Die Gartenlaube (1888)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt. Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Ich bin völlig aus dem Sattel geworfen mit meinem Gedankengang,“ klagte Joachim; „o, meine schöne Einsamkeit! – Claudine, verstehe mich nicht falsch! Du weißt, wie sehr ich unsere fürstliche Familie liebe und verehre, wie stolz ich bin, daß meine schöne Schwester sie herzieht in unseren Waldwinkel. Aber, Claudine – Du bist böse, weil ich das sage?“ fragte er, den Schatten auf ihrem Antlitz erst jetzt gewahrend.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Joachim, weshalb wohl? Aber Du thust mir leid, und wir wollen es ehrlich den Herrschaften sagen, daß Du bei Deiner Arbeit durch nichts – hörst Du? – durch nichts gestört werden darfst.“

Er blieb stehen und strich ihr über die Wange. „Nein, Kleine,“ erwiederte er, „als ehemalige Hofdame mußt Du am allerbesten wissen, daß das nicht möglich ist. Es war eine hinreißende Liebenswürdigkeit von der Herrschaft, uns hier zu besuchen. Eine Abfertigung, wie Beate sie in ihrer derben Manier gab, darf sie von uns nicht hören. Diese Beate,“ fuhr er fort, „benahm mir den Athem, als sie die Antwort herauspolterte. Ich verstehe Lothar nicht, der das so ruhig und gelassen mit anhören kann; mir ginge es durch und durch!“

„Aber Deine Arbeit, Joachim? Sei versichert, die Herzogin würde untröstlich sein, erführe sie später, daß sie Dich hinderte.“

„Sie ist ein liebes Gemüth, Claudine, begeistert für alles Schöne, und sie ist krank, sehr krank. Hörtest Du den Husten? Er schnitt mir ins Herz. So hustete sie auch, Claudine – o, diese gräßliche Krankheit! Nein, nein, Claudine, schon dieses verlöschenden Lebens wegen mag das Eulenhaus ihr offen stehen zu jeder Zeit.“

Die Schwester antwortete nicht mehr. Sie war zu dem Bogenfenster getreten, durch welches rothglühendes Abendlicht strahlte, und schaute mit bangen Augen über die Wipfel der Bäume hinweg. Nein, sie konnte, sie durfte ihm keine neue Sorge aufbürden, durfte ihn nicht beunruhigen; vielleicht war sie auch erstorben, die blinde alles vergessende Leidenschaft? Keiner jener heißen Blicke war




Heimkehr vom Markt. Originalzeichnung von Ed. Ravel.

[118] ihr heute gefolgt, sein Auge hatte sie kaum gestreift. Sie nickte mechanisch mit dem Kopfe, als wolle sie einer inneren Stimme widersprechen. „Doch, vielleicht seine Ritterlichkeit, seine Großmuth haben gesiegt, und der Anblick des verlöschenden Lebens –.“

Sie durfte ruhig sein, durfte hoffen.

Der Bruder war zu ihr getreten und hatte ihre Hand ergriffen. „Macht Dich die Einsamkeit traurig, Claudine?“ fragte er weich. „Heute, wo ein glänzendes Streiflicht Deines vergangenen Lebens in unser Haus fiel, da erschien es mir so unsagbar armselig; da kam mir der Gedanke, es sei eine Sünde, Dich hier zu fesseln, Du stolzer Schwan!“

„Joachim,“ rief sie lachend, aber ihre Augen schimmerten feucht, „wenn Du wüßtest, wie gern ich hier bin, wie heimisch, wie traut mir diese ‚Armseligkeit‘ ist, Du würdest nie wieder solche Dinge reden! Nein, ich bin nicht traurig, ich bin eigentlich so herzensfroh, wie lange nicht. Und nun will ich hinunter und unser Souper herrichten; es besteht zwar nur aus Blattsalat und weichen Eiern, aber Du glaubst nicht, Joachim, wie zart Heinemann’s Salat ist.“

Sie hielt ihm die Wange zum Kusse hin und ging, ihm noch einmal zunickend, aus der Thür. Und dem einsamen Manne, der jetzt auf ihrer Stelle am Fenster stand, klang das eilige Klappern der kleinen Holzabsätze ihrer Schuhe auf der Treppe und der frische metallische Klang ihrer Stimme in die Ohren. Ja, wenn nur die traurigen Augen dem Allen nicht so widersprochen hätten!

Ein paar Stunden später lag das Eulenhaus schweigend und ruhig, als hätte es der Wald mit seinem Rauschen in den Schlaf gesungen; nur aus Claudinens Zimmer schimmerte noch Licht. Seine Bewohnerin saß vor dem altmodigen Schreibtischchen, das auf lächerlich dünnen Beinchen sein Gleichgewicht behauptete und einstmals zum Ameublement von Großmama’s Mädchenstube gehört hatte in dem großen Herrenhause, weit unten in Preußen an der Ostsee. Sie hatte mehrere Fächer aufgeschlossen und kramte in Briefen und trocknen Blumen und allerlei Kästen umher. Ja, diese stolze schöne Hofdame mit dem tadellos kühlen Wesen, sie war doch nur ein Mädchen, wie die Andern auch, ein echtes Mädchen mit zaghaftem Herzen und heimlichem Bangen und Hoffen; wie hätte sie sonst wohl ein kleines Streifchen Papier, darauf einige Noten geschrieben, mit so thränenschimmernden Augen an die Lippen drücken können, wie sie es eben that? – Es waren nur wenige Reihen flüchtig geschriebener Noten, und darunter standen die Worte: „Willst Du Dein Herz mir schenken, so fang’ es heimlich an.“ Sie hatte es einst auf Wunsch ihrer alten Hoheit singen sollen, und die Noten hatten gefehlt; da war Einer aus dem gewählten kleinen Kreise aufgestanden, um am Nebentischchen aus dem Gedächtniß die innige Melodie niederzuschreiben, und sie hatte dann das Lied gesungen. Sie fühlte, sie hatte schön gesungen an jenem Abend. Und als sie geendet, sah sie ein Paar Männeraugen, die mit unverhohlener Bewunderung an ihr hingen; nur dies eine Mal, nie wieder! Es hatte auch kaum eine Sekunde gedauert, dieses Auge-in-Auge; dann senkten sich seine Blicke zur Prinzeß Katharine, neben deren Sessel er stand; ein ritterlicher Kavalier, stets den Launen seiner Dame mit lächelnder Nachlässigkeit gehorsam. Und die schwarzen dreisten Augen dieser kleinen Prinzessin hatten ihn so strahlend angeschaut, als wollten sie die Worte wiederholen, aber als Frage: „Willst Du Dein Herz mir schenken?“

Das war wohl längst aus seinem Gedächtniß geschwunden; sonst würde er nicht, als sie neulich von seiner Liebe zur Musik sprach, so geradezu feindselig geworden sein; und sie hatte doch diesen Abend nimmer vergessen können. Da war es ja auch, wo ein Paar andere Augen zum ersten Male mit jenen heißen glühenden Blicken die ihren suchten, sie erschreckend bis zum Tode.

„Willst Du Dein Herz mir schenken?“

Sie sprang empor und ging vom Schreibtisch zum Fenster und wieder zurück in der alten qualvollen Unruhe. Ihre Augen irrten wie hilfesuchend durch das Zimmer, und dann blieb sie doch wieder vor dem Schreibtisch stehen und sah auf das kleine Pastellbild des lieben Frauengesichtes, das dort im reichgeschnitzten Rahmen hing, dessen obere Verzierung den Wappenhirsch zeigte; der Stern zwischen dem Geweih, der aus Metall hergestellt, blitzte seltsam im flackernden Lichtschein. Ein bitterer, weher Ausdruck flog um ihren Mund.

„Meine Mutter,“ sagte sie leise, „wenn Du noch lebtest und ich könnte Dir alles erzählen!“

Und sie faltete die Hände und schaute unverwandt auf das Bild, als spräche sie ein Gebet.




Am andern Mittag zog ein starkes Gewitter hinter den Bergen empor und entlud sich über dem Paulinenthal. Der alte Heinemann sah seufzend, wie seine Nelken vom Sturme zerzaust wurden und wie das Wasser auf den Beeten floß, die zarten Wurzeln der frisch gepflanzten Gemüse lockerte und wohl gar dieselben wegschwemmte.

„O Jesus!“ seufzte er in der Küche, wo er die Abwäsche besorgte wie ein richtiges Küchenmädchen, „sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, das regnet sich fest.“ Und er zeigte durch das Fenster nach den tannenbewaldeten Bergen hinüber, wo an einigen Stellen eine weiße Dunstsäule aus den Wipfeln emporstieg. „Der Hirsch raucht sein Pfeifchen; vor drei Tagen hört es nicht auf zu regnen, darauf können Sie sich verlassen. Wenn’s dann nur vorbei ist! Aber mitunter regnet es sich so in aller Gemüthlichkeit ein, und dann ist’s hier trübe.“

Und richtig, so kam es; ein echter Gebirgsregen begann. Auf der abschüssigen Landstraße rieselte das Wasser langsam hinunter; der kleine Waldbach drüben zwischen den Tannen glich einer schmutzigen Lehmbrühe und alle Blumen hingen die Köpfchen.

Die Kleine stand mit ihrer Puppe am Fenster von Fräulein Lindenmeyer’s Zimmer, drückte sich das Näschen platt an die Scheiben und fragte, wann es wieder aufhöre, naß zu sein da draußen. Im Garten sei es schöner. – Und die alte Dame saß eifrig strickend daneben und wandte gewohnheitsgemäß den Kopf, um durch die Scheiben nach Vorübergehenden zu spähen, aber vergeblich. Nur die lahme Botenfrau zog naß wie eine Made vorüber neben ihrem mageren Pferde; sie hatte den Kleiderrock über den Kopf geschlagen und dem Thiere eine Wachstuchdecke auf den Rücken geschnallt, und die Plane des Wägelchens triefte von Wasser.

Claudine machte in der Wohnstube Studien auf der Nähmaschine und bekam vor Freude rothe Wangen, als sie die erste tadellose Naht fertig hatte. Ja, die Arbeit, auch die verachtete mechanische weibliche Handarbeit, ist doch ein Segen, sie führt über manche Stunde des Kummers hinweg. – Joachim aber saß ganz vertieft über seinen Büchern. Es sei ein rechtes Wetter zum Schaffen, sagte er bei Tische; und sobald er gespeist, ging er wieder an sein Manuskript und hörte und sah nichts mehr.

Am folgenden Tage regnete es noch immer, und am dritten noch mehr. Im Altensteiner Herrenhause sah es eben so mißmuthig aus wie in der Natur; die Herzogin fühlte sich matt und angegriffen und hustete; das trübe Wetter brachte ihr trübe Zukunftsgedanken. Sie hatte versucht, dieser Stimmung Herr zu werden, indem sie Briefe schrieb an ihre Schwester, aber da waren plötzlich Thränen auf das Papier gefallen, und sie wollte doch nicht, daß die schwer geprüfte junge Wittwe in dem Gedanken noch bekümmerter würde, es könne ihr, der Leidenden, schlechter gehen. Sie war dann hinunter gestiegen, wo in dem großen Mittelsaal ihre beiden ältesten Söhne Fechtstunde erhielten; einen Moment hatte das kecke Draufgehen der schönen blondhaarigen Knaben sie mit Entzücken erfüllt; dann kam wieder die alte Schwäche über sie und Frau von Katzenstein mußte sie nach ihrem Ruhebette zurückführen. Sie ließ sich nach einem Weilchen den jüngsten Prinzen bringen, ein prachtvolles, gesundheitstrotzendes Kerlchen, der den letzten Rest ihrer Kraft genommen durch sein Erscheinen auf dieser Welt, und sie sah ihm mit seliger Lust in die lachenden blauen Augen. Wie glich er dem Vater, diesem über alles geliebten Manne! Und plötzlich erhob sie sich und schritt, das Kind auf dem Arme, durch das Zimmer der Thür zu.

Frau von Katzenstein und die Kammerfrau stürzten herbei und wollten ihr den kleinen Prinzen abnehmen; sie wehrte lächelnd: „Ich möchte den Herzog überraschen; bleiben Sie, bitte.“ Und auf den Zehen schlich sie sich über das spiegelnde Parkett des Salons, der ihre Zimmer von den seinen trennte, und stand hochathmend vor der Thür seines Gemaches.

Es war doch schön, ihn hier in Altenstein so nahe zu haben, zu ihm eilen zu können, wie jede andere glückliche Frau, die dem Vater das Kind zuträgt. Sie nahm das Händchen des Kleinen und ließ es pochen an das Getäfel der Thür. „Papa!“ [119] rief sie, „lieber Papa, mach’ auf, wir sind hier, die Liesel und der Adi!“

Dort innen wurde ein Kasten zugeschoben und gleich darauf die Thür geöffnet; der Herzog, im schwarzen Sammethausrock, erschien auf der Schwelle, offenbar verwundert über diesen Besuch. Am Schreibtisch stand Palmer, er hatte Papiere in der Hand; und auf der Platte des Tisches lagen verschiedene Blätter ausgebreitet.

„O, ich störe, Adalbert?“ sagte die junge Frau unter Hüsteln. Das Zimmer durchwogte ein starker bläulicher Rauch türkischer Cigaretten.

„Wünschest Du etwas, Elise?“ fragte er. „Entschuldige diesen Rauch, er reizt Dich zum Husten; Du weißt, ich habe diese leidige Angewohnheit beim Arbeiten. Aber komm, ich will Dich hinüber geleiten; es ist hier kein Aufenthalt für Dich.“

Sie schüttelte langsam das dunkle Köpfchen: „Ich wollte nichts“ – und mit einem Blick auf Palmer verschluckte sie die Worte: „ich wollte Dich nur sehen, Dir das Kind bringen.“

„Nichts?“ wiederholte er, und eine leise spöttische Ungeduld sprach sich aus in der Bewegung, mit der er ihr den Kleinen abnahm. „Aber, vor allen Dingen komm hier fort!“

Nach ein paar Minuten saß sie wieder auf ihrer Chaiselongue allein. Er hatte zu arbeiten; er ließ sich jetzt einen Vortrag halten über den Bau einer neu zu gründenden herzoglichen Forstakademie in Neurode, es war so wichtig. Auf ihre Frage: „Trinkst Du nicht den Fünfuhrthee bei mir, Adalbert?“ war nur ein zerstreutes: „Vielleicht, meine Theure, wenn ich Zeit finde. Warte nicht auf mich,“ die Antwort gewesen.

Nun schlug es fünf Uhr, und sie wartete doch; aber da rollte eben unter den Fenstern ein Wagen über den Kies der Gartenwege. Das war der Herzog; er fuhr aus, und bei dem Wetter! O ja, sie hatte es nur vergessen; er sprach schon gestern davon, nach Waldlust zu fahren, dem alten herzoglichen Jagdschloß, das renovirt werden sollte. Traurig legte sie den Kopf zurück an die Polster. Wie öde war es doch in den fremden Gemächern mit dem rieselnden Regen vor den Fenstern, und so allein! Das Kind spielte längst in seinem Zimmer mit der Gouvernante; der Herzog wollte nicht, daß sie es länger behielt, weil dessen Lebhaftigkeit sie zu sehr angreifen würde. Freilich, der Arzt verbot ihr täglich, sich anzustrengen; es ist doch hart, ein solches Verbot, wenn man Mutter ist! – Frau von Katzenstein saß zwar im Nebenzimmer, schlafend oder lesend, aber ebenso gut hätte Niemand dort zu sein brauchen; die herzensgute alte Dame verstand sie nicht, sie sorgte nur immer für das körperliche Wohl ihrer „süßen Hoheit“, um die Wette mit der Kammerfrau – aber sonst – – ach, dies Alleinsein! Sie griff wieder zu dem Buche, das ihr entglitten war; aber die Augen schmerzten; sie mochte nicht weiter lesen; es war eine so schaurige Erzählung; man wußte schon im Voraus, die Heldin ging an Selbstmord zu Grunde, das ist Mode jetzt. Aber wenn man selbst so traurig ist, und wenn draußen der Regen so einförmig niederrauscht, so als ob es nimmer wieder licht werden sollte, da darf man nichts lesen, was noch trüber stimmt. Ja, wenn man eine Seele hätte, mit der man sprechen könnte, so, wie sie einst mit ihrer Schwester sprach, als sie noch daheim, so recht vom Herzen weg! Ja, dann ist’s heimlich, wenn draußen das Wetter tobt, die Dämmerung das Zimmer umspinnt und im Kamin ein leichtes Feuer brennt.

