreiche eiserne oder steinerne Brücken, erstere zum Theil mit Drehvorrichtung, um Seeschiffe durchzulassen, eine große kombinirte hydraulische und elektrische Centralstation (das Druckwasser der hydraulischen Anlagen wird nach fertiggebauter Speicheranlage 260 Winden, 50 Aufzüge und 36 Zollkanalkrähne treiben) – sodann Hochdruckhydranten zur Löschung etwaiger Feuersbrünste, wenn auch zum Schutze gegen Feuersgefahr alles Mögliche gethan ist; die Speicher sind sämmtlich von Eisen und Stein erbaut. Der neue große Dampfkrahn auf dem Asia-Quai (s. S. 889) ist der größte Hebekrahn der Welt. Seine Höhe beträgt 32 Meter und seine Tragkraft 150 Tons, also 3000 Centner. Der als Gegengewicht dienende Ballastkasten ist mit 5000 Centnern Sand gefüllt. Der Krahn dient dazu, besonders schwere Lasten wie Riesengeschütze, Lokomotiven etc. direkt aus den Eisenbahnwagen in die Schiffe und umgekehrt zu heben. Seine Aufstellung erfolgte 1887. – Doch genug der Aufzählung, welche nur einiges Hervorragende erwähnt, aus Vollständigkeit nicht entfernt Anspruch macht! Alles in allem genommen, hat sich Hamburg „an de Waterkant“, wie der plattdeutsche Ausdruck lautet, also an den Elbufern, seit 1881 derart verändert, daß es gar nicht wiederzuerkennen ist.

Die gemäß den obigen Ziffern verbleibende Belastung der hamburgischen Staatskasse mit 80 Millionen Mark bereitet freilich den Vätern der Stadt manchmal trübe Augenblicke. Sie haben das Geld auf dem Anleihewege beschafft, und zwar zu billigen Zinsen, trotzdem der kleine Staat bereits vorher eine Schuldenlast von 200 Millionen Mark auf dem Rücken hatte, zum Theil noch aus der Franzosenzeit stammend und vom großen Brande 1842 herrührend; der Kredit der alten Hansestadt ist, wie man sieht, ein guter.

Und weshalb hat das Reich den Zuschuß von 40 Millionen Mark zu den Hamburger Zollanschlußbauten bewilligt? Wir wollen hier nicht von den nationalen Gesichtspunkten reden; der Artikel der deutschen Reichsverfassung: „Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von gemeinschaftlicher Zollgrenze“, ist jetzt erst zur Wahrheit geworden. Andererseits mußte aber auch im wohlverstandenen materiellen Interesse den beiden Hansestädten durch das Fortbestehen geräumiger Freihäfen die Grundlage ihrer Existenz erhalten bleiben. Auch Alldeutschlands Vortheil ist es, daß Hamburg jetzt einen Hafen besitzt, der es mit den ersten der Welt aufnehmen kann und hinsichtlich der Größe und der praktischen Einrichtung seiner kaufmännischen Anlage nicht vor Antwerpen und andern fremden Wettbewerbern zurückzutreten braucht. Die Hansestädte können nunmehr in noch erheblicherem Umfange als bisher die Vermittler für die gesammte deutsche Ausfuhr nach den Absatzplätzen jenseit des Oceans werden. Die Hamburger Kaufleute haben einsehen gelernt, was der deutsche Gewerbefleiß leisten kann, und andererseits entdecken die deutschen Fabrikanten nachgerade den Nutzen, welchen die Verbindung zwischen deutscher Industrie und deutschem Ausfuhrhandel ihnen zu gewähren im Stande ist. – –

Die großen Veränderungen im Aeußeren und in den Einrichtungen der Stadt werden sich bald auch in dem täglichen Leben und Treiben bemerkbar machen, und wie ganze Straßen verschwunden und nur noch auf den alten Stadtplänen zu finden sind, so wird in nicht zu ferner Zeit wohl auch manche eigenartige Erscheinung aus dem Verkehrs- und Straßenleben den ungeheuren Umwälzungen der Neuzeit zum Opfer gefallen sein und fortleben nur in der Erinnerung derer, welche über dem neuen Hamburg doch des alten nicht vergessen können. Und in der That bot das Leben im bisherigen Hamburg des Anziehenden so unendlich viel, gestaltete es sich so eigenartig, daß es lohnend erscheint, dabei zu verweilen und noch einmal das ganze interessante Bild festzuhalten, ehe es von einer neuen Generation verwischt oder doch bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet wird.

Mit Pindars Wort, daß Wasser das Beste sei, befindet sich die große Mehrzahl der Hamburger in unbewußter Uebereinstimmung, freilich nicht soweit das Trinken der aus der Elbe geschöpften schmutzig lehmgelben Flüssigkeit, welche die städtische „Wasserkunst“ liefert, in Frage kommt; selbe kann nach der festen Ueberzeugung zahlreicher ihrer Konsumenten überhaupt nicht genossen werden, ehe sie nicht durch Zusatz von Rum und Zucker die liebliche Form „Grog“ angenommen hat. Nein, das sogenannte feuchte Element hat eine andere Bestimmung, und diese dem Hamburger klar werden zu lassen, bedarf es keiner Handelsschulen, welche Institute es auch, nebenbei gesagt, sehr bezeichnenderweise in Hamburg gar nicht giebt, woselbst die Unterweisung im Merkursdienste auf so mannigfache Art praktisch vor sich geht, daß die Theorie fast gänzlich verschmäht zu werden pflegt. „Der Wasserweg dient der Waarenbeförderung auf billigere Weise als der Landweg.“ Die Folgerung hieraus weiß nicht nur der kluge Großkaufmann zu ziehen, auch die einfachste Frau aus dem Volke in der bescheidenen Arbeiterwohnung der Hansestadt horcht hoch auf, wenn früh morgens vor ihrem Fenster eine gewaltige Stimme erschallt, welche die Ankunft eines Kartoffelewers im Fleet ankündigt. Wir wollen einen derartigen Ruf wörtlich hersetzen, um zugleich unseren Lesern ein Pröbchen des hamburgischen Plattdeutsch zu geben. „Heurt, Lüüd! – Bi de Slamatjen-Brügg – liggt en Schipper – hett goode Kantüffeln – fiew Liter twintig Penn – ook witten Kohl, Zippeln, geele Wotteln – frische Waar!“ Hochdeutsch: „Hört, Leute, bei der Slamatjenbrücke liegt ein Schiffer, hat gute Kartoffeln, fünf Liter 20 Pfennig, auch weißen Kohl, Zwiebeln, gelbe Wurzeln (Mohrrüben), frische Waare!“

