Die Gartenlaube (1890)/Heft 22
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Halbheft 22. | 1890. | |
(3. Fortsetzung.)
Auf der Straße wogte es in fröhlichem Durcheinander; die Sonne war vollends hervorgekommen und lockte die Menschen
ins Freie. Linde Aprilluft wehte, der lichtgraue Himmel zeigte große blaue Stellen, und an allen Straßenecken boten arme Kinder
ganze Büschel von Schneeglöckchen und Veilchen aus.
In ernsten Gedanken schritt Reginald seines Weges. – So war nun das vielbesprochene erste Begegnen mit dem Raubmörder vorüber, und er hatte seines Amtes mit keinem Wort walten können. Freilich, darauf hatte er gefaßt sein müssen. Würde es ihm aber überhaupt gelingen, diese mit Unglauben und Trotz gepanzerte Seele aufzuthauen, ehe sie an die Schwelle des Jenseits gelangte? Allzuviel Zeit blieb ihm nicht mehr! Den Geistlichen überschauerte es kalt. Rund um ihn soviel keimendes, strotzendes Leben, ein Drängen und Treiben, ungestüm, unaufhaltsam, dem Licht, der Sonne entgegen … und dort sollte ein Menschendasein gewaltsam beseitigt werden, weil es hieß: Du schädigst Deine Menschenbrüder – es ist kein Raum für Dich auf Erden! –
Und es konnte nicht ganz verderbt, nicht ganz entartet sein, dies Dasein! Es hatten gute Keime sicherlich auch in ihm geschlummert und nur das, was die Menschen die „Verhältnisse“,
[678] den „Zeitgeist“ nennen, was so angreifbar und doch so mächtig ist, das hatte ihn gepackt und festgehalten, dem hatte er nicht zu widerstehen vermocht. – Sein Kopf war doch nicht klar, seine Bildung nicht reif genug gewesen, das Wahre vom Falschen zu sondern, die schlechte Gesellschaft der wüsten Schreier kam dazu, die da abbrechen, stürzen wollen um jeden Preis, ohne die Mittel zu wissen, wieder aufzubauen, Leute, die unter dem Deckmantel der Aufopferung oft die schnödeste Selbstsucht, die verwerflichste Gier verbergen … und so war es denn um ihn geschehen! –
Etwas im Blick, im Ton dieses Mannes war es, das Reginald Muth machte, obschon er sich keines einzigen einlenkenden Wortes entsinnen konnte. Aber es mußte werden – mußte! Diese Seele – er wollte nicht ermatten, um sie zu ringen, zu kämpfen, wie Jakob einst mit Gott! Wie? Er fühlte so starke Gewalten in seinem Innern, sein ganzes Sein war durchglüht von hoffnungsfreudiger Zuversicht – und es sollte ihm nicht gelingen, diese halbverlorene Seele zu sich hinüberzureißen, zu retten aus dem wüsten Chaos von Hohn und Zweifel zu einem letzten reuigen Aufblick, einem letzten gläubigen Stammeln zu dem allgewaltigen Einen, der Millionen kranken Herzen Heil und Hilfe ist? – „Ist Gott für mich – wer kann wider mich sein?“ Mitten im alltäglichen Menschengetümmel kam das glaubenskräftige Bibelwort über ihn mit stolzer Wonne, und er hob sein Haupt hoch, und seine Augen leuchteten.
So kam es, daß er zwei Damen übersah, die ziemlich dicht an ihm vorüberstreiften, und erst, als er halblaut seinen Namen nennen hörte, wandte er sich rasch um.
Frau Hedwig Weyland war’s, Arm in Arm mit Annie Gerold, die sich freundlich nickend zu ihm, der erschreckt mit gezogenem Hut stehen geblieben war, zurückwandte und ihm lachend die Hand bot.
„Wo waren Sie mit Ihren Gedanken, lieber Herr von Conventius, daß Sie uns beide so ganz und gar übersahen? Sie erinnern sich wohl Fräulein Gerolds von unserer Gesellschaft her?“
O ja – er erinnerte sich! Das schöne und kluge Gesicht, das es ihm, eigentlich auf den ersten Blick, angethan hatte, sah unter dem großen, malerischen Rubenshut mit den nickenden Federn rosig und glücklich in die Welt. Dem jungen Geistlichen schlug plötzlich das Herz bis in den Hals hinauf, als er mit einem Blick die wundervolle Erscheinung umfaßte, die einen vollen Strauß von Schneeglöckchen an der Brust trug – ein Genius des Lenzes!
Frau Weyland schüttelte ihm die Hand – gleich kam auch Annies schmales Händchen zum Vorschein und legte sich zutraulich einen Augenblick in seine Rechte.
„Ich habe meine Strafe schon dahin, daß ich die Damen nicht gesehen habe. Bitte, verzeihen Sie es mir! Gnädiges Fräulein, Sie haben hoffentlich nicht gedacht, ich hätte mein Versprechen, Ihnen einen Besuch abzustatten, vergessen, weil ich bisher nicht kam?“
„Nein, ich dachte es nicht!“ gab Annie freundlich und unbefangen zur Antwort. „Ich wußte ja, Sie hatten Wichtigeres zu thun!“
„Wichtigeres nun schon nicht!“ Halb unbewußt fuhr ihm das Wort heraus – es verwirrte ihn ein wenig … und doch! Aug’ in Auge mit Annie Gerold kam es ihm wirklich so vor, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres als sie in der ganzen weiten Welt!
„Nun, lieber Herr Pfarrer, das will etwas bedeuten bei Ihrer Berufsthätigkeit und den vielen ernsten Pflichten, die eine Amtsübernahme mit sich bringt!“ kam ihm Frau Weyland zuhilfe. „Wäre meine Annie nicht solch’ kluges Persönchen, sie könnte sich viel auf Ihre Aeußerung einbilden. Nun holen Sie nur schleunigst den verabsäumten Besuch nach, sonst machen Ihnen die lustigen Ulanen das Leben gar zu schwer – die haben nämlich Haus Gerold in eine Art Belagerungszustand versetzt. Wie ist es denn, Annie – hat eigentlich auch Delmont bei Euch Besuch gemacht?“
„Nein!“ Annie hatte die Augen gesenkt und zupfte an ihren Schneeglöckchen.
„Nicht? Das ist doch ein wunderlicher Heiliger! Ich denke soeben an ihn, weil wir im Begriff sind, sein neuestes Kunstwerk zu bewundern; wir sind auf dem Wege zum Museum. Begleiten Sie uns dorthin, Herr von Conventius?“
„Es thut mir sehr, sehr leid“ – Reginalds Blick und Miene bewiesen vollauf, wie ihm dies Bedauern von Herzen kam – „aber ich habe einem Herrn vom Kirchenkollegium um diese Zeit meinen Besuch zugesagt!“
Er ertappte sich auf dem unchristlichen Wunsch, der Herr vom Kirchenkollegium möchte im Pfefferland sein. „Vielleicht kann ich noch später hinkommen und die Damen im Museum treffen; ich fürchte aber, es läßt sich nicht thun. Jedenfalls, gnädiges Fräulein, nehme ich mir sehr bald die Ehre, bei Ihnen vorzusprechen!“
„Ja, bitte, kommen Sie, Herr von Conventius – meine Schwester und ich werden uns sehr freuen!“
Annie sagte es beinah’ herzlich und reichte dem Pfarrer von neuem die Hand. Gern hätte sie ihm von dem tiefen und schönen Eindruck gesprochen, den seine Predigt ihr hinterlassen habe – die Straße schien ihr aber ein zu ungeeigneter Ort dazu.
„Adieu, lieber Herr Pfarrer, und es wäre kein Unglück, wenn Sie sich auch bei uns einmal sehen ließen,“ sagte Frau Hedwig mit einem schalkhaften Lächeln. „Robert und ich würden uns gleichfalls sehr freuen!“
„Gewiß, sehr gern, meine gnädige Frau, Sie wissen ja –“
„Natürlich weiß ich, lieber Freund! Am Mittwoch empfangen wir, es ist da meistens ganz zwanglos und gemüthlich; meine junge Freundin hier, die fast immer dabei ist, kann es mir bestätigen – nicht wahr, Annie?“
„Ja, liebste Hedwig! Du und Dein Mann, Ihr habt das Talent, es den Gästen bei Euch so heimisch zu machen, daß man es ganz vergißt, zum Besuch gegangen zu sein!“
„Nun sehen Sie, wie das Mädel zu schmeicheln versteht! Also auf Wiedersehen, Herr von Conventius!“
„Den Mann hat’s!“ dachte die scharfsichtige Frau Weyland ebenso, wie Vetter Fritz von den Ulanen es seinerzeit gethan hatte. Der Ausdruck, wenn er Annie ansah – wenn sie zu ihm sprach! Förmlich verklärt! Ein so guter, edler und kluger Mensch, dabei wunderschön, vermögend und mit einer großartigen Zukunft vor sich! Hm! – –
„Annie!“
„Ja, liebster Schatz!“
„Conventius ist doch ein prächtiger Mensch!“
„Das ist er! Mich hat lange nichts so erhoben und innerlich gefestigt, wie neulich seine Predigt!“
„Der wird noch einmal Hofprediger, verlaß’ Dich darauf!“
„Das glaube ich auch; und, was das beste ist, er wird das nicht seinem alten adligen Namen und seinen hohen Verbindungen verdanken, sondern sich selbst!“
„Und wie schön er ist!“
„Wunderschön ja! Sieh’ einmal, Thea würde mich auslachen, und wer weiß auch, ob sie mich so recht verstände – Dir kann ich’s aber sagen, Du weißt, wie es gemeint ist von mir: diesen Conventius könnte ich liebhaben, so recht treu und freundschaftlich und von Herzensgrund, und könnte ihm vertrauen wie einem ganz alten, erprobten Freund, ja, streng genommen, ich thu’ das alles eigentlich jetzt schon, trotz unserer kurzen Bekanntschaft! Ist es die herrliche Predigt gewesen oder ist es sein Gesichtsausdruck, sein ganzes Wesen: ich könnte ihm ohne weiteres folgen, ihm blindlings glauben und ihm eine große Gewalt über mich einräumen. Was meinst Du – wie kommt das wohl?“
Frau Weyland sah in das offene Gesichtchen, in dem ein redliches Nachsinnen zu lesen war, und sie sagte sich innerlich, daß Reginalds Aussichten, trotz dieser schmeichelhaften Meinung, nicht besonders gut ständen. Ein Mädchen, das einen Mann liebt, auch ihrer selbst unbewußt, äußert sich anders.
„Das ist wohl das Geheimniß, das man Sympathie nennt, Annie! Und dann, es läßt sich nicht leugnen, hat Conventius’ Persönlichkeit entschieden für die meisten Menschen etwas ungemein Gewinnendes und Fesselndes, abgesehen davon, daß die ganze Art, wie er seinen Beruf ergriffen und aufgefaßt hat, unendlich für ihn spricht.“ –
Die beiden Damen waren jetzt in der Nähe des Museums angelangt. – Der großartige, weitläufig angelegte Bau mit seinem von korinthischen Säulen getragenen Portikus und der breiten grauen Marmortreppe zog viele Besucher an – von allen Seiten strömten Menschen herzu; Bekannte blieben stehen und begrüßten einander, lebhaftes Geplauder und Lachen ertönte, dazwischen das Klipp-Klapp der Offizierssäbel, die gegen die Steinstufen anschlugen.
Am Fuß der untersten Treppenstufe lag ein wunderschöner großer Neufundländer, behaglich hingestreckt, mitten im hellen [679] Sonnenschein, und blinzelte mit träger Gleichgültigkeit in das vorüberfluthende Menschengetümmel.
Annie Gerold spürte ein eigenthümliches Zucken durch ihren ganzen Körper. „Ego!“ rief sie halblaut.
Das Thier wandte rasch den Kopf, erhob sich und kam zur Begrüßung herangetrabt, indem es sich gegen Annies Kniee drängte und sich von ihrer Hand streicheln ließ. Seine klugen Augen wanderten zum Museum empor, dann wieder zu der jungen Dame zurück. „Geh’ nur hinauf – Du findest ihn oben!“ schien der ausdrucksvolle Blick zu sagen.
„Woher kennst Du diesen prächtigen Hund, Annie?“ fragte Frau Weyland, indem sie dem Thiere liebkosend über den Kopf fuhr, was Ego sich gnädig gefallen ließ.
„Ja – siehst Du! Das ist eine ganz neue Bekanntschaft von mir! Nicht wahr, er ist schön?“ rief das junge Mädchen, die Antwort umgehend.
Sie stiegen langsam die vielen Stufen hinan.
„Annie,“ flüsterte Frau Hedwig, als sie in den riesengroßen, in zahlreiche Nischen abgetheilten Saal getreten waren. „Augen rechts! Da stehen Deine Verehrer, die Ulanen, mit ein paar jungen Damen; wenn Du ein ganz klein wenig geschickt Dich halten wolltest, dann hättest Du in zwei Minuten Deinen ganzen Hofstaat um Dich herum und könntest hier einhergehen wie eine junge Fürstin mit Gefolge.“
„Ach nein! Um Gotteswillen nicht – komm rasch vorbei!“ stieß Annie etwas ungeduldig heraus – ihr war es gerade um die Ulanen zu thun!
„So – nun wäre die Gefahr vorüber! Aber Kind, warum wolltest Du eigentlich nicht? Zum Beispiel, Conventius ist doch sehr nett!“
„Ja, er ist nett – ein ganz besonderer Günstling von Thea – sie sagt, er wolle nicht mehr bedeuten, als was er wirklich sei: ein flotter, hübscher Offizier von gewisser Geistesschärfe und leidlicher, anspruchsloser Bildung. Aber, Hedwig – mit einem halben Dutzend Ulanen zusammen Bilder ansehen – für einen Menschen, dem es wirklich Ernst mit dem Anschauen und der zudem verpflichtet ist, von allem wirklich Hervorragenden Thea einen vernünftigen Bericht zu liefern! Du weißt es, sie ist nicht ganz leicht zufriedenzustellen, und wenn ich will, daß sie durch meine Augen sieht, muß ich mich gehörig zusammennehmen.“
„Ich gebe Dir ganz recht, Liebchen. Vertiefen wir uns also!“
Dies sollte den Damen nicht ganz leicht gemacht werden; es gab gar zu viele Bekannte zu begrüßen, Hände zu schütteln, Verbeugungen zu machen, Fragen zu beantworten. Aber Annie, die von einer großen innern Unruhe getrieben wurde, eilte rastlos weiter, mit ihren fragenden, ungeduldigen Augen in jede Nische spähend, die Bilder alle überfliegend. Frau Hedwig war in gewisser Weise enttäuscht: sollte dies Umherjagen, dies flüchtige, oberflächliche Anschauen das ernste Studium bedeuten, von dem ihre junge Freundin ihr gesprochen hatte?
„Was suchst Du eigentlich, Annie? Auf diese Weise werden wir gar nichts sehen!“ Es half nicht viel, das Mädchen hielt es keine Minute auf ein und derselben Stelle aus. Frau Weyland hatte den Katalog in der Hand und blätterte nach, wenn sie irgend Zeit dazu fand.
„Welchen Vorwurf hat eigentlich Professor Delmonts Bild?“ fragte sie jetzt. „Ich bin wahrhaftig in den letzten Tagen nicht einmal dazu gekommen, den Katalog vorher durchzusehen, was ich sonst immer zu thun pflege; aber vorgestern war Diner bei meiner Schwägerin, das sich sträflich lange ausdehnte, und gestern hatte, wie Du weißt, mein Helenchen Geburtstag – vormittags feierliche Bescherung, nachmittags Kindergesellschaft; hättest Du mir nicht so liebenswürdig geholfen, zum Tanz zu spielen, wäre ich kaum vom Klavier fortgekommen! – Also, jetzt Delmont! Sehen wir einmal im Verzeichniß nach.“
„Ach nein – bitte – laß!“ wehrte Annie hastig ab. „Ich finde sein Bild ohne das heraus, verlaß Dich darauf. Ich habe mir’s vorgenommen!“
„Soso!“ entgegnete Frau Weyland trocken und ließ sich geduldig weiterziehen.
In einer links gelegenen, ziemlich geräumigen Nische staute sich das Publikum in auffallender Weise; die beiden nähertretenden Freundinnen sahen zuerst gar nichts, soviel Köpfe schoben sich davor. Annie erhob sich auf die Fußspitzen und bog sich seitwärts, dann wandte sie sich mit einem tiefen Athemholen zu Frau Weyland und sagte: „Dort ist es!“
„Wirklich?“ erwiderte diese und sah dem Mädchen in das plötzlich erblaßte Gesicht. „Weißt Du das so genau? Wenn wir nur mehr herankämen! Da wendet sich der dicke alte Herr mit seinen Töchtern eben zum Gehen; jetzt rasch, Annie! Schlüpfe durch – so! Meinst Du das große Gemälde? Laß einmal sehen, richtig: Karl Delmont: ‚Der Engel des Herrn!‘“
Ja – – der Engel des Herrn! Eine lebensgroße, einsame Gestalt, in einem weißen herabfließenden Gewande, scharf sich abhebend von einem duftig verklärten goldigen Licht, das in einem seltsamen Gegensatz zu dem Flammenschwert stand, welches der Engel mit der Rechten gefaßt hielt, wie bereit, es hoch emporzuheben; von ihm ging ein dämonisches Leuchten aus, es war, als zuckte und zitterte ein lebendiger Blitz hin und wider, er warf einen breiten Feuerschein auf das weiße Gewand des Cherubs – es lag eine blendende, unglaublich packende Farbenwirkung in diesem mit förmlicher Leuchtkraft gemalten Flammenschwert.