Und auf einmal stand eine Gestalt vor ihren Augen – Claudine von Gerold in ihrem einfachen Kleide, das Schlüsselkörbchen am Arm, anmuthig waltend in der kleinen dürftigen Häuslichkeit des Bruders; wie ruhig sie erschien, wie glücklich und beglückend! Claudine hatte schon immer so vortheilhaft abgestochen gegen die andern Hofdamen; um die Welt hätte sie nicht die kleine Gräfin H. mit dem Soubrettengesichtchen und dem übermüthigen Wesen um sich haben mögen hier im stillen Altenstein, ebenso wenig wie Fräulein von X., die fast nie die Augen aufschlug, niemals lächelte; nie hätte man das Verlangen empfinden können, einer von ihnen näher zu treten. Aber Claudine, Claudine Gerold! – Und plötzlich ergriff sie eine förmliche Sehnsucht nach diesem stillen Mädchen mit den ernsten blauen Augen. Sie drückte auf den Knopf der silbernen Glocke, die ihr zur Seite stand, und dann ging sie zum Schreibtisch und warf in fliegender Eile einige Zeilen auf das Papier.

„Diesen Brief an Fräulein von Gerold. Ein Wagen soll hinüber, sie zu holen; aber eilen Sie!“

Und nun ergriff sie eine fieberhafte Unruhe. Eine Stunde konnte es dauern, in einer Stunde würde sie hier sein können. – Sie befahl, Feuer im Kamin zu machen, und ließ den Theetisch herrichten in der Nähe der spielenden zuckenden Flammen.

Dann wanderte sie im Zimmer umher, trat zuweilen ans Fenster und sah in die regennasse Landschaft hinaus. Eine Stunde verrann, noch immer kam sie nicht. Da – horch – ein Wagen! Sie trat vom Fenster zurück, sie hatte Herzklopfen wie eine junge Braut, die den Geliebten kommen hört, und mußte lächeln über sich selbst. „Christine würde mich wieder ‚fanatisch‘ schelten,“ flüsterte sie, ihrer Schwester gedenkend, als zu ihrem Erstaunen Baron Gerold gemeldet wurde, „den Hoheit befohlen“. Sie hatte das ganz vergessen. – Heute? Ja, es mußte wohl so sein! Richtig, sie hatte ihn gebeten, ihr einige Nachrichten über die angeblich große Armuth von Wahlerode zu bringen, dem nahe gelegenen Dorfe.

Sie freute sich, ihn zu sehen, und fragte eingehend nach allem, aber zwischendurch horchte sie immer wieder in die Ferne.

„Sie werden mich zerstreut finden, Baron; ich erwarte nämlich Besuch,“ sagte sie lachend, als sie sich inmitten einer Auseinandersetzung, den Bau eines Gemeindearmenhauses betreffend, rasch zum Fenster wandte. „Rathen Sie, wen? Aber nein, rathen Sie lieber nicht, dann wird es eine Ueberraschung für Sie. – Also, mein lieber Gerold, wenn Sie sich des Baues annehmen wollen, so können Sie auf meine Hilfe völlig rechnen.“

„Hoheit sind, wie immer, die Güte selbst,“ sprach Lothar und erhob sich.

„Seine Hoheit,“ scholl plötzlich die Stimme der Frau von Katzenstein, und gleich darauf trat der Herzog ein.

„O, wie gemüthlich, Liesel,“ sagte er heiter, die zarte Frauenhand küssend, die sich ihm entgegenstreckte. „Und Sie, lieber Baron, wissen Sie, daß ich eben meinen Jäger zu Ihnen schickte? Ich dachte an eine Partie L’hombre heute. Zum L’hombrespielen just das rechte Wetter – Wie?“

„Hoheit wollen über mich befehlen.“

Der Herzog verbarg ein leises Gähnen und nahm Platz am Kamin; die alte Hofdame war am Nebentische beschäftigt, den Thee zu bereiten; ein Lakai ging mit behutsamen Schritten ab und zu und stand jetzt wie ein Schatten an der Thür, des Augenblicks gewärtig, wo er die Tassen präsentiren könne. Die Dämmerung war rasch herunter gesunken; man unterschied nur undeutlich noch die Gesichter der Anwesenden; hie und da zuckte ein Flämmchen im Kamin empor und warf ein flüchtiges Streiflicht auf den Herzog. Er sah abgespannt aus und seine große weiße Hand strich in regelmäßiger Wiederholung durch den blonden Vollbart.

„Es ist doch sehr einsam hier an solchen Tagen,“ begann er endlich; „wir sind faktisch auf dem ganzen Wege, ausgenommen Ihr Fräulein Schwester, lieber Gerold, keiner Seele begegnet. Die resolute Dame ging mit Regenschirm und Waterproof so vergnügt auf der einsamen nassen Chaussee dahin, als sei es der wonnigste Maimorgen. Vermuthlich steuerte sie nach dem Eulenhause, denn sie schlug den Weg nach rechts ein.“

„Sicher, Hoheit; sie läßt sich so leicht durch kein Wetter abhalten, ihrer Kousine einen Besuch zu machen.“

Der Herzog nahm eben eine der wappengeschmückten Tassen. „Beneidenswerth!“ sagte er halblaut und that ein riesiges Stück Zucker in den duftenden Trank.

„Die Gesundheit, meinen Hoheit? In der That, die Gerolds wissen sämmtlich nicht, was Nerven sind; sie haben, was Ew. Hoheit Lieblingsautor seinen Onkel Bräsig sagen läßt, Nerven wie Stahl und Knochen wie Elfenbein.“

„Allerdings, das meinte ich,“ klang es aus dem Munde des Herzogs. Und hastig die Tasse leerend, fragte er: „Ist es jetzt Mode bei Dir, im Dunkeln zu sitzen, Liesel? Früher mußtest Du Licht haben um jeden Preis.“

„Fräulein Claudine von Gerold!“ sagte plötzlich die alte Hofdame; zugleich tönte das Rauschen eines seidenen Gewandes; durch die tiefe Dämmerung schritt eine Gestalt und eine leicht vibrirende klangvolle Frauenstimme sprach: „Hoheit haben befohlen!“

„Ach, meine liebe Claudine!“ rief die Herzogin erfreut und winkte nach einem Sessel, „meine ungeduldige Bitte hat Sie doch nicht derangirt?“

In diesem Augenblicke flammten die Lampen unter dem Plafond auf, und ein durch mattes Glas gedämpftes Licht erhellte das in [120] tiefem Purpurroth gehaltene Gemach und tauchte die kleine Gruppe der am Kamin versammelten Menschen in einen milden weißen Schein.

Der Herzog hatte sich, wie auch Baron Gerold, erhoben, und Beide sahen zu dem schönen Mädchen hinüber; Beide mit dem nämlichen Ausdruck der Ueberraschung. In den Augen Seiner Hoheit blitzte es einen Augenblick auf; dann wurde der Ausdruck wieder genau so apathisch wie vorher. Auf des Barons Stirn aber lag eine düstere Falte; doch auch sie verschwand blitzgeschwind. Und dort neben dem Sofa der Herzogin stand sie; die schwarze einfache Seidenrobe hob ihre schlanke ebenmäßige Gestalt prächtig hervor. Sie hatte kaum einen Hauch von Farbe auf ihren Wangen und sah nach einer tiefen Verbeugung vor Seiner Hoheit mit stillem Gesichtsausdruck zu der fürstlichen Frau hinunter.

Die Herzogin wies auf einen Sessel, den man hingeschoben hatte, und sprach von einem gemüthlichen Plauderabend, und ob Claudine auch wohl sei, sie sehe so blaß aus. Und mit eigener Hand reichte sie der jungen Dame einen Krystallflacon: „Nur ein paar Tropfen, liebste Claudine; etwas Arrak macht warm nach der kalten Fahrt.“

Der Herzog hatte nicht wieder Platz genommen; er lehnte am Kamin und sah augenscheinlich mit größtem Interesse auf die Bewegungen der alten Freiin, die eben mit einem Körbchen voll bunter Wollsträhne sich ihrer Gebieterin näherte und auf die abweisende Handbewegung der eifrig Sprechenden sich wieder entfernte. Mit keinem Worte betheiligte er sich an der Unterhaltung, in welche die fürstliche Frau auch Lothar hineinzog. Dieser stand hinter dem Sessel Claudinens, dem Herzog gegenüber, und antwortete mit eigenthümlichem Tonfall, als ob eine Gemüthsbewegung ihn am fließenden Sprechen verhinderte.

„Ich meine, der L’hombretisch wird uns erwarten,“ sagte der Herzog plötzlich, indem er leicht die Stirn seiner Gemahlin küßte und mit einer flüchtigen Verbeugung gegen Claudine hinausschritt, gefolgt von Lothar.

„Liebste Katzenstein,“ bat die Herzogin, „ich weiß, Sie wollen Briefe schreiben, lassen Sie sich nicht stören! Sie sehen, ich bin in der allerliebenswürdigsten Gesellschaft. Lassen Sie die Vorhänge zuziehen, die Spuren des Theetisches beseitigen und meine Chaiselongue hierher schieben; ich finde es so behaglich am Kamin, trotzdem heute der sechste Juni im Kalender steht. Und, liebste Katzenstein, die Lampen an den Flügel. – Sie singen doch ein wenig?“ wandte sie sich an Claudine.

„Wenn Hoheit befehlen –“

„O, ich bitte darum. Aber zunächst plaudern wir!“

Die lebhafte junge Frau, auf dem Ruhebette liegend, versuchte durch die bezauberndste Liebenswürdigkeit ihre stille Gefährtin zu diesem „Plaudern“ zu bewegen, und es lag doch wie ein Bann auf dem Mädchen. Es war ihr, als müsse sie ersticken in diesem künstlich erwärmten Raume, in den Erinnerungen an vergangene Zeiten, die sich aus jedem Winkel lösten, aus jeder Stuckarabeske auf sie hernieder schwebten. Hier in diesem schönen großen Gemach war ihnen als Kindern immer zu Weihnacht beschert worden, Joachim und ihr; hier hatte die kleine Ballfestlichkeit stattgefunden, ihrem jungen achtzehnjährigen Dasein zu Ehren; hier hatte sie weinend in tiefer Trauer den heimkehrenden Bruder und sein junges schönes Weib empfangen, während dort unten im Erdgeschoß die Leiche des Vaters aufgebahrt lag. Damals war jener Erker in einen Garten verwandelt gewesen; unter blühenden Granatbäumen hatten Sessel gestanden, damit Joachim’s Weib die nordische Heimath nicht gar so traurig erscheine; die purpurrothen Blüthen sollten ein Gruß sein aus dem fernen Vaterlande, hatte Claudine gemeint, und sie hatte doch nur erreicht, daß die schönen Augen der jungen Schwägerin sich mit Thränen füllten. „O wie klein sind diese Blüthen – wie sehen sie krank aus!“ hatte sie geklagt. – Ach, wie schwer war doch diese Zeit gewesen!

Claudinens Blicke kehrten wie aus tiefen Träumen in die Gegenwart zurück; die Stimme der Herzogin hatte sie geweckt, und so bang und thränenschwer waren diese Blicke, daß die fürstliche Frau verstummte; aber eine zaghafte Hand griff nach der des Mädchens und hielt sie fest.

„Ach, ich vergaß, daß es Sie traurig machen muß, fremde Menschen in Ihrem Vaterhause zu sehen.“

Es klang so innig, so weich, und die kleine heiße Hand drückte so treu; Claudine wandte den Kopf, um die Thränen zurückzudrängen, die ihre Augen verschleierten.

„Weinen Sie doch, es erleichtert,“ sagte die Herzogin einfach.

Claudine schüttelte den Kopf und bemühte sich gewaltsam, ihre Fassung wieder zu gewinnen, doch wollte es ihr nicht recht gelingen. Was tobte und stürmte nicht alles in ihrer Seele, und nun auch noch die Güte dieser Frau!

„Verzeihung, Hoheit, Verzeihung!“ stieß sie endlich hervor. „Gestatten Hoheit, daß ich mich bald zurückziehen darf; ich fühle, ich kann heute nicht die Gesellschaft sein, die Hoheit wünschen –“

„O nimmermehr, meine liebe Claudine! Ich lasse Sie nicht! Denken Sie, ich vermöchte Sie nicht zu verstehen? Mein liebes Kind, auch ich habe heute schon geweint.“ Und der erregten leidenschaftlichen Frau lief eine stille Thräne um die andere über das fieberheiße Gesicht. „Ich habe einen traurigen Tag heute,“ sprach sie weiter, „ich fühle mich so krank, ich muß immerfort ans Sterben denken; mir kommt das schreckliche Erbbegräbniß unter der Schloßkirche unserer Residenz nicht aus dem Sinn, und dann denke ich an meine Kinder und an den Herzog. Warum muß man solche Gedanken haben, wenn man noch so jung ist und so glücklich wie ich? O, sehen Sie mich nur an, liebste Claudine, ich bin glücklich – bis auf meine Krankheit. Ich habe einen Gatten, dem ich über alles theuer bin, und so liebe, liebe Kinder, und doch diese schwarzen, diese schrecklichen Beängstigungen! Mir wird heute das Athmen so schwer.“

„Hoheit,“ sagte das junge Mädchen bewegt, „es ist die schwüle Luft.“

„O, natürlich! Ich bin nervös, und es geht vorüber, ich weiß es; seit Sie hier sind, ist mir auch schon besser. Kommen Sie nur oft, recht oft! – Ich will Ihnen gestehen, meine liebe Claudine – Mama kennt mein Geheimniß – ich hege, seit ich Sie gesehen, ein so großes Verlangen, Sie in meiner Umgebung zu haben. Mama war aber selbst so entzückt von Ihnen, daß sie nichts von einer Trennung wissen wollte; ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Der Herzog selbst bat für mich, aber sie schlug es rund ab.“

Claudine rührte sich nicht; nur ihre Augen senkten sich, und ihr Antlitz überflog einen Augenblick eine Purpurgluth.

„Es ist wunderbar – die gute Mama versagt mir sonst nichts! Ja, und nun, liebe Claudine, komme ich zu meiner Bitte: Bleiben Sie bei mir, wenigstens für die Zeit unseres hiesigen Aufenthaltes!“

„Hoheit, es ist unmöglich!“ stieß Claudine fast schroff hervor. Und wie flehend setzte sie hinzu: „Mein Bruder, Hoheit, sein Kind!“

„O, ich lasse das gelten; aber Sie müssen mindestens einige Stunden täglich für mich erübrigen, Claudine, ein paar Stunden nur! Geben Sie mir die Hand darauf. Nur ein paar Lieder dann und wann! Sie wissen gar nicht, wie wohl mir wird bei Ihrem Gesang.“

Das schmale fiebernde Gesichtchen der fürstlichen Frau beugte sich vor, und die unnatürlich glänzenden Augen schauten bittend in die des Mädchens. Es sprach eine so rührende Mahnung an das verlöschende Leben aus diesem Antlitz –. Warum mußte diese Frau so bitten? Und was erbat sie sich in ihr? Wenn sie ahnen könnte – aber nein, sie durfte es nicht ahnen!

„Hoheit!“ stammelte Claudine.

„Nein, nein! So leicht bin ich nicht abzuweisen, ich wünsche mir eine Freundin und – eine edlere, bessere, treuere als Sie, Claudine, finde ich nicht. Warum lassen Sie mich so bitten?“

„Hoheit!“ wiederholte das Mädchen überwältigt und beugte sich auf die Hand, die noch immer die ihre hielt. Aber die Herzogin hob ihr Gesicht empor und küßte sie auf die Stirn.

„Meine liebe Freundin!“ sagte sie.

„Hoheit! Um Gotteswillen, Hoheit!“ zitterte es durch das Gemach. Aber die Herzogin hörte es nicht; sie hatte den Kopf zu der alten Kammerfrau gewendet, die mit gedämpfter Stimme meldete, daß der Herzog mit den Herren im Salon neben dem Spielzimmer soupiren werde, und fragte, wo Ihre Hoheit zu speisen befehle.