Dieser billige Schiffer ist der gefürchtete Konkurrent des „Hökers“ (Kleinhändlers), der seine Gemüsevorräthe per Achse beziehen muß; die Transportvertheuerung prägt sich im Preise aus, und die Arbeitersfrau legt mit Vergnügen den etwas weiteren Weg bis zur Landungsstelle zurück, wenn dadurch etliche Nickel gespart werden können. Freilich ist der Steg zum Ewer, den aus unserem Bildchen (1) soeben eine dralle „Lüttmaid“ (Kleinmädchen, Jungemagd) überschreitet, so schmal wie der Weg zur Tugend, und das zur Seite gespannte dünne Tau gewährt nur eine der moralischen Beruhigung dienende Schranke. Indessen ein Hamburger Kind fällt nicht so leicht ins Fleet, würde sich auch wenig daraus machen; eine schnelle Rettung dürfte in diesem Falle der daneben auf den Kaffeesäcken sitzende, sein Pfeifchen anzündende Jüngling mittelst seines Schifferhakens bewerkstelligen.

Es ist ein „Ewerführer“; so wird er genannt, obgleich er keine „Ewer“ führt, wie der mit Kartoffeln handelnde Schiffer, sondern eine „Schute“, ein breites Fahrzeug mit flachem Boden, welches im Hafen die Waare aus dem Seeschiffe aufnimmt und sie alsdann nach den an den Fleeten liegenden Speichern bringt.

[889]

Der neue große Dampfkrahn auf dem Asia-Quai in Hamburg.
Originalzeichnung von C. W. Allers.

[890] Die Fortbewegung der Schute geschieht mittelst des vorhin erwähnten Hakens („Peekhaken“), einer 18 bis 20 Fuß langen Stange, die der Ewerführer auf den Grund des Flußbettes ansetzt, um sodann, sich mit der Brust gegen das mit einer Krücke versehene andere Ende stemmend, die Schute mit den Beinen vorwärts zu schieben. Auf diese Weise vermag, falls nicht gerade die Fluth- oder Ebbeströmung sehr ungünstig, ein einziger kräftiger Mann die vielleicht aus nahe an 100 Sack Kaffee bestehende Schutenladung an den Bestimmungsort zu bringen. Es ist die hierdurch begründete Billigkeit der Transportkosten ein außerordentlicher Vortheil, welchen die Fleete dem Hamburger Kaufmann gewähren, und deshalb wird ihnen die Eigenschaft, zur Ebbezeit nicht just Rosenduft zu verbreiten, gern verziehen.

Der Führer des „Peekhakens“ wird sich der zum Schmauchen des Pfeifchens dienenden Pause nicht lange erfreuen, denn schon guckt aus der Luke des Speichers der „Quartiersmann“ (7) heraus, ein stämmiger Kumpan, als Kleid seines Standes die schwarze Jacke mit silbernen Knöpfen tragend, in der einen Hand den „Markputt“, ein mit Farbe gefülltes Holzgefäß, zum Bezeichnen der Säcke dienend, in der andern die Brieftasche mit Frachtbriefen, Connossementen und anderen kaufmännischen Papieren. Quartiersleute, so genannt, weil sie Genossenschaften zu vieren bilden, sind Vermittler zwischen den eigentlichen Speicherarbeitern und den Kaufleuten und übernehmen zu vereinbarten Sätzen das „Löschen“ (Entladen), Lagern, Sortiren, Versenden etc. der ganzen Ladungen und sonstiger größerer Waarenposten. Wer sich als Theilhaber in ein Quartier einkaufen will, muß ein ansehnliches Stück Geld dran wenden, außerdem mannigfache Kenntnisse und Erfahrungen hinsichtlich der Behandlung der Waare mitbringen, denn es handelt sich um eine Vertrauensstellung mit großer Verantwortlichkeit. Unter den Hamburger Quartiersleuten finden sich zu Dutzenden Gestalten des Schlages, wie ihn Gustav Freytag im Musterroman „Soll und Haben“ als Auflader Sturm trefflich zeichnete. Von Wichtigkeit ist unter anderm das sachgemäße Entnehmen der Durchschnittsproben aus den Waarenpartien. Hat ein tüchtiger Quartiersmann dies beschafft, so ist Verlaß auf die Realität des Musters, und im guten Glauben nimmt vom Importeur der Kaffeemakler die aus violettblauem starken Papier gefertigten großen Düten entgegen, deren Inhalt er dem „Kommissionär“, der „zweiten Hand“, das heißt dem nach dem Inlande arbeitenden Kaufmanne, vorzulegen beflissen ist; in treuester Lebenswahrheit hat unser Zeichner einen solchen Vorgang (9) veranschaulicht.

Der Makler ist ein geplagter Mann. Treppauf treppab muß er laufen und rennen, den glühenden Sommersonnenbrand und das winterliche Glatteis nicht scheuen, um die fünf Sechstel Prozent Courtage zu verdienen, und so manche Probe ist nur „für den Hausstand gut“, wie er sich bei Nichtanbringung der Partie philosophisch tröstet. Und auch er war, als Jüngling mit lockigem Haar sich dem Kaufmannsstande widmend, wahrscheinlich von dem Gedanken begeistert, dereinst als Börsenmatador einen Palast am Blankeneser Elbstrand oder mindestens eine Prachtvilla an der Alster zu besitzen, als Rheder seine „Hausflagge“ auf Dutzenden von Seeschiffen hissen zu lassen, nebenbei auch zum Senator gewählt zu werden – jetzt ist er „still auf gerettetem Boot“ in den ruhigen Hafen des Vermittlerthums getrieben und trägt möglichenfalls gar Bedenken, auf einen Platz im ersten Range des Stadttheaters zu abonniren, auch wenn er noch so viel Geld verdient (mancher Makler steht sich besser als der Durchschnitt der Eigenhändler), denn „die Herren Kaufleute könnten das übelnehmen“, trotz aller republikanischen Freiheit und Gleichheit.