Viele Beschauer fanden sicher, daß dies, abgesehen von der hohen Kunst, mit der das ganze Bild gemalt war, der einzige Effekt war, den es hervorrief. Denn statt eines zornig majestätischen Halbgottes, der gebieterisch die sündigen Menschen aus dem Paradiese treibt, statt eines strafenden Richterantlitzes sah ein schönes, schwermüthiges Menschengesicht aus dem Rahmen des Bildes heraus. Eine Welt voll Trauer und Erbarmen sprach aus den unergründlichen, blauschwarzen Augen; es war, als umfaßten sie die ganze Menschheit, die nach diesem einen Paar sündigen und büßen sollte; als sähen sie all den unendlichen Jammer und die zahllosen Leiden und Thränen auf Erden und wünschten überzufließen vor schmerzlichem Mitleid. Auch um die Lippen lag ein Zug rührender Trauer, und die linke Hand hing schlaff nieder in einer Gebärde der Hilflosigkeit, die sagen zu wollen schien: „meine Rechte wird sich erheben und ich werde dem Gebot Gottes gehorchen – aber mein Herz zittert und weint um euch – ihr Armen, ihr Armen!“ –
Hinter den beiden Damen wurden bewundernde Ausrufe laut; aus welch verschiedenartigen Menschen auch ein solches Kunstausstellungspublikum zusammengesetzt ist – dem großartigen Eindruck dieses Gemäldes konnte sich kein einziger entziehen. Die geradezu meisterhafte Technik, die hier so ganz in den Dienst der alles beherrschenden Idee gestellt war, die beinahe greifbar zu nennende Gestaltung der Form erfüllte die Kunstkenner und Kritiker mit heller Begeisterung. Die Mehrzahl der Beschauer ließ unbefangen das schöne Ganze auf sich wirken – alle aber kamen darin überein, „man könne stolz darauf sein, den Schöpfer eines so genialen Werkes Mitbürger zu nennen – die Kunst-Akademie werde fortan einen neuen Aufschwung nehmen – und der Ruf und Ruhm, der diesem Künstler vorangegangen sei, habe diesmal nicht übertrieben!“
Frau Hedwig Weyland, durch ihren sehr kunstliebenden und kunstverständigen Gemahl geschult, war Kennerin genug, das Bild nach mehr als einer Richtung zu bewundern, aber sie hatte gar nicht die rechte Ruhe, sich in das tiefsinnige Werk zu versenken; immer wieder irrte ihr Blick von dem Gemälde zu ihrer jungen Freundin ab, die offenbar ganz weltentrückt, ganz hingenommen von einem gewaltigen Eindruck, vor dem „Engel des Herrn“ stand.
„Es ist gar kein Zweifel,“ sagte sich Frau Weyland, „sie liebt diesen Mann!“ Und mit diesem Gedanken legte sich zugleich wie ein Alp die alte böse Ahnung, die sie an jenem Gesellschaftsabend so unablässig verfolgt hatte, ihr auf die Brust und nahm ihr Freude und Genuß an allem, was sich ihr hier Schönes bot. –
Hedwig Weyland war schon als Kind das gewesen, was man eine kleine „Sensitive“ nennt; sie hatte allerlei phantastische und merkwürdige Träume, sie wandelte bei Mondschein mit geschlossenen Augen einher und fühlte sich vom Lichtwechsel stets stark beeinflußt – sie las gern Geschichten, in denen das Uebernatürliche, Unerklärliche eine Rolle spielte, und merkte auf viele Dinge, die alle andern Menschen unbeachtet ließen. Die gesunde Lebensart ihres elterlichen Hauses, sowie eine verständige ärztliche Behandlung bewahrte sie vor Hysterie und schlimmen nervösen Erscheinungen … immer aber, auch nach ihrer Verheirathung mit einem durch und durch praktisch und aufgeklärt gesinnten Mann, haftete ihr ein Hang an, sich grübelnd in Gebiete
[680][681] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [682] zu vertiefen, die gleichsam das Zwischenreich bildeten, jenseit des klar ergründenden Verstandes lagen, von den meisten Menschen als „Unsinn“ kurz abgefertigt und verspottet, von andern unklar empfunden, aber nicht offen anerkannt, von einigen wenigen als wichtiger Bestandtheil des Empfindungsdaseins betrachtet wurden. Frau Hedwig hatte ein brennendes Interesse für den Hypnotismus, sie erwies sich bei gelegentlichen Versuchen als ein vortreffliches Medium, und nur der ernste Machtspruch ihres Gatten, der behauptete, sie schade ihrer Gesundheit mit „solchem Zeug“, vermochte es, sie an einer eingehenden Beschäftigung mit dieser plötzlich in die Mode gekommenen Richtung zu verhindern. Robert Weyland behauptete scherzend, wäre er nicht gewesen, dann würde seine Frau längst als Somnambule hochberühmt, vielleicht sogar als staatsgefährlich in sichern Gewahrsam gebracht worden sein … die hübsche, blonde Frau ließ ihn ruhig spötteln und lachen. Es war ihr aber durchaus nicht wohl bei ihrer seltsamen Begabung, und sie hatte mehr als einmal lebhaft gewünscht, keinerlei Ahnungen, Vor- und Anempfindungen und ähnliche Zustände zu kennen, denn sie trübten ihr sonst so glückliches Dasein, umsomehr, als niemand in ihrem ganzen Freundeskreise den wunderlichen Zustand, in welchem sie sich oft halb wachend, halb träumend befand, begreifen konnte, sie daher alle ihre Gefühle und Erfahrungen auf diesem Gebiet streng in sich zu verschließen gewöhnt war. – Mit Annie hatte sie, so hoch sie deren Verstand hielt – vielleicht eben darum – auch nie darüber gesprochen. Annie war so heiter, klug und offenherzig – „klar und durchsichtig wie ein Thautropfen,“ sagte Frau Weyland von ihr – warum sollte sie ihre glückliche Jugend trüben, indem sie ihre Gedanken in einen Kreis lenkte, über dem ein so ungewisses, düsteres Halblicht lagerte? Zudem hatte Annie Gerold eine sehr scharfsinnige Schwester, die derartige Dinge bald durchschaut und sich jede Beeinflussung ihres „Vögelchens“ in diesem Punkt sehr entschieden verbeten haben würde. – Und gerade die schöne, reiche und verwöhnte, die glückliche und begabte Annie, Frau Hedwigs Liebling, war es, die sie jetzt so beunruhigte! Mit einer Bestimmtheit, für die es durchaus keine Handhabe gab, die sich aber um keinen Preis wegstreiten und leugnen ließ, fühlte … nein, wußte die junge Frau, daß ihrer geliebten jungen Freundin ein Unheil nahe, daß der Mann, dem ihr Herz sich widerstandslos ergeben, ihr zum Schicksal – zum traurigen Schicksal! – werden würde, und daß es kein Mittel gäbe, um dies abzuwenden! – Und vermöge dieser verhängnißvollen Feinfühligkeit wußte auch Frau Hedwig, ohne sich umzuwenden, wer plötzlich hinter sie getreten war; es hätte der leisen Bewegung im Publikum, des Flüsterns, Raunens und Auseinandertretens gar nicht bedurft – sie fühlte – er war gekommen!
Professor Delmont trat dicht neben Annie Gerold, und diese schrak heftig zusammen, wendete ihm ihr süßes, blasses, ergriffenes Gesicht zu, und so standen sie beide Auge in Auge, abgesondert, denn die Menge war vor dem Schöpfer des Bildes achtungsvoll zurückgewichen, und der „Engel des Herrn“ sah aus seinen wunderbaren Augen, die alles wissen und alles betrauern, auf sie herab.
Delmont las augenblicklich in Annies Zügen den großen Eindruck, welchen sein Gemälde auf sie hervorgebracht hatte, und ein stolzes Lächeln trat in sein Antlitz, es war kein Dünkel, sondern ein schöner, männlicher Stolz, der ihn gut kleidete.
„Wollen Sie mit mir kommen? Darf ich Ihr Führer sein?“ fragte er mit gedämpfter Stimme, und sie neigte glücklich und befangen ihr schönes Köpfchen; wie damals in der Kirche versank wieder um sie her die ganze Welt, als sie an seiner Seite die Nische verließ. Nach Hedwig Weyland sah sie sich kein einziges Mal um; sie hatte sie vergessen.
Die junge Frau hatte das kommen sehen und seufzte tief auf; viel zu sehr mit Annies Geschick beschäftigt, um sich persönlich gekränkt zu fühlen, sah sie den beiden nach und beschloß, gleich nach Hause zu gehen, da ihr der ganze Genuß an der Gemäldeausstellung verdorben war.
Wie sie sich jetzt dem Ausgang zuwandte, trat ihr Fritz von Conventius, der Ulanenlieutenant, entgegen. Dieser unternehmende junge Herr hatte sich von seinen Kameraden getrennt, um Fräulein Hedwig Rainer, seiner einstigen Tischnachbarin beim Weylandschen Fest, die mit einer gemüthlich aussehenden Mama gerade des Wegs daherkam, ein wenig den Hof zu machen. Das junge Dämchen sah so frisch und niedlich aus, daß es eine Herzensfreude war, sie zu sehen; ein freudiges Roth stieg in ihre Wangen, als sie der Mama den flotten Kavalier vorstellte, und diese, in dem schönen Bewußtsein, daß ihre Hedwig fünfzigtausend Thaler Vermögen habe und nach ihrem Belieben wählen könne, lächelte den hübschen Offizier ganz wohlwollend an und hatte gar nichts dagegen, daß er sich den Damen widmete. Das geschah denn auch eine ganze lange Zeit zu allseitigem Vergnügen, und als Fritz sich endlich von Mutter und Tochter verabschiedete, war ihm der scherzhafte Ausspruch Thekla Gerolds, diese Hedwig Rainer sei die richtige Frau für ihn, schon bedeutend näher gerückt. Annie hatte er von weitem mit Frau Weyland gesehen, wunderbarerweise noch ohne Herrenbegleitung … aber jetzt eben … bog sie dort nicht um eine Ecke und war der hochgewachsene Herr an ihrer Seite nicht dieser Professor Delmont?
Der Ulan strengte seine Augen an, es war doch wohl ein Irrthum, die Entfernung war ziemlich bedeutend! – aber da kam ja Frau Weyland allein ihm entgegen, die würde ihm Aufklärung geben können.
„Meine gnädigste Frau, ich schätze mich glücklich! Darf ich mich nach Ihrem und der werthen Ihrigen Befinden erkundigen?“
„O danke, wir sind alle ganz wohlauf! Sie wollten mich etwas fragen, Herr Lieutenan?“
„Was ich für ein ausdrucksvolles Gesicht haben muß!“ dachte Fritz etwas verdutzt. Laut sagte er:
„Ja – hm – allerdings – Sie waren doch, wenn ich mich nicht irre, in Fräulein Gerolds Gesellschaft, meine Gnädige –“
„Ganz recht! Sie ist mir aber von Herrn Professor Delmont entführt worden!“
„Also doch! Dieser Mensch hat einen verblüffenden Treffer auf sie, und mein armer Reginald – Verzeihung! – ich bin im Begriff, eine ungeheure Dummheit zu sagen.“
„Ach nein, Herr Lieutenant!“ Frau Weyland sah ganz treuherzig zu ihm in die Höhe. „Sie meinen Ihren Vetter, den Pfarrer von Sankt Lukas, nicht wahr? Nun, wir trafen ihn, ehe wir hierhergingen, er konnte uns nicht begleiten, hatte eine Zusammenkunft mit einem Herrn vom Kirchenkollegium –“
„Daß den der Teufel hole!“ brach der heißblütige Lieutenant los. „Verzeihung, gnädige Frau! Aber wenn Sie wüßten – ich habe da so mein stilles Plänchen – Reginald ist ja ein so herrlicher Mensch, nur eben ein wenig weltfremd, versteht nicht, drauf zu laufen … ich hatte mir’s hübsch gedacht, ihm etwas die Wege zu ebnen –“
„Ich auch!“ fiel die junge Frau ein. „Selten hat ein Mann mir mehr Sympathie eingeflößt als Ihr Vetter, und ich denke mir, er wäre imstande, ein großes Glück – Annie zu besitzen halte ich für ein großes Glück! – vollauf zu würdigen. Aber, Herr Lieutenant, auch wenn wir beide in dieser Sache Bundesgenossen würden, es ist schon zu spät!“
„Auch wenn ich einen dritten und sehr wichtigen Genossen dazu werben könnte – Fräulein Thekla Gerold? Stellen Sie sich vor, daß diese geistreiche Dame mich, Fritz Conventius, mit ihrem besondern Wohlwollen beehrt –“
„Ich hörte davon, Sie sind ja nächstens überall der Bevorzugte, bester Herr Lieutenant, auch bei Rainers scheinen Sie eine gute Nummer zu haben. Aber selbst wenn Thekla unsern Plan billigte, sie würde schwerlich die Hand dazu bieten, sie würde hierin ihre jüngere Schwester nicht beeinflussen wollen, selbst wenn sie es könnte. Und Annie wäre in so wichtigen Dingen auch von niemand zu lenken, sie wird, darauf möchte ich schwören, nur ihrem eigenen Herzen folgen – und dies hat bereits gesprochen!“
Fritz von Conventius starrte ganz erschrocken nach der Gegend hin, in welcher Annie mit dem Professor verschwunden war.
„Sie meinen also wirklich?“
„Ja, ich meine wirklich!“ bestätigte sie nachdrücklich.
Das offene Gesicht des Lieutenants nahm einen so bestürzten und traurigen Ausdruck an, daß Hedwig Weyland ihn in ihrem Herzen einen lieben Menschen nannte. Schweigsam und enttäuscht, jeder in tiefen Gedanken, verließen die beiden Bundesgenossen das Ausstellungsgebäude.
Indessen schritt Delmont an Annie Gerolds Seite als „Führer“ dahin. Wie alle Menschen, die von einer Sache viel verstehen und die Schwierigkeit der Erlernung und Ausübung einer Kunst, sofern sie sich überhaupt „erlernen“ läßt, ermessen, urtheilte Delmont sehr milde und einsichtsvoll über seine Berufsgenossen. Die Nichtswisser und die Halbgebildeten, das sind die schlimmsten Tadler; [683] je näher ein Künstler selbst der Vollendung in seinem Schaffen steht, um so nachsichtiger wird er andere beurtheilen, die noch auf den untersten Stufen der Ruhmesleiter sich befinden.
Einige Herren und Damen aus dem Publikum folgten den Zweien in einer geringen Entfernung beharrlich nach, um die Aussprüche des berühmten Malers zu hören und später zu verbreiten; sie wunderten sich, wie vieles er lobte, und zwar nicht etwa in gnädig herablassender Weise, sondern ganz sachlich, oft mit warmem Eifer oder offenbarer Freude. Annie, obgleich künstlerisch nicht unwissend, besaß doch nicht immer einen genügend geübten Scharfblick, um Delmont jedesmal zu verstehen, und sie sprach das stets offenherzig aus. Wenn der Professor vor einem zwei Hände großen Bildchen, das einen schmalen Streifen Wasser, zwei Kühe, ein halbzerfallenes Hüttchen und ein paar windzerzauste Bäume aufwies, in helles Feuer gerieth und es ein Kleinod nannte, so konnte Annie nicht begreifen, was er daran sah, und er mußte ihr deutlich machen, wie köstlich die Luft gemalt, wie schön die Fernsicht, wie fein bemessen die Abstimmung der Farben sei, das fahle Grün der Bäume, das spiegelnde Blaugrau des stehenden Wassers, die buntgefleckten Körper der beiden Kühe. Sah sie seine Belehrung ein, erwachte das Verständniß für dasjenige, was er ihr zu erklären suchte, in ihr, so hatte sie eine kindliche Freude daran, dies zuzugestehen, womöglich selbst neue Reize eines Bildes zu entdecken, von welchem sie vor kurzem erklärt hatte: „Das sieht unbedeutend aus, daran finde ich nichts!“ Zuweilen hob sie etwas als schön hervor, was er mit seinen scharfen Maleraugen für das gerade Gegentheil ansah, und sagte er ihr das, dann konnte Annie Gerold lachen, so herzlich, ungezwungen und ansteckend, daß er mit einstimmen mußte. Wie sie ihn umwandelte, wie sie ihn jung machte und glücklich! Von seinem eigenen Gemälde sprachen sie nicht. Es wäre dem Mädchen unpassend erschienen, ihm hier von der Wirkung zu sprechen, die es auf sie hervorgebracht, auch hätte sie diese schwerlich in Worte kleiden können; gerade so, wie sie Reginald von Conventius nicht für die Predigt zu danken vermocht hatte, die doch in ihrem Herzen einen so lauten Widerhall erweckte. Delmont war ganz glücklich, daß ihm Annie nicht mit Schmeicheleien kam, es hätte ihm den vollkommen ausgeglichenen und reizvollen Eindruck ihrer Persönlichkeit getrübt; er hatte nur beim Beginn ihrer gemeinsamen „Kunstreise“ zu ihr gesagt: „Ich kam natürlich nicht in jene Nische, um mein Bild zu sehen und zu hören, was man darüber sagte,“ worauf sie ihn hastig unterbrochen hatte: „Das konnte ich mir denken!“ – „Sondern,“ beendigte er seinen Satz, „weil ich Sie mitten in dem Menschengedränge erkannt hatte und gern mit Ihnen sprechen wollte!“
Ach, Annie Gerold war glücklich, so glücklich! Sie ging wie auf Wolken, sie dachte nicht an Zeit und Stunde, nicht an die Menschen und ihr kleinliches Thun. Wie er sie ansah, wenn er zu ihr sprach, es durchschauerte sie! Sein Blick glitt schmeichelnd und liebkosend über ihr junges Antlitz, und seine gedämpfte Stimme klang so weich. „Ich gehöre Dir, Dir ganz allein! Ich bin nur für Dich da!“ schienen Blick und Stimme zu sagen.