„Im kleinen Salon hier oben,“ befahl die Herzogin, und enttäuscht blickte sie Claudine an. „Ich hatte mich doch so gefreut auf den heutigen Abendtisch! Wir hätten eine so nette Partie Carrée gehabt, der Herzog, Ihr Vetter und wir!“ Und scherzend fügte sie hinzu: „Ja, ja, meine liebe Claudine, wir armen Frauen müssen das Herz unserer Männer immer noch mit einigen Passionen theilen; die Jagd und das L’hombre, sie haben mir schon manche Thräne ausgepreßt; aber – wohl der Frau, die nicht um ein Mehr zu weinen braucht!“

[121]

Veverl.
Nach dem Oelgemälde von Fr. Defregger.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

[122] Es wurde neun Uhr, bevor Claudine die Erlaubniß erhielt, heimzufahren. Als sie, von der Kammerfrau der Herzogin geleitet, die breite, wohlbekannte Treppe hinunter schritt, begegnete ihr ein Lakai mit zwei silbernen wappengeschmückten Champagnerkühlern. Sie wußte, daß Seine Hoheit kleine Spielpartien liebte mit sehr viel Heidsieck Monopol und sehr viel Cigaretten; man saß dort oft, bis der Morgen graute. – Gott sei Dank, daß es auch heute so war!

(Fortsetzung folgt.)




Die Familie Orleans.
Von K. Th. Heigel.
(Schluß.)


Wenn die Unzufriedenheit mit der inneren Politik der Regierung, dem „Kultus des goldenen Kalbes“, der Popularität Ludwig Philipp’s Abbruch that, so gab die Verquickung der auswärtigen Politik mit dynastischen Rücksichten den Gegnern eine noch gefährlichere Waffe in die Hände. Um seine Familie in den Kreis der legitimen Höfe aufgenommen zu sehen, ließ der von Barrikadenkämpfern erhobene König, ohne nur durch ein Wort sein Mißfallen auszudrücken, die italienischen Revolutionäre von den Oesterreichern niederschießen und überließ Polen, dessen Befreiungskampf das französische Volk mit stürmischer Begeisterung aufgenommen hatte, seinem traurigen Schicksal. Je offener sich aber das Königthum von den Grundsätzen der Julikämpfer entfernte, desto mehr Kraft und Ausdehnung gewann die Opposition. Ganz Frankreich ward überdies unterwühlt von geheimen Gesellschaften, deren Ideal die Republik oder der Kommunismus war.

Noch andere Klagen wurden laut. Der sonst so sparsame König verwendete große Summen auf Ausbau und Ausschmückung des Palais Royal. „Ich bin nicht umsonst in meiner Jugend Schüler David’s gewesen,“ soll er erwiedert haben, wenn gegen die Kostspieligkeit dieser Bauten und anderer künstlerischer Unternehmungen Einspruch erhoben wurde. Ungeheure Summen verschlang der Umbau des Schlosses zu Versailles, das er in ein großartiges, „à toutes les gloires de la France“ gewidmetes Nationalmuseum umwandeln ließ. Montalivet, der eine Zeit lang Minister des Innern war und bei Ludwig Philipp in hoher Gunst stand, versichert, für die Ausstattung von Versailles seien 23 Millionen Franken geopfert worden.

Vermuthlich hoffte der König, seine Pietät für die Lieblingsschöpfung Ludwig’s XIV. werde dazu beitragen, die alten privilegirten Stände, Adel und Klerus, mit der neuen Dynastie auszusöhnen. Während aber in diesen Kreisen nur von „Profanation des Königshauses“ gesprochen wurde, erregte die Sorgfalt für die „blendenden Dekorationen des absolutistischen Regiments“ in den Volkskreisen Argwohn und Mißstimmung. Während bei anderen Gelegenheiten über Geiz und Knickerei des Königs geklagt wurde, nannte man ihn seines Bauluxus wegen einen Verschwender.

„Fontaine“ (der Hofbaudirektor), so wurde gespottet, „wird seinem Herrn nicht genug Geld übrig lassen, um ein Landhaus in England bauen zu können!“

Ludwig Philipp hörte sich gern den Friedenskönig nennen und betonte häufig, daß seine Regierung zwar nicht mit kriegerischen Triumphen prunken könne, wie die Aera Napoleon’s I., aber auch nicht, wie jene, zahllose Menschenopfer vom Lande heischte. Er wußte aber zu gut, welch unwiderstehlicher Zauber dem Wort „gloire“ trotz Moskau und Waterloo für das ganze französische Volk innewohne. Deshalb wurde der von Karl X. ins Auge gefaßte Plan der Unterwerfung Algiers mit leidenschaftlichem Eifer aufgegriffen.

Die an sich nicht gerade glänzenden Erfolge über Abdelkader boten immerhin Gelegenheit zu Aufzügen mit malerisch kostümirten Zuaven und Spahis und zu Lobreden auf den Gewinn eines Landes, das wenigstens halb so groß wie Frankreich selbst. Dagegen wies die Opposition in Kammer und Presse darauf hin, daß Frankreich in Algerien nichts gefunden habe als ein Massengrab für seine Soldaten, während noch fraglich sei, ob das Gebiet zu behaupten sein werde.

Einen schweren politischen Fehler beging die Regierung damit, daß sie, um ihre Vorurtheilslosigkeit zu beweisen, selbst dazu beitrug, daß der Bonapartismus in Frankreich wieder auflebte. Allerdings war im Jahr 1832 der Tod des Sohnes Napoleon’s I., des ehedem so hochgefeierten „Königs von Rom“, in Frankreich fast unbeachtet geblieben; aber zumal in der älteren Generation war die Verehrung für den Sieger von Marengo und Austerlitz noch nicht erstorben. Um auch diese ehrwürdige Tradition für das orleanistische Hausinteresse nutzbar zu machen, ordnete Ludwig Philipp Abholung der Gebeine des großen Todten in St. Helena an, und am 15. December 1840 wurde eine prunkvolle Trauerfeier veranstaltet; der König selbst nahm im Invalidendom die „Reliquien“ in Empfang und hielt Reden, deren chauvinistischer Ton mit früheren Kundgebungen grell kontrastirte. Dadurch konnte er aber nicht vergessen machen, daß diese Reliquien nicht durch die früher so stürmisch geheischte „Revanche pour Waterloo“, sondern durch eine Art Kaufvertrag von England zurückerlangt worden waren. In Wort und Bild wurde von den Gegnern der Regierung darob gespottet, daß der „Spießbürgerkönig“ auch bei dieser Gelegenheit nur als Krämer „gehandelt“ habe.

Das Mißbehagen wuchs, als die Regierung, indem sie konservative Interessen zu fördern gedachte, dem mächtig aufstrebenden Ultramontanismus Vorschub leistete.

Die in Paris allein nach Hunderttausenden zählenden Proletarier vollends waren nicht, wie der Bürgerstand, unzufrieden mit einzelnen Thaten der Regierung, sondern wollten überhaupt keine Regierung. Aufgestachelt durch die Lehren Proudhon’s und Louis Blanc’s forderten sie Niederwerfung der Macht des Kapitals, radikale Umgestaltung der socialen Verhältnisse.

„Unser Land,“ schrieb Thiers, der zu den „Gründern“ des Julikönigthums gehört hatte, im Jahre 1847 an einen Freund, „geht mit Riesenschritten einer Katastrophe entgegen, vor oder nach dem Tode des Königs; es wird Bürgerkrieg geben, Revision der Charte, vielleicht Personalveränderungen an hoher Stelle.“

Die Opposition gegen das Regiment, „das zu seinem Wesen und seinen Ueberlieferungen in geradem Widerspruch steht: ghibellinisch in Rom, jesuitisch in Bern, österreichisch in Piemont, russisch in Krakau, französisch nirgends“ – nahm einen immer drohenderen Charakter an. Die nach der Ablehnung einer Reform des Wahlgesetzes von den Antragstellern veranstalteten sogenannten Reformbankette leiteten die revolutionäre Bewegung ein. Auf einem Bankett zu Lille setzte Ledru Rollin die Weglassung des üblichen Toastes auf den König durch; auf einem Fest der „neuen Brüder“ in den Champs Elysées zu Paris rief der Dichter Lamartine: „Das Königthum wird enden, nicht wie dasjenige von 1789 in seinem Blut, sondern in der selbstgedrehten Schlinge.“ Auch die Treue der Bourgeoisie, die bisher als Stütze des Thrones gegolten hatte, gerieth ins Wanken.

„Es hat nichts auf sich, wenn man angegriffen wird,“ klagte Ludwig Philipp; „aber es ist ein Verhängniß, wenn man auf keinen Vertheidiger zählen kann.“

Endlich stieg die Opposition aus den Bankettsälen und von der Rednertribüne des Parlaments in Waffen auf die Boulevards von Paris. Die Kanonen von Montmartre vermochten das gefährdete Königthum nicht zu retten. Nach dreitägigem Straßenkampf (22. bis 24. Februar 1848) war die Sache des Königs verloren. Er selbst, der in der Gefahr zwar kaltblütig blieb, aber nicht die Kraft zu handeln in sich fand, sah sich genöthigt, durch eine Hinterpforte aus den Tuilerien zu fliehen, und zwar so hastig, daß er nicht einmal das Nothwendigste mit sich nehmen konnte; der reichste König Europas mußte auf der Durchreise durch Versailles von einem Getreuen ein paar tausend Franken borgen, um für sich und seine Familie die Kosten der Ueberfahrt nach England zu bestreiten.

Vor der Flucht hatte Ludwig Philipp eine schriftliche Erklärung abgegeben, daß er zu Gunsten seines Enkels, des Grafen von Paris, auf die Krone verzichte. Die Mutter des Prinzen, Helene von Mecklenburg, die sich in dieser Katastrophe ihrer Tante, der willensstarken Dulderin Luise von Preußen, würdig bewährte, trat in einer stürmischen Sitzung des Parlaments für das Recht ihres Sohnes tapfer ein, allein ihre Stimme ging unter im Tumult [123] der eindringenden Menge. Mit Mühe konnte die deutsche Frau vor der Wuth der von Aufregung und Wein trunkenen Barrikadenkämpfer gerettet werden. Das Bild Ludwig Philipp’s im Sitzungssaal wurde von hundert Kugeln durchbohrt, der Thron zu Füßen der Julisäule zertrümmert, endlich nach wüsten Orgien des souveränen Straßenpöbels am 27. Februar die Republik proklamirt.

August von Rochau, der in seiner Geschichte des Julikönigthums die günstigen Seiten der Regierung Ludwig Philipp’s mit Wärme hervorzuheben pflegt, kann nicht umhin, auf die merkwürdige Thatsache hinzuweisen, daß der Anhang des Königs und des Hauses Orleans schon am 25. Februar so völlig zerstoben war, wie wenn es nie eine orleanistische Partei gegeben hätte. Während Karl X. von der Trauer und der Treue der Legitimisten ins Exil begleitet wurde, folgte dem durch die Februartage entthronten König höchstens ein rein menschliches Mitleid. Die Erklärung dieser Thatsache, meint Rochau, dürfe aber nicht darin gesucht werden, daß die Juliregierung schwerere Schuld auf sich geladen oder mehr Feinde gehabt hätte, als das Königthum der Restauration.

„Die legitimistische Hingebung an die Bourbons war eine Glaubenssache und ganz unabhängig von den persönlichen Eigenschaften, politischen Leistungen, von Glück und Unglück der rechtmäßigen Dynastie; die orleanistische Gesinnung dagegen ging von einer politischen Berechnung aus und mußte also, der Natur der Sache nach, mit der Richtigkeit dieser Berechnung stehen und fallen; der Legitimismus war Schwärmerei, der Orleanismus war Politik.“

Als „Graf von Neuilly“ ließ sich Ludwig Philipp in Claremont in der Grafschaft Surrey nieder. Hier starb er auch am 26. August 1850; im naheliegenden Weybridge fand er die letzte Ruhestätte.

Zwei Söhne des Königs, der Prinz von Joinville und der Herzog von Aumale, standen während des Februaraufstandes in Algier, jener als Admiral der Mittelmeerflotte, dieser als Statthalter und Befehlshaber einer ansehnlichen Armee. Es wurde in Paris befürchtet, daß sie sich weigern würden, die im Hôtel de Ville eingesetzte provisorische Regierung anzuerkennen. Als jedoch der Astronom Arago, der in diese Regentschaft gewählt worden war, die Prinzen aufforderte, um der Ruhe des Vaterlandes willen sich der Macht der Verhältnisse zu fügen, legten beide das Kommando über ihre Truppen, auf deren Ergebenheit sie ja doch nicht zählen konnten, nieder und begaben sich zu ihrem Vater nach England.

Diese Gefahr war also glücklich abgewendet, aber Bürgerblut floß noch in Strömen, als in den Junitagen die Socialisten versuchten, an Stelle der Trikolore die rothe Fahne aufzupflanzen, statt der Konstituante einen Wohlfahrtsausschuß einzusetzen, statt der konservativen Republik die Anarchie zu proklamieren. Nachdem endlich Cavaignac das Proletariat niedergekämpft hatte, wurde nicht dieser Retter der bürgerlichen Gesellschaft, sondern der von Ludwig Philipp als ungefährlicher Abenteurer betrachtete und behandelte „kleine Neffe des großen Oheims“, Ludwig Bonaparte, zum Präsidenten der Republik ernannt; der populäre Name hatte bei dem durch das allgemeine Stimmrecht plötzlich zu politischer Uebermacht gelangten Bauernstand den Ausschlag gegeben. „Im Angesicht Gottes und des französischen Volkes“ gelobte Bonaparte der demokratischen Republik unverbrüchliche Treue. Wer die Geschichte Frankreichs kannte, mochte wohl nicht überrascht sein, als nach dem blutigen Staatsstreich vom 2. December 1851 der „Prinzpräsident“ Bonaparte unbeschränkte monarchische Gewalt erlangte, am 2. December 1852 der „erbliche Kaiser“ Napoleon III. feierlichen Einzug in die Tuilerien hielt.

Wie der neue Imperator gegen alle widerstrebenden Elemente mit beispielloser Härte vorging und die Gesellschaft, wie das Staatsleben aus den Fugen riß, so verfuhr er auch schonungslos gegen das Haus Orleans. Eine Verordnung vom 22. Januar 1852 verhängte über alle Besitzungen, die Ludwig Philipp auf seine Kinder überschrieben hatte, die Konfiskation, da das Privateigenthum der Könige vom Staatsschatz nicht getrennt werden könne. Nach dem Urtheil der bedeutendsten Juristen konnte darin nur eine brutale Gewaltmaßregel erblickt werden; da aber die in den „Idées Napoléoniennes“ so gefeierte Gleichheit des Rechts für Alle niemals so gänzlich verschwunden war, wie in den Tagen des dritten Kaiserreichs, blieb der Protest der Orleans einfach unbeachtet. Sie mußten auch mit ansehen, wie alle Fürsten Europas, zumal Alexander II., mit dem Kaiser der Franzosen wie mit einem lieben Freund und Bruder verkehrten, während Zar Nikolaus niemals aufgehört hatte, seine Geringschätzung des „Kronenjägers“ Ludwig Philipp an den Tag zu legen.

Dagegen bildete sich wieder eine orleanistische Partei in Frankreich selbst in Folge der vielen Mißgriffe und Uebergriffe Napoleon’s. Legitimisten, die in Erwägung der unbesiegbaren Gleichgültigkeit und Lahmheit Heinrich’s V. die Hoffnung auf eine Restauration der Bourbons aufgaben, – Imperialisten, welche der militärisch polizeiliche Terrorismus des dritten Kaiserreichs ernüchtert hatte, – Republikaner, welche nicht länger im Schlepptau fanatischer Socialisten bleiben wollten, vereinigten sich in dem Wunsche, Frankreichs Thron wieder auf den Boden der Volkssouveränetät gestellt und mit einem Orleans besetzt zu sehen.

Daß Napoleon III. selbst die Bedeutung dieser feindlichen Bestrebungen nicht unterschätzte, beweist das geflügelte Wort über die Orleans, das er in Umlauf setzte: „Sie sind geborene Verschwörer.“ So lange er regierte, gelang es den Söhnen und Enkeln des Bürgerkönigs nicht, festen Fuß im Vaterland zu fassen; erst nachdem durch das nämliche Volk, das am 8. Mai 1870 dem Regiment Napoleon’s ein glänzendes Vertrauensvotum ausgestellt hatte, am 4. September 1870 auf die Nachricht von der Katastrophe von Sedan die Absetzung des „feigen Despoten“ verhängt worden war, brachen für die verbannten Prätendenten bessere Zeiten an. Am 8. December 1871 wurden durch Dekret der Nationalversammlung der Familie Orleans alle beweglichen und unbeweglichen Güter zurückgegeben. Damit waren die Orleans wieder „aktionsfähig“. Der Herzog von Aumale wurde bald darauf vom Generalrath der Oise zum Präsidenten gewählt; Aumale und Joinville traten in die Kammer ein. Der Präsident der Republik, Thiers, beobachtete gegenüber den Nachkommen des Königs, dessen einflußreichster Rathgeber er lange Zeit gewesen war, eine gewisse wohlwollende Neutralität; es wurde sogar behauptet, die Anhänglichkeit des Herrn Thiers an die Republik werde mit seiner Präsidentschaft stehen und fallen; denn er sei von Grund des Herzens Monarchist und werde nur durch den Starrsinn der extremen Royalisten immer wieder ins republikanische Lager zurückgedrängt.