Ja, ja, zu Millionären sind wenige auserwählt, aber viele fühlen sich berufen – sicherlich plant auch der junge Mann, welcher auf unserem Bildchen der Vierländerin am Jungfernstieg (2) ein Rosenknösplein für die sonntäglich geputzte Ladenmamsell abkauft, welche er zum Balle auf „Mühlenkamp“ führen will, die demnächstige Erwerbung goldener Berge. Einstweilen muß er sich mit sehr, sehr bescheidenem Commisgehalt begnügen, denn die Zahl der aus allen Paukten der Windrose nach dem vermeintlichen Dorado der Hansestadt strebenden Handlungsgehilfen ist Legion, was an die Saläransprüche mächtig drückendes Sachverhältniß bedingt. Vielleicht verdient der junge „Gentleman“ (ein sehr beliebter Ausdruck in Hamburg) beim Fakturaausstellen und Korrespondiren weniger als die Tochter der Vierlande mit ihrem Blumenhandel, denn diese Nachkommen der einst von Herzog Alba vertriebenen, von Hamburg freundlich aufgenommenen holländischen Protestanten haben nicht nur ihre nationale Tracht, sondern auch ein gut Theil kaufmännischen Geistes aus den Niederlanden mitgebracht und beides getreu zu bewahren gewußt; sie verstehen es trefflich, für ihre allerdings ausgezeichnet schönen Blumen, Gemüse und Früchte die höchsten Preise zu erzielen. Für solche Waare ist die reiche Welthandelsstadt immer die willige Abnehmerin; aus der ganzen Umgegend ist das Beste für sie gerade gut genug, und daher steht sie auch auf freundschaftlichstem Fuße mit „Schleswig-Holstein meerumschlungen“, welches ihr zweierlei Vorzüglichkeiten liefert, Austern und brauchbare Dienstmädchen.

Auch sie ist mit hochgespannten Erwartungen gen Hamburg gepilgert, die schmucke Maid „aus den Herzogthümern“. Sie hat das schwalbennestartige Käppchen am Hinterhaupt der dortigen Landbewohnerinnen gern mit dem schmalen Tüllstreifchen vertauscht, welches auf dem Scheitel der weiblichen Dienstboten Hamburgs paradirt und seltsamerweise eine „Mütze“ genannt wird. Sie hat gewöhnlich zuerst alles herrlich gefunden: hohen Lohn, leichte Arbeit, freundliche Behandlung, gar nicht zu vergleichen mit den Verhältnissen des Landstädtchens. Und sie brauchte nicht lange nach Schätzen zu suchen, sie fand schon an „ihrem“ ersten Sonntag einen solchen, oder „Er“ fand an ihr den „Schatz“. Das Dämchen auf unserem Bilde (3) hat dabei noch besonderes Glück gehabt, denn ihr Anbeter trägt „zweierlei Tuch“, und diese hochgeschätzte Eigenschaft eines Köchinnenbräutigams ist verhältnißmäßig selten in Hamburg, welches nur zwei Bataillone Garnison besitzt. Der „76er beim Schatz“ ist sich sicherlich seines Werthes auch voll bewußt, er darf die höchsten Ansprüche an den Speiseschrank der Herrschaft stellen, und letztere wird sich sicherlich so leicht nicht mit der Küchenfee erzürnen, falls sie die hier als „national“ geltenden Speisen Roastbeef, Beefsteak etc., ferner „Aalsuppe“, „rothe Grütze“ u. dgl. m. schmackhaft zu bereiten versteht und dafür einen Lohn von 300 Mark nebst brillantem Weihnachtsgeschenk etc. nicht nur verlangt, nein, auch unschwer erhält.

„Ach, das Leben ist theuer in Hamburg,“ so seufzt die kleine, wohl aus dem „Binnenlande“ stammende Hausfrau, welche auf unserer Illustration (5) in Begleitung ihres dienstbaren Geistes vor den Körben der Fischfrauen am Meßberg steht und mit innerem Entsetzen die Preise vernimmt, welche die behäbige Händlerin für ihre Schellfische und Schollen fordert. Zum Glück läßt sich dieser Preisansatz durch Dingen und Feilschen um 30 bis 40 Prozent ermäßigen, was aber selbstverständlich mit höchster Vorsicht angedreht werden muß, da in Hamburg wie in andern Großstädten die Fischfrauen weniger reizender als reizbarer Natur zu sein pflegen. „Weshalb soll denn die Käuferin wahrscheinlich nicht aus Hamburg sein?“ höre ich im Geiste einige Leserinnen fragen. Nun, aus dem einfachen Grunde, weil eine so gut gekleidete geborene Hamburgerin, abgesehen von ganz seltenen Ausnahmen, auf dem Markte keine Einkäufe macht. Ihr wird, wenn sie der gutsituirten Minderheit angehört, „alles ins Haus gebracht“, und der mittlere Bürgerstand findet alles vor dem Hause, denn ein Schwarm von Zwischenhändlern kauft auf dem Markte in größeren Posten ein und fährt auf Karren oder trägt in Körben die Waare durch die ganze Stadt, Art und Preis laut ausrufend. Das ist bequem, aber auch etwas kostspieliger für den Käufer; indessen der Hamburger meint „Zeit ist Geld“, und dieser Grundsatz führt zum Blühen des ausgedehntesten Zwischenhandels.