Und als sie dann, leider, leider! doch endlich bemerken mußte, wie der große Saal immer leerer wurde, und mit heimlichem Schreck die späte Stunde feststellte, da hatte er ihre Hand genommen und gefragt, wann er sie besuchen dürfe; es klang sehr bedeutsam, ganz und gar nicht wie eine gewöhnliche Höflichkeitsfrage. Und sie erinnerte sich, daß er ihr erzählt hatte, wie er des Vormittags am besten malen könne, und wie zumal jetzt, in den lichten Frühlingstagen, diese Stunden ihm die liebsten seien; und sie hatte die Zeit zwischen fünf und sechs Uhr des Nachmittags genannt, er hatte zugesagt und seinem Ego gepfiffen, dem klugen, treuen Thier, und dann hatten sie Abschied von einander genommen im hellen, funkelnden Sonnenschein, unter dem klarblauen Lenzhimmel, der sich über ihnen wölbte, weit, weit, unermeßlich wie ein großes, wunderbares, unergründliches Glück.
An all das dachte Annie – traumhaft – herzbefangen – wie sie, leise vor sich hinlächelnd, den Heimweg antrat.
Alle Rechte vorbehalten.
Herbstfarben.
Es ist müßig, zu streiten, welche der Jahreszeiten am schönsten sei. Sie sind alle schön, jede hat ihre besonderen Reize. Wenn wir aber vom ästhetischen Standpunkt die Landschaftsbilder in den jahraus jahrein wechselnden Kleidern betrachten, so dürfte in vieler Hinsicht der Herbst den Preis davontragen.
Im Herbst scheidet die Pflanzenwelt von uns und ihr Abschied gestaltet sich zu einem förmlichen Feste. Die Blumen sind verblüht, dafür aber erglüht jedes Blatt in wechselvollen Tinten, und namentlich unser Laubwald erscheint in einer Farbenpracht, mit der sich selbst die der tropischen Waldungen nicht messen kann.
Ich will dem Leser ein Bild, das ihm ohne Zweifel aus eigener Anschauung bekannt ist, in Erinnerung zurückrufen.
Vor meinem Fenster erheben sich bewaldete Höhenzüge. Der mittlere ist mit gemischtem Walde bestanden. Im Sommer ist er sozusagen ein langweiliger Berg, eine eintönige grüne Masse, in der selbst ein geübtes Auge einzelne Bäume nicht zu erkennen vermag. Anders im Herbst.
Der Grundton des Bergwaldes ist jetzt braunroth geworden. Er wird durch die vollen Kronen der Rothbuche gebildet, die eigentlich erst jetzt ihren Namen verdient. Auf diesen Teppich hat der Herbst wunderbare Muster gestickt. Aus den braunrothen, wolkenartig sich übereinander aufthürmenden Massen leuchten hellere Farben hervor.
Dort ragen spitze Kuppeln, die Weißbuchen, die noch im großen und ganzen grün, aber an der Spitze der Zweige bereits gelb gefärbt sind. Hoch oben am Berge züngeln ein paar Wipfel wie gelbe Flammen empor, es sind die schlanken, bereits ganz entfärbten Birken; an anderen Stellen wieder erheben sich einige abgerundete, schwefelgelbe Kuppen, die Kronen der Ahorne und neben ihnen sticht fast brennend wie Feuergluth der purpurrothe Gipfel einer Vogelkirsche hervor. Die Eichen sind noch grün, aber erst jetzt kommt ihre zerrissene vielzackige Krone zur kraftvollen Geltung.
Dieses bunte und doch harmonische Bild wird von den dunkelgrünen Tannenwäldern zur Rechten und zur Linken und oben von dem klaren blauen Himmel eingerahmt, während unten der Wiesengrund noch in frischem Grün prangt und die Erlen am Bache nicht die geringste Verfärbung zeigen.
Der Wald liegt im Sterben, aber für uns hat er erst in diesem Augenblick Leben gewonnen, denn wir sehen jetzt nicht mehr eine eintönige grüne Laubmasse, sondern Gruppen ausgeprägter Baumgestalten.
Das Schauspiel der herbstlichen Verfärbung des Laubes tritt nicht überall in derselben Schönheit auf: es wird durch die Mischung der Arten und Formen in einem Waldbestande bedingt. In Europa sind die Rhein- und Donauufer wegen ihrer herbstlichen Pracht berühmt.
Leider ist diese Herrlichkeit nur von kurzem Bestande; bald kommen die ersten Fröste und die kalten Nordwinde; das bunte Gewand der Bäume wird von den Zweigen gerissen und die dürren Blätter tanzen im Winde und werden zu unscheinbaren braunen Haufen zusammengeweht.
Etwas länger dauert die Verfärbung des Laubes in Nordamerika am Lorenzstrome und an den kanadischen Seen. Hier ist der Reichthum der gemischten Wälder an Arten und Formen bedeutend größer und die Farben sind glühender und mannigfaltiger. Eine Stromfahrt im Herbst gleicht in jenen Gebieten einer Fahrt durch ein Feenland, und keine andere Waldlandschaft der Welt kann in dieser Hinsicht mit der nordamerikanischen sich messen.
Bei uns in der Ebene und in den Hügellandern kommt der Wald in herbstlichen Farben zur Geltung, die niederen Sträuche und Stauden verschwinden gegen die Pracht der hohen Bäume, und die Wiesen bieten nur ein mattes Bild.
Dort aber, wo es keine Bäume mehr giebt, in den arktischen Gebieten und im Hochgebirge, welches über die Baumgrenze emporragt, ist der Herbst nicht minder schön und entfaltet Reize, von denen die sommerlichen Besucher der Berge kaum eine Ahnung haben.
„Unten in den Thalgründen,“ schildert Anton Kerner von Marilaun den Herbst im Hochgebirge, „welche wegen des tieferen Standes der Sonne auf weite Strecken schon im Schatten liegen, bleibt der Boden ununterbrochen weiß bereift, während oben auf den südlich sich abdachenden Bergeshöhen mit dem ersten Sonnenblick auch die nächtlichen Reife schwinden und tagüber milde Lüfte über die Gehänge wehen. Schneehühner sowie Schwärme der über Alpenpässe ziehenden, hier zu kurzer Rast weilenden Wandervögel sind geschäftig, die Beeren von dem in großer Zahl die Halden überziehenden niedern Strauchwerke abzupicken; die Falter aber, welche im Sommer um die großen Alpenblumen so geschäftig waren, sind verschwunden; hier und da erheben sich noch einzelne bleiche Skabiosen und die dunklen Aehren des spät blühenden norwegischen Ruhrkrautes, alles übrige ist schon in Frucht übergegangen und der Blüthenreigen ist abgeschlossen. Und dennoch machen die Gehänge jetzt den Eindruck sommerlicher Fluren, die mit ungezählten Blüthen geschmückt sind. Das sommergrüne Laub der niederen Stauden und Kräuter und insbesondere der verzweigten buschigen und teppichbildenden Sträucher gewinnt eben während dieser kurzen Zeit rothe, violette, gelbe Farbentöne, welche den lebhaftesten Blüthenfarben an Schmelz und Leuchtkraft nicht nachstehen. Am auffallendsten treten die sommergrünen Heidelbeergewächse und eine Art von Bärentrauben hervor. Während die Blätter der Moosbeere einen violetten Farbenton annehmen, kleiden sich die Heidelbeeren in tiefes Roth und die Alpenbärentraube in weithin sichtbaren Scharlach. Die herbstlich gefärbten Blätter dieser letzteren Pflanze zeigen überhaupt das schönste Roth, das an irgend einem Laubwerke im Herbst beobachtet wird, noch viel feuriger als jenes der nordamerikanischen Reben und des Essigbaumes, und wenn das Laub dieser Bärentraube auf einem Berggrate von den schief einfallenden Sonnenstrahlen durchleuchtet wird, so glaubt der tiefer unten stehende Beobachter Strontianflammen aus dem Boden hervorzüngeln zu sehen. Auch die Blätter zahlreicher nicht holziger Gewächse, so namentlich der alpinen Geranien und des Alpenhabichtskrautes, färben sich vor dem
[684] Welken am Saume und längs der Nerven und nehmen sich von fern wie rothe, violette und scheckige Blüthen aus. Das Farbenspiel in der Alpenregion wird noch dadurch wesentlich gehoben, daß es an breiten Flächen mit dunklen Tönen nicht fehlte. Die Zahl der immergrünen Gewächse ist dort eine verhältnißmäßig große, und insbesondere erhalten mehrere jener Arten, welche bestandbildend auftreten, ihr grünes Laub unter der lange dauernden winterlichen Schneedecke bis in die Vegetationsperiode des nächsten Jahres. Die Bestände aus Legföhren, die Gestrüppe der Alpenrosen, die Gruppen der schwarzfrüchtigen Rauschbeere und die schimmernden Teppiche aus der immergrünen Bärentraube bringen mit ihren dunkelgrünen Farben eine gewisse Ruhe in das bunte Gewirr.“
Das reizende Schauspiel der Verfärbung des sommergrünen Laubes in der alpinen Region erstreckt sich in der Regel nur auf 14 Tage. Dann lösen sich die bunten Blätter von den Zweigen und Zweiglein ab, und bald breitet sich eine dichte, bleibende Schneelage über das Hochgebirge aus. „Die Kämme, Halden und Mulden, auf welchen kurz vorher noch feuriges Roth und helles Gelb zwischen den dunklen Legföhren und Alpenrosen aufflammte, heben sich jetzt mit blendendem Weiß vom winterlichen Himmel ab.“
Den Tropen fehlt die Pracht der Laubverfärbung. Der Herbst dauert dort überhaupt nur eine kurze Zeit. Auf die Regenzeit folgt in raschem Uebergang der sengende Winter und die meisten laubwerfenden Bäume verfärben sich nicht, ihre Blätter fallen noch grün von den Zweigen.
Wenn uns der Anblick der herbstlich geschmückten Wälder und Berglandschaften mit Entzücken und Bewunderung erfüllt, so ruft der gleichzeitig auftretende Laubfall wehmüthige Stimmungen in unserer Seele hervor.
„Ein Herbsttag gießt über uns das Verständniß des Scheidens aus,“ sagt Roßmäßler, aber er fügt gleich hinzu: „das Scheiden ist eine erschütternde Stärkung für das sittliche Gemüth.“ Das Bild des Vergehens, welches uns der Herbst darbietet, ist schon darum nicht trostlos, weil wir in ihm den Knospenbilder, den Vater des kommenden Lenzes erblicken. So singt auch Homer:
„Muthiger Tydeussohn, was fragst Du nach meinem Geschlechte?
Folgen sich doch, wie die Blätter am Baum, die Menschengeschlechter:
Welkende streut auf die Erde der Wind und andere neue
Bildet der knospende Wald im wiedergeborenen Frühling.
Ebenso wächst ein Menschengeschlecht und das andere schwindet.“
Unter allen Eindrücken, die der Wechsel der Jahreszeiten hervorruft, ist der des Herbstes, des Laubfalles, der Laubverfärbung, sicher der nachhhaltigste, und dem Wanderer durch Berg und Thal bietet gerade der Herbst die schönsten Natürgenüsse. Das wissen viele und schieben ihre Reise klug über die heiße Sommerzeit hinaus.
Wenige, welche dann die Pracht des Herbstes genießen, wissen sich jedoch von den inneren Vorgängen in den Pflanzen, welche sie verursachen, Rechenschaft abzulegen. Und doch ist die Kenntniß der Ursachen der Verfärbung des Laubes dazu angethan, dem wechselvollen Bilde, das vor unseren Augen sich entfaltet, einen besonderen Reiz zu verleihen.
Der Haushalt einer Pflanze ist nach weisen wirthschaftlichen Regeln eingerichtet. Unnöthige Ausgaben werden in ihm vermieden. Wenn darum an die Pflanzen beim Abschluß der Vegetationsperiode die Nothwendigkeit herantritt, ihr Laub abzuwerfen, so sucht sie alles Brauchbare aus den Blättern zu retten. Es tritt alsdann von den Blättern eine Massenauswanderung der brauchbaren Stoffe nach den Zweigen und Wurzeln ein, wo sie bis zum Wiedererwachen der Pflanze aufbewahrt werden. Außer den Eiweißstoffen, den Kohlehydraten wandert auch der grüne Farbstoff, das Chlorophyll, aus und an seiner Stelle bleiben nur kleine gelbe Körnchen in den Blattzellen zurück. Diese bewirken alsdann die Gelbfärbung des Herbstlaubes.
In vielen Fällen aber muß diese Massenauswanderung der brauchbaren Stoffe vor den Sonnenstrahlen geschützt werden. Viele Pflanzen bilden zu diesem Zwecke einen Farbstoff, der von den Forschern Anthokyan (Blumenblau) genannt wird. Das Anthokyan ist blau, aber durch Säuren wird es roth und bei geringen Beimengungen von Säuren violett. Während der Auswanderung der Stoffe im Herbst wird nun in den Blättern gewisser Pflanzen das Anthokyan als schützende Decke ausgebreitet und schimmert je nach der Zusammensetzung der Blattsäfte in blauer, rother und violetter Farbe; dazu gesellen sich die übriggebliebenen gelben Körnchen, die Rückstände des ausgewanderten Chlorophylls, die, wenn sie in größeren Mengen vorhanden sind, mit dem Anthokyan Orangefarbe geben.
Fällt schließlich ein welkes Blatt zu Boden, so sind in ihm keine werthvollen Stoffe mehr vorhanden, die Pflanze hat nur ein todtes Gerüst abgeworfen.
Das Erglühen des Herbstwaldes ist somit kein Zeichen des Todeskampfes. Der Dichter mag darin den Tod erblicken, der Forscher weist vielmehr eine kraftvolle Aeußerung des Lebens nach. Dies erhöht unsere Freude an dem Anblick der herbstlichen Natur; in dem schönen Farbenglanz sehen wir nicht den Tod, sondern das sanfte Einschlummern. Diese Farbenpracht ist nicht das letzte Aufflammen einer verlöschenden Lampe, sondern das Abendroth im Pflanzenleben, aus welches bald der strahlende Morgen und der helle Tag, der Frühling und der Sommer folgen müssen. Das Anthokyan finden wir, wenn die Knospen im ersten Frühjahr springen, wieder. Die jungen Blättchen sind vielfach zuerst roth oder violett gefärbt, auch sie sind mit einer schützenden Decke gegen die zersetzende Kraft des Sonnenlichtes versehen. Erst wenn sie erstarken, entledigen sie sich derselben und prangen in frischem Grün. E. F.
Alle Rechte vorbehalten.
Die ersten Emigranten und ihre Schicksale.
Am 10. Juli 1789 erhielt der Kommandant von Valenciennes, Graf Eßterhazy, ein in französischen Diensten stehender Offizier aus einem bekannten ungarischen Hause und mit der französischen Königsfamilie persönlich befreundet, spät abends die Aufforderung, sich auf dem Postamt einzufinden. Als er dieser Weisung nachkam, traf er den eben aus Paris angelangten jüngsten Bruder des Königs, den Grafen von Artois, an, und Briefe von der Hand Ludwigs XVI. und Marie Antoinettens wiesen ihn an, Sorge zu tragen, daß der Graf, seine Söhne und seine Begleiter ungefährdet die Landesgrenze erreichen könnten. Wenige Tage vorher, am 14. Juli, hatte die Erstürmung der Pariser Bastille die Reihe der Gewaltthätigkeiten der Revolutionszeit eröffnet, und der König hatte seinem Bruder, der als Führer des hochmüthigen Hofadels in der Hauptstadt besonders verhaßt war, zu dessen eigener Sicherung den Befehl gegeben, das Land so lange zu verlassen, bis der Unwille gegen ihn sich gelegt habe. Am folgenden Tage kamen auch die Söhne des Grafen von Artois, der Herzog von Angoulême und der Herzog von Berry, in Valenciennes an. Mit ihnen und den Begleitern berieth sich der Graf, wohin er sich wenden solle, und er beschloß, sich zunächst nach Brüssel zu begeben. Eßterhazy versah die Reisenden mit einer berittenen Schutzwache und begleitete den Grafen von Artois bis zur Grenze. Dieser sagte gleichmüthig: „In drei Monaten kommen wir wieder.“
In Brüssel stellte sich Artois der Regentin der damals österreichischen Niederlande, des heutigen Belgiens, vor, der mit dem Herzoge von Sachsen-Teschen vermählten Erzherzogin Marie Christine. Diese befragte ihren Bruder, den Kaiser Joseph II., wie sie sich gegen die Fremden zu verhalten habe. Der Kaiser fürchtete Unzuträglichkeiten von dem Aufenthalte des Grafen und verlangte, daß er Brüssel verlasse. Der Graf reiste darauf in langsamen Tagereisen südwärts durch die Schweiz, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß sein Schwiegervater, der König von Sardinien, ihn aufnehmen werde, ließ er sich in Turin nieder. Seine Gemahlin, seine beiden Söhne und einige Herren und Damen des hohen französischen Adels nahmen dort ebenfalls ihren Aufenthalt. Nach ihnen kamen viele andere Franzosen. Man führte drohende Reden gegen die Machthaber in Paris. Choiseul, der französische Gesandte in Turin, bemerkte mit Unruhe, daß die Franzosen sich gegenseitig aufregten und in Drohungen überboten. Ebenso wie der sardinische Hof fing er an, ihre Gegenwart als unbequem zu empfinden. Er meldete nach Paris, daß der Graf von Artois viele Berathungen mit seinem Haushofmeister habe, denn das Geld sei knapp; der Hofhalt des Grafen bestand aus zweiundachtzig Personen.