Ein Sieg über die konservative Republik wäre nur möglich gewesen, wenn sich alle monarchischen Elemente offen und aufrichtig verbündet hätten. Deshalb wurde auch von dem alten General Changarnier und anderen Orleanisten eifrig am Zustandekommen einer „Fusion“ der Anhänger der beiden Linien des Königshauses gearbeitet. Im Sommer 1873 schien ein Ausgleich nahe gerückt zu sein. Der Graf von Paris begab sich nach Frohsdorf, um „Henri Quint“, dem Grafen von Chambord, als dem Chef des Gesammthauses zu huldigen. Allein bald trat zu Tage, daß es in Chambord’s Schloß bei äußerlichen Ceremonien geblieben, nicht eine wirkliche Versöhnung zu Stande gekommen war; der Gegensatz zwischen der weißen Fahne und der Trikolore bestand fort. Graf Chambord selbst wies darauf hin, daß man „nicht in der Personenfrage, sondern in den Principien das Heil Frankreichs zu suchen habe“; in den Principien gingen aber die Forderungen der beiden Familien nach wie vor auseinander. Die Orleans verlangten nach der Tradition ihres Hauses Anerkennung einer liberalen Verfassung; Chambord wollte bedingungslos sein gutes Recht anerkannt wissen und sah in jedem Zugeständniß ein seiner Ehre zugemuthetes Opfer. Er wolle niemals „König der Revolution“ werden, erklärte er in einem Briefe an einen Getreuen in Chesnelong, er werde nie auf Bedingungen oder Bürgschaften sich einlassen: „mon principe c’est tout.“

Viele Anhänger der Orleans wollten deshalb auch nach der Fusion lieber „die Republik der ehrlichen Leute“ erhalten als eine monarchisch-klerikale Reaktion heraufbeschwören, und so kam die republikanische Verfassung vom 24. Februar 1875 mit dem Septennat eines Präsidenten zu Stande. Aufs Neue schien eine Entscheidung im Sinn der Royalisten bevorzustehen, als Heinrich V. am 24. August 1883 aus dem Leben schied und der ans Sterbelager nach Frohsdorf geeilte Graf von Paris als Philipp VII. die Huldigung vieler angesehener Legitimisten empfing. Allein eine Gruppe von „reinen“ Royalisten will auch heute nichts von „Egalité IV.“ wissen, und dieser selbst, der durch Dekret des Senats vom 22. Juni 1886 aus Frankreich ausgewiesen wurde und seither in England oder Oesterreich sich aufhielt, scheint nicht so viel Thatkraft zu besitzen, daß er den Versuch wagte, das aus den Fugen gerissene Staatswesen Frankreichs zur alten monarchischen Einheit zurückzuführen.

[124] Wird ein anderer Orleans mächtiger, kräftiger, glücklicher sein? Wer möchte, wenn er erwägt, auf wie schwachen Widerlagen die Republik aufgerichtet ist, dem Programm: Versöhnung der traditionellen Monarchie mit der modernen Gesellschaft, des erblichen Rechts mit dem nationalen! – die Zukunft absprechen? Die Orleans suchen aber heute ihren Vortheil in anderer Empfehlung. Sie wollen die „ersten Patrioten Frankreichs“ sein und glauben die Liebe zum Vaterland am besten dadurch zu beweisen, daß sie als die unversöhnlichsten Feinde der Deutschen sich gebaren. Wird ihnen diese Politik frommen? Wer Wind säet, wird Sturm ernten!




Die Glasschmelzerei in Jena.


Am südwestlichen Ende von Jena erhebt sich auf einem kleinen Hügel eine in Gestalt eines Rechtecks aufgeführte Gruppe langer, von einer hohen Fabrikesse überragter Gebäude. Es ist eine Glasfabrik. Aber nicht eine Glasfabrik, wie es deren so viele bei uns giebt, sondern eine Glasschmelzerei, die einzig in ihrer Art dasteht und ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dient. Es gilt hier in erster Linie, Glas für optische Instrumente darzustellen; sodann andere Glassorten für Thermometer zu bereiten und solche Glasflüsse zusammenzustellen, die für irgend einen wissenschaftlichen Zweck am geeignetsten sind.

Aus diesen wenigen Andeutungen wird ersichtlich sein, daß das, was man im gewöhnlichen Leben als Glas bezeichnet, recht verschieden sein kann.

Der Laie könnte geneigt sein zu glauben, daß ein Glas den Anforderungen der Optik – und solches wollen wir zunächst ins Auge fassen – genüge, wenn es nur vollkommen klar und blasenfrei sei. Gewiß sind dies unerläßliche Bedingungen, aber die Wissenschaft stellt noch ganz andere Anforderungen an jenes durchsichtige Schmelzprodukt, welches seit seiner Erfindung zahlreiche Stufen der Verbesserung durchlaufen und in den letzten Jahren eine so wesentliche Vervollkommnung erfahren hat, daß wir den heutigen Stand der Glastechnik und ihre zielbewußte Methode bewundern müssen, und daß es der Mühe lohnt, sich mit den wichtigsten Aufgaben dieser Kunst bekannt zu machen. Diese Betrachtung fällt aber zum Theil mit der Vorgeschichte des „glastechnischen Laboratoriums zu Jena“ zusammen.

Wer einmal durch ein älteres Fernrohr gesehen hat, wird gewiß sogleich bemerkt haben, daß die Gegenstände von farbigen Rändern umgrenzt erscheinen. Schon für den Gebrauch im gewöhnlichen Leben sind diese farbigen Zonen äußerst störend; für eine wissenschaftliche Benutzung der Instrumente sind sie aber geradezu eine Quelle von Ungenauigkeiten, welche die Zuverlässigkeit der Beobachtungen in enge und äußerst bescheidene Grenzen einschließen. Die Gelehrten und die Künstler waren daher eifrigst bemüht, bald nach Erfindung der Fernrohre und Mikroskope diesen Hauptmangel der an und für sich so großartigen Erfindung zu beseitigen. Aber vergebens. Manche hielten sogar den „Achromatismus“, das heißt die Beseitigung der farbigen Ränder, für unmöglich. Durch den berühmten Mathematiker Euler und den Optiker Dolland wurde jedoch dieses Problem gelöst, im Jahre 1757 stellte Dolland das erste achromatische Fernrohr her. Die Erzeugung achromatischer Bilder besteht im wesentlichen darin, daß man Linsen von verschiedenen Glassorten und von verschiedener Krümmung mit einander vereinigt.

Man darf aber keineswegs glauben, daß nun der Achromatismus vollständig erreicht war. Es blieben immer noch farbige Zonen, wenn auch kleinere. Diese gewannen um so mehr an nachtheiligem Einfluß, als man von den optischen Instrumenten immer stärkere Vergrößerungen verlangte. Gleichzeitig war mit zunehmender Vergrößerung auch ein anderer Uebelstand unzertrennlich verbunden, nämlich der, daß die verschiedenen Farben nicht gleichzeitig zu scharfer Vereinigung in dem Bilde zu bringen waren. Beide Mängel setzten der Vergrößerung ein Ziel, über welches hinaus nur auf Kosten der Schärfe und Naturwahrheit des Bildes gegangen werden konnte.

Diese Unvollkommenheiten nun beseitigt oder wenigstens auf ein äußerst geringes Minimum herabgesetzt zu haben – das ist das Verdienst zweier Männer – Professor Dr. Abbe und Dr. Schott in Jena; und dieses Verdienst bethätigt sich in den Erzeugnissen des „glastechnischen Laboratoriums“ daselbst.

Die eben erörterten Mängel des Glases liegen bei der gegenwärtigen hohen Vollkommenheit der optischen Werkstätten weniger an der Behandlung, als vielmehr an der chemischen Zusammensetzung des Glases. Die Glasarten des Handels bestehen hauptsächlich aus Kieselsäure, Kalk, Kali, Natron und Bleioxyd, also aus einer verhältnißmäßig geringen Anzahl von chemischen Elementen. Aeußerst umfangreiche Untersuchungen von Professor Abbe haben nun gezeigt, daß alle diese Gläser eine gewisse Einförmigkeit in ihrem optischen Verhalten zeigen, und daß die daraus geschliffenen Linsen überhaupt nicht in einem den heutigen Anforderungen entsprechenden Grade achromatisch sein können. Gleichzeitig hat sich aber die interessante Thatsache herausgestellt, daß der Grad der „Achromasie“, das heißt der Farbenfreiheit, ganz wesentlich erhöht werden kann, wenn in den Glasflüssen eine größere Mannigfaltigkeit durch Einführung verschiedener anderer chemischer Elemente herbeigeführt und besonders die Kieselsäure durch Phosphor- oder Borsäure ersetzt wird. Zur Feststellung dieser Thatsachen wurden von Dr. Schott zahlreiche Schmelzversuche im Kleinen ausgeführt und die Produkte von Professor Abbe auf ihre optischen Eigenschaften geprüft. Welche Arbeit diese Versuche machten, mag daraus hervorgehen, daß alle chemischen Elemente, die in irgend einer Verbindungsform ein durchsichtiges, glasartiges Schmelzprodukt liefern können, in den Bereich der Untersuchung gezogen wurden, einer Untersuchung, die bis jetzt über tausend einzelne Schmelzproben als wissenschaftliche Grundlage für die praktische Darstellung des optischen Glases geliefert hat.

Trotzdem im Laufe der Zeit unter der Mithilfe der Firma Zeiß in Jena viele Versuche in größerem Maßstabe ausgeführt wurden, trug doch immer noch die Untersuchung den Charakter einer großen wissenschaftlichen Vorarbeit. Da erfolgte von Seiten hervorragender Gelehrten die Anregung, daß die betheiligten Forscher die fabrikationsmäßige Herstellung des Glases in die Hand nehmen möchten. So groß auch diese Anerkennung war, so unübersteiglich schienen andererseits die Hindernisse, welche sich dem Unternehmen entgegenstellten.

Es ist deshalb ein hohes Verdienst der königl. preußischen Staatsregierung, daß dieselbe durch wiederholte sehr namhafte Subventionen ein Unternehmen ermöglichte, welches für Private allein kaum ausführbar gewesen sein würde. Dieses thatkräftige Eingreifen des preußischen Staates zeigte aber auch, ein wie reges Interesse die höchsten Kreise an dem Zustandekommen eines Instituts nahmen, welches in seiner Branche Deutschland unabhängig vom Auslande machte; denn optisches Glas war bisher fast Monopolartikel zweier ausländischen Glasschmelzereien.

Im Herbst 1884 wurde mit dem fabrikationsmäßigen Betriebe begonnen, und bereits im Sommer 1886 konnte das erste Produktionsverzeichniß ausgegeben werden, welches die verschiedensten Glassorten aufweist. Diese zeigen schon bei ganz oberflächlicher Prüfung große Unterschiede. Während z. B. gewöhnliches Glas 2½ Mal so schwer ist wie Wasser, trifft man hier Gläser an, deren specifisches Gewicht 4 bis 5, ja mehr als 6 beträgt. Daß mit diesen Gläsern eine bisher noch nicht erreichte Vollkommenheit der optischen Instrumente erzielt werden kann, haben zuerst die aus den optischen Werkstätten von Zeiß hervorgegangenen Erzeugnisse bewiesen.

Es darf nicht unterlassen werden zu erwähnen, daß bereits früher, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, von zwei hervorragenden Männern ernstliche Versuche zur Verbesserung des Glases – auch nach seiner chemischen Zusammensetzung – gemacht und von beiden die wesentlichen Punkte, auf die es ankommt, zum Theil richtig erkannt worden waren. Der eine war der berühmte Physiker und Optiker Fraunhofer in München, der überhaupt zuerst brauchbares optisches Glas für größere Linsen dargestellt hat; der andere Harcourt, ein englischer Geistlicher. Wie verdienstvoll auch die Arbeiten dieser Männer waren, so sind doch beide zu keinem Abschluß gelangt, zumal als Fraunhofer von seiner schöpferischen und vielseitigen Thätigkeit durch einen frühzeitigen Tod abberufen ward.

Schon Eingangs unserer Betrachtung war darauf hingewiesen worden, daß das „glastechnische Laboratorium“ unter Anderem auch Glas für Thermometer herstellt. Man könnte meinen, daß ein so häufig gebrauchtes und an und für sich so einfaches Instrument, wie das Thermometer, längst auf einer Höhe stehen müsse, auf der es kaum noch einer Verbesserung fähig sei. Aber dem ist nicht so. Die Physiker wissen schon längst, daß das Thermometer – wenn von demselben einigermaßen genaue Angaben verlangt werden – ein unzuverlässiges Instrument ist. Diese Unzuverlässigkeit besteht darin, daß der Eispunkt bald nach der Verfertigung des Thermometers ansteigt, nach Einwirkung hoher Temperaturen aber wieder sinkt, um dann innerhalb längerer oder kürzerer Zeit wieder auf die frühere Höhe anzusteigen. Diese Schwankungen, welche bis zu einem ganzen Grad betragen können, bezeichnet man als „thermische Nachwirkung“. Es ist klar, daß genaue Temperaturmessungen keineswegs leicht sind und häufige Kontrole des Thermometers verlangen.

Die Erfahrung hat nun gezeigt, daß die Größe der thermischen Nachwirkung von der chemischen Zusammensetzung des Glases abhängt. Bei reinem Kali- oder reinem Natronglas ist die thermische Nachwirkung viel geringer als bei einem Glase, in welchem Kali und Natron zugleich enthalten sind. Dies erklärt die auffallende Erscheinung, daß ältere Thermometer oft zuverlässiger sind als die in neuerer Zeit angefertigten. Früher bediente man sich nämlich zur Herstellung der Thermometer des schwer schmelzbaren Kaliglases. Da aber dieses vor der Lampe schwierig zu bearbeiten ist, so ging man später zu dem leicht flüssigen Kalinatronglas über. Ohne es zu ahnen, verschlechterte man damit die Qualität der Thermometer.

Das „glastechnische Laboratorium zu Jena“ stellt nun Glasflüsse zusammen, deren thermische Nachwirkung zwar nicht Null ist, aber doch ein bisher nur ausnahmsweise erreichtes Minimum beträgt. Die kaiserliche Normal-Aichungskommission in Berlin hat eingehende Untersuchungen mit Thermometern aus sogenanntem „Jenaer Normal-Thermometerglas“ vorgenommen und laut den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften zu Berlin die günstigsten Resultate erhalten.

Es würde uns zu weit führen, die einzelnen anderen wissenschaftlichen Zwecke zu erörtern, für welche das „glastechnische Laboratorium“ thätig ist. So viel ist aber wohl schon aus den hier angedeuteten wichtigsten Zielen dieser Anstalt ersichtlich, daß das „glastechnische Laboratorium zu Jena“ ein Institut von hoher Bedeutung ist. Es ist hervorgegangen im friedlichen Wettstreit der Völker als ein Preis deutscher Gelehrsamkeit und deutschen Fleißes. Möge es unter dem Schutze eines großen Staates eine wissenschaftliche Großmacht werden!

Dr. O. Kleinstück.

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Josias.

Eine Geschichte aus alter Zeit von Fanny Lewald.

Den Josias hatte ich gekannt, so lang ich denken kann; und weil ich ihn sehr lieb gehabt und hoch geschätzt, will ich, da er nun lange todt ist, zu meiner Befriedigung von ihm schreiben, weil ich nicht mehr mit ihm sprechen kann. Mag die Blätter denn einmal lesen, wem sie in die Hände kommen werden. Es leben jetzt in unserem Zeitalter, in welchem die Menschen alle durch einander gewürfelt und an einander abgeschliffen werden wie die Kiesel am Seestrand, wohl nicht mehr Viele, die eigenartig sind, wie er’s gewesen!