Auch die Fischfrau, die selbstverständlich nicht etwa eine Fischersfrau ist, kauft nicht einmal direkt vom Fischer. Den Ewern aus Blankenese, Finkenwärder, Helgoland etc., welche ihren Fang verwerthen wollen, fährt schon auf der Unterelbe der „Reisenköper“ (Reisekäufer) entgegen, nimmt ihnen die ganze Ladung ab und vertheilt solche unter seine Kundinnen, die Fischfrauen, so daß der Fischer sofort wieder an das Auswerfen der Netze gehen kann.

Doch hat er Zeit übrig und will sein Fahrzeug, sei es nun eine moderne „Smack“ oder eine altmodische „Kuff“, nach dem Hafen (13) segeln lassen, etwa zu Proviantirungszwecken, so bietet sich ihm ein buntes Kaleidoskop, eine Fülle stets wechselnder Bilder. Da liegt ein New-Yorkdampfer (12) vor Anker (in Wirklichkeit „am Ponton vertaut“), ein schwimmendes Hôtel, in dessen kolossalen Räumen außer der Waarenladung noch 1200 Passagiere Platz [891] hoben, die Mannschaft von einem halben Hundert Köpfen ungerechnet. Ein Theil der „lebendigen Fracht“ naht sich dort längs des Quais; der Auswandererzug (10), aus Polen, Ruthenen, Litauern oder sonstigen langröckigen Leuten vom Osten bestehend, strebt dem Dampfer zu, der diese Europamüden hinüberbefördern wird, dorthin, wo Milch und Honig fließen soll, wo es nach der Versicherung der Auswandereragenten viel billiges Land und alle Tage Fleisch geben soll. Es muß verlockende Melodei haben, dies alte Lied, denn gegenwärtig strömen wieder so viele Tausende nach dem fernen Westen, daß die Hamburger Packetfahrtgesellschaft zu ihrer stattlichen Flotte noch Schiffe hinzuchartern muß, um dem Andrang zu genügen. Aber auch immer größer wird gegenüber jenem Strom das Bächlein der Rückwanderer“, unter denen es selbst Unfreiwillige giebt. Gerade wie auf unserem Bildchen am Millernthor (6) der Hamburger „Konstabler“ (Schutzmann) den angeblich arbeitsuchenden, in Wahrheit nur der edlen Fechtkunst beflissenen Stromer an dem die Handgelenke umschlingenden Strick hinausführt über die Grenze bis zum „Ausland“, nämlich der preußischen Nachbarstadt Altona, gerade so übt jetzt die nordamerikanische Union strenge Polizei und weist unerbittlich sämmtliche drüben landende „paupers“, Mittellose und Erwerbsunfähige, zurück, so daß die hiervon wenig erbauten Schiffskapitäne sie gratis zurückbefördern müssen zum Elend der Heimath.

Doch wenden wir den Blick ab von diesem trüben Bild; betrachten wir lieber das anmuthige Kabinettstückchen, für welches des Zeichners Stift den kartoffelschälenden Schiffsjungen (8) zum Vorwurf genommen hat. Ich behaupte kühn, daß trotz aller realistischen Auffassung eine tiefe Poesie in demselben steckt, und könnte die schnurrende schwarzweiße Gesellschafterin des Burschen zum Anknüpfungspunkte benutzen, eine Phantasie nach dem berühmten Muster des zum Lordmayor gewählten Whittington und seiner Katze zu entwerfen. Nicht doch! Dieser angehende „Jan Maat“ denkt sicherlich nicht daran, Bürgermeister von Hamburg zu werden, der Theergeruch seiner Umgebung ist hochfahrenden Plänen nicht günstig. Falls er aber, bereits ein „seebefahrener Mensch“, jetzt nach mehrjähriger Reise aus fernen Zonen heimgekehrt ist und nach so langem steten Genuß von Salzfleisch und Schiffszwieback zum ersten Male wieder die geliebten heimischen Kartoffeln schält, da mag er nicht nur im Vorgefühl des schönen Augenblicks schwelgen, in welchem der Koch zum „Volk“ (Schiffsmannschaft) den üblichen Ruf erlassen wird: „Reis’ up tom Schaffen, ünnen un baben!“ (Kommt her zum Essen, aus dem Schiffsraum und aus den Masten!) – da mag er auch des Mütterleins gedenken, das ihn daheim erwartet, und da könnten seine Wimpern feucht werden. Weiter schweift das geistige Auge des jungen Menschen wohl kaum. Auch würde es unglaublich schwer für einen hamburgischen Whittington halten in der Freien Stadt zum Dogensitze emporzuklimmen, dazu gehört mehr als Geld, dazu gehört „Familie“. Selbst zum Besitze einer Vergnügungsyacht, in welcher er auf dem prächtigen Spiegel der Alster (14) pfeilschnell dahinfliegen kann, wird er es schwerlich bringen. Er kann zufrieden sein, wenn ihm am Nachmittage des Lebens ein Pöstchen als Lotse (4) winkt; da darf er das jetzt vor dem Steuermann sorglich verborgen gehaltene Pfeifchen in Ruhe paffen und noch Tabak dazu kauen, in jeder Backe ein „Primchen“, und in den Mußepausen des Dienstes kann er vor dem andächtigem Publikum der „Jungleute“ sein „Garn spinnen“ von den Erlebnissen auf der „langen Fahrt“.

Dies bescheidene Los genügt ihm, auch hierfür ist er der Vaterstadt dankbar, und deshalb setzt er wohl zum Schluß der Erzählung den Wahlspruch so mancher seiner Mitbürger hinzu, der, aus dem urwüchsigen Platt ins Hochdeutsche übertragen, lautet: „Kinder, das ist gewiß, es giebt nur ein Hamburg!“ – und welch wackerer Deutscher er auch ist, des „Seemannslatein“ kann er nicht entrathen und schließt mit dem beliebten Worte: „Old Hamborg for ever!
Gustav Kopal.     




Blätter und Blüthen.