Mit dieser Wanderung des Grafen von Artois beginnt die französische Emigration, und des Grafen Beurtheilung der politischen Lage, sein Verhalten und seine Schicksale schon bis zu diesem Augenblicke sind für die Emigranten unter dem Hofadel gleichsam vorbildlich. Er und seine Freunde und Genossen meinten, man habe die Schreier in Paris und Versailles nicht rechtzeitig zur Ruhe verwiesen; es sei nothwendig, daß man das bald nachhole, damit der Aufenthalt in der Fremde sich nicht auf halbe Jahre erstrecke. Er und die Seinigen wurden zugleich lästige Gastfreunde, denn sie waren unruhig, anspruchsvoll und nur für eine kurze Reise mit Geld versehen, und ihre Haltung zu den Vorgängen in Frankreich mußte den Fürsten und Staatsmännern, in deren Ländern sie sich niederließen und die mit den Behörden des mächtigen Nachbarlandes keine Weiterungen haben wollten, unbehaglich und bedenklich sein.
Von der unbedingten und ausschließlichen Berechtigung der Königsmacht und der Adelsprivilegien, wie sie sich bis dahin entwickelt hatten, fest überzeugt, genußsüchtig, leichtlebig, oberflächlich, unbelehrbar, selbstbewußt und mißtrauisch, war der Graf von Artois das Oberhaupt und der vornehmste Vertreter jener Emigranten, die für Frankreich, für die königliche Sache und für sich selbst [685] zum Verhängniß wurden. Er hauptsächlich hat die Lehre ausgebildet, daß man nicht Frankreich bekämpfe, wenn man die Regierungen bekämpfe, welche unrechtmäßigerweise dort beständen.
Dem Satze, daß die Emigration ein Fehler gewesen sei, darf man gewiß den anderen entgegenstellen, daß es gerathener war, auszuwandern, als sich guillotinieren zu lassen. Aber wer auswanderte, betrat einen mißlichen Weg, wenn er die fremden Mächte zu einem Kriege gegen Frankreich aufstachelte und gegen die vaterländischen Heere stritt. Selbst ein Bürgerkrieg, von dem für seine und des Königs Vorrechte eintretenden Adel allein ausgefochten, konnte der Sache, für welche dieser Adel eintrat, nicht so unheilbaren Schaden bringen wie die Verbindung mit dem Auslande. Freilich ist es leichter, aus der Kenntniß der Ereignisse nachträglich in kühler Erwägung eine solche Lehre zu ziehen, als es für den Grafen Artois und seine Gesinnungsgenossen war, dieser Lehre nicht entgegenzuhandeln; die überkommene Stellung und Lebensanschauung trieb sie einmal auf diesen Weg.
Der Graf von Artois betrachtete sich, da sein älterer Bruder, der Graf von Provence, erst im Juni 1791 Frankreich verließ, zunächst als den geborenen Leiter der französischen Politik im Auslande, und sein Beirath war der starrsinnige und verblendete Calonne, der frühere Finanzminister. Von Turin aus, auf Reisen durch Italien und Deutschland, durch Zusammenkünfte mit den Monarchen von Oesterreich und Preußen, und seit dem Juli 1791 von Koblenz aus suchte er einen Feldzug verbündeter Herrscher gegen das neue Frankreich zustande zu bringen, damit dort, mit Ludwig XVI. oder auch ohne ihn und selbst gegen ihn, das alte Königthum und die alten Adelsvorrechte wiederhergestellt würden. Daß Frankreich an Oesterreich und Preußen den Krieg erklärte – es geschah im April 1792 – war nicht zum geringsten Theile die Schuld des Grafen Artois. Enttäuschungen und Demüthigungen, die ihm die fremden Höfe bereiteten, die Geldverlegenheiten, die ihn fast beständig drückten, die Mahnungen Ludwigs XVI. und die Bitten der Königin, sich ruhig zu verhalten und die ihnen drohenden Gefahren nicht zu vermehren, machten ihn nicht besonnener und vorsichtiger. Kein Emigrant hat so verderblich auf das Schicksal des Königspaares und auf den Gang der Dinge in Frankreich eingewirkt wie der Graf von Artois, und als er im Jahre 1814 aus England nach Frankreich zurückkehrte, war er unter den Bourbonen derjenige, auf den am meisten der Vorwurf paßte, daß sie „nichts gelernt und nichts vergessen“ hätten.
Weniger unbesonnen als der Graf von Artois war dessen älterer Bruder, der Graf von Provence, der ebenfalls nach Koblenz kam und nun, im Wetteifer mit Artois und auf das Vorrecht des Aelteren gestützt, in die Parteileitung mit eingriff. Obwohl er in jenen Jahren alle Einbildungen der Emigranten theilte, lernte er in entbehrungs- und erfahrungsreicher Verbannung die Menschen und Dinge richtiger schätzen, so daß er, im Jahre 1814 auf den französischen Thron als Ludwig XVIII. berufen, wenigstens den übertriebensten Ausschreitungen seiner ehemaligen Genossen entgegenzutreten wußte und überhaupt mehr Herrschergaben entfaltete als seine Brüder.
Der dritte Leiter der Emigration, und zwar der militärischen, ist der Prinz von Condé, der unter den hervorragenden Emigranten am meisten Kriegserfahrung hatte. Er war mit seinem Sohne, dem Herzog von Bourbon, und mit seinem Enkel, dem Herzog von Enghien, auch erst in Turin und hielt sich dann meist in Worms auf.
Die Versuche dieser Prinzen, von Turin aus eine Erhebung königlich gesinnter Bauern und der dem Könige treu gebliebenen Regimenter zu bewirken, hatten geringen Erfolg. Dagegen blieben ihre Aufforderungen, daß waffenfähige Adlige zu ihnen stoßen und Soldaten zu ihnen desertieren möchten, nicht wirkungslos, und auf eine erste Emigration derer, die sich im Auslande in Sicherheit zu bringen suchten, folgte eine zweite, die man die „ehrenhalber“ oder zur Vertheidigung von Thron und Altar unternommene nannte. Außer dem Hofadel und adligen und bürgerlichen Soldaten gehörten zu ihr auch viele Geistliche, welche die sie zu Staatsdienern erklärende Verfassung nicht beschwören wollten, und Mönche und Nonnen, die man aus ihren Klöstern vertrieben hatte; der Umlauf der Assignaten, jenes Papiergeldes, das Zwangskurs haben sollte und dessen Werth beständig sank, und die willkürliche Festsetzung der Getreidepreise veranlaßten zahlreiche Geschäftsleute, Länder aufzusuchen, wo Handel und Wandel besser geschützt und gesichert waren. Die zunehmende Auflösung der öffentlichen Ordnung, die Machtlosigkeit der ordentlichen Gerichte, die Möglichkeit, gemeine Rachsucht und Habsucht dadurch zu befriedigen, daß man auf aristokratische oder freiheitsfeindliche Gesinnung denunzierte, um dann den Denunzierten verhaftet zu sehen und von der Einziehung und dem Verkauf der Güter desselben selber Nutzen zu haben, vergrößerte von Woche zu Woche die Zahl der Auswanderer.
Hatten die ersten Emigranten gemeint, daß der Aufenthalt in der Fremde eine Art Vergnügungsreise von einigen Monaten sein werde, so nahm man nun die Sache ernster und richtete sich aus eine längere Abwesenheit ein. Belief sich die Zahl der Emigranten, die im Sommer 1789 auswanderten, auf Hunderte, so zählte man im folgenden Jahre schon Tausende; man rechnet, daß im Herbst 1790 täglich durchschnittlich 75 Reisewagen mit Emigranten Paris verließen. Im November 1791 wurde die Zahl der Emigranten amtlich auf mehr als 200 000 geschätzt.
[686] Dem Zuge der Emigranten hätte das Königspaar, wenn es auf dem Wege zur Ostgrenze keine treuen Truppen mehr vorfand, mit seinen Kindern sich gern angeschlossen, aber bekanntlich wurde es, nachdem es Paris heimlich und unbehelligt verlassen hatte, am 21. Juni 1791 in Saint-Menehould erkannt, in Varennes angehalten und nach Paris zurückgeführt. Einige Monate früher waren zwei Tanten des Königs, Töchter Ludwigs XV., noch glücklich über die Grenze gekommen, freilich erst, nachdem sie unterwegs vielfach belästigt und zwölf Tage gefangen gehalten worden waren.
Anfangs legten die Behörden der Auswanderung keine Hindernisse in den Weg, verlangten auch keine Pässe, und es galt dann nur, dem rohen und unberufenen Eingreifen des Pöbels zu entkommen, der hier und da die Reisenden als Aristokraten festhielt. Im November 1791 aber wurde auf die Ansammlung bewaffneter Landesangehöriger an den Grenzen Todesstrafe gesetzt, und seit dem März 1792 durfte niemand das Land verlassen, ohne mit einem Passe versehen zu sein. Meinte die Behörde, Grund zum Mißtrauen zu haben, so verweigerte sie den Paß. Wie die Dinge einmal standen, wurde nun die Ausstellung der Pässe von höheren und niederen Beamten zu Erpressungen benutzt. Man knüpfte die Bewilligung eines Passes an Geldzahlungen, und es kam vor, daß ein Paß 10 000 Franken kostete. Es wurde Sitte, in allerlei Verkleidungen über die Grenze zu gehen, wie denn der Graf von Provence als Diener seines Begleiters gekleidet entkam. Frau von Staël, die sich in jenen Jahren in der Schweiz aufhielt, rettete eine Anzahl von ihren bedrohten Freundinnen in Paris, die ihres vornehmen Namens wegen auf keine Pässe rechnen durften, auf folgende Weise: sie suchte in der Schweiz eine Frau, deren Signalement dem einer bestimmten Freundin ungefähr glich, und bestimmte sie durch Geschenke, mit einem schweizer Passe nach Paris zu reisen. Dort lieferte die Schweizerin den Paß an die betreffende Freundin ab, und diese konnte nun, indem sie den Paß als den ihrigen vorwies, als angebliche Schweizerin ungefährdet Paris und Frankreich verlassen. War sie in der Schweiz in Sicherheit, so wandte sich die Schweizerin in Paris an den dortigen Vertreter ihrer Heimath und ließ sich, weil sie den ersten Paß verloren habe, einen zweiten ausstellen, mit dem sie dann nach der Schweiz zurückkehrte. Auswanderungslustige Damen, welche allein standen oder, um die Entdeckung zu erschweren, ohne die männlichen Mitglieder ihrer eigenen Familie oder getrennt von ihnen reisen wollten, verfielen auf folgendes Auskunftsmittel: sie wandten sich an Ausländer, namentlich an Schweizer, und gewannen sie gegen Entgelt dafür, daß sie sich mit ihnen in bürgerlicher Eheschließung zum Schein verheirateten. Ein solches junges Paar suchte dann um einen Reisepaß nach, und die Behörden verweigerten diesen einem Ausländer und seiner Frau nicht, nachdem sie sich durch Einsicht in das die Eheschließung bekundende Aktenstück überzeugt hatten, daß das nachsuchende Paar wirklich verheirathet, die französische Frau also nunmehr die Bürgerin eines anderen Staates war. Der Mann brachte hierauf mit Hilfe des Passes seine angebliche Frau über die Grenze und kehrte nach Paris zurück, um sich mit einer anderen Frau, die sich seiner Beihilfe bedienen wollte, wieder trauen zu lassen und dasselbe Spiel zu wiederholen. Ein Schweizer, der diese Art von Paßbeschaffung geschäftsmäßig und mit beträchtlichen Einnahmen betrieb, wurde erst abgefaßt, als er sich auf einem der Pariser Standesämter zu seiner achtzehnten Eheschließung anmeldete.
Weitere Gesetzesbestimmungen gegen die Emigranten blieben nicht aus. Im Oktober 1792 wurde die Rückkehr nach Frankreich bei Todesstrafe verboten, und selbst Kinder, welche über zehn Jahre alt waren, sollten wie erwachsene Emigranten abgeurtheilt werden. Die Güter der Emigranten wurden eingezogen. Ihre im Lande gebliebenen Frauen, Kinder und sonstigen Verwandten sollten getödtet werden, und wenn dieses Gesetz auch nicht überall zur Ausführung kam, so sind ihm doch Hunderte zum Opfer gefallen. Selbst die Absendung von Geld, ja nur von Briefen an Emigranten hat wiederholt die Hinrichtung der Absender zur Folge gehabt. Schuldner durften ihren Verpflichtungen gegen Emigranten bei Todesstrafe nicht nachkommen. Im März 1793 wurde umgekehrt der Tod denjenigen Emigranten angedroht, welche nicht zurückkehrten, und seit dem Oktober 1794 sollte die Thatsache der Emigration die Ehe ohne weiteres aufheben.
Die Länder, wohin sich der Strom der Auswanderer ergoß, waren besonders die Nachbarländer, die Schweiz, Italien, England, Belgien, die Niederlande und Deutschland; Bern und Turin, Rom und Venedig, London und Brüssel, Koblenz und Mainz, später auch Hamburg beherbergten in den ersten Jahren die zahlreichsten Emigrantenkolonien. Aber auch die übrigen europäischen Länder wurden aufgesucht, ferner die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Kanada, Persien, Indien und sogar Siam. Die reichsten Familien traf man in London und Brüssel, die Militärs in Koblenz, Mainz und Worms, die ärmeren Leute, die ihr früheres Gewerbe oder Handwerk nun in der Fremde betrieben, meist in der Schweiz, weil die Lebensmittel damals dort am billigsten waren. Die Geistlichen, Mönche und Nonnen gingen in der Regel nach den überwiegend katholischen Ländern, wie denn Italien etwa 2000, Spanien etwa 3000 Personen geistlichen Standes aufnahm.
Nur wenige Emigranten hatten noch rechtzeitig Gelegenheit gefunden, ihr Vermögen zu Gelde zu machen und ganz oder zu einem erheblichen Theile mit in das Ausland zu nehmen. Die meisten waren auf die Gastlichkeit und Mildthätigkeit ihrer besser versehenen Schicksalsgefährten und der Fremden, dann auch auf den eigenen Erwerb angewiesen. Viele, die anfangs in Ueberfluß oder doch ohne Entbehrung gelebt hatten, geriethen früher oder später in große Bedrängniß, weil die eigenen Mittel nicht vorhielten, Gastlichkeit und Mildthätigkeit erlahmten oder sich erschöpften und die eigene Erwerbsthätigkeit nicht lohnend war. Die nach Italien und Spanien geflüchteten Welt- und Klostergeistlichen, zunächst auf die Unterstützung durch ihre geistlichen Brüder und Schwestern angewiesen, litten, da ihrer gar zu viele kamen, mit wenigen Ausnahmen Mangel. Einer Minderheit von bevorzugten Emigranten gelang es, in fremden Hof-, Staats- und Kriegsdiensten ein Unterkommen zu finden, wie z. B. der Herzog von Richelieu russischer Offizier und Verwaltungsbeamter wurde; er zeichnete sich im Kriege gegen die Türken aus und erwarb sich Verdienste um das Aufblühen von Odessa. Am österreichischen Hofe und in der österreichischen Armee fanden Emigranten namentlich lothringischer Abkunft Aufnahme, weil das aus Lothringen stammende Herrscherhaus sie begünstigte.
Die glänzendste, an Hoffnungen und Einbildungen reichste Zeit verlebte die Emigration während der ersten Monate ihres Aufenthalts in Koblenz. Der Kurfürst und Erzbischof von Trier, ein sächsischer Prinz und Oheim der königlichen Brüder von Frankreich, gewährte dort als Landesherr seinen beiden Neffen, den Grafen von Provence und Artois, eine königliche Gastfreundschaft und räumte ihnen das Schloß Schönbornlust bei Koblenz als Wohnung ein. Die beiden Grafen theilten ihre Zeit zwischen dem, was sie Regierungsgeschäfte nannten, und zwischen Vergnügungen aller Art. Die Anwesenheit der Gräfin von Provence verhinderte den Grafen nicht, ihrer Ehrendame, der ehrgeizigen, trotz ihrer achtunddreißig Jahre noch immer schönen Frau von Balbi zu huldigen; sie, nicht die Gräfin, war der Mittelpunkt seines Hofes. Wenn sie abends von ihrem Dienst bei der Gräfin in ihre in demselben Schlosse gelegene Wohnung zurückkehrte, fand sie dort den Grafen und eine auserlesene Gesellschaft von Herren und Damen schon vor; mit der diesen Kreisen damals eigenen Unbefangenheit erneuerte sie dann, ein munteres Gespräch führend, vor aller Augen ihre Toilette vom Kopf bis zu Fuß. Der Graf von Artois, dessen Gemahlin in Turin geblieben war, hatte die Frau von Polastron zur Freundin, und die beiden Höfe, deren jeder unter den Emigranten seine Anhänger hatte, intriguierten gegen einander. Man stritt sich bereits um die Aemter und Ehrenstellen, sogar um die Ministerien, die man sich nach dem siegreichen Einzuge in Paris zutheilen lassen wollte. Der Prinz von Condé hatte, obwohl sein Enkel schon neben ihm die Waffen trug, an seinem Hoflager in Worms und später im Felde auch noch eine Freundin, eine Prinzessin von Monaco, Gesellschaften und Feste, Konzerte und Bälle, Liebeshändel, Kartenspiel und Duelle füllten die Zeit der Emigranten aus, und der Uebermuth der jungen Edelleute stellte die Geduld der Einwohner nicht selten auf eine harte Probe.