Mit diesen Worten fing die Erzählung in dem Tagebuche von Tante Franziska an, und die Seite trug das Datum vom zehnten September achtzehnhundertachtundsechzig. Die Schreiberin war damals selbst den Sechzigern nahe gewesen.

Den Josias also hatte ich gekannt, so lang ich denken konnte, und ich habe aus meinen frühesten Tagen ein deutliches Bewußtsein. Unser Vater hatte von seinem Vater die großen Seidenfabriken an der Oberspree nach Köpnick zu ererbt, wo damals noch ganz freies Feld gewesen ist. Dorthin zogen wir immer in den Sommermonaten, und da sich an die Fabriken unser großer Garten anschloß, so war es ein angenehmer Aufenthalt; denn von Dampfmaschinen und von der durch den Dampf verdorbenen Luft war noch gar keine Rede. Die Luft war frisch; die Wiesen an der Spree waren voll Blumen; und still war es da draußen, wenn die Arbeitsstunden vorüber waren, wenn die Webestühle und die Spulen nicht mehr rasselten, grade wie auf einem einsamen Dorfe tief im Lande.

Der Zierbrunnen auf dem Postplatz zu Görlitz.
Nach einer Photographie von E. Encke in Görlitz.

Den Winter aber verlebten wir in dem Hause in der Stadt, in welchem das Verkaufsgeschäft betrieben wurde, und der Josias, dessen Voreltern zugleich mit den unsern und mit den anderen vertriebenen Hugenotten zusammen aus Frankreich ausgewandert und in Preußen aufgenommen worden, war immer zu uns gekommen, draußen in der Fabrik sowohl als in der Stadt. Die französische Kolonie hatte immer gut zusammengehalten, seit sie unter dem preußischen Adler eine neue Heimath gefunden, und die Einzelnen hielten auf sich selber, die Bürgerlichen, die zum Theil große Fabrikanten geworden waren, wie die Adligen in der Armee und unter den Beamten. Vom General herunter bis zum Tanzmeister und Coiffeur nannten sie sich alle noch Refugiés und waren sie alle sammt und sonders aus ungerecht und grausam vertriebenen Franzosen geachtete und treue Preußen geworden. Es hatte ein gut Theil von ihnen mitgefochten in den Freiheitskriegen und die Viktoria nach Hause bringen helfen, welche Napoleon fortgeschleppt nach Frankreich. Sie stand schon wieder auf dem Brandenburger Thor in der Zeit, von der ich rede; und ich war achtzehnhundertsechzehn sieben Jahre alt.

Wenn der Josias kam, so meldete das Mädchen ihn immer als den Herrn Kassenrendanten an.

Was ein Kassenrendant bedeutete, das wußte ich zwar nicht; aber ich zerbrach mir darüber auch weiter nicht den Kopf, obwohl ich ein nachdenkliches Kind gewesen bin. Ich hatte schon oftmals lang darüber gegrübelt, wo der liebe Gott eigentlich hergekommen sei und wo er gewohnt habe, ehe er die Welt geschaffen, während ich nach rechter Kinderart über alle mich zunächst umgebenden und meine Welt ausmachenden Dinge und Menschen noch niemals nachgedacht. Es war ja unser Haus, in dem wir wohnten; es waren unser Vater und unsere Mutter, die Onkel, die Tanten, der Doktor, und Der und Jener und der Josias! Das verstand sich alles ganz von selbst; das war wie es war.

Der Vater, der damals in der Mitte der Dreißig stand, nannte den Josias Du, obschon der Josias zwölf, dreizehn Jahre voraus hatte vor ihm. Die Mutter hieß ihn, wenn sie zu ihm redete: lieber Courville, und wenn sie von ihm zu uns Kindern sprach, den guten Josias! – und gut war er zu Jedermann. – Mich aber zog er doch den andern Geschwistern vor, und wenn er mit mir scherzte und tändelte, nannte er mich Franull.

Als ich ihn einmal gefragt, weshalb er das thue, hatte ich die Antwort bekommen, jenseit der Oder und der Weichsel, wo nicht mehr Deutsche, sondern Slawen wohnten, sage man nicht Franziska, sondern Franull, und das klinge gut und den Namen habe er gern. Was Slawen wären, wußte ich freilich auch nicht, es war mir aber auch einerlei; denn da bei solchen Gelegenheiten immer eine oder die andere Näscherei für mich abfiel und ich doch eben das Fränzchen war und blieb, so ließ ich mir die Franull gefallen; nur daß ich eines Tages die Frage aufwarf: „Aber Du? Warum heißt Du denn Josias? Das ist ja gar kein Name! So heißt ja gar kein anderer Mensch! Warum heißt Du denn Josias?“

Meine Mutter sagte, er heiße, wie sie glaube, so nach seinem Herrn Pathen; einer der Hausfreunde bemerkte jedoch scherzend: „Er heißt so, weil er überhaupt anders ist als Andere, weil er ein Original ist.“

„Ein Original?“ wiederholte ich. „Er ist ja ein Kassenrendant!“ und wie gesagt, ich verband mit dem einen wie mit dem andern Worte keinen Begriff.

Das Lachen, das ich erregte, machte mich aber dreister. „Was thut denn ein Original?“ erkundigte ich mich.

[126] „Es ist originell, wie Du, meine kleine Franull mit den großen blauen Augen!“ entgegnete mir Josias. Dabei hob er mich auf und küßte mich. Die Mutter jedoch machte dem Spaß ein Ende und schickte mich in die Kinderstube, weil ich nicht so viel sprechen, so viel fragen sollte; und ich hatte zu gehorchen.

Inzwischen fing ich mir den Josias zu überlegen an. Dabei kam ich darauf, daß er wirklich ganz anders als die Andern war. Ich wunderte mich, daß ich das nicht längst bemerkt. Ich entsann mich, wie der Vater einmal gesagt, daß der Josias ein sehr schöner junger Mann gewesen sei, daß der Adel seiner Gesichtsformen, die Feinheit seiner Züge noch unverkennbar wären, obschon er durch sein Wohlleben zu stark geworden sei.

Vom Adel der Gesichtsformen, von der Feinheit der Züge merkte ich nichts. Ich sah nur, was ich immer gesehen, daß der Josias auffallend groß und stark war, daß er, obschon er ja nicht mehr jung war, einen wahren Wald von hellbraunem, lockigem Haar auf seinem Kopfe trug, daß ein voller kurzer Backenbart seine breiten Wangen umrahmte und daß er ein Doppelkinn bekommen hatte. Aber seine schönen dunkeln Augen, seine freundlichen Mienen waren mir vertraut und über seine kleinen Hände und Füße hatte ich mich aus freien Stücken früher schon gewundert. Wenn er ruhig dasitzend seine Hände über den Leib gefaltet hielt, hatte ich manchmal gedacht, ob das denn wirklich seine Hände wären; und ebenso, wie er es nur anfange, seinen großen, schweren Körper auf den kleinen Füßen fort zu bringen. Er ging jedoch rasch und leicht und trug sich aufrecht mit freier Hauptbewegung.

Auf seine Hände und Füße war er aber auch sehr stolz. Der Zeigefinger der rechten Hand war mit einem Siegelring geziert, den einer seiner Vorfahren aus Frankreich mitgebracht haben sollte, und der ihm ebenso als Familienerbstück wie um des schön geschnittenen Steines willen werthvoll war. An dem kleinen Finger der andern Hand hatte er einen hellglänzenden Brillantring, und in Gesellschaft erschien er immer mit seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen. Er kleidete sich überhaupt nicht wie die anderen Männer nach der damals aufgekommenen, bequemen englischen Mode, sondern so, wie es vorher in Frankreich Brauch gewesen war. Sie nannten es damals bei uns in Deutschland á la Werther: im blauen Frack, in Kniehosen, kurzen Stiefeln und weitem Hemdenkragen; wobei es ihn nicht anfocht, daß er damit in Gesellschaft und mehr und mehr auch auf der Straße auffiel.

Als einmal bei uns ein Fremder darüber eine spottende Bemerkung machte, entgegnete ihm mein Vater, Herr Courville sei allerdings in gewissem Sinne ein Sonderling, ein Original, aber ein so durchaus ehrenwerther, unterrichteter und vortrefflicher Mann, daß man ihn in seinen kleinen Grillen gewähren lassen müsse.

Nun hatte ich es also endlich ganz heraus! Ein Original war ein vortrefflicher Mensch, der Grillen hatte und den man gewähren lassen müsse. Warum auch nicht? Seine Schuhe und Schnallen und seidenen Strümpfe thaten ja Keinem was zu Leide, und er that Allen zu Liebe, was er nur wußte und konnte.

Je älter ich wurde, um so bessere Freunde wurden wir, wenngleich meine Vorstellungen von Josias immer öfter wechselten. In der Zeit, in welcher ich anfing, die preußische Geschichte zu lernen und die Reihenfolge der Kurfürsten und Könige mit Selbstbewußtsein am Schnürchen herzuzählen, war er mir eine Zeit lang zu einer historischen Person geworden, weil sein Vater eine Domäne des alten Fritz verwaltet hatte, weil einer von Ziethen’s Husaren, der Major Graf Josias v. Dubimin, sein Pathe gewesen war, und weil der alte Fritz, als er die Domäne einmal besucht, mit dem kleinen Josias gesprochen und ihm für sein dreistes Antworten einen Dukaten geschenkt hatte, den er dann zum Andenken an den großen König unter den andern Berloks an seiner Uhr trug.

Dann wieder hatte er mich angezogen, weil er im Gespräch bisweilen schöne Verse anführte, in welchen von Liebesleid und Liebesfreud’, von Tod und Seligkeit die Rede war. Man nannte ihn und diese Verse sentimental. Sie klangen aber gut, ich behielt sie gut; und da Josias doch einmal ein Original war, das Grillen haben durfte, so konnte er ja auch die Grille haben, sentimental zu sein, wenn’s ihm gefiel. Ich hätte nur gern wissen mögen, weshalb er eben ein Original geworden sei.

Einmal, als eine größere geladene Gesellschaft bei uns versammelt war, erschien natürlich auch Josias in aller seiner Pracht. Bei seinem Eintreten war von irgend einer neu übersetzten indischen Dichtung die Rede, von der Seelenwanderung, wie die Inder sie sich vorwärts- und rückwärtsbildend gedacht; und mein Vater bemerkte scherzend, er werde danach wohl an einen geheimen Zusammenhang zwischen sich und den Elefanten denken müssen, weil ihm der Reis fast die liebste Speise sei.

Daß mein schöner, schlanker Vater so etwas von sich sagen konnte, das verdroß mich; aber wie ich mir den Josias darauf ansah, dachte ich, daß der wohl von solchen gutmüthigen Riesenthieren stammen könne; und während das Märchenhafte jener religiösen Vorstellung meine Phantasie lebhaft beschäftigte, blieb mein Auge den Abend, als hätte ich es nicht allezeit gesehen, an dem kleinen goldenen Ohrring haften, den Josias in dem linken Ohre trug, und ich fand das plötzlich lächerlich; denn außer bei den Schiffsknechten, welche die Kähne draußen bei uns am Spreeufer vorwärts stießen, und bei einzelnen Handwerkern hatte ich an Männern einen Ohrring noch nicht wahrgenommen. Kaum also entstand eine Pause in der Unterhaltung, so hielt ich mit der Frage nicht zurück: „Josias! nimm’s nicht übel, Du bist ja doch kein gemeiner Mann; weshalb trägst Du denn den Ohrring?“

„Das thut unser guter Josias wohl seiner Augen wegen!“ bedeutete mich die Mutter an seiner Statt, „es ist gut gegen Augenschmerzen.“

„Nein, Madame! nein!“ fiel Josias ihr aber ins Wort. „Wozu eine Unwahrheit in diesem Falle? – Meine Augen sind gesund, mein Kind! Der Ohrring ist ein Souvenir, eine Gage d’amour!“

Und wieder fand ich mich vor einem Räthsel! – Es war, das merkte ich, kein Fertigwerden mit Josias! Wie konnte meine Mutter sagen, daß ein Souvenir, eine Gage d’amour, ein Mittel gegen kranke Augen sein sollte? Aber in der That hielt man damals das Tragen eines Ohrringes noch für ein Heilmittel gegen manche Kopfbeschwerden; ich hatte es nur unter unseren Bekannten nie gesehen. Und während also mein Freund mir komisch vorkam mit seinem Ausputz, gewann er doch an dem Abende wiederum einen Stein bei mir im Brett; denn weil es mich bereits verdroß, wenn man mein allerdings oft ungehöriges Gefrage mit Ausflüchten und Halbheiten abspeisen wollte, wußte ich es dem guten Josias doppelt Dank, daß er dies nicht zugegeben und mir die ehrliche Wahrheit gesagt hatte.

Seine Wahrhaftigkeit hatte ich übrigens auch sonst schon rühmen hören, wie denn alle nur Gutes von ihm sagten. Man nannte ihn einen erprobten Landwirth, obschon er kein Gut besaß, sondern das von seinem Vater ererbte verkauft hatte. Einen tüchtigen Geschäftsmann hießen sie ihn, aber er betrieb kein eigenes Geschäft. Er lebte als ein reicher Privatmann in seinem schönen Hause, unfern von dem Predigerhause der französischen Kolonie, und machte von seinen Zinsen einen guten Gebrauch. Er war wohlthätig für die Armen, verwaltete als Rendant die Armenpflege der französischen Gemeinde unentgeltlich und übte in weitem Kreise eine feine, vornehme Gastlichkeit aus.

Er war eben ein ganz vortrefflicher Mann; nur der Ohrring hatte mir in dem Uebermuth meiner Jugend den guten, sentimentalen Elefanten nun einmal komisch gemacht, und den Eindruck wurde ich eine Zeit hindurch nicht los, wie sehr die Männer Josias auch achteten, wie gern die Frauen auch mit ihm verkehrten.

Von den Frauen aber verdiente er das allerdings in höchstem Grade, denn kaum ein Anderer war gegen sie so aufmerksam wie er; und man lebte damals doch noch in den Zeiten, in welchen die Männer um die Gunst der Frauen sich durch Zuvorkommenheit gegen sie und ihre Neigungen und Wünsche bemühten, während heut zu Tage die Rollen allmählich gewechselt zu werden scheinen und es die Männer sind, welche immer mehr von den Frauen umworben werden, die ihnen zu gefallen streben.

Man mußte den Josias an den großen Ehrentagen sehen! An dem Geburtsfest meiner Mutter, an dem Hochzeitstage meiner Eltern, oder beim Jahreswechsel! Der Hausfrau bei solchem Anlaß nicht mit einem schönen Strauße aufzuwarten, ihr zum Neujahr nicht einen jener künstlich gemalten Neujahrswünsche zu überreichen, der, mehrfach zu ziehen, jedesmal eine Ueberraschung in galanten Versen und Sinnbildern enthüllte: das hätte Josias sich nicht verziehen; und wie für unsere Mutter [127] war er aufmerksam auch für die Frauen seiner anderen Freunde. Er war dann womöglich mit doppelter Sorgfalt gekleidet. Sein Taschentuch duftete nach eau de mille fleurs, seine Handschuhe waren von leuchtender Weiße. Er hielt den Strauß oder den Neujahrswunsch so behutsam zwischen den beiden Fingern, als sei es eine Ehre für ihn, das Geschenk zu berühren, das huldigend darzubringen er gekommen war; und die Art und Weise, in welcher er dann die Hand der von ihm verehrten Frau an seine Lippen drückte, während er seine schönen braunen Augen zu ihr erhob, war ihm auch ausschließlich zu eigen. – Jetzt in der Erinnerung kommt mir das Alles schön und rührend vor, wenn es den Jungen auch altmodisch erscheinen mag; ich bin ja aber auch schon altmodisch geworden! Und besser als das zutappsige Handschütteln, mit welchem heut zu Tage die Männer den Frauen, alt und jung – sie nennen es à l’anglaise – so zu sagen: „auf Du und Du“ begegnen, war die alte Mode formvoller Huldigung gewiß! – Daß der Josias es dabei vielleicht ein wenig übertrieb, weil er ein Original war, dafür konnte er ja nicht.

Aber – noch einmal, weshalb war er ein Original geworden? Die Frage beschäftigte mich um so mehr, je mehr ich heranwuchs, und Niemand gab mir darauf Antwort.