Frühstücksvertheilung an arme Schulkinder. Infolge des Gedichtes „Bitte für arme Kinder“ von Emil Rittershaus in Nr. 40 dieses Jahrganges haben wohlgesinnte Männer und Frauen in verschiedenen Städten sich der Frühstücksvertheilung an arme Schulkinder in dankenswerther Weise angenommen. Auch zahlreiche an die Redaktion der „Gartenlaube" eingegangene Briefe beweisen, daß die Anregung auf fruchtbaren Boden gefallen. Vielen dieser Briefe waren Geldbeträge beigefügt, von kleinen Summen in Briefmarken an bis zu fünfhundert Mark hinauf, je nach den eigenen Mitteln der opferwilligen Einsender. Einen sehr erheblichen Betrag hat ein Stuttgarter Bürger für die Speisung armer Schulkinder, ohne Rücksicht auf die Konfession derselben, gespendet, nämlich hunderttausend Mark, von denen zehn Jahre hindurch je zehntausend Mark zur Verwendung kommen sollen. Möchten solche Beispiele edlen Gemeinsinns auch in anderen Städten gegeben werden, zum Besten der hungernden Kleinen! Der Dank wird nirgends ausbleiben.

Rothe Nasen. Die „rothe Nase“ ist ein scheinbar geringfügiges Ding, aber unter dieser allgemein gebräuchlichen Gesammtbezeichnung verbergen sich verschiedenartige Leiden, die auch verschieden behandelt sein wollen. Der Schnupfen kann unter Umständen vorübergehend eine Röthung der Nase hervorrufen, auch erfrorene Nasen blühen, aber nur beim Eintritt der kälteren Jahreszeit. In diesen Fällen pflegt die Röthe mit dem Schnupfen zu schwinden und erfrorene Nasen müssen wie erfrorene Glieder behandelt werden.

Es giebt aber noch eine andere Art rother Nasen, die zu den entstellendsten Hautkrankheiten des Gesichtes zählen, es sind dies die rothen Nasen par excellence, die auf einem Hautleiden, welches Kupferröthe oder Kupferfinne genannt wird, beruhen.

Jene kleinen „Blüthchen" sind bekannt, die so oft das Gesicht junger Herren und Damen entstellen: die Gesichtsfinne. Eine böse Abart derselben bildet die Kupferröthe. Sie befällt mit Vorliebe die Nase, kann sich aber mitunter auch auf das ganze Gesicht erstrecken.

Diese Kupferröthe ist ein heimtückisches Leiden. Zunächst röthet sich nur die Nasenspitze und sieht täuschend ähnlich einem erfrorenen Riechorgan. Von Zeit zu Zeit schwindet die unerwünschte Farbe, aber eine ganze Reihe von scheinbar geringfügigen Ursachen bringt sie wieder zum Vorschein. Ein Gläschen Wein, eine lebhafte Unterhaltung, ein kalter Wind verhelfen den armen Patienten zur sichtbaren Entfaltung ihres Leidens. In diesem Zustand kann die Krankheit lange verharren, bis sie allmählich in die höheren Grade übergeht. Die sogenannten „Pfundnasen“ mit den schmerzhaften Höckern und erweiterten Blutgefäßen bilden das Endstadium jener rothen Nase.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß übermäßiges Trinken die Entstehung dieses Leidens begünstigt, ja man hat sogar die Trinkernasen zu klassificiren gesucht; und Dr. F. E. Clasen schreibt in seinem populären Buch „Die Haut und das Haar“:

„Der Branntwein röthet vorwagend die Nasenspitze, bei manchen freilich auch die ganze Nase. Die Haut ist dabei meist glatt und trocken und zeigt einen starken Stich ins Blaue. Der Weintrinker erfreut sich einer lebhaften, mehr hellen Röthe, welche sich sehr häufig auch über weite Strecken des Gesichts erstreckt; der geröthete Bezirk pflegt aber nicht glatt zu sein, sonder uneben und dicht mit Knötchen besetzt. Für besonders gefährlich in dieser Richtung gelten namentlich jene deutschen Weißweine, welche wegen ihrer durch reichliche Weinsteinsäure bedingten Säure ohnehin schon einigermaßen gefürchtet sind. Die französischen Rothweine sollen unschuldiger sein, daß sie aber ihre Liebhaber mit der unliebsamen Teintveränderung verschonten, wäre wohl zu viel behauptet. Am besten sind noch die Biertrinker dran, welche verhältnißmäßig selten an der Kupferröthe leiden. Und doch sind sie es gerade, welche es zu den kolossalsten Dimensionen und Verunstaltungen der Nase bringen, wenn sie ja einmal das Unglück haben, der Krankheit zu verfallen.“

Man könnte über diese Klassifikation streiten; der Volksmund spricht z. B. von der „Burgundernase“, und man kann auch mit Bestimmtheit sagen, daß viele, die weder mit „Nordhausen“ noch mit „Nierstein“ in engeren Beziehungen stehen, doch an der Kupferröthe leiden. Wind und Wetter begünstigen deren Ausbruch selbst bei einem durchaus enthaltsamen Droschkenkutscher und auch zarte Mädchen und Frauen, die nur Kaffee trinken, können ihr verfallen.

Ist diese Krankheit weit fortgeschritten, so ist das Heilen mit vielen Schwierigkeiten verbunden und es sind sogar operative Eingriffe nöthig. Darum ist es gut, wenn die „Kranken“ frühzeitig einen Arzt um Rath fragen. Das Herumkuriren mit allerlei Hausmitteln oder den sogenannten Geheimmitteln, die pomphaft in den Zeitungsinseraten empfohlen werden, ist eine Art gewagten Lotteriespiels. In diesem oder jenem Falle mag so ein Mittel helfen, in vielen anderen aber ruft es durch unzweckmäßige Behandlung nur eine Verschlimmerung des Leidens hervor. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, zu hören, wie sich Leute nach „Specialisten für rothe Nasen“ erkundigten. Trotz aller Arbeitstheilung auf dem Gebiete der Medizin sind wir noch nicht so weit fortgeschritten, daß wir derartige Specialärzte besitzen. Die „rothe Nase“ wird jeder praktische Arzt behandeln können.