Durch Besuche und Gesandtschaften bei den mächtigsten Höfen erreichten die Grafen, daß ihnen in den ersten Jahren für ihren Hofhalt, für ihre Diplomatie und für ihr Heer ansehnliche, wenn auch nicht zureichende Mittel zuflössen. Die Kaiserin Katharina II. von Rußland gab im ganzen vier Millionen Franken; andere [687] Fürsten zahlten ebenfalls entweder einmalige Beiträge oder Jahrgelder; reiche Franzosen gaben ihr Vermögen her, wie Calonne das seinige, das nach Millionen zählte. Außerdem wurde bei Fürsten, Bankiers und Privatleuten geborgt. Im Jahre 1792 verausgabten die Prinzen 25 300 000 Franken, wovon der Hofhalt und die Diplomatie 1 300 000, das Heer 19 Millionen beanspruchte; der Rest wurde durch die Kosten des Uebermittelns und Wechselns von Geldanweisungen und barem Gelde verschlungen. Die größere Hälfte dieser Summe war geliehen. Selbst die Herstellung von falschen Assignaten, welche die Prinzen als einen erlaubten Akt der Nothwehr gegen die Einziehung der Güter in Frankreich ansahen und eifrig betreiben ließen, half ihnen nicht auf. Im November 1792 wurde der Graf von Artois, der spätere König Karl X., zu Maestricht in Schuldhaft genommen. Die Schulden wurden erst nach der Rückkehr der Bourbonen auf den Thron und auch dann nicht vollständig bezahlt.
Das Emigrantenheer, das sich in der Stärke von 20 000 Mann um die Grafen und um den Prinzen von Condé am Rhein sammelte, erwies sich als wenig brauchbar. Es gab zu wenig kriegserfahrene Führer, zu wenig gemeine Soldaten, zu viele Offiziere und endlich zu viele Offiziersaspiranten, die, ohne Offizierstellen erhalten zu können, doch den Anspruch auf solche erhoben und sich nur murrend und krittelnd darein fügten, vorläufig Gemeine zu sein. Die jungen Edelleute prahlten und paradierten und freuten sich der Lorbeeren, die sie im Felde erringen würden; dabei wurden sie so unbotmäßig, daß binnen acht Monaten zweihundert von ihnen durch förmliche lettres de cachet, Verhaftsbriefe, wie man sie früher für die Bastille ausstellte, auf Ehrenbreitstein gefangen gesetzt wurden. Die Truppen wurden bei Beginn des Feldzuges im Sommer 1792 in drei Heereskörper getheilt, welche sich, geführt vom Prinzen von Condé, dem Herzog von Bourbon und den beiden Prinzen, den in Frankreich einrückenden österreichischen und preußischen Heeren anschlossen. Der Feldzug war nicht sehr rühmlich für diese deutschen und französischen Verbündeten, auch nicht für die von ihnen bekämpfte Armee Frankreichs, obwohl diese Siegerin blieb. Von den Emigranten kamen nur wenige ins Gefecht; wer von ihnen den französischen, seit dem September 1792 republikanischen Truppen in die Hände fiel, wurde erschossen.
Die Emigranten litten durch Mangel an Nahrung und Kleidung, durch Regengüsse und Nachtwachen, durch Anstrengungen und Krankheiten dermaßen, daß ihr Heer, als es, von den Republikanern verfolgt, nach ungeheuren Verlusten wieder nach Deutschland kam, dem nicht unähnlich sah, welches zwanzig Jahre später aus Rußland zurückkehrte. Von den deutschen Städtern und Bauern gehaßt und bedroht, tödteten manche Emigranten sich selbst. Die Truppenkörper lösten sich gegen Ende des Jahres 1792 auf. Einige Regimenter gingen in holländische Dienste. Condé behielt noch einige Tausende um sich, die erst in österreichische, dann in russische und endlich in englische Dienste traten und deren letzte Reste auf Malta und in Portugal für England stritten. Nur ein kleiner Bruchtheil dieser militärischen Emigration sah die Heimath wieder.
Das siegreiche Vordringen der republikanischen Heere vertrieb die Emigranten, welche sich in den deutschen Rheinlanden und in Belgien niedergelassen hatten, weiter in das mittlere und nördliche Deutschland und nach England, und die Mittellosen und Mittellosgewordenen unter ihnen, deren Zahl sich im Laufe der Jahre vermehrt hatte, schlugen sich durch, wie es eben ging. Viele sahen sich gezwungen, ihre letzten Habseligkeiten von Werth, wie goldene und silberne Geräthe, Juwelen und Spitzen, zu veräußern. Sie mußten noch froh sein, wenn die staatlichen und städtischen Behörden, die es mit den Machthabern in Frankreich nicht verderben wollten, oder die der Fremden überdrüssige einheimische Bevölkerung sie nicht von Ort zu Ort trieben. Wie schwer diese Verfolgungen, Entbehrungen und Demüthigungen von den am meisten davon betroffenen Familien des hohen Adels empfunden wurden, wird erst ganz verständlich, wenn man sich der Stellung erinnert, welche diese Familien im alten Frankreich einnahmen. Der hohe Adel hatte trotz des Erstarkens der ihn mehr und mehr einengenden französischen Königsmacht immer noch Vorrechte, die ihm wenigstens in Aeußerlichkeiten eine fürstliche Stellung gaben. Ein französischer Herzog dünkte sich einem deutschen Herzoge, etwa dem von Braunschweig, ein französischer Marquis einem deutschen Markgrafen, etwa dem von Baden, mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Daß auf manchen französischen Adelsgütern die Bauern nachts die Froschteiche peitschen mußten, damit die Frösche den Schlaf der Herrschaft nicht störten, ist keine Fabel. Die hohe französische Gesellschaft galt auf dem Festlande als die erste und tonangebende, und in der Verfeinerung der Lebensgenüsse war sie vielleicht die anspruchsvollste und verwöhnteste. Kein Wunder, daß diese Gesellschaft den Gegensatz von Einst und Jetzt bitter schmerzlich empfand!
In Hamburg, das wegen seiner Entlegenheit von den Kriegsschauplätzen eine mit Vorliebe aufgesuchte Zufluchtsstätte bot, sah man eine Gräfin von Neuilly einen Laden mit Modewaren, fertiger Wäsche und Parfümerien einrichten. Ein Marquis von Romans und eine Gräfin von Asfeld legten gemeinsam eine Weinhandlung an. Ein Herr von Milon übernahm die Küche in einem großen Gasthofe. Einige vertriebene Geistliche verkauften gedruckte Lieder und sangen sie auf den Straßen, auf die Mildthätigkeit der Zuhörer bauend. Zwei Edelleute, Ritter des Ludwigskreuzes, vermietheten sich als Hafenarbeiter. Eine Frau von Tessé, aus dem Hause Noailles, war noch bemittelt genug, um nicht weit von Hamburg eine große Milchwirthschaft einzurichten, ein Erwerbszweig, worin dann noch eine größere Zahl von ärmeren Schicksalsgefährten und -Gefährtinnen beschäftigt wurde. In Erlangen war ein Herr von Vieuxville Kommissionär, ein Herr von Mailly Buchdrucker, und ein Herr von Coigneux lernte die Schuhmacherei. In Bamberg hielt eine Marquise von Guillaume ein Kaffeehaus, und die Schönheit ihrer Tochter lockte zahlreiche Gäste an. In London sah man als bezahlte Komödianten Herren auftreten, die ihren Stammbaum bis zu den Kreuzzügen zurückführten. Eine Marquise von Chabannes hielt dort eine Kleinkinderschule, und eine Gräfin von Boisgelin gab Klavierstunden. Anderswo war eine Gräfin von Périgord Lehrerin, eine Marquise von Vivieu Näherin, eine Frau von Lamartinière Stopferin, eine Marquise von Jumilhac Wäscherin und eine Herzogin von Guiche Krankenwärterin. Fertigkeiten und Beschäftigungen, die als Liebhaberei in glücklicheren Tagen die Mußestunden ausgefüllt hatten, wurden jetzt, zur Meisterschaft ausgebildet, zu einer Erwerbsquelle. Die Damen fertigten und verkauften Stickereien, Putzwaren, Papparbeiten, Malereien und Haararbeiten. In einigen Städten erleichterten Vereinigungen der Ortsangehörigen den Verkauf dieser Handarbeiten, wie z. B. in London, wo überhaupt für die Emigranten viel geschah, ein großer Bazar dafür eingerichtet und mit erheblichem Gewinn verwaltet wurde. Hochadlige Herren waren Fechtlehrer, Tanzlehrer, Köche, Liqueurfabrikanten, Buchhalter oder Hausirer. Nicht immer waren die Beschäftigungen, denen die Emigranten sich hingaben, „eingestehbar“. Es gab einige Leute unter ihnen, die sich von Paris aus dafür gewinnen ließen, ihre Schicksalsgefährten zu beobachten und über sie zu berichten, also Spionendienste zu thun. Andere fertigten, dem Vorgange der Prinzen folgend, Assignaten, und von den Damen in London, Brüssel, Rom und Koblenz waren einige „Verkäuferinnen von Küssen“. Gingen manche Emigranten zu Grunde, blieben Streit und Mißmuth unter ihnen nicht aus, so konnte man doch noch häufiger beobachten, daß sie sich durch freundliches Zusammenhalten und Frohmuth ebenso sehr auszeichneten wie durch Genügsamkeit und Findigkeit. Die altfranzösische Lebenslust bewährte sich und behauptete ihr Recht; das eigene Leid suchte man hinwegzuscherzen und hinwegzuspotten, man klagte nicht, und die Leidenden suchte man zu erheitern.
Die Jakobiner in Paris empfanden es als eine Genugthuung, wenn sie den früheren Gutsunterthanen adliger Familien davon Nachricht geben konnten, daß die einst so anspruchsvolle Herrschaft zu gewöhnlichen und erniedrigenden Dienstleistungen gezwungen sei. Von vielen einst angesehenen Emigranten kannte man freilich den richtigen Namen nicht, und ihre Spur ging verloren; manche verheimlichten ihren Namen selbst vor ihren Landsleuten und führten einen angenommenen; zuweilen erfuhr man erst nach ihrem Tode, wer sie gewesen waren.
[688]Alle Rechte vorbehalten.
Denksprüche von D. Sanders.
Todesscheu.
„Leben, o köstliches Glück!“
Jubelt es hier; doch zurück
Tönet von dort es: „O Tod!
Retter aus Elend und Not!“
Aber auch elend, wie sehr!
Trennt man vom Leben sich schwer,
Bangt vor dem Ende des Seins
Oder dem Ende des Scheins.
Der gute Stiel.
„Wie schreib' ich einen guten Stiel?“
So fragt den Meister der Geselle.
„Kein Wort zu wenig, keins zuviel
Und jedes an der rechten Stelle.“
Die wahrhaft Jungen.
„Wer sind die wahrhaft Jungen?“ Das sind
die Alten,
Die trotz der Jahre sich jung erhalten.
Ohne Scheu.
Ohne Scheu durchregnen läßt
Der sich, der schon ganz durchnäßt.
Der Böse.
Der Kohle gleicht eine böser Mensch, drum fern
von ihm dich halt'!
Die Kohle brennt dich, wenn sie heiß, und schwärzt
dich, wenn sie kalt
Anrecht auf beiden Seiten (russisch).
Unrecht, Bär, hast du,
Daß du fraßest die Kuh;
Doch ist der Kuh recht geschehn,
Was braucht sie auch in den Wald zu gehen.
Weisheits- und Thorenschule.
Unglück ist die Weisheitsschule;
Doch der Mensch ist solch ein Thor.
Daß er schon seit Adams Zeiten
Zieht die Thorenschule vor.
Die Kaisermanöver in Schleswig-Holstein.
Die Kaisertage sind verrauscht, doch in den Herzen des schleswig-holsteinischen Volkes wird noch lange die Erinnerung fortleben an diese kurze, aber herrlich schöne Zeit. Man kann wohl, ohne Widerspruch zu finden, den achttägigen Kaiserbesuch in der meerumschlungenen Nordmark des Deutschen Reiches ein geschichtliches Ereigniß nennen. Schleswig-Holstein hat lange im Schmollwinkel gestanden; man konnte es nicht verwinden , daß durch die politischen Ereignisse der sechziger Jahre eine dem Volkswillen entgegensetzte Wandlung für das Land herbeigeführt wurde, daß der angestammte Fürst, der Herzog von Schleswig-Holstein-Augustenburg, nicht die Regierung der Herzogthümer übernahm und daß diese eine preußische Provinz wurden. Wohl haben Schleswig-Holsteins Söhne auf den blutigen Gefilden van Mars la Tour, Gravelotte, Sedan und Le Mans ihre Treue gegen Deutschland bewiesen, wohl haben sie dem neuerstandenen Deutschen Reiche aufrichtigen Herzens zugejubelt und sich allmählich ausgesöhnt mit der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse, aber ein Rest von Partikularismus blieb noch zurück, die Erinnerung an den Herzog Friedrich lebte fort in dem Herzen des angelsächsischen Stammes, der sein Recht gekränkt wähnte. Heute ist das anders geworden, die unverwelkliche Liebe und Verehrung, welche unser Volk dem Herzog Friedrich zollte, es hat sie übertragen auf dessen anmuthige, liebreizende Tochter, „das Muster einer deutschen Fürstin und Frau“, welche jetzt den deutschen Kaiserthron ziert.
Als die Kunde in unser Land kam, daß in diesem Jahre das Kaisermanöver des 9. Armeeecorps auf den denkwürdigen Düppeler Höhen und auf der Insel Alsen, der Perle Schleswig-Holsteins, stattfinden und daß die Kaiserin demselben beiwohnen,
[689]zum ersten Male die Stätten betreten werde, wo ihre Ahnen geherrscht und gewirkt haben, da regten sich Wochen und Monate vorher geschäftige Hände zu einem würdigen Empfange des jungen Landesherrn und seiner Gemahlin, der Tochter des Landes.
Vorher aber, am 3. September, ward als Einleitung zu den Flensburger Manövern im Kieler Hafen eine Flottenparade abgehalten, wie sie in deutschen Gewässern, was die Größe und Anzahl der Kriegsschiffe betrifft, bisher noch nicht erlebt worden war. Mit dem deutschen Geschwader hatte sich das aus drei Kriegsfahrzeugen bestehende österreichische Geschwader vereinigt. Unser großes Bild S. 680 u. 681 veranschaulicht die Paradestellung dieser imposanten Flotte. Voran die Jacht „Hohenzollern“, neben ihr die „Grille“, die frühere Kaiserjacht, auf welcher sich jetzt das Hauptquartier des kommandirenden Admirals befindet. Nun folgen die mächtigen, schmucken österreichischen Kriegsschiffe „Kaiser Franz Joseph I.“, „Kronprinzessin Stephanie“ und der Aviso „Tiger“, ihnen schließt sich die Kreuzerkorvette „Irene“ an mit dem Prinzen Heinrich als Kommandant an Bord. Dann kommt das Schulgeschwader, daneben in gleicher Linie das Manövergeschwader, vor letzterem das Kadettenschulschiff „Niobe“ und die Schiffsjungenschulschiffe „Rover“, „Luise“ und „Ariadne“, deren Zöglinge jetzt zum ersten Male vor ihrem Kaiser in Parade standen; hinter dem Schulgeschwader lag die Torpedoflottille.
Gegen acht Uhr früh salutirte die ganze Flotte die vom Großmast der „Hohenzollern“ wehende Kaiserstandarte, und gegen neun Uhr verließ der Kaiser die „Hohenzollern“, um auf der Stationsjacht die Schiffe der vereinigten Geschwader zu umfahren. Den Augenblick, in welchem er das österreichische Panzerschiff „Kaiser Franz Joseph I.“ passirt, hat der Zeichner unseres Bildes festgehalten.
Ein herrlicher klarer Tag begünstigte dieses großartige, glänzende Schauspiel, zu welchem Tausende von Fremden nach Kiel zusammengeströmt waren.
Nachmittags verließ die gesamte Flotte, welcher die „Hohenzollern“ mit dem Kaiser an Bord voraussegelte, den Kieler Hafen, um nach Flensburg zu fahren.
[690]Von den schleswigschen Städten nimmt Flensburg durch seinen Reichthum, durch seine großen gewerblichen Anlagen, durch seine ausgedehnten Handelsverbindungen ohne Frage den ersten Platz ein und behauptete denselben auch in anderer Beziehung während der Kaisertage: Stadtverwaltung und Bürgerschaft hatten in edlem Wetteifer ein farbenprächtiges Bild geschaffen und der Stadt einen geschmackvollen und großartigen Schmuck angelegt. Aber nicht Flensburg allein, auch die übrigen Städte und Flecken, welche den Kaiserbesuch erwarteten, wie Sonderburg, Gradenstein, Glücksburg und Augustenburg, hatten Ehrenpforten errichtet, ihre Häuser mit Fahnen, Wappenschildern und Kränzen verziert, grüne Laubgewinde über die Straßen gezogen, während hohe, flaggentragende Mastbäume eine via triumphalis bildeten. Selbst die Landbevölkerung wollte nicht zurückbleiben, sondern auch ihre Freude an dem Besuch des verehrten Herrscherpaares durch ein äußeres Zeichen an den Tag legen; überall auf den Landwegen sah man hohe Ehrenpforten, bekränzte und beflaggte Häuser auch in den kleinsten und ärmlichsten Dörfern.
Endlich war der 4. September angebrochen, die Vorbereitungen waren beendet und alles war zu einem festlichen Empfange des Herrscherpaares vollendet. Tausende und Abertausende Fremder und Einheimischer flutheten durch die Straßen Flensburgs. 150 Kampfgenossen- und Kriegervereine der Provinz hatten 4000 Mitglieder entsandt, welche mit flatternden Fahnen Aufstellung auf dem vier Kilometer von der Stadt entfernten Paradefeld nahmen.