Inzwischen gingen die Tage und die Jahre ihren Lauf! Wir waren in das Jahr achtzehnhundertneunundzwanzig gekommen. – Ich war aus einem Kinde ein Mädchen von fast zwanzig Jahren und, wie es im Geiste jener Zeit lag, auch ein recht schwärmerisches Mädchen geworden. Kein Gedicht war mir zu überschwänglich, kein Roman zu romanhaft. Ich ließ mir herzlich gern den Hof machen und obschon ich eine Unvermählte geblieben bin, hat es mir an Verehrern und Bewerbern nicht gefehlt. Ich sah – ohne Eitelkeit zu vermelden – gar nicht übel aus; unsere Familie war geachtet, und man wußte, daß unser Vater mich nicht nackt und bloß in die Ehe geben würde. Aber wie das mit mir gekommen ist, daß ich trotzdem nicht geheirathet habe, daß ich eben Tante Fränzchen, Mamsell Fränzchen und allein geblieben bin, das hat mit dem Josias nichts zu thun; das steht auf einem andern Brette, und also hier davon nichts weiter.

Dazumal, um achtzehnhundertneunundzwanzig – ich entsinne mich des Jahres ganz genau, denn der Vater hatte, damit wir an das Wasser heran könnten, grade das Stück Wiesenland gekauft, das die Fabrik und unseren Garten von der Spree abtrennte, und hatte gleich zwei schöne Boote für uns angeschafft – dazumal kamen viele Gäste in unser Haus und es ging lustig bei uns her. Ich tanzte leidenschaftlich gern; mir war dann zum Fliegen leicht ums Herz; ich weinte jedoch fast noch lieber meine heißen Thränen mit allen unglücklich Liebenden in der Poesie und Wirklichkeit; und da ich im Uebrigen verständig war, die Eltern sich auf meine Vernunft und Sittlichkeit verlassen konnten und schlechte Bücher nicht im Hause gehalten wurden, so hatte ich freie Wahl für meine Leselust und durfte meinen empfindsamen Neigungen freien Lauf lassen.

Ich hatte gute Tage. Die Eltern, die Freunde liebten und lobten mich, und der Josias wiederholte es immer, „seine schlanke Franull sei recht ein Mädchen nach seinem Herzen!“

Grade in dem Jahre jedoch war er zum ersten Male krank gewesen. Er hatte einen Anfall von Podagra gehabt, und es war verabredet, daß er nach seiner Rückkehr von Teplitz, wohin er zur Kur gegangen, zu uns in den Garten kommen und den Rest des Sommers zu seiner Erholung bei uns verbringen sollte. Als dann endlich am Ende des Juli unser Freund, von uns allen ersehnt, von seiner Reise bei uns anlangte, hatten wir zu gewahren, daß äußerlich eine Wandlung mit ihm vorgegangen war, durch die er nicht verloren, sondern eher gewonnen hatte, während er in seinem Innern ganz derselbe gute Josias geblieben wie vorher.

Der Arzt hatte es ihm nämlich zur Pflicht gemacht, eine Kleidung, seinen Jahren angemessen, zu tragen, sich, seines Podagras wegen, zu der üblichen Tracht zu bequemen, weil sie die wärmere sei, und Josias ging denn nun gekleidet wie alle anderen Männer, so daß man es nicht mehr nöthig hatte, beständig seine Absonderlichkeit gegen solche Leute zu erklären und zu vertreten, die mit ihm zum ersten Male in Berührung kamen. War es doch zuletzt auch mir, so lieb ich ihn hatte, nicht mehr angenehm gewesen, mit ihm durch die Straßen zu gehen, weil die Menschen ihn so verwundert betrachteten, die Kinder mit den Fingern auf ihn weisend vor ihm stehen blieben; und wenn er es auch vielleicht sich selber nicht recht eingestand – Gott verzeih mir’s, falls ich ihm Unrecht damit thue – ich glaube, es war ihm am Ende gar nicht unlieb, daß er in die große Masse versinken mußte. Man kann ja unter einem Kreuz, das man mit Begeisterung auf sich genommen hat, doch allmählich müde werden.

Daneben sah der Josias, der nun an das Ende seiner Fünfziger angelangt war, im langen Ueberrock, mit langem Beinkleid und mit den feinen, schönen Klappenstiefeln bei seiner Gestalt weit besser als vordem aus. Jedweder mußte es jetzt sagen, daß er noch ein schöner Mann sei, und er hätte nicht eben ein schöner Mann sein müssen, hätte er an dem Wohlgefallen, das er erregte, nicht eine gewisse Freude haben sollen.

Es war von dem Augenblicke ab, da er zu uns hinauf gezogen war, von der Mutter festgestellt, daß ich im Besonderen für ihn sorgen solle. Ich hatte mich deshalb mit seiner Haushälterin in Verbindung gesetzt, damit ihm alles bereitet werden konnte, wie er es bei sich gewohnt war; und es verstand sich also auch von selber, daß ich zu Hause blieb, ihm Gesellschaft zu leisten, als die Eltern an einem Sonntage nach Charlottenburg gefahren waren, der Einladung einer befreundeten Familie zu einem Mittagbrot zu folgen.

Als ich dann mit meinem Gaste und mit den Geschwistern unser Mahl eingenommen für Josias den Kaffee gemacht und er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, ging ich hinunter nach dem mit Geißblatt umrankten Gartenhäuschen, das der Vater unten dicht am Wasser hatte errichten lassen, und das, wie die Mode es mit sich brachte, schön mit chinesischen Tapeten ausgeschlagen war.

Indeß ich sah weder die schlitzäugigen Schönen, noch die langzopfigen Mandarinen, die mit ihnen in Reih und Glied unter den fremdartigen Blumenbüschen saßen. Was gingen die mich an?

Ich hatte mir aus der Eltern Bücherschrank den heiß geliebten „Werther“ wieder einmal hervorgeholt, und die Hoffnung schwellte mir das Herz, mich den ganzen langen Nachmittag, so tief ich wollte, in die Poesie von „Werther’s Leiden“ hinein versenken, seine letzten Worte lesen, sein Geschick beweinen und nebenher Lotte verdammen zu können, die solcher Liebe gar nicht werth gewesen war. – Und alt, wie ich heut zu Tage bin, fühle ich es auch jetzt noch nicht viel anders! – Gott! hätte mich Einer in meinen jungen Tagen so geliebt, Vater und Mutter und Heimath und Geschwister und meinen guten Namen hätte ich geopfert, nicht nur einen Bräutigam, der nichts weiter war als ein ordentlicher Mensch, als einer von den Bräutigams, mit denen man sich verheirathet, wenn es grad’ so paßt und man nichts Besseres zu thun hat.

Ich hatte denn auch, ich weiß nicht zum wievielten Male, das Ende des Romans gelesen, hatte in der Andacht voller Zärtlichkeit die Hände über dem Buche gefaltet und sah in den Abend hinaus, der sich still über die Wiesen und das Wasser und weit hinaus über die jenseitigen Fluren zu verbreiten begann, als Josias, vom Hause kommend, in das Gartenhäuschen eintrat.

„Nun!“ rief er mich an, „was hast Du den Nachmittag gethan, mein Schatz?“

„Ich habe gelesen!“ entgegnete ich, das Buch zur Seite legend.

„Und was?“ fragte er, indem er es zur Hand nahm. Als er dann den Titel gesehen, blickte er mich an und sprach: „Wirst Du denn gar nicht damit fertig?“

Der Ton des Spottes, mit welchem er das sagte, fiel mir auf; denn ich wußte, wie sehr er Goethe bewunderte und wie er selber sich oft genug Rath und Erholung aus ihm holte; aber er ließ mir zum Fragen keine Zeit.

„Es springt keiner, wie die Minerva, gleich fix und fertig aus dem Haupte Jupiters. Jeder begeht seine Jugendsünden, und wohl ihm, wenn er allein und nicht andere sie zu büßen haben!“ sagte er. „So ist denn auch der ‚Werther‘ eine von Goethe’s schweren Jugendsünden!“ Darauf hielt er einen Augenblick inne und setzte dann hinzu. „Aber werde Du mir nicht schwachherzig oder gar empfindsam! – Weil Du ein so frisches, ehrliches Kind gewesen bist, habe ich Dich lieb gehabt vor allen Anderen! Empfindsam darfst Du mir nicht werden, denn Empfindsamkeit ist eine Schwäche, die ungerecht macht gegen die Starken; und vollends Thränen weinen um –“

„Um ein unglücklich liebendes Herz soll man nicht weinen?“ fiel ich ihm in die Rede, meinem Ohr nicht trauend.

[128] „Man soll nicht weinen über einen Deserteur!“ entgegnete er bestimmt, mir das Wort abschneidend.

Ich sah ihn an, als stände ein Fremder vor mir; aber gutmüthig, wie er ja immer war, mochte er fühlen, daß er mich erschreckt, mir wehe gethan, und mit milderem Tone setzte er hinzu: „Wer selbstsüchtig nur an sich denkt, wer flüchtet vor dem Feind, dem Schmerz, der vor ihm steht, statt ihm die Stirn zu bieten und sich, wenn auch schwer verwundet, zu behaupten in Reih und Glied mit denen, zu denen er gehört und die zu ihm gehören, der ist ein Feigling und ein Deserteur! Nichts mehr, nichts weniger! Er salvirt sich und fragt nicht nach den Anderen! Er wirft sein Leben, das er nützen sollte, ehrlos von sich und fragt nicht darnach, wie schwer er das Leben der Andern belastet, die besser sind und muthiger als er. Leben kann in manchem Augenblicke schwerer sein als sterben. Glaube das!“

Ich kannte ihn nicht wieder, ich kannte mich selbst nicht wieder! Es war mir, als wäre ich zehn Jahre älter geworden, als habe er mich emporgehoben, um mich ihm näher zu bringen, und diese Stunde benutzend, faßte ich mir ein Herz.

„Josias!“ sagte ich, „Du bist doch selbst empfindsam! Du trägst noch heute das Souvenir am Ohre, das mir als Kind schon zu denken gegeben. Du hast, ich bin deß sicher – Du hast geliebt – hast unglücklich geliebt.“

„Du irrst Dich nicht!“ sprach er, und seine schöne wohlklingende Stimme wurde wieder mild. „Du irrst Dich nicht! Ich habe eine leidenschaftliche, eine unglückliche, wenn schon erwiederte Liebe gehabt – aber wenn sie auch entschieden hat über mein ganzes Leben – ich habe kein fremdes Glück zerstört. Ich habe es nicht von mir geworfen, das Leben, so weh es mir gethan; ich habe getrachtet, daraus für andere zu machen, was ich konnte, und – ich bin der Liebe treu geblieben, die dereinst in flüchtiger Stunde mein ganzes Glück gemacht.“

Und wieder hielt er inne, und ich hatte mich zu sammeln. – Wie wenig hatte ich ihn gekannt, den Mann, unter dessen Augen ich gelebt seit meinem ersten Athemzuge! Und kannten ihn die Andern mehr? Wußten mein Vater, meine Mutter mehr von ihm, als die Anderen alle, und als ich?

Sein halbes Bekennen hatte mir Muth gegeben. „Und sie lebt, die Du geliebt hast?“ fragte ich.

„Ja! sie lebt!“

„Und sie ist glücklich?“

„Sie lebt an ihres Gatten Seite, im Kreise ihrer Kinder, geliebt und hochgeehrt.“

„Aber Du?“

„Die wahre Liebe denkt nicht an sich! – Mein Herz ist zeitig still geworden – mein Gewissen auch! – Und ich bin nicht verlassen. Ihr alle liebt mich ja!“

„Alle! Alle!“ rief ich, „und von Herzen! Aber wenn Du mich liebst, mich, die Du Franull genannt, weil Deine Geliebte so geheißen – sage mir, wer war sie? Wo hat sie gelebt? Und warum hast Du sie nicht erwerben, nicht zur Frau gewinnen können?“

Er strich mir mit seiner feinen Hand über das Haar, sah dann nach Westen, nach dem Sonnenuntergang hin. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Vom Thurme der Klosterkirche schlug es sieben Uhr; ihr Glockenspiel tönte freundlich zu uns herüber.

„Wir haben noch mehr als drei Stunden vor uns, ehe die Eltern von Charlottenburg zurückkehren werden,“ sagte er, „und das, was Du aus Zuneigung zu mir zu hören wünschest, ist rasch erzählt. Dies hat noch kein Ohr vernommen. Dir soll es vertraut sein, eben weil Du jung bist. So lang Du leben wirst, werden wir fortleben in Deinem Gedächtniß, Franull und ich. Es ist ein Stückchen irdischer Unsterblichkeit, das ich mir und unserer Liebe sichere. – Komm’, setz’ Dich her zu mir, wo das Licht nicht blendet! Und nun höre zu!“

(Fortsetzung folgt.)     




Allerlei Nahrung.
Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
V. [1]Schildkröten.

Wir speisten während der Sitzung des internationalen anthropologischen und prähistorischen Kongresses in Kopenhagen bei einem der Großhändler der dänischen Residenzstadt, beiläufig gesagt unendlich viel besser als bei „Königs“, wo wir Tags vorher eingeladen gewesen waren. Einem Kommerzienrathe, Finanzbarone stehen ganz andere kulinarische und gastronomische Hilfsquellen zu Gebote, als einer regierenden Majestät, die einen Hofmarschall für Dinge sorgen lassen muß, welche der Kommerzienrath, zumal wenn er Liebhaber ist (und das sind sie alle), selber besorgt. Die Tafel im königlichen Schlosse war gut und die Gäste bei aller Ehrfurcht heiter und ungezwungen; aber bei dem Kommerzienrath war man noch heiterer; denn es servirten keine Läufer in krebsrothen Röcken, die eben so viele Mühe hatten, ihre mit künstlichen, sehr verknitterten und abgeblaßten Blumen verzierten Kopfbedeckungen zu balanciren, welche den hohen Mützen der Grenadiere Friedrich’s des Großen glichen, als die großen silbernen Schüsseln zu hantiren, mit welchen sie kaum zwischen die Gäste einfahren konnten: so breit und wuchtig waren sie.

Ich saß bei Kommerzienraths (bei Königs war ich als Vicepräsident des Kongresses Respektsperson und Cavaliere servente einer Prinzessin) in der Nähe des großherzoglich mecklenburg-schwerinschen Geheimen Archivrathes Lisch, eines gemüthlichen alten Herrn, der große Sammlungen zusammengebracht und beschrieben hat und glücklicherweise der Hilfe einer Haushälterin oder Unterdirektorin seines Museums sich erfreuen konnte, die weniger Wissen und Enthusiasmus, aber mehr Kritik besaß, als ihr Herr und Meister. Lisch nahm alles unbedenklich für bare Münze an, was man ihm sagte, besonders wenn er bei Tische saß und durch Speise und Trank seine jovialen Lebensgeister erweckt hatte.

Es wurde Schildkrötensuppe aufgetragen, echte Schildkrötensuppe, nicht jenes apokryphe Gebräu aus Pfeffer, Kalbskopf und Ochsenschwanz, welches unter dem Namen „Mockturtle“ bekannt ist und sich zu der echten Schildkrötensuppe verhält wie Aepfelwein zu Traubenwein. Es soll dies keine Verunglimpfung sein; ein gut behandelter Hohenastheimer aus reifen Borsdorfer Aepfeln kann oft, meistens sogar besser munden als Grüneberger Schattenseite. Aber der Kommerzienrath hatte für eminent frische Schildkröten gesorgt und die Zubereitung war vorzüglich, ganz jenem Niveau entsprechend, das sich bei einer Gesellschaft herausbildet, die aus allen Kulturländern der Welt zusammengemischt ist.