Als allgemeine Verhaltungsmaßregeln möchte ich kurz die folgenden bezeichnen: Man vermeide alles, was einen Blutandrang nach dem Gesichte erzeugt, trinke gar keine Spirituosen oder nur wenig davon; setze sich nicht starkem Witterungswechsel aus, meide auch große Hitze und Kälte – das alles wird der rothen Nase gut thun und die Aussicht auf Heilung befördern.
*     

Vorlagen für Aquarell- und Porzellanmalerei, an welchen es noch vor einigen Jahren empfindlich mangelte, giebt es jetzt vielfach, aber die guten und brauchbaren darunter sind noch immer zu zählen, weil der vielstufige Farbendruck nicht billig hergestellt werden kann, dagegen an [892] den mangelhaft getönten, in der Zeichnung undeutlichen für den Schüler nichts zu lernen ist. Unter solchen Verhältnissen erscheint es als ein sehr glücklicher Gedanke, Blumenarrangements, Pflanzenstudien, Randbordüren, Mittelstücke für Teller, Platten und Kästchen nur in Holzschnitt, aber so meisterhaft gezeichnet und schattirt zu geben, daß jeder nur einigermaßen fortgeschrittene Dilettant die Farben selbst hinzufügen und nach eigener Wahl zusammen stimmen kann, wobei er sehr viel mehr lernt als bei dem sklavischen Nachmalen einer mittelmäßigen Vorlage.

„Studien und Kompositionen“ nennt sich das in Paris entstandene Werk des Schweizers Jean Stauffacher (St. Gallen, Kreutzmann), worin eine reiche künstlerische Phantasie, gepaart mit dem genauesten Naturstudium, eine Fülle von reizenden Blumenmotiven für dekorative Zwecke zusammengestellt hat. Leicht hingeschüttete Ranken und Sträuße von Rosen, Brombeeren, wildem Wein etc. sind umgeben von großen und kleinen Feldern voll allerliebster stilisirter Blumenbordüren, Zweig- und Knospenmotiven, Insekten und Vögelintermezzos, alles zum Gebrauch fertig, nur in zwei Tönen auf den Holz- oder Porzellangegenstand hinzusetzen. Stauffacher wendet mit bewußter Virtuosität das große Stilgesetz an, die charakteristische Form zur herrschenden zu machen, und es ist überraschend, wie er durch Betonung derselben ein Ornament aus den einfachsten Feld- und Wiesenblumen in ganz neue, aparte und elegante Wirkung setzt, indem er die große Gefahr der stilisirten Form, die Trockenheit und Langweile vollständig umgeht, im Gegentheil, in diesen schönen Blättern ein ebenso neues wie eigenartiges Genre geschaffen hat.

Den vielen Dilettanten, die nicht zur eigenen Komposition fähig sind, den Lehrern und Kunstgewerbeschulen kann das Stauffachersche Werk aufs wärmste empfohlen werden. Es bietet ihnen allen eine kostbare und in langer Zeit nicht zu erschöpfende Fundgrube von lauter unmittelbar brauchbaren Formen. Der Preis (32 Mark für 4 Hefte mit je 8 Tafeln groß Folio) ist mäßig zu nennen im Hinblick auf die Fülle des Gebotenen. Eine recht weite Verbreitung ist diesen „Studien und Kompositionen“ also im Interesse des kunstgewerblichen Deutschlands entschieden zu wünschen.

Prosit Neujahr! Von Franz Stuck.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

Die Zimmerpflanzen im Januar dürfen im allgemeinen nur wenig gegossen werden, das heißt nie eher, als bis die Oberfläche des Erdballens trocken geworden, wovon man sich zuweilen durch Anfühlen mit dem Finger überzeugen muß, und immer mit Wasser von der Temperatur des Raumes, in welchem die Pflanzen sich befinden. Kaktusarten werden während des ganzen Winters nicht gegossen mit Ausnahme des Blattkaktus, der im Winter so schön blüht. Die Erdoberfläche soll man zuweilen mit dem Holzstift auflockern und vom Rande nach der Mitte zu schieben, damit das Gießwasser meist am Topfrande, nicht in der Mitte untersinkt. Die Pflanzen fordern Licht, frische Luft und Abwaschen der Blätter mit einem weichen, feuchten Schwamme. – Es ist jetzt die beste Zeit, das wohlriechende Veilchen (Viola odorata L.) zum Blühen im Winter nächsten Jahres anzuziehen. Zu dem Zwecke legt man auf den Boden einer Samenschale oder Cigarrenkiste eine Schicht Topfscherben („guter Wasserabzug“) und darauf nahrhafte, mit reingewaschenem Sande reichlich gemischte Gartenerde, auf der man den mit Holzkohlenstaub gemischten Samen, z. B. der schönen Sorte Lockstedter Treibveilchen, dünn ausstreut, ein wenig festdrückt und mit einer Glasscheibe bedeckt. Das Ganze stellt man an das Fenster zwischen andere Pflanzen, also in den Halbschatten, oder legt ein Blatt Papier auf die Glasscheibe zum Schutz gegen die Strahlen der Mittagssonne. Sobald die Sämlinge groß genug sind, um mit den Fingern sich fassen zu lassen, gräbt man sie mit dem Holzstift aus und setzt sie 1 cm weit auseinander in die Erde einer wie die Samenschale vorbereiteten Schale oder Cigarrenkiste, indem man mit dem Stift ein Loch bohrt, in welches die Wurzeln mit demselben Stift so tief eingeführt werden, daß die Pflanze auf der Erde aufsitzt; sie wird mit dem Stift festgedrückt, gleichzeitig mit den anderen derselben Schale angegossen, für einige Tage mit der Glasscheibe bedeckt und halbschattig aufgestellt. Wenn die Pflanzen sich drängen, setzt man sie einzeln in kleine, später in wenig größere Töpfe mit sandiger Mistbeeterde und hält sie immer halbschattig und durch Gießen nur mäßig feucht.
O. H.     