Kaiser Wilhelm traf auf der „Hohenzollern“ am Morgen des 4. September zuerst an der Landungsbrücke ein, empfangen von dem Oberbürgermeister Toosbüy und mehreren höheren Beamten, und begab sich zu Wagen nach dem Manöverfelde. Wenige Minuten später kam die Kaiserin in ihrem Salonwagen auf dem herrlich verzierten und geschmückten Staatsbahnhofe an, wo sie mit ihrer Schwester, der Herzogin Karoline Mathilde von Schleswig-Holstein-Glücksburg, den von sechs Rappen gezogenen Wagen bestieg, der sie gleichfalls nach dem Paradefelde führte. Ein unbeschreiblicher Jubel durchbrauste die Straßen, als die junge Kaiserin, gefolgt von ihrer Leibgarde und der in besonderem Wagen fahrenden Prinzessin Irene von Preußen, sichtbar wurde; die auf den Bürgersteigen aufgestaute, vielhundertköpfige Menschenmenge begrüßte die geliebte Herrscherin mit brausenden Zurufen; aus den vollbesetzten Fenstern wehten Tücher und ergoß sich ein fortwährender Blumenregen.
Um 10 Uhr setzte sich der Kaiser, einen prächtigen Trakehner Rappen reitend, an die Spitze einer glänzenden Suite von Fürsten, deutschen und fremdherrlichen Offizieren, um die Front des in Regimentskolonnen aufgestellten 9. Armeecorps abzureiten, während die Kaiserin, die Prinzessinnen und Hofdamen ihm zu Wagen folgten. Dann begrüßte er die an der Nordseite des Paradefeldes aufgestellten Krieger- und Kampfgenossenvereine und nahm in der Mitte des Paradefeldes mit seinem Gefolge Stellung, worauf die endlosen Kolonnen ihren Vorbeimarsch begannen, daran die Infanterie, dann Kavallerie, Artillerie und Train.
Damit hatte die Kaiserparade ihr Ende erreicht und unter nicht endenwollenden Hurrah- und Hochrufen kehrte das Kaiserpaar nach der Stadt zurück, um im festlich geschmückten Rathhause ein von der Stadtverwaltung angebotenes Frühstück einzunehmen, an welchem auch der inzwischen eingetroffene Generalfeldmarschall Graf Moltke theilnahm.
Das Hoflager wurde nach dem dem Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein gehörenden Schlosse Gravenstein verlegt.
Der kleine gleichnamige Flecken an der Flensburger Föhrde, seit etwa 10 Jahren Badeort, ist einer der anmuthigsten Punkte der an Naturschönheiten überaus reichen schleswig-holsteinischen Ostküste. Das Schloß ist mit dem dazugehörigen Gutsfelde seit dem Jahre 1725 im Besitze der Herzöge von Augustenburg. 1757 brannte es nieder, wurde aber 1758 wieder aufgebaut, doch nicht in der alten Pracht, und ist seitdem auch nur gelegentlich von der früher in Augustenburg residirenden herzoglichen Familie bewohnt worden. 1864 hatte der kommandirende General der verbündeten Armee, Prinz Friedrich Karl von Preußen, während des deutsch-dänischen Krieges hier sein Hauptquartier aufgeschlagen.
Schloß Gravenstein war während der siebentägigen Kaisermanöver als Sitz des kaiserlichen Hoflagers der Mittelpunkt des reichen, sich jetzt entfaltenden Lebens. Hier wurde am 4. September das Paradediner gegeben, zu welchem sämtliche Stabsoffiziere des 9. Armeecorps, etwa 240 Personen, zugezogen waren. Am 5. September folgte das Diner für die Provinz, an dem die gesamte schleswig-holsteinische Ritterschaft, der Provinzialausschuß, sowie die höchsten Beamten der Provinz theilnahmen, und am Abend ließen vor dem Schlosse im Park 150 Sänger der Flensburger Gesangvereine ihre Lieder zu Ehren ihres Landesherrn ertönen.
Den Schluß der offiziellen kaiserlichen Festlichkeiten bildete das Marinediner am 6. September, zu welchem die höheren Marineoffiziere Einladungen erhalten hatten. Unter den rauschenden Klängen des von 1000 Musikern und Spielleuten ausgeführten Zapfenstreiches ging der Tag zur Rüste.
Am anderen Morgen wurde es schon früh im Schloßparke lebendig. In langen Zügen marschirten die im Sonnenlichte blitzenden Bataillone zum Feldgottesdienste heran und bildeten um den Herzenshügel die weite Runde. Eine feierliche Stimmung lag über dem kriegerischen Bilde, das sich in den grünen Anlagen des herrlichen Parkes dem Auge darbot, und in lautloser Stille [691] lauschte die Menge den eindringlichen, schlichten Worten, welche der Oberpfarrer Hofmann aus Altona von der Spitze des Herzenshügels aus zu seiner militärischen Gemeinde sprach: „Du Volk in Waffen und du Volk im Bürgerkleid! Euch alle hat ein unvergeßlich Kaiserwort begrüßt. So sei’s auch heute wahrgehalten. Auch hier zu Lande ein Volk kerndeutscher Art, ein Bruderstamm von altbewährter Treue! Zum ersten Male seit seiner Thronbesteigung rauscht dem Kaiserpaare der meerumschlungenen Lande Wogengruß. An seiner Heimath Hügeln hängt des Volkes Herz, an diesem Herzenshügel heut’ der ganzen Lande Herz. Wo es in angestammter Liebe der Enkelin Herzogs Christian August huldigend zu Füßen liegt, da schlägt es auch dem Enkel Kaiser Wilhelms jauchzend entgegen. An diesem Altar auf dem Herzenshügel sei ein Gelübde eines heiligen Herzensbundes erneut: Schleswig-Holstein auf ewig eins und ungetheilt in deutscher Treue, so bleibe es fortan stammverwandt dem Kaiserhause, dem Vaterlande!“
Dem Feldgottesdienst folgte am Nachmittage das von den Provinzialständen dem Kaiserpaare angebotene und angenommene Festmahl im Kurhause zu Glücksburg, und hier war es, wo der Kaiser, dem Zuge seines Herzens folgend, jenen Toast ausbrachte, dessen freudiger Widerhall bis in die fernsten Gegenden des deutschen Vaterlandes drang, jenen Toast, in welchem er der deutschen Frauentugend huldigte, indem er die eigene Gattin als Sinnbild derselben feierte. „Das Band,“ sagte er, „welches mich mit dieser Provinz verbindet und dieselbe vor allen anderen Provinzen meines Reichs an mich kettet, das ist der Edelstein, der an meiner Seite glänzt, Ihre Majestät, die Kaiserin. Dem hiesigen Lande entsprossen, das Sinnbild sämtlicher Tugenden einer germanischen Fürstin, danke ich es ihr, wenn ich imstande bin, die schweren Pflichten meines Berufes mit dem freudigen Geiste zu führen und ihnen obzuliegen, wie ich es vermag.“
Nun begann die ernste Arbeit, die Vorbereitung des Friedens für den Krieg. Dem diesjährigen Kaisermanöver lag die Idee zu Grunde, daß eine feindliche Armee von Jütland kommend Flensburg bedrohte. Am 5. September wurde diese feindliche Armee, durch einige Abtheilungen Infanterie, Kavallerie und eine Batterie dargestellt, in dem Gelände bei Bau, woselbst vor nunmehr 42 Jahren der erste Zusammenstoß der jungen, ungeübten, großenteils aus Freiwilligen bestehenden schleswig-holsteinischen Armee mit den weit überlegenen dänischen Truppen erfolgte, von dem gesamten 9. Armeecorps angegriffen und nach einer erfolgreich ausgeführten Schwenkung des linken Flügels von seiner Verbindung mit dem Norden abgeschnitten und nach Sundewitt und Alsen gedrängt. Nach beendetem Gefecht trennte sich das Armeecorps. Das Nordcorps wurde nun bei den im Sundewitt sich abspielenden Manövern von der 18. Division dargestellt, unterstützt von dem aus 8 schweren Panzerschiffen, der Kreuzerkorvette „Irene“, 3 Avisos und einer Torpedodivision zusammengesetzten Manövergeschwader, während das angreifende Südcorps von der 17. Division gebildet wurde, welcher zwei Torpedodivisionen beigegeben waren. Das Nordcorps unter dem Generallieutenant von Scherst war, wie erwähnt, nach dem Gefecht bei Bau zurückgegangen nach der Insel Alsen. Das Südcorps unter dem Generallieutenant Fink von Finkenstein war dem zurückweichenden Feinde gefolgt und hatte auf den historischen Düppeler Höhen eine feste Stellung eingenommen.
Die Düppeler Höhen, welche in ihrem höchsten Punkte, der Düppeler Mühle, 68 m über dem Meeresspiegel sich erheben, fallen ostwärts allmählich zum Alssunde, südwärts steiler zum Wenningbund, nordwestlich steil und etwa 30 m tief zu einem breiten Grunde ab, der vom Dorfe Düppel ostwärts nach Oster-Düppel und von dort nordwärts zum Alssunde sich zieht, in den er zwischen Lillemölle und Surlücke mündet.
Am 8. September morgens ging nun das Nordcorps von Alsen aus zum Angriffe über. In unglaublich kurzer Zeit wurden von dem 9. Pionierbataillon die 13. Bataillone Infanterie unterhalb der Stadt Sonderburg in Pontons über den Alssund gesetzt unter fortwährendem Geschützfeuer der Batterien des in vortrefflicher Stellung auf den Höhen stehenden Südcorps. Nach der Ueberführung des Nordcorps auf das Festland wurde ein Bajonettangriff auf die Düppelstellung gemacht, aber zurückgewiesen. Nunmehr griff die Flotte ein. Acht der größten Panzerschiffe unserer Marine, sowie eine Kreuzerkorvette fuhren in den Wenningbund, sie legten sich mit ihren Breitseiten in geringer Entfernung vom Lande vor die Düppeler Höhen und eröffneten mit ihren schweren Geschützen eine stundenlang währende gewaltige Kanonade auf das Südcorps. Im Schutze dieses Feuers versuchten [692] 1700 Marinesoldaten unter der Führung des Kontreadmirals Schröder eine Landung, um dem Feinde in die Flanke zu fallen und dem angreifenden Nordcorps Hilfe zu schaffen. Bis an die Brust im Wasser stehend, mit hoch empor gehaltenen Gewehren gingen die Matrosen an Land, warfen die zur Vertheidigung des Ufers befehligte Infanterie und erstürmten die Höhen, während jetzt das Nordcorps gleichzeitig tambour battant vorging und in raschem Anlauf das Südcorps aus der festen Stellung zurückwarf.
Am folgenden Tage verfolgte das Nordcorps den zurückgeworfennen Feind unter stetem Gefecht bis nach Gravenstein und versuchte hier die Appenrader Chaussee zu erreichen, um nach Norden zu entweichen. Allein nach 5stündigem lebhaften Kampfe erhielt das Südcorps auf seinem linken Flügel bedeutende Verstärkung, welche es ihm ermöglichte, nunmehr seinerseits zum Angriff überzugehen und allmählich wieder Boden zu gewinnnen. Das 15. Husarenregiment ging, unterstützt von einem Bataillon Infanterie, über den Ekensund nach der Halbinsel Broacker, wobei die Pferde durch den Ekensund schwammen, während die Husaren in Booten übergesetzt wurden. Dieses Detachement beunruhigte in bemerkenswerther Weise den linken Flügel des zurückgehenden Nordcorps durch mehrere mit großer Kraft ausgeführte Angriffe der wegen des bergigen Geländes zu Fuß kämpfenden Husaren, infolgedessen das Nordcorps jetzt auf die am Tage vorher eingenommene Düppelstellung zurückweichen mußte. Die Flotte konnte an diesem Tage sich nicht an dem Gefechte betheiligen, weil sich die Landarmee immer weiter vom Wasser entfernte. Die dem Südcorps beigegebenen beiden Torpedodivisionen versuchten indessen am Tage, sowie in der darauf folgenden Nacht einen Angriff auf das Manövergeschwader, der aber jedesmal abgeschlagen wurde, letzterer mit Hilfe des elektrischen Lichtes, welches eine Ueberrumpelung verhinderte.
Das letzte Gefecht am 10. September wurde vor Tagesanbruch um 4 Uhr morgens durch einen heftigen Angriff des Südcorps eröffnet. Auch hier wurde mit Anwendung des elektrischen Lichtes das vom Angreifer besetzte Gelände taghell erleuchtet und dadurch jede Bewegung desselben, die Zahl der angreifenden Truppen, die Waffengattung dem Vertheidiger bemerkbar gemacht. Nach mehrmaligen zurückgewiesenen Angriffen wurden endlich vom rechten Flügel des Südcorps mit dem Bajonett die ersten Schanzen erstürmt und das Nordcorps aus der ganzen Düppelstellung geworfen.
Damit hatte das Manöver sein Ende erreicht. Der Kaiser, welcher sich in der Kritik sehr lobend über die Leistungen des 9. Armeecorps ausgesprochen hatte, verließ um 5 Uhr nachmittags auf der Jacht „Hohenzollern“ die Sonderburger Föhrde, nachdem er am Tage vorher das schleswig-holsteinische Füselierregiment Nr. 86, welches seine besondere Zufriedenheit erworben hatte, seiner Gemahlin verliehen und dem Regiment den Namen „Königin“ gegeben hatte.
Auf schwankem Boden.
Alle Rechte vorbehalten.
So stehe ich denn einmal wieder in dem niedrigen Zimmer des alten Gasthauses zur „Rothen Forelle“, dem ersten „Hotel“ in der kleinen thüringischen Stadt, und schaue über die einsame, wohlbekannte Straße mit dem holperigen Pflaster und der Reihe alter einstöckiger Häuser, denen man dem Pfingstfest zu Ehren neuen Anstrich gegeben hat. Ich sehe den Brunnen mit seinen drei immer fließenden, krystallklaren Wasserstrahlen; der kleine eiserne Ritter auf der schmucklosen Säule, der diese Strahlen entquellen, ist St. Martinus, der besondere Schutzheilige des Städtchens. Es hat sich nichts verändert, aber auch nichts, und die Linde vor der Thür des Gasthauses hat heut wieder ebensolche junggrüne Blätter wie damals, als ich im Schatten des ehrwürdigen Baumes zum ersten Male aus der Extrapost stieg, um meinen Fuß auf Borndorfer Gebiet zu setzen.
Zu beiden Seiten des mächtigen Hausthores bemerkte ich vorhin Maien, mit rothen Schleifen verziert, und auch, just wie dazumal, auf dem altersbraunen Flügel einen rothen Theaterzettel. Wäre mir nicht statt des alten weißköpfigen Wirthes ein frischer junger Mann mit neumodischer Höflichkeit entgegengetreten, wahrhaftig, ich hätte meinen können, es sei noch einmal der Pfingstsonnabend des Jahres 1867 erschienen, der lange, lange vergessen ist von den meisten Menschen, nur von mir nicht – und von einer andern auch nicht.
Ich wende mich um, denn das rothbäckige Zimmermädchen ist eingetreten und fragt, ab Madame irgend etwas wünsche, vielleicht Kaffee; der Kuchen sei auch eben aus dem Backhause gekommen.
„Danke, nein! Aber Sie können mir gewiß dieses Billet in die Pfarre tragen, liebes Kind? Recht bald, wenn es möglich ist. Sagen Sie auch der Frau Pfarrerin, sie solle nicht etwa hier herunter kommen, ich sei flinker als sie und wolle nur ein wenig Toilette machen, dann käme ich. Das Billet ist nur, damit sie nicht erschrickt.“
Das hübsche Mädchen sieht mich, indem es mir den Brief aus der Hand nimmt, ganz verwirrt an. „Madame meinen die Frau Oberpfarrerin Steinkopf?“ fragt es dann.
„Ja, versteht sich! Doch, bitte, geben Sie mir den Brief zurück, ich habe es mir anders überlegt. Bestellen Sie einfach, Fräulein Martha möchte doch einmal herunter kommen, wenn ihre Zeit es erlaubt.“
„Ein Fräulein?“ fragt das Mädchen.
„Ja, Fräulein Steinkopf.“
„Es ist kein Fräulein in der Pfarre.“
„Meine Gute! Sie sind wohl nicht von Borndorf?“
„Nein, Madame, aber ich diene seit einem Jahre hier in der ‚Forelle‘ und kenne alle Leute in Borndorf. Nein, ein Fräulein ist nicht in der Pfarre.“
„Schicken Sie mir, bitte, den Wirth herauf!“ rufe ich ärgerlich; und sie verschwindet.
Der überhöfliche junge Mann, der sein gelbes fettiges Haar wie der Oberkellner irgend eines ersten Berliner Hotels frisirt hat, was so gar nicht zu dem kleinen „Forellenhotel“ passen will, wirbelt ins Zimmer und fragt, womit er der „gnädigen Frau“ dienen könne.
„Ich vermag mich nicht mit Ihrem Zimmermädchen zu verständigen,“ sage ich, „ich will, daß man in die Pfarre hinausschicke, um dort eine Empfehlung von mir zu bestellen: ich lasse Fräulein Martha Steinkopf bitten, so bald als möglich mich hier zu besuchen.“
„Gnädige Frau, leider ist der Befehl unausführbar, denn – hm –“
„Ist das Fräulein etwa verheirathet?“ frage ich erstaunt.