Als Zeichen der Echtheit hatte man Fleischstücke mit Knochen in der Suppe gelassen, und so fand ich denn auf dem Grunde meines Tellers ein Stück des knöchernen Brustpanzers, der bei der eßbaren Seeschildkröte in fingerartige Fortsätze ausläuft und einem grobzinkigen Kamme nicht unähnlich sieht. Der Knochen war dunkelbraun mit glänzender Oberfläche, von der Farbe, welche im Torfe aufgefundene Gegenstände zeigen. Ich putzte ihn sauber und reichte ihn meinem Freunde Desor, der mir schräg gegenüber saß, mit den Worten: „Ein prähistorischer Kamm!“

Desor lachte, Lisch aber fuhr auf: „Was? Zeigen Sie! Woher haben Sie ihn?“

„Warum bringst Du den Knochen erst jetzt vor?“ sagte Desor, der sofort auf den Spaß einging, „Du nahmst ihn ja doch ausdrücklich mit, um ihn Lisch zu zeigen und seine Meinung darüber einzuholen! Wir sind im Streite,“ fuhr Desor fort, „Vogt und ich, über die Bedeutung dieses in der Pfahlbaute von Robenhausen gefundenen, offenbar von Menschenhand bearbeiteten Knochens. Vogt hält das Instrument für einen Kamm; ich bin der Meinung, daß es als Hechel gedient habe, um die Leinknotten, wie wir sie in der Wetterau nennen, von den Flachsstengeln abzureißen, aus welchen die Pfahlbauern der Steinzeit ihre Gewebe machten. Wenn sie Flachsbrecher und Webstühle hatten, müssen sie auch Flachshecheln gehabt haben. Was meinen Sie, Lisch? Entscheiden Sie!“

Lisch entschied zu meinen Gunsten; ich schenkte ihm zum Danke das Unikum, das er sorgfältig in Papier einwickelte und in der Brusttasche barg. Der gute Alte war selig bis zum andern Morgen, wo einige höchst ernsthafte Wissenschaftler beim

[129]

Der kleine Ungeschickte.
Nach dem Oelgemälde von Anton Rotta.

[130] Katzenjammerhering seine Illusionen mit rauher Hand zerstörten und die Schildkröte in ihr Besitzrecht einsetzten.

Sogar in einer so berühmten Seestadt, wie Schwerin, war demnach die Schildkröte als Nahrungsmittel vollständig unbekannt im Anfange der siebziger Jahre. Ob sie seither bis dorthin vorgedrungen ist, darüber habe ich keine positiven Nachrichten erhalten können, möchte es aber bezweifeln; denn auch in Bremen und Hamburg, zwei Plätzen, die leckere Bissen bezahlen können, und selbst in Paris ist sie ein seltener Gast. Wer vollauf echte Schildkrötensuppe essen will, muß nach London oder New-York gehen, wo die großen Thiere ein gewöhnlicher Artikel auf dem Markte sind. Es ist mir schon vorgekommen, daß ich für die Arbeiten meiner Schüler in meinem Laboratorium für vergleichende Anatomie einige recht große Köpfe von Schildkröten nöthig hatte; ich ersuchte einen meiner Londoner Freunde, sich von dem Koche seines Klubs solche abgeschnittene Köpfe, die ohnedem weggeworfen werden, auszubitten und sie mir zu schicken. Es dauerte nicht lange und die gewünschten Köpfe kamen frisch und wohl erhalten an.

Bei uns wie in Nordamerika und in vielen anderen Küstenstädten kommt nur die außerordentlich weit verbreitete Suppenschildkröte (Chelonia midas) in Betracht, die über zwei Meter lang und bis zu tausend Pfund schwer werden kann, einzig das Meer bewohnt und nur zum Eierlegen auf seichte Sandplätze am Ufer kommt. Dort ist sie über alle Maßen täppisch, linkisch und unbeholfen; im Meere, in dem nassen Elemente, gleicht sie, den übrigen leichteren Meerschildkröten gegenüber, dem breitflügeligen Adler, der mit langsamen aber wuchtigen Schlägen seiner Fittige große Strecken ohne Anstrengung durcheilt.

Riesenexemplare von der angegebenen Größe sind äußerst selten und gelangen schließlich meist in die Museen; aber Thiere, die etwa zwei Centner wiegen und einen halben Centner Fleisch zur Suppe liefern, kommen häufig auf den Markt.

Aber wie wird der Markt versehen?

Einer auf dem Meer in wachem Zustande schwimmenden Schildkröte kommt kein Boot, kein Netz und keine Büchse bei. Sie ist äußerst vorsichtig und sinkt bei der leisesten Drohung von Gefahr in die Tiefe. Vielleicht wird die eine oder andere überrascht, wenn sie schlafend auf den Wellen treibt; aber ich glaube, offen gestanden, nicht an diese Fangweise; Fischer sind eben so erfinderisch wie Jäger. Zudem wäre dies nur ein Tropfen auf einen heißen Stein.

Die gütige Natur hat alles sehr weise eingerichtet und auch hier hat sie einen sprechenden Beweis ihrer Fürsorge für ihr Lieblingskind, den Menschen, gegeben. Andere weniger schmackhafte, ungenießbare oder selbst giftige Arten, deren Fleisch krank macht, wie z. B. die Karettschildkröte, welche das Schildpatt liefert, laichen nur einmal im Jahre und nur während einer kurzen Zeit; die Suppenschildkröte aber laicht öfter während mehrerer Monate, und da die Laichzeiten an den einzelnen, auf beiden Ufern des tropischen Meeres gelegenen Sandküsten auch verschieden sind, so ist die Zufuhr zum Markte um so mehr während des ganzen Jahres gesichert, als die Kommunikationen stets schneller werden und die Thiere ein sehr zähes Leben besitzen. In Brasilien legen die Suppenschildkröten ihre Eier im December, Januar und Februar; an den mittelamerikanischen Tortugasinseln, die ihrethalben benannt wurden, von April bis September, an der Goldküste zwischen September und Januar; so sind schon durch diese Küsten des atlantischen Oeeans allein sämmtliche Monate des Jahres mit Ausnahme des März besetzt. Gefangene Schildkröten sind aber, sozusagen, gar nicht umzubringen und können mit Leichtigkeit über alle Meere transportirt werden. New-York und England beziehen die meisten von den Antillen und für diese relativ kurze Reise bringt man sie nicht einmal in Becken mit Seewasser, sondern behandelt sie ähnlich wie Karpfen, die man in feuchten Kellern entsumpfen will. Man bindet die auf den Rücken gedrehten Schildkröten auf und in dem Schiffe fest, hüllt sie in Segeltuch, das von Zeit zu Zeit mit Wasser begossen wird, und wenn man ihnen besonders wohl will, steckt man ihnen in Seewasser getauchten Zwieback in den Schnabel: so leben sie Monate lang ganz gemüthlich fort, magern freilich etwas ab, behalten aber guten Geschmack.

Weder die Eier dieser und anderer Schildkröten, die massenweise abgelegt und gesammelt werden, noch das aus ihnen gepreßte Oel, das vortrefflich und sehr schmackhaft sein soll, kommen bis zu uns; sie sind nur Gegenstand der Lokalverzehrung.

Ganz ebenso verhält es sich mit den übrigen Meerschildkröten, den Fluß-, Sumpf- und Landschildkröten, welche in gewissen wärmeren Gegenden ein ebenso wichtiges Element der Ernährung bilden wie die Hühnervögel. In unseren Gegenden, wo nur die europäische Sumpfschildkröte hier und da in Morästen und Torfmooren vorkommt und bis in die russischen Ostseeprovinzen vordringt, sind freilich eingeborene Schildkröten zu selten, um eine Rolle in der Küche zu spielen; aber in Süditalien, Sicilien, Griechenland und Kleinasien kommen sie schon häufig auf den Markt, in Algerien sind sie, obgleich sie in allen Bächen und Tümpeln wimmeln, durch die unaufhörliche Jagd schon so schlau und gewitzigt, daß es arabischer Geduld bebarf, um ihrer habhaft zu werden.

In den südlichen Theilen der nordamerikanischen Freistaaten nehmen die Schildkröten, ebenso wie in Mexiko und weiter südlich, einen hervorragenden Platz in der Küche ein; an den Mündungen der großen Ströme, des Orinoko und Amazonenstromes liefern ihre zu Millionen in den Sandbänken der Deltas abgelegten Eier fast das einzige Speisenöl, das bei sorgfältiger Zubereitung dem besten Olivenöle gleichgeschätzt wird, und an manchen Uferorten des Amazonenstromes essen ganze Völkerschaften jahraus, jahrein kein anderes Fleisch als dasjenige der großen Flußschildkröten. Ein Gericht, das zubereitet wird, indem man das an dem Brustpanzer sitzende Fleisch in dem Panzer selbst wie in einer Schüssel brät, gilt als einer der feinsten Leckerbissen. Den neuen Ankömmlingen scheint anfangs das Schildkrötenfleisch vortrefflich, schmackhaft, zart, dem besten Hühnerfleische ähnlich; bei längerem Aufenthalte geht es ihnen aber damit, wie uns Gletscherbewohnern mit dem Schaffleische – wir konnten es nach zweimonatlichem Aufenthalte nicht mehr riechen, geschweige denn essen. Toujours perdrix! bewährt sich so oft.

Eine wissenschaftliche Frage von einiger Bedeutung knüpft sich an die Verzehrung einiger Landschildkröten. Der Mensch ist ohne Zweifel der ärgste und grausamste Vertilger; er hat den Auerochsen nach Lithauen, das Elch nach Ostpreußen, den Bison über das Felsengebirge zurückgejagt, den Walfisch in die äußersten Polarmeere, den Elefanten in das Innere des dunklen Welttheiles gebannt und er wird nach und nach alle diese Thiere ausrotten, wie er die Moas, die großen Laufvögel Neu-Seelands, den Dronte der Insel Mauritius, den flügellosen Alk, diesen Riesentaucher des Nordens, und das Borkenthier (Rhytine, eine Art Seekuh) der Küsten der Behringsstraße ausgerottet hat. Man hat sich vielfach und in fast gründlicher Weise mit diesen Ausrottungen beschäftigt, die nur das letzte Ende der tief eingreifenden Verändernden darstellen, welche das Thun und Treiben des Menschen bedingt, man hat dabei fast vergessen, daß riesige, auf Inseln eingeschlossene Landschildkröten demselben Schicksale entweder verfallen oder ernsthaft davon bedroht sind.

Darwin besuchte im Anfange der dreißiger Jahre die Galopagos-Inseln im Westen Südamerikas und machte dort Bekanntschaft mit riesigen Landschildkröten, die ihm anfangs wie antediluvianische Ungeheuer vorkamen, mit denen er aber bald so vertraut wurde, daß er sich häufig auf ihren Rücken setzte. „Wenn ich ihnen auf den hinteren Theil der Schale einige Schläge gab,“ sagt Darwin, „standen sie auf und gingen fort; ich fand es aber schwierig, das Gleichgewicht zu behaupten.“

Nun, diese oft sehr fetten Thiere, die bis zu zwei Centnern Fleisch liefern können, fanden sich früher in so großer Menge auf den Galopagos, daß die Schiffe dort anhielten, um sich mit leichter Mühe zu verproviantiren. Im Anfange unseres Jahrhunderts war man noch wählerisch; vor fünfzig Jahren begegnete Darwin noch immerhin einigen Spaziergängern bei seinen Ausflügen; heute ist es zweifelhaft, ob auf einer der kleinsten Inseln der Gruppe noch einige existiren.

Auf den Maskarenen-Inseln, Reunion, Mauritius, Rodriguez und Aldabra ging es ebenso. Im Jahre 1691 sah Leguat auf Rodriguez noch Herden von 2000 bis 3000 Stück zusammen; heute giebt es vielleicht noch einige auf Aldabra, aber keine mehr auf den anderen Inseln. Man kann den Schiffern keinen Vorwurf machen, daß sie die Schildkröten tödteten, um sich statt des Pökelfleisches frisches Fleisch zu verschaffen und so den Skorbut vom Leibe zu halten – aber ausgerottet sind die Thiere und es ist keine Hoffnung, das vortreffliche Fleisch für die Küche unserer Nachkommen zurückzuerobern!

[131]

Ein weiblicher Beruf.

Mit den stetig zunehmenden Lebensansprüchen und der dadurch hervorgerufenen Vertheuerung der Existenz wächst die Schwierigkeit der Gründung eines selbständigen Hausstandes. Die Zahl der Mädchen, welche nicht in die Ehe treten, wird immer größer und die Frage brennender, aber auch schwieriger zu lösen, wie das Dasein solcher nach dem Tode der Eltern oft beinahe mittelloser Frauen gesichert werden kann. Mehr noch als in den Handwerkerkreisen machen sich diese Nachtheile im gebildeteren Mittelstande bis zu den höheren Ständen hinauf fühlbar.

Diese Seite des menschlichen Lebens bildet einen wichtigen Theil der großen socialen Frage, an deren Lösung die besten Geister der Nation thätigen Antheil nehmen.

Vielfache Versuche werden in dieser Beziehung gemacht, dem Uebel abzuhelfen. Sie waren bis jetzt nicht von dem gewünschten Erfolge begleitet, da in Deutschland noch viel weniger als in den Nachbarländern, wie z. B. in Belgien und Frankreich, gebildete weibliche Kräfte im industriellen und kaufmännischen Leben Verwendung finden.

Von alledem, was in dieser Richtung bis jetzt geschehen ist, dürfte jedoch nichts so sehr die Aufgabe in befriedigender Weise lösen, nichts dem weiblichen Charakter besser entsprechen, als die Heranziehung der Frauen zur Krankenpflege.

Die großen Kriege, welche unsere Generation mit erlebte, gaben für die Ergreifung dieses Berufes einen mächtigen Anstoß, welcher aber in den Jahren des Friedens zu erlahmen droht. Kranke giebt es indessen nicht allein im Kriege zu pflegen. Die Zahl derselben ist leider stets eine große und deren Leiden können durch eine sachgemäße, richtig angewandte Pflege sehr wesentlich gelindert werden. In der Alltäglichkeit des Lebens ist es nicht mehr das erhebende Gefühl des Patriotismus, welches die Frauen und Mädchen in die Krankenhäuser führt, sondern die christliche Nächsten- und Menschenliebe beruft sie an das Siechenbett im Hause der Armen und der Reichen, um dort Hilfe und Trost zu spenden.

Mit dem guten Willen allein ist aber dabei noch lange nicht genug gethan. Eine gute Krankenpflege muß gelernt werden, wenn die Pflegerin die sachverständige Gehilfin des Arztes sein, wenn sie bei dem Beginne ihres thätigen Berufes mit denjenigen Kenntnissen ausgerüstet sein soll, deren sie in reichem Maße bedarf, um den an sie gestellten Ansprüchen gerecht zu werden. Einzelpersonen, welche außerhalb einer Korporation stehen, wird es meistens zu schwer, die erforderliche sachliche Bildung zu erringen. Den Meisten fehlen dazu die nöthigen Geldmittel. Manche schrecken auch davor zurück, sich einem Berufe zuzuwenden, der sie in allzu hohem Grade des Schutzes und der Anlehnung an andere gleichstehende und gleichgesinnte Menschen beraubt. Diesem Uebelstande abzuhelfen, werden jetzt mehr und mehr an den verschiedensten Orten Vereine und Anstalten (vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1886, Seite 804) gegründet, deren Zweck die Ausbildung und Verwendung von Krankenpflegerinnen ist.

So trat vor wenigen Jahren auch in Wiesbaden ein derartiger Verein unter dem Namen „Wiesbadener Verein vom Rothen Kreuz“ in Thätigkeit. Die Schwestern werden in demselben auf Kosten des Vereins ausgebildet und erhalten neben freier Station ein entsprechendes Taschengeld. Altersversorgung nach eingetretener Arbeitsunfähigkeit ist in Aussicht genommen. Sie wohnen zusammen in dem Schwesterheim, wo sie unter der Leitung der Oberin, Fräulein von Baltenstern, ein gemüthliches Familienleben finden, gesichert in ihrer äußeren Existenz, geehrt und geliebt von ihren Mitmenschen, deren Wohlthäterinnen sie sind. Die Armenkrankenpflege der Stadt und der evangelischen Kirchengemeinde, die Pflege im städtischen Krankenhause und in Privatfamilien bieten in der Kurstadt reiche Gelegenheit zur Entfaltung der Berufsthätigkeit. Obschon die Zahl der Schwestern sich im letzten Jahre verdoppelt hat, kann der stets wachsenden Nachfrage nicht genügt werden. Der Vorstand des Vereins, unter dem Vorsitze des Prinzen Nikolaus von Nassau, ist gern bereit, Meldungen zum Eintritt entgegen zu nehmen.

Möchten doch weibliche Angehörige der gebildeten Stände, welche über die nutzbringende Verwendung ihrer Kräfte im Zweifel sind, diese Gelegenheit benutzen und sich dem besten und schönsten Berufe widmen, welcher dem weiblichen Geschlechte geboten werden kann.




Blätter und Blüthen.