Einbanddecke zur „Gartenlaube“. Wie in den früheren Jahren, so hat die Verlagsbuchhandlung Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig auch zum laufenden Jahrgang der „Gartenlaube“ wieder eine geschmackvolle, in reichem Gold- und Schwarzdruck sorgfältig ausgeführte Einbanddecke herstellen lassen, welche zum Preise von 1 Mark 25 Pfennig durch die meisten Buchhandlungen bezogen werden kann. Wer nachträglich frühere Jahrgänge binden lassen will, kann zu dem gleichen Preise die Originaleinbanddecken auch für diese noch beziehen; natürlich ist der Jahrgang, für welchen die Decke bestimmt ist, genau anzugeben.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Max B. in L. Wohlgetroffene Bilder des Deutschen Kaisers Wilhelm II. haben wir schon mehrfach in der „Gartenlaube“ (ein vorzügliches Reiterbild unter anderem in Nr. 30 des laufenden Jahrgangs) geboten. Ein größeres Porträt des jungen Herrschers, das sich zum Einrahmen vortrefflich eignen und einen prächtigen Zimmerschmuck abgeben dürfte, wird Nr. 1 des kommenden Jahrgangs als besondere Kunstbeilage bringen, ein Porträt, das hinsichtlich der Lebenswahrheit und künstlerische Ausführung den in diesem Jahre ebenfalls schon der „Gartenlaube“ beigegebenen Kaiserbildern nicht nachstehen wird.

Einer besorgten Mutter. Wie schon in dem Gartenlaube-Kalender 1889 (die erste Hilfe gegen Diphtherie, Scharlach und Masern) hervorgehoben wurde, ist die Neigung zu Masern eine fast allgemeine, etwas weniger zu Pocken und noch geringer zu Scharlach und Diphtherie, so daß von den beiden letzteren Krankheiten viele Kinder nicht befallen werden. Die Pocken sind durch die Impfung ausgeschaltet, also bleiben als fast unbedingt nothwendig nur die Masern übrig, welche ja bei einiger Fürsorge als eine leicht zu überstehende Erkrankung bekannt sind. Für diese sämmtlichen Kinderkrankheiten gilt als feststehend, daß, je später das kindliche Lebensalter ist, in welchem sie auftreten, desto leichter und sicherer sie im Durchschnitt zur Abheilung gelangen; bei Erwachsenen treten Scharlach und Diphtherie überwiegend als ungefährliche Halsentzündungen auf. Ebenso wichtig ist die Abhärtung des Körpers, da hierdurch der Entwickelung von Nachkrankheiten am sichersten vorgebeugt wird.

Hotelbesitzer K. in W. Auf Ihre Frage „Was lostet eine Lokomotive?“ können wir Ihnen folgende Auskunft geben: Die erste Lokomotive in Deutschland, der „Adler“ der Nürnberg-Fürther Bahn, kam auf 13 930 fl.; der „Komet“ der Leipzig-Dresdener Bahn kostete 1383 Pfund Sterling. Eine unserer heutigen Personenzuglokomotiven wird für 38- bis 40 000 M, eine Güterzugsmaschine für 31- bis 40 000 M, eine Tenderlokomotive für 18- bis 24 000 M hergestellt. Ein Personenzug mit Lokomotive, Gepäck- und acht Passagierwagen erfordert durchschnittlich das Sümmchen von 124 000 M.

A. G. in Bremen. In dem kürzlich erschienenen Novellen-Band „Unter der Linde“ von W. Heimburg (Preis elegant gebunden M 5,50) finden Sie außer „Jascha“: „Am Abgrund“. – „Unsere Hausglocke“. – „Unser Männe“. – „In der Webergasse“. – „Großmütterchen“. – „Aus meinen vier Pfählen“.


Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 12 auf S. 756:
1. S d 2 – b 1 K f 2 – e 2
2. S b 1 – c 3 † K (4 Felder)
3. T a 1 – d 1 oder f 1 matt.
1. . . . . . . . K f 2 – g 1
2. S b 1 – c 3 † K g 1 X h 2 (f 2)
3. L d 4 – e 5 ( T f 1) matt.
1. . . . . . . . . beliebig (Z. B. K f 3)
2. S d 1 – c 3 . . . . . ( . . . K f 4)
3. T matt.

S a 6 hat den Zweck zu zeigen, daß der schw. K. auf f 2 verbleiben kann und doch in gleicher Art mattgesetzt wird.

Nicht geht: 1. S d 2 – f 1 K f 2 – g 1! 2. S f 1 – g 3 † K g 1 X h 2. 3. Kein matt.

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 11 auf S. 724:

Im Skat liegt: rD, rZ.

Vorhand: eD, eO, gD, gK, g9, g8, g7, rK, sD, sK.

Mittelh.: eZ, eK, e9, e8, e7, gZ, gO, sZ, sO, rO.

1. gD, gO, sW,

2. rW!! rK, rO

Die beiden Gegner werfen ihre blanken r ab, in der Meinung, daß sie darauf keinen Stich machen können, und bekommen nunmehr nur noch 28 Augen in Schellen (car.).

Auflösung der Damespiel-Aufgabe auf S. 824:
1 d 2 – e 3 1 D c 5 – a 7 †
2 f 6 – e 7 2 d 8 – h 8 ††
3 e 3 – f 4 3 D a 7 – g 5 †† (A)
4 h 6 – f 4 † 4 D b 8 – g 3 †
5 h 2 – f 4 † 5 h 8 – g 7
6 f 4 – g 5 gewinnt
A
3 . . . . . . . 3 D b 8 – g 3 †
4 h 2 – f 4 † etc. wie vorher.
[893]
An unsere Leser!

Mit dieser Nummer beschließt die „Gartenlaube“ ihren sechsunddreißigsten Jahrgang, welcher ihr wiederum eine ansehnliche Erweiterung ihres Leserkreises gebracht hat.

So aufrichtig und herzlich der Dank ist, mit dem wir diese Thatsache an der Schwelle des neuen Jahrganges feststellen, so rastlos werden unsere Bemühungen auch fernerhin sein, der hohen Verpflichtung gerecht zu werden, welche aus der bevorzugten Stellung der „Gartenlaube“ im deutschen Hause für uns erwächst.