„Gnädige Frau verzeihen – hm – gnädige Frau ist vielleicht verwandt mit Oberpfarrers – nicht? Oder nahe bekannt? hm –“
„Aber, Gott im Himmel, so reden Sie doch!“ rufe ich gereizt. „Ist sie todt? Nein? – Nun, es kann doch kein Mensch [693] verschwinden aus diesem Nest, und um von Zigeunern gestohlen werden zu können, ist sie schon zu groß!“
„Verzeihen gnädige Frau – Fräulein Martha Steinkopf – sie hieß ja aber gar nicht so – ist mit – etwa ein Jahr mag es sein – ist davongelaufen, einfach davongelaufen.“
Ich winke ihm Schweigen. „Ich danke Ihnen, Herr Wirth, ich erfahre das Nähere in der Pfarre selbst. Danke!“
„Und die Frau Oberpfarrerin – gnädige Frau gestatten doch, daß ich das noch bemerke – sollen, wie sich die Leute erzählen, tiefsinnig geworden sein darüber. Sie sollen kaum ein Wort mehr sprechen und –“
„Ich danke Ihnen,“ unterbreche ich ihn heftig, „schicken Sie mir Kaffee!“
Er sieht mich verdutzt an und geht.
Aus dem kleinen Stübchen ist plötzlich aller Sonnenschein gewichen und die Luft schwer und dumpf geworden, oder ist’s mir nur so? Ich sitze im Lehnstuhl und schaue die entsetzlich grüne Tapete an, klar denken kann ich noch nicht. Die Bildnisse des Landesfürsten und seiner Gemahlin an der Sofawand tanzen vor meinen Augen, und der alte Kaiser Wilhelm schüttelt den Kopf – Herr Gott, ich kann’s ja noch immer nicht fassen – meine Elisabeth tiefsinnig! Das sanfte stille Geschöpf, die gute treue Gefährtin der Mädchenzeit! Und das Kind geflohen! – –
Seit vier Jahren hatte ich Elisabeth nicht wiedergesehen. Damals war sie an unserer Küste in einem kleinen holsteinischen Seebade gewesen mit Mann und Kind, und welch ein reizender Backfisch war aus diesem Kinde geworden! Ich hatte glückliche Stunden mit ihnen verlebt; später waren noch manchmal Briefe zwischen uns hin und her geflogen; aber dann wurde ich nachlässig, große Reisen hatten mich verhindert, meine alten, liebgewordenen Korrespondenzen wieder aufzunehmen, ich hatte auch wohl einmal auf einen Brief keine Antwort erhalten, und die äußeren Zeichen der alten Freundschaft unterblieben schließlich. Aber als ich nun wieder häuslich geworden war auf Räcknitz, gaukelte mir eines Tages so verführerisch der Gedanke vor, Elisabeth zu überraschen, um einmal wieder wie früher so oft das Pfingstfest in ihrem Hause zu verleben, daß ich ihn auszuführen beschloß – und nun?
Eine Thräne nach der andern drängte sich mir aus den Augen, und das eine wußte ich genau, ich konnte sie so nicht wiedersehen; ich wollte nach einer Rücksprache mit dem Oberpfarrer, den ich morgen, sobald der Gottesdienst vorüber war, hierher zu bitten beschloß, um näheres zu erfahren, wieder abreisen.
Draußen hatte sich indessen der Himmel bezogen, drohendes Rollen verkündete ein Gewitter. Bald regnete es, und mehr als das; bei uns zu Hause sagt man: „Es pallscht in Ström.“ – Das Mädchen bringt endlich den gewünschten Kaffee, legt auch das Wochenblatt daneben. Es giebt so Augenblicke, wo man vor heftiger Erschütterung gar nichts fühlt, wo man thun und handeln kann, als wäre einem nichts Furchtbares zugestoßen. Ich trinke ruhig eine Tasse Kaffee, und am Fenster sitzend lese ich in dem Wochenblatt:
Hoftheater in Borndorf
Große Vorstellung zum Benefiz
des Herrn Theaterdirekors von Kranowsky
Faust
eine Tragödie.“
Seltsam! Als ich an jenem Maitag 1867 zum ersten Male hier war, wurde auch „Faust“ gegeben, denke ich und fühle so etwas wie Schwindel bei den Erinnerungen, die mich bestürmen. Unaufhörlich strömt der Regen hernieder; das Dienstmädchen ist wieder hereingekommen und ich starre in das Wetter hinaus.
[694] „Wünschen Madame Theaterbillets zu nehmen? Es ist morgen des Direktors Benefiz. Thun Sie es doch, Madame,“ bittet das Mädchen, „ich glaube, der Truppe geht es schlecht. Eine ist dabei, die sitzt immerfort und weint; sie ist, seit sie hier angekommen sind, noch nicht aus der Stube gewesen, nur einmal abends. Immer ist sie da oben,“ sie deutet mit dem Finger nach der Decke, „und gestern hat sie geschrieen, daß ich es hier unten hören konnte, und als ich ’naufkomme, da liegt sie dem Direktor zu Füßen und bittet ihn, – und er ist böse, ach so böse.“
Das alles dringt fast unverständlich in meine Ohren. Ich nehme sechs Mark heraus und erhalte eine Menge rother Zettel dafür. Das Mädchen bedankt sich, als ob ihr etwas geschenkt worden sei, und geht. Ich greife noch einmal zum Wochenblatt. Hinter „Margarethe“ steht der Name der Darstellerin nicht, er ist durch drei Punkte ersetzt; unten auf dem Zettel steht: „Margarethe: Fräulein Korinska, engagirt am herzoglichen Hoftheater und nur noch kurze Zeit bei hiesiger Truppe.“
Ich muß den Namen Korinska schon einmal gehört haben! Dann ertappe ich mich dabei, daß ich zur Decke emporsehe; dort oben, ja, ich glaube, es war die nämliche Stube, wo damals –. Mit aller Gewalt zwinge ich mich, klar zu werden, meine Erinnerungen, die sich mit der Gegenwart verwirren, zu ordnen, und während ich in die Dämmerung hinausblicke und das Rauschen des Regens zugleich mit der wonnig duftenden Luft in das Gemach zieht, da steht sie plötzlich greifbar deutlich vor mir – die Vergangenheit:
Pfingsten 1867! Endlich war ich imstande, der Einladung Elisabeths zu folgen; ich that es um so lieber, als ich wußte, daß sie Trost und Anregung nöthig hatte wie das liebe Brot und die frische Gottesluft. Unsere Bekanntschaft stammte aus der Pension; sie, eine stille, zarte Natur, schloß sich innig an das wilde Mädchen da oben von der Nordsee an. Wie unser Wesen, so war auch unsere Auffassung der Dinge verschieden. Sie, zu leiser Sentimentalität geneigt, leicht verletzlich, aus einer sehr frommen Familie stammend, kannte kein höheres Verlangen, als Diakonissin zu werden, womöglich an einem Kinderkrankenhause, denn Kinder, besonders die zarten, die immerfort gehütet werden müssen, liebte sie unsagbar, während mein Sinn nach einem großen Rittergute stand, natürlich auch nach dessen Besitzer und – seiner Zeit nach einer wohlgefüllten Kinderstube mit wenigstens sieben Kleinen. Ich dachte mir es herrlich, so recht herumwirthschaften zu können, über Mägde und Diener zu herrschen, meine wilden Jungen mit dem spanischen Röhrchen in Zucht zu halten und an der Seite meines Mannes in die Felder zu fahren, um den Stand der natürlich immer vorzüglichen Ernte, denn ein echter, rechter Landwirth mußte er sein, zu bewundern.
Elisabeth war Rheinländerin und sprach so „lieb“ nach meinen Begriffen, daß ich ganz entzückt zuhörte, wenn sie mit ihrem „nit“ und „als einmal“ anhub. Dafür lachte sie zuweilen still über mein ehrliches Holsteiner Platt, aber nur so lange, bis ich ihr einmal etwas von Klaus Groth – ich glaube, es war das rührende Gedicht „Min Jehann“ – vorlas und übersetzte.
Als wir eingesegnet waren und aus der Anstalt entlassen wurden, kam die Trennung. Sie ging in den schwesterreichen Familienkreis nach Bonn zurück – ihr Vater war ein höherer pensionirter Offizier; ich in die Einsamkeit unseres Gutes. Wir schrieben uns fleißig. Dann kam einmal – der Brief hatte sich mit dem meinigen, der die Kunde meiner Verlobung enthielt, gekreuzt – die Nachricht von ihr, daß sie in ein Diakonissenstift zu Berlin eingetreten sei und sich sehr glücklich in ihrem Berufe fühle. Zu meiner Hochzeit kam sie und stand im Kreise der geputzten Brautjungfern in der Kirche schier fremdartig anzuschauen mit dem schlichten schwarzen Kleide, das ihr Beruf vorschrieb. Das liebe Gesichtchen, umrahmt von der Diakonissenhaube, sah so engelhaft zufrieden aus, daß ich mich meines irdischen Glücksrausches beinahe schämte.
„Seg, min oll leiw Deern,“ fragte ich, als sie mich umarmte und beglückwünschte, „bist Du denn nu glücklich un tofreden mit Din Los?“
„Lieb Annchen, frag nit so, Du mußt’s ja sehen,“ war ihre Antwort. „Sehr glücklich bin ich, sehr, und ich wünsche Dir ebenfalls so viel Glück, wie’s der liebe Gott nur geben kann.“
Das waren für lange Zeit die letzten Worte; ihr stilles Gesicht nickte mir noch einmal mild freundlich zu aus dem Schwarm der Gäste, als ich abends an meines Mannes Seite unter Musik, Hurrah und Fackelglanz vom väterlichen Hofe fuhr, um in den weiten Räumen von Schloß Räcknitz als Herrin zu walten.
Als ich nach zwei Jahren, eine tieftrauernde Witwe, allein in dem alten Schlosse saß, kam unter vielen, vielen andern Schreiben, die trösten wollen und es doch nicht können, auch ein Brief von Elisabeth. Es war der einzige unter allen, der mich zum Weinen brachte, bis jetzt hatte ich noch keine Thräne gefunden. Sie schrieb, daß sie meinen ungeheuren Verlust um so tiefer zu fühlen vermöge, als auch sie jetzt mit ganzem Herzen einen Mann liebe, dem sie in einiger Zeit angetraut werden würde.
„Es bringt mich die Liebe zu ihm Dir näher wie je, Anna,“ hieß es unter anderm, „könnte ich Dir nur den Trost verschaffen, den sein Wort zu geben vermag! – Sobald wir in unserem einfachen Hilfspredigerhäuschen eingerichtet sind, mußt Du kommen, Anna; versprich es mir!“
Es vergingen aber Jahre, ehe ich diesen Besuch ausführte. Ich sollte meinen Gram überwinden lernen, ward in der Welt umhergeschleppt und legte damals vielleicht den Grund zu meinem Nomadenleben, das ich bis jetzt mit Vorliebe führe, denn Ruhe habe ich eigentlich nicht wieder gefunden seit dem Tode meines Mannes. Im Sommer regierte ich Räcknitz, das mir zugefallen war, und im Winter war ich mit einer Gesellschafterin bald in Florenz, bald in Rom, in London oder Paris; ja, sogar Petersburg war so wenig sicher vor mir wie Konstantinopel oder Athen. Trotzdem blieb ich von Elisabeths Leben unterrichtet. Ich wußte, daß ihr Mann mittlerweile Oberpfarrer geworden war, daß sie in das altehrwürdige Pfarrhaus in Borndorf übergesiedelt seien unter Glockengeläut und über blumenbestreute Wege, und daß in den weiten altväterlichen Stuben sich drei Blondköpfchen tummelten, die das größte Entzücken meiner kleinen heiligen Elisabeth ausmachten.
Da war ich auch mal wieder zu Pfingsten in Räcknitz gelandet, irgendwo her – ich glaube, von den italienischen Seen. Meine Koffer waren noch nicht ausgepackt, ich hatte eben den Inspektor über Ernteaussichten gehört und war im Begriff, in meinem kühlen Wohnzimmer einen langen Schlaf zu thun, als mir das Stubenmädchen einen Brief brachte, der am Morgen schon angelangt war.
„Verehrte Frau!“ begann der von kräftiger Männerhand niedergeschriebene Brief. „Da meine arme Elisabeth zum Schreiben noch immer nicht fähig ist, so beauftragt sie mich – wir nehmen an, daß Sie wieder in Ihrer Heimath sind – Ihnen mitzutheilen, daß wir in der Zeit vom 15. bis 25. Dezember unsere drei lieben Kinder an der Diphtheritis verloren haben! Gottes Hand ruht schwer auf uns, Er allein weiß, weshalb Er uns dies reiche Erdenglück wieder genommen hat. –“
Weiter las ich nicht. Ich steckte den Brief in die Tasche meines Reisekleides, sagte meiner Wirthschafterin und den Beamten Bescheid, daß ich abermals fortmüsse, wünschte meiner die Hände ringenden Gesellschafterin vergnügte Feiertage und fuhr nach Verlauf einer halben Stunde, mit dem Nöthigsten versehen, zur nächsten Bahnstation, wo ich den Schnellzug noch glücklich erreichte, der mich wieder in die Richtung führte, woher ich heute früh gekommen war.
Am Pfingstsonnabend, mittags, stand ich vor der Posthalterei des kleinen Städtchens, in dem mich die Eisenbahn im Stiche ließ, so daß mir nichts weiter übrig blieb, als mit Extrapost zu reisen, wenn ich überhaupt noch heute Borndorf erreichen wollte. Diese Fahrt und alles, was sich daran reihte innerhalb der nächsten Tage, ist mir bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich im Gedächtniß geblieben. Der Weg stieg durch herrlichen mit lenzgrünen Buchen gemischten Tannenwald langsam bergan, die Sonne spielte auf dem Waldboden, die Luft war duftig nach einem warmen Regen und der Himmel leicht bewölkt. Es schien alles dem Feste entgegen zu jubeln und zu jauchzen, und das mochte auch wohl der Postillon aus dem Bocke denken, der sich auf den morgenden Tanz freute, denn er blies schier übermüthig und in ganz grimmigen Tönen:
Ich habe es nie vermocht, jemand im Frohsein zu stören durch meine trübe Stimmung; heute aber wurde es mir sauer, diese Musik anzuhören. Als dann jedoch die lustige Melodie mit aufsteigender Nachmittagskühle anfing in eine melancholische überzugehen und „Es ist bestimmt in Gottes Rath“ mich thatsächlich bis zum Weinen brachte, da bat ich den Mann, lieber innezuhalten. Die Töne summten mir noch in den Ohren, als mein Wagen über das Pflaster des Städtchens rollte, in dem es nach Kuchen und Maiengrün duftete, und vor der Thür der „Rothen Forelle“ hielt.
[695] Ich nahm mir kaum Zeit, das Zimmer anzusehen, das der alte Wirth mir durchaus zu zeigen wünschte; ich fragte nach dem Pfarrhaus von St. Martin und wurde in eine Straße gewiesen, die im letzten Abendsonnenschein steil vor mir aufstieg. Ja, da schauten richtig zwei ehrwürdige alte Thürme über die Dächer hinweg, und eben begann das Pfingstgeläute. Die scheuernden, fegenden Mädchen vor den Hausthüren, die jungen Bursche, welche die Maien festnagelten zur Seite der Steinbank, hörten auf mit ihrer Hantierung und horchten einen Augenblick auf die mächtigen Zungen der Glocken; schier betäubend schwirrten in dieser Nähe die Klänge in mein Ohr. Nur die blondköpfigen Kinder lärmten weiter in der Vorfreude des morgenden Festtages. Ich hielt eine der hübschesten kleinen Dirnen am Zopf fest.
„Komm,“ bat ich, „führe mich nach dem Pfarrhause!“ – Das liebe Ding sprang eifrig vor mir her, und in wenigen Minuten hatte ich das der Kirche gegenüberliegende Haus erreicht. Eine hohe dunkelbraune Hausthür mit blitzendem Messingklopfer, die steinernen, fein gemeißelten und mit Figuren aus der biblischen Geschichte geschmückten Einfassungen der Fenster und Thüren, sowie der schiefe Oberstock von Fachwerk, mit dem ebenso schiefen Erkerlein daran, in dessen Gebälk Sprüche und Daten eingegraben waren, ließen das hohe Alter des Hauses erkennen.
Ich trat ein. Ein ungeheurer Flur empfing mich, die Schelle rasselte überlaut durch den Raum, und gleich darauf erschien eine alte Frau; sie trat aus der nach dem Garten zu liegenden Küche.
„Die Frau Pfarrerin ist nach dem Kirchhof gegangen,“ antwortete sie auf meine Frage nach ihrer Herrschaft, „und der Herr Pfarrer studieren im Garten seine Predigt für morgen.“
Da ich den Pfarrer nicht stören wollte, ließ mich die Alte in Elisabeths Zimmer treten. Es wurde mir auf einmal ganz beklommen; machte es der starke Fliederduft, der einer großen Vase voll Blüthen entquoll, ober die leise einbrechende Dämmerung in dem unbekannten Raum, oder die kleinen getragenen Kleidungsstücke, die dicht vor mir auf dem Tische ausgebreitet lagen und einen Geruch ausströmten, wie er lange nicht geöffneten Kleiderspinden eigen ist – ich weiß es nicht. Mir erschienen diese kleinen, entschieden erst kürzlich wieder geordneten Sachen hier ganz grausig; gleichwohl hingen meine Blicke wie gebannt an den Gegenständen; ich vermochte noch deutlich die Flecken auf einem abgeschabten Sammethöschen, das verblichene Blau der Schleife des Säuglingskeides und die zerrissene Kittelschürze mit einem Tintenklecks zu erkennen; daneben Spielzeug: zerbrochene Thierchen, Puppen u. s. w. Dazu der Duft verwelkter Cypressenkränze, vermengt mit jenem der frischen Blumen, denn in dem Puppengeschirr hatte eine Hand, wie Kinder es zu thun pflegen, mit Wiesenblumen „Kochen“ gespielt. Der gelbe feste Stengel der Maßliebchen lag da zierlich als goldgelbe Butter servirt auf einem winzigen Teller, und die weißen Blätter schwammen in der kleinen mit Wasser gefüllten Terrine als Reissuppe.
Mich schauderte es förmlich. Ich ging, unfähig, den Anblick länger zu ertragen, zum Fenster hinüber und öffnete es, indem ich die stille Straße hinabsah, auf der Elisabeth kommen sollte.
Sie muß sehr krank sein, sagte ich mir, sehr krank! Und das Mitleid kam über mich mit erschütternder Gewalt. Ich meinte, die lieben Blondköpfchen aus den Ecken des spukhaften Zimmers auftauchen zu sehen, lächelnd, rosig – und sah dann wieder kleine weiße todtstarre Gesichter unter Blumen hervorlugen, die kein noch so heißes Gebet wieder lächeln machen konnte. Gott hatte mir viel versagt, ich hatte gemurrt und geweint, aber besser – nie ein Kind besitzen, als es trotz allen Betens und Ringens hergeben zu müssen, machtlos der finstern Gewalt gegenüber, ob man gleich das eigene Herzblut opfern möchte, um das süße Leben zu erhalten. Es muß übermenschliches Leid sein! – Ich bekam plötzlich Angstzustände in dieser Umgebung. Schon im Begriff, nach der Küche zu flüchten, sah ich eine schwarze Frauengestalt durch die Dämmerung auf der Straße daherkommen.
Gottlob, es ist Elisabeth!
Sie trat gleich darauf in die Stube; das Mädchen hatte ihr von einer „Fremden“ gesagt.
„Anna?“ klang ihre Stimme. „Ja, ich wußte gleich, Du bist es – aber bitte, komm hinaus, das ist nichts für Dich –. Du, verzeihe nur – Kathrine ahnte nicht –“
Und im Wohnzimmer küßte sie mich, und als sie mein blasses Gesicht sah, da tröstete sie mich mit der alten süßen Stimme.
„Armes liebes Aennchen, das kannst Du ja nicht verstehen, und das drüben ist auch nur für mich da.“ Und noch einmal schlang sie die Arme um meinen Hals und begann zu schluchzen, ward aber ihrer Bewegung sofort Herr.
„Laß uns gar nicht davon sprechen,“ flüsterte sie, und ihre klaren Augen sahen ganz starr aus, „hörst Du, ich bitte Dich; gar nicht davon sprechen, denn das kann ich nicht ertragen.“
Und mit einer Fassung, über die ich erstaunen mußte, ging sie den Pflichten der Hausfrau nach, der ein lieber Gast unverhofft geworden ist; aber sie war doch anders wie sonst, die Bewegungen gewaltsam, das Auge unstät, und bei einer Anrede fuhr sie erschreckt auf.
Im Gartenhause war der Tisch gedeckt; zum ersten Male sah ich Elisabeths Gatten. Es war ein großer, ernster, traurig blickender Mann, an den Schläfen stark ergraut, um den Mund einen milden Zug. Mit seiner Frau ging er so zart und sorgsam um, als sei sie ein Kind. Er danke mir für mein Kommen, aber vermied es vollständig, die Veranlassung desselben zu berühren. Elisabeth redete kaum ein Wort. Ich brachte endlich das Gespräch in Fluß, indem ich von meinen Reisen erzählte, und fand in ihm einen vorzüglichen Kenner Roms; er hatte mehrere Winter als Reisebegleiter zweier Prinzen dort zugebracht.
Wir hatten wohl bis zehn Uhr im Dunkeln gesessen und die wundervolle Kühle der Mainacht genossen, als sich die Stimme der Köchin vom Hause her vernehmen ließ: „Frau Pfarrer!“
Elisabeth erhob sich sofort und ging hinüber. Ich saß allein mit dem Manne, dessen Kopf sich nach der Richtung gewendet hatte, in der seine Frau verschwunden war.
„Sie hat sich sehr verändert, nicht wahr?“ fragte er.
„Ja!“ sagte ich und schluckte an meinen Thränen.
„Es ist hart, was uns getroffen hat,“ fuhr er fort, „aber noch Härteres droht, wenn Elisabeths Zustand so bleibt. Es muß etwas geschehen, das sie aus diesem Zustande völliger Willenslosigkeit aufrüttelt; der Arzt sagte mir, es sei die höchste Zeit. Sie macht ganz unsinnige Geschichten. Ihre Hausfrauenpflichten erfüllt sie zwar still und musterhaft wie immer, aber sie spricht nie mehr ein Wort über ihre verlornen Lieblinge, sie weicht einer gemeinschaftlichen Erinnerung mit mir förmlich aus, und dabei treibt sie einen ganz kindischen Verkehr mit den Andenken an sie. Jetzt, ich weiß es ganz genau, jetzt sitzt sie zwischen all den kleinen Sachen, die den Kindern gehörten, und stachelt ihren Schmerz in gewaltsamer Weise auf. Es ist gerade, als ertappe sie sich auf einer schweren Sünde, wenn sie sich einmal unbewußt hinreißen läßt, dem Leben seinen Zoll zu zahlen. Neulich, zum Beispiel, schleppte ich sie mit in die Kirche, wo ein berühmter Orgelspieler ein Konzert gab auf der schönen alten Bachorgel. Sie liebt Musik; ich sah es ihr an, sie vergaß ihr Leid unter diesen Klängen; etwas von dem weichen süßen Ausdruck, den ich so liebe an ihr, erschien auf dem Gesichte, und dann –“ er stockte. – „Ich hatte nur kurz einmal meinen Blick gewandt,“ fuhr er fort, „da hörte ich mitten in einer wunderschönen Stelle das scharfe Klappen unserer Emporenthür und – sie war verschwunden. Ich eilte ihr nach und fand sie hier, in ihrem Zimmer, das Gesicht in einem Kleidchen ihres Jüngsten geborgen, mit bebenden Gliedern und heißen Thränen sich anklagend, daß sie auch nur einen Augenblick vergessen konnte!“
„Aber,“ fragte ich ergriffen, „wo ist Elisabeths Ergebenheit in den Willen Gottes geblieben?“
Eine Weile schwieg er; „Frau Anna,“ sagte er endlich, „welcher Mensch hat nicht einmal gezweifelt an einem gütigen barmherzigen Gott? Wie viele giebt es, die angesichts solcher Prüfungen imstande sind, zu sprechen: ‚Dein Wille geschehe, Herr, ich murre nicht!‘ Es ist so echt menschlich, daß sie fragt: ‚Warum gabst Du, um wieder zu nehmen?‘ – Haben Sie nicht Aehnliches gefragt, als Sie am Sarge Ihres Mannes standen, der Ihnen in frischer Jugend entrissen wurde?“
„Ja!“ gestand ich ehrlich zu.
„Nun habe ich ihr gesagt, sie sei noch reicher als viele. Sie hat liebe Geschwister; eines von ihnen, ihren jüngsten Bruder, will ich zu Johanni in mein Haus nehmen, er soll das hiesige Gymnasium besuchen. Sie hat viele Freunde in der Stadt, die sie durch ihr liebliches, kindliches Wesen gewann; wir fühlten es so recht in den Schmerzenstagen. Und sie hat doch auch mich,“ setzte er leise hinzu.
Es klang rührend bescheiden, was er zuletzt sagte.
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[697] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [698] Er brach ab. Eben schritt ihre dunkle Gestalt daher. Sie hatte einen merkwürdig leichten Gang, man hörte kaum ein Steinchen unter ihrem Fuß knirschen.
„Dein Zimmer ist bereit, Anna,“ sagte sie.
„Das ist ja schön, Elisabeth,“ erwiderte ich, „aber ich muß nothwendig noch einmal in das Gasthaus, um meine Sachen zu holen, und da bitte ich mir Deine Begleitung aus – am liebsten wäre es mir, Ihr kämet beide mit.“
„Ich bitte, mich zu entschuldigen, aber Hermann, nicht wahr? Hermann, Du –“
Er war bereit, und bald gingen wir mit einander die Straße hinauf. Die Nacht hatte so etwas Festliches heute, es roch nach den frischen Maien, ein wunderbarer Mondenschein lag wie Silberduft über dem Städtchen und den Bergen jenseit desselben, die Brunnen plätscherten leise und irgendwo ward eine Harmonika gespielt.
sang eine helle Mädchenstimme.
Unter der Linde meines Gasthofes saßen alle Bänke voll Menschen und die Bierseidel klapperten dazu; ein ganzes Rudel Jenenser Studenten, deren bunte Käppchen im Lichte der Laterne aufleuchteten, sangen da ihre Lieder, eine ausgelassene Gesellschaft. Auch zwei Damen bemerke ich darunter, und ich erinnere mich, wie ich mich nach der einen nochmals umwandte; – es war eine schlanke jugendliche Frau, die eine förmliche Krone von mattblondem Haar auf dem Haupte trug; sie stand mit untergeschlagenen Armen am Stamme des Baumes; es lachte alles an ihr, der rothe Mund und die großen dunklen Augen. Der hübsche Student vor ihr mochte ihr eben etwas sehr Angenehmes gesagt haben, als er ihr zutrank.
Ich war stehen geblieben. Menschliche Schönheit, solche wirklich überraschende Schönheit hat mich immer zur Bewunderung hingerissen. Sie bemerke wohl mein Anstaunen, denn diese großen schwarzen Augen flammten plötzlich drohend zu mir herüber und ein verächtlicher Zug legte sich um ihren Mund. Dann nahm sie ein Glas vom Tische und trank langsam, ihre Blicke jetzt wieder auf den Studenten richtend.
– begann der Chorus, während ich, mich nur schwer von dem fesselnden Bilde trennend, in die Hausdiele trat. Der Pfarrer war längst in die völlig leere Wirthsstube gegangen; er wolle dort auf mich warten, hatte er gesagt.
Ich suchte ihn auf und versprach ihm, so rasch als möglich zurückzukommen; dann begann ich oben mit thunlichster Eile meine Siebensachen, deren ich noch wenig ausgepackt hatte, mit Hilfe des Stubenmädchens zusammenzuräumen.
„Sagen Sie,“ versuchte ich das Mädchen auszufragen, „wohnt die schöne blonde Frau hier im Hause – die da unten bei den Studenten steht? – Sie ist wohl eine von den Schauspielerinnen?“
„Hm! – Die!“ sagte das Mädchen verächtlich; „ich begreife nicht, daß der Herr die Leute im Hause behält. Ihr Mann ist ja ziemlich ordentlich, aber sie, sie denkt, weil sie Frau Direktorin ist, sie kann nur befehlen; und außerdem verträgt sie sich nicht mit ihrem Mann, es ist ein Leben wie zwischen Hund und Katze. Madame können froh sein, daß Sie hier hinauskommen, oben darüber wohnt die Gesellschaft; der Lärm ist entsetzlich, man glaubt manchmal, der Mann schlägt sie gleich todt.“
Als ob die Wahrheit des Gesagten sofort bestätigt werden sollte, flogen plötzlich da draußen auf dem Gange Schritte vorüber, denen Männertritte nachpolterten, und gleich darauf schallte der Angstschrei einer weiblichen Stimme über mir, dem ein schwerer Fall folgte. – Gott weiß, ich habe nie danach getrachtet, in Streitereien meiner Mitmenschen mich einzumengen, aber hier hatte ich keinen freien Willen, es war, als ob mir die Schönheit des jungen Weibes es angethan hätte. Ich lief über den Flur, die Treppe hinauf; – unten mochte man nichts gehört haben, niemand kam, auch war es jetzt still geworden. Schon wollte ich umkehren, da erblickte ich in dem flimmernden Lichte einer kleinen Oellampe, die trübselig auf einem Bördchen als Flurbeleuchtung diente, dicht vor mir auf der obersten Stufe ein Kind.
Es saß im Hemdchen da, ein paar dicke Thränen auf den vollen Bäckchen und doch lachend mit seinem kleinen rothen Mund und aus einem Paar wanderbar schwarzer Augen. Das Geschöpfchen mochte drei und ein halbes Jahr alt sein, das ich da anschaute, als sähe ich ein Wunder. Ich habe viele reizende Kinder gesehen; in Spanien kleine Wesen, wie sie Murillo malte, blonde englische Köpfchen, die etwas Ueberirdisches an sich hatten, und einmal ein Zigeunerkind, das so schön war, daß ich es am liebsten seinen Eltern abgekauft hätte – so etwas Liebliches aber wie hier vor mir hatte ich doch noch nicht erblickt.
„Papa meine Mama haut,“ sagte es lächelnd, und erschreckt schmiegte es sich im selbigen Augenblick an mich, als du drinnen eine heftige Männerstimme anhub:
„Ich bitte Dich nur am Eines, Tosca, reize mich nicht mehr durch Reden auf! Du weißt, ich habe Dich wahnsinnig lieb, aber wenn Du mich zur Eifersucht aufstachelst, so kenne ich mich nicht mehr! Es ist genug davon gewesen in der letzten Zeit; um des Kindes willen laß ab von Deinem Treiben, ich ertrage es nicht –“
Es hatte zuletzt ganz weich geklungen.
Eine Gegenantwort mochte gekommen sein, obgleich ich nichts vernommen hatte, denn jetzt bat der Mann schluchzend: „Tosca, das wirst Du nicht thun, Du wirst mich nicht verlassen, Du kannst es ja nicht!“
Ich stand ziemlich rathlos da. „Geh zu Deiner Mutter, Kleine!“ bat ich, „Du erkältest Dich hier, es ist kühl.“ Ich versuchte die Aermchen abzustreifen, um mich frei zu machen, da erhob sie ein klägliches Geschrei. Im Augenblick wurde die Thür geöffnet, und die Frau stand vor mir. Das Haar hing ihr wirr um den Kopf, das weiße Gesicht war auf der linken Seite stark geröthet, und der zierliche Spitzenbesatz am Aermel schien zerrissen.
„Ihre Kleine bringe ich Ihnen, Madame,“ sagte ich gefaßt, „sie saß an der Treppe und hätte leicht hinabstürzen können.“
„Danke sehr, die fällt nicht,“ erhielt ich zur Antwort, „sie kennt auch unsere Thür.“ Und indem sie das Kind an sich riß, verschwand sie mit einem kurzen: „Bemühen Sie sich nicht weiter“ in der Thür ihrer Stube, die sie krachend hinter sich zuwarf.
Ich entschuldigte mein längeres Ausbleiben unten bei meinem Gastfreund, der still noch auf derselben Stelle im Wirthszimmer meiner harrte; und vom Hausknecht begleitet, traten wir den Rückweg an. Die Herren Studenten unter der Linde waren jetzt nach dem Gartensaal übergesiedelt, denn der Nachtwächter mochte den Gesang draußen, den Bürgern zuliebe, unterbrochen haben. Nur einer stand nach da und starrte zu ein paar erleuchteten Fenstern im Dachgeschoß empor wie verzaubert.
Ich schlief in dieser Nacht wenig; die Nachtigallen hatten es im Garten fast gar zu eifrig mit dem Singen, auch war ich übermüdet von der langen Eisenbahnfahrt der letzten fünf Tage. Ich dachte nach über die beiden Menschenpaare, in deren Leben ich heute einen Einblick gethan hatte; das eine im Frieden und Schutz geordneter Verhältnisse, das andere auf schwankendem Boden, umhergeworfen wie ein Schiff im Sturm, heute hier, morgen dort, und beide unglücklich. Es waren keine Pfingstgedanken, die mich beschäftigten, ich gestehe es offen; das Leben zieht uns oft gewaltsam ab von dem, was wir eigentlich thun sollten: es giebt nichts Widerspenstigeres als Gedanken, sie lassen sich nicht ablenken von dem Gegenstand den sie just erfaßt haben, und jemehr man ihrer Herr zu werden sucht, desto störrischer sind sie. – Erst gegen Morgen schlief ich ein und verschlief – o Schande! – die Predigt. Ich glaube, es war elf Uhr, als Elisabeth vor mir stand in ihrem tiefschwarzen Kleide und mich besorgt ansah.
„Warum wecktest Du mich nicht?“ fragte ich.
„Sei froh, daß Du schlafen kannst, Anna; was versäumst Du auch?“
„O, ich habe die Kirche und meine Morgenandacht versäumt, und das in einem Predigerhause!“
Sie antwortete nicht. Wie in unserer Mädchenzeit begann sie mir zu helfen beim Anziehen, und ich ließ es geschehen. Mit derselben leichten Hand kämmte sie mir das Haar aus.
„Ja, Lieschen,“ seufzte ich, „ik hev all grise Haar da mit tüschen. Kind, wir sind ja eigentlich noch jung; was sind dreißig Jahre?“
Sie schüttelte den braunen Kopf. „O, ich bin so alt geworden seitdem, Anna.“
„Ja, Du thust so, es ist aber unrecht, Elisabeth.“
„An Jahren nicht, aber hier!“ Sie zeigte auf ihr Herz.
„Min fötes Kind! Bist Du denn Deinem Mann nicht ein bißchen mehr gut?“
Sie sah mich ängstlich an. „Wir verstehen uns nicht mehr, Anna, er kann mich ja auch nicht mehr verstehen. Aber sprich nicht mehr davon, sprich nicht davon –“
[699] Ich hielt sie fest. „Ja, sprechen wir gerade davon! Wenn Du noch einen Funken Freundschaft für mich besitzest, so stehe mir jetzt Rede und Antwort! Weshalb glaubst Du, daß Ihr Euch nicht mehr versteht, Elisabeth?“
„Er hat die Kinder kaum vermißt!“ stieß sie heftig hervor, „er liebte sie nicht, duldete sie nur; sie störten ihn – –“
„Um Gotteswillen, Elisabeth, wie ungerecht macht