Der Zierbrunnen auf dem Postplatz zu Görlitz. (Mit Illustration S. 125.) In der „Perle der Lausitz und Schlesiens“, wie man Görlitz zu nennen pflegt, ist jüngst ein Kunstwerk von hoher Bedeutung, der Monumental- oder Zierbrunnen auf dem Postplatz, aufgestellt worden. Staat und Stadt hatten sich für dasselbe zu gemeinsamem Wirken verbunden. Die Vollendung des Görlitzer Zierbrunnens hat 10 volle Jahre in Anspruch genommen; das Unternehmen hat seine Schmerzens- und Leidensgeschichte. Darum betonte auch Oberbürgermeister Reichert bei der Enthüllung des Brunnens am 12. November vorigen Jahres ausdrücklich in seiner Rede, ein Unternehmen sei zum Abschlusse gebracht worden, welches im Entstehen mit allgemeiner Freude begrüßt, in der weiteren Entwickelung vielfach angezweifelt, zuweilen mit spöttischen Reden kritisirt, ja unverdient verhöhnt und doch – freilich nach Ueberwindung mancher Hindernisse – zu Ende geführt worden sei. Gut Ding wolle eben Weile haben.

Der Zierbrunnen ist nach dem Entwurfe des Professors Robert Toberentz in Breslau im Stil der modernen nach der realistischen Seite hinneigenden Renaissance ausgeführt.

Mächtig ragt aus einem mit farbigen Steinchen ausgelegten Marmorbassin der wundervolle Aufbau empor. Am Fuße des Postaments, welches nach oben zu sich zu einem Achteck verjüngt, befinden sich vier durch Festons verbundene Muscheln; oberhalb derselben Masken, welche das ihnen entströmende Wasser in die Muscheln gelangen lassen. An den Ecken des Postamentes sind reichornamentirte, mit charakteristischen Arabesken versehene Konsolen angebracht, auf welchen vier Figuren, ein Jäger, ein Fischer, eine Nixe und eine Nymphe mit einem Schlangenleibe in anderthalbfacher Lebensgröße, Aufstellung gefunden haben. Bei der spärlichen Draperie fallen sofort die edlen Formen der Körper ins Auge. Auf der Spitze des Postamentes thront eine nymphenhafte Figur aus Bronze (gegossen im Hüttenwerk Lauchhammer), die beiden Arme emporgestreckt, über dem Kopf eine Muschel haltend, welcher Wasserstrahlen entströmen. Diese Gestalt, um deren Unterkörper sich leicht ein Gewand schlingt, erinnert lebhaft an die Venus von Milo. Vier meisterhaft modellirte und in wohlgelungenem Guß ausgeführte Greife innerhalb des Marmorbassins sorgen ebenfalls für die Füllung desselben mit Wasser.

Der Eindruck, welchen das Kunstwerk mit seinen poetischen Gestalten auf den Beschauer ausübt, ist bedeutend. Görlitz darf mit Stolz auf ein Kunstwerk blicken, wie es ähnlich zu besitzen vielen gleichbedeutenden Städten des deutschen Vaterlandes versagt ist.

Volksbühne und Theaterdekorationen. Bei den Aufführungen des Hans Herrig’schen Lutherfeststückes, die in Leipzig länger als eine Woche alltäglich stattfanden und bei denen die Rollen von Studirenden gespielt wurden, waren gar keine Dekorationen zu sehen, nur Vorhänge! Allerdings stand damit im Widerspruche der Glanz der Kostüme, denn Kostüme und Dekorationen ergänzen sich gegenseitig.

Das hat natürlich die Frage nach dem Werth der Theaterdekorationen wieder in den Vordergrund gerückt. Da sehen wir auf der deutschen Bühne die entgegengesetzten Experimente. Auf der einen Seite macht das Richard Wagner’sche Kunstwerk der Zukunft von dem dekorativen Aufputz und den Bühnenmaschinerien den ausgedehntesten Gebrauch, ohne daß sich dies Kunstwerk, wenn es die Malerei mit in den Bund der Künste aufnimmt, hierin sonderlich von der bisherigen Oper unterscheidet, bei der ja der Pomp der Dekorationen stets eine Rolle spielte; wir sehen das berühmte Ensemble der Meininger dem Gesammteindruck mit geschmackvollen und stimmungsvollen Dekorationen zu Hilfe kommen, bei denen die archäologische Treue noch dazu eine große Rolle spielt; wir hören von den glänzenden Inscenirungen Shakespeare’scher Historien und Schiller’scher Tragödien an den großen Hoftheatern. Hierzu kommt die Pracht der Zaubermärchen und Weihnachtsstücke mit ihren Marinebildern, ihren unterirdischen und unterseeischen Wundern, ihren Lichtgewölken, ihrer Sternenglorie und den in Magnesialicht leuchtenden Feen- und Engelsgruppen.

Auf der andern Seite ist ebenso wenig ein der Entfaltung des dekorativen Glanzes feindlicher Zug zu verkennen. Schon der berühmte Berliner Dramaturg Ludwig Tieck wollte unser Theater zur Einfachheit der Shakespeare-Bühne zurückschrauben, wo die Phantasie allein die Kosten der dekorativen Ausstattung bestritt und nur ein Pfosten mit einem Zettel angab, ob die Handlung im Wald, auf dem Schlachtfelde oder im Salon eines Fürstenschlosses spiele. Fast bis zu dem Standpunkte Tieck’s zurück geht das neueste Volksstück. Wie stellt sich nun der gesunde Sinn des Publikums und die vorurtheilsfreie Kritik zu diesen extremen Richtungen? Die Entwicklung unseres Bühnenwesens muß hier den Ausschlag geben: unsere Schauspiel- und Opernhäuser sind, nach ihrer ganzen Einrichtung, auf Inscenirungen angewiesen, bei denen die Koulissen, Versetzstücke und Hinterwände mitwirken, bei denen die Kunst des Dekorationsmalers ihr gutes Recht verlangt. Eine Rückkehr zum ABC der Kunst, zu ihren ersten schüchternen Anfängen ist heutigen Tags unmöglich, und auch die Volksbühne, für deren Festvorstellungen man eine Ausnahme einräumen könnte, wird sich zu weiteren Zugeständnissen entschließen müssen.

Daß die Poesie der Scene den Eindruck der dichterischen Handlung nicht abschwächt, sondern hebt, ist wohl fraglos: der Zauber einer italienischen Liebesnacht in „Romeo und Julie“, die düstere, für einen Hexensabbath geeignete Nordlandscenerie in „Macbeth“ wird, mit Hilfe der malenden Kunst ausgeführt, wesentlich dazu beitragen, die rechte Stimmung des Publikums hervorzurufen und das dichterische Wort in demselben Bestreben zu unterstützen; aber dies Zusammenwirken darf eben nicht fehlen. Das ist der entscheidende Punkt: wo die Dekoration zum Selbstzweck wird und das Interesse von der Handlung und von der Dichtung ablenkt, wo sie z. B. das Studium ihrer Details und ein kunstgeschichtliches Interesse in Anspruch nimmt: da ist sie nicht mehr berechtigt und die größte Einfachheit der Inscenirung vorzuziehen.

†      

Albert Lindner †. Es geht uns die Kunde zu, daß der dramatische Dichter Albert Lindner im Irrenhause zu Dalldorf bei Berlin, wo er bereits zu den Unheilbaren und Aufgegebenen gehörte, am 4. Februar gestorben ist. Wir brachten in unserem Blatte unter dem Titel „Ein irrsinniger poëta laureatus (S. 329, Jahrgang 1887) eine eingehende Lebensbeschreibung des bedauernswerthen Dichters, dessen Schicksal demjenigen eines Hölderlin und Lenau verwandt war. Der Schiller-Preis, den er für sein Drama „Brutus und Collatinus“ erhielt, ist ihm zum Verhängniß geworden: er füllte seine Seele mit dem Glauben an eine [132] hohe Sendung, mit der Ueberzeugung, daß er ein Dichtergenie ersten Rangs besitze. Er war der zweite gekrönte Dramatiker, der erste war Friedrich Hebbel gewesen. Heutigen Tags, wo es so viele gekrönte Dichter giebt, ist der Glaube an eine durch Berliner Preisrichter garantirte Unsterblichkeit gänzlich geschwunden. Mit seinen späteren Stücken vermochte Lindner nicht den Widerstand der spröden Welt zu besiegen; der Mangel an Anerkennung und die äußere Noth richtete ihn zu Grunde. Ein energisches Talent für markige Situationsmalerei spricht aus der „Bluthochzeit“, seinem besten Drama: aber die oft blinde Nachahmung Shakespeare’s war die Achillesferse seiner Dichtungen. Friede der Asche des begabten unglücklichen Dichters! †      

Selbstmord aus gekränkter Eitelkeit. Wir haben einmal von einem Kriminalproceß aus Italien berichtet, der gegen eine Mutter geführt wurde, die ihre eigene Tochter aus eifersüchtiger Rivalität vergiftet hat, weil sie mehr als die Mutter auf den Bällen glänzte. Gottschall hat in seiner Dichtung: „Merlin’s Wanderungen“ diesen Stoff zu einer modernen Ballade benutzt. Jetzt wird aus Rom berichtet, daß Fräulein Amalie Bonghi, Tochter eines hochgestellten Beamten im Marineministerium, sich selbst mit einem Revolver zwei Kugeln in den Kopf gejagt. Ursache dieses Selbstmords war gekränkte Eitelkeit: ihre Schwester, welche einen Adjutanten des Herzogs von Aosta geheirathet, war zu den Hofbällen eingeladen worden, zu denen sie selbst keinen Zutritt erlangen konnte. Ehe sie sich den Tod gab, zog sie eine prächtige Balltoilette an.

Mord und Selbstmord aus gekränkter Eitelkeit – welche erschreckenden Beiträge zur Chronik der Bälle und Lustbarkeiten und ihrer grenzenlosen Ueberschätzung! Von deutschen Mädchen und Frauen wird glücklicher Weise nichts Derartiges berichtet: sie schätzen das Vergnügen nicht höher, als es zu schätzen ist, und die Familie und häusliche Pflichterfüllung giebt ihnen einen festeren Halt als allen nur auf den äußern Glanz gestellten Existenzen. †      

Ein Wort Gottfried Kinkel’s. Margarethe Henke hat „Briefe an eine junge Freundin“ herausgegeben, die sie allen herzigen Backfischchen widmet. (Erfurt, Fr. Bartholomäus.) Diese Briefe enthalten sehr treffende Winke über die verschiedensten Dinge, Kochen, Klavierspielen, Tanzen, Toilette, Pudern und allerlei Lebensfragen für junge Mädchen; alles wird schlicht und verständig ausgesprochen, ohne überflüssige Phrasenmacherei. Vor allem wird Genügsamkeit und Selbstbeschränkung gelehrt und die Kunst, auch bescheidenen Verhältnissen Freude abzugewinnen. Nach dieser Seite hin wird mit Recht ein schönes Wort Gottfried Kinkel’s erwähnt, das dieser in geisttödtender Kerkerhaft schmachtende Dichter im December 1849 einer Freundin zuruft: „Bis jetzt hat das All mich noch keinen Tag ohne erfrischende und geiststärkende Eindrücke gelassen und in den blauen Reflexen, die ein klarer nordischer Himmel auf den blendenden Schnee wirft, von den breiten Granitfundamenten, auf denen unser Palast des Schmerzes aufgebaut ist, bis zu den hohen und fernen ernsten Wolken, die an den van Eyck’schen Himmel auf dem Genter Altarblock erinnern, webt und schwebt vieles, was einem betrachtenden Gemüth Nahrung giebt.“ †      

Eisenbahn in Palästina. Der profane Dampf hatte sich bisher nicht in das heilige Land verirrt und die erhabene Idylle jener Gegenden nicht gestört, an welche sich so unvergängliche Erinnerungen knüpfen. Jetzt wird es anders werden: Schienen, Wächterhäuschen und Telegraphendrähte werden sich dort einfinden und Station „Bethlehem“ wird es vielleicht bald aus dem Munde von Eisenbahnschaffnern ertönen. Zunächst soll eine Eisenbahn zwischen Jerusalem und Jaffa gebaut werden. Das Bankhaus J. Frutiger in Jerusalem soll hauptsächlich bei der Unternehmung betheiligt sein, außerdem auch der Pariser Rothschild. †      

Skat-Aufgabe Nr. 3.
Von K. Buhle.
Die ersten drei Stiche fallen so:
1.
(tr. 9.)
(tr. K.)
(tr. As)
2.
(c. K.)
(c. As)
(tr. D.)
3.
(p. K.)
(tr. Z.)
(p. Z.)

und nach drei weiteren Stichen hat der Spieler noch folgende Karten:

(c. B.)
(car. B.)
(tr. 7.)
(car. As)

auf welche er keinen Stich mehr abgiebt; er hat aber, trotzdem noch 7 Augen im Skat liegen, das Spiel mit Schneider verloren, denn die Gegner haben 98 Augen hereinbekommen. – Welcher von den Dreien war der Spieler und was spielte er? Wie waren der 4., 5. und 6. Stich?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 2 auf S. 84:
Der Spieler in Mittelhand hatte folgende Karten:
eW, gW, rW, sW, eO, e9, gZ, gK, rD, rZ.
Vorhand: eD, c8, e7, rK, rO, r9, r8, r7, sZ, s7
Skat: sK, g7.
Spielt nun nach dem angegebenen ersten Stich rK, rZ, eZ die Hinterhand weiter wie folgt: 2. gD, sZ, gK (−25), 3. gO, eD, gZ (−24), 4. rO, rD, eK (−18), so erhalten die Gegner 91 Augen und der Spieler ist Schneider. Wenn dagegen die Hinterhand, welche doch für ihr Spiel nach dem ersten Stiche einen festen Anhalt noch nicht hatte, im 2. Stich sD vorspielt, so sticht der Spieler mit eK ein, holt die Trümpfe heraus und giebt nur noch einen Stich in Grün (p) mit höchstens 31 Augen ab, so daß die Gegner im günstigsten Falle nur 56 Augen bekommen können.
Auflösung des Bilder-Räthsels auf S. 116.
„Ueber allen Wipfeln ist Ruh’!“

Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

F. W. in Homburg. Auf Ihre Anfrage wird uns von rechtskundiger Seite die folgende Auskunft ertheilt, welche von allgemeinem Interesse sein dürfte: „Der Betrieb eines Geschäftes oder Gewerbes als solcher erzeugt gegen den Inhaber desselben keine privatrechtliche Verpflichtungen irgend welcher Art. Es giebt also auch keine solchen Verpflichtungen, die aus dem Betrieb selber folgen, wie dies der Fall wäre, wenn Jemand den Wirth, Metzger, Bäcker, Kaufmann etc. rechtlich zwingen könnte, an ihn zu verkaufen, weil er das betreffende Gewerbe oder Geschäft öffentlich betreibt. Hiernach ist Ihre Streitfrage lediglich vom privatrechtlichen Standpunkt aus zu beurtheilen. Von diesem aus ist aber eine Verpflichtung Jemandes, mit einem Anderen zu kontrahiren, nicht anzuerkennen. Derjenige, der in einem Laden dem Geschäftsinhaber oder dessen Vertreter erklärt, daß er etwas kaufen wolle, macht das Angebot zu einem Kaufvertrage. Dieses Angebot kann der Geschäftsinhaber, welcher der andere Kontrahent im Kaufvertrage erst werden soll, ablehnen. Bei solcher Ablehnung kommt ein Kaufvertrag überhaupt nicht zu Stande, und ohne Vertrag kann der Dritte ein Recht auf Uebertragung des Gegenstandes, den er zu kaufen beabsichtigt, nicht geltend machen. Dieses Recht würde er nur haben, wenn der Verkäufer ihm schon versprochen hätte, den betreffenden Gegenstand ihm käuflich zu überlassen und er dieses Versprechen angenommen hätte. Gleichgültig ist es für die Rechtsfrage, ob es nur ein Geschäft der betreffenden Art oder ob es mehrere derselben im Orte giebt. Die Ablehnung der Kaufsofferte darf freilich nicht in einer Form oder unter Umständen geschehen, welche die Absicht, zu beleidigen, erkennen lassen. In diesem Falle könnte der Abgelehnte möglicherweise aus der Ablehnung den Thatbestand einer Beleidigung schöpfen.“

R. M. in Rostock. Ueber die neuesten Erscheinungen im Buchhandel giebt Ihnen Auskunft der von Max Moltke in Leipzig herausgegebene „Bücherfreund, ein Anrege- und Anzeigeblatt“, welches auch Auszüge aus Besprechungen neuerschienener Bücher bringt.

R. S. in Olmütz. Vergl. Sie gefl. die Biographie E. Marlitt’s im Jahre 1887 der „Gartenlaube“.



  1. vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1887, Seite 359.