Wie schwer die Erfüllung dieser Aufgabe ist, das wird jedem unserer Freunde klar werden, wenn er an die Hunderttausende denkt, die durch ganz Deutschland und über alle Welt zerstreut mit ihm die große Gartenlaubegemeinde bilden, wenn er sich die Verschiedenheit des Alters, der Lebensstellung, der Bildung, des Geschmacks all seiner Mitleser vergegenwärtigt! Aber wir sind getrost, denn wir wissen, daß die Leitsterne, welche sich der Begründer der „Gartenlaube“ vor sechsunddreißig Jahren ausersehen, unwandelbar und untrüglich sind. Sie heißen:


Deutsches Haus! Deutsches Vaterland!


Wenn wir diesen Sternen folgen, wenn wir unsern alten Grundsätzen getreu unentwegt fortfahren, unter strengem Ausschluß alles Niedrigen und Gemeinen, den Familiensinn, die Vaterlandsliebe, die ideale Begeisterung für die höchsten geistigen Güter, den Sinn für deutsche Treue und Wahrhaftigkeit zu pflegen, dann sind wir sicher, daß die „Gartenlaube“ ihre Leser auch künftig in Nord und Süd, im deutschen Bürgerhause, in der Hütte wie im Palaste finden, daß sie das bleiben wird, was sie als ihren schönsten und stolzesten Ehrentitel betrachtet:


Das erste deutsche Volks- und Familienblatt!


Unsere Handschriften- und Bildermappen sind wohl versorgt; aus dem reichen und mannigfaltigen Vorrathe seien hier nur angeführt:


Lore von Tollen. Roman, von W. Heimburg.

Die neueste Schöpfung der beliebten Schriftstellerin, ein Roman, dessen farbenreiche, spannende Handlung, erschütternde und gemüthvolle Schilderungen eine außerordentliche Wirkung verbürgen.

Die Vermählung der Todten. Erzählung von Isolde Kurz.

Eine ergreifende, an fesselnden Kontrasten reiche Liebesgeschichte aus der Zeit der Pest in Florenz.

Sakulanta. Von Reinhold Ortmann.

Eine in Berliner Künstlerkreisen spielende und das Leben und
Treiben derselben trefflich schildernde Novelle.

Unterm Glockenstuhl. Von Gerhard Walter.

Eine neue Geschichte des sinnigen Erzählers, dessen schlichte
Herzenstöne unsern Lesern wohlbekannt sind.


Gold-Aninia. von Ernst Pasque.

Ein Roman aus der Hochgebirgswelt des Engadin, der mit packender Lebendigkeit das Schicksal einer den Schrecken der Elemente anheimfallenden ganzen Gemeinde und eine mit der Katastrophe verflochtene Liebestragödie schildert.

Ein deutscher Liebesgott. von Stefanie Keyser,

unserer beliebten Mitarbeiterin, welche ihren Stoff diesmal der
Neuzeit entnommen und zu einer der anmuthigsten Schöpfungen
ihres liebenswürdigen Humors geformt hat.

Ueberraschungen. Von Viktor Blüthgen

einer jener anheimelnden echt deutschen Familiengeschichten,
in welchen der Verfasser sich stets als Meister bewährt.


Ludwig Ganghofer, Th. Fontane, Sophie Junghans, Hermann Heiberg, Ä. v. Perfall, Helene Pichler, A. Weber, die unseren Lesern wohlbekannten Erzähler, werden ihre neuesten Werke den genannten anreihen.

Im Dienste der Aufklärung und Volksbelehrung haben sich unsere altbewährten Mitarbeiter, denen verschiedene junge Kräfte sich zugesellten, der „Gartenlaube“ aufs neue zur Verfügung gestellt.

Prof. Dr. C. H. Kisch, Prof. Dr. Karl Vogt, Dr. M. Taube, Dr. F. Dornblüth, Dr. A. Wolpert, Prof. Dr. Ott, Dr. Karl Ruß, die Bruder Karl und Adolf Müller u. a. werden ihre gediegenen Beiträge aus dem medizinischen, hygienischen und naturwissenschaftlichen Gebiete fortsetzen, Pros. Dr. Max Haushofer, Prof. Dr. Karl Biedermann, Fr. Helbig, Dr. Ed. Paulus u. a. interessante geschichtliche und kulturgeschichtliche Bilder, landschaftliche Schilderungen etc. darbieten, während Ludwig Ganghofer, Guido Hammer, Eugen Friese, Karl Brand sich wieder mit ihren so gerne gelesenen Skizzen aus dem Wald- und Jagdleben einstellen. Fesselnde Plaudereien aus dem gesellschaftlichen, litterarischen und künstlerischen Leben der Gegenwart haben Rudolf v. Gottschall, Oskar Justinus, Hermann Heiberg, Emil Peschkau, Rudolf Kleinpaul u. a. beigesteuert, und über die wichtigsten Fortschritte in der Technik und Industrie, die neuesten Erfahrungen in Haus-, Land- und Gartenwirthschaft werden R. Artaria, M. Ernst, O. Hüttig, Dr. G. van Munden, C. Falkenhorst, Th. Gampe, G. Schubert berichten.

Ueberdies sollen zahlreiche und gut gewählte kurze Mittheilungen aus den verschiedensten Gebieten dem Leser eine Fülle von Unterhaltung und Belehrung zuführen, während bildliche Darstellungen unserer ersten Künstler wieder das Auge erfreuen und den Kunstsinn fördern werden.

So rufen wir denn unseren Lesern am Schlusse des alten Jahres ein zuversichtliches: „Auf Wiedersehen im neuen Jahre!“ zu.

Leipzig, Ende Dezember 1888.

Die Redaktion der Gartenlaube.
[894]

An der Jahreswende.
Originalzeichnung von F. Wittig.


  1. Rauber, „Homo sapiens ferus“. Leipzig, Denickes Verlag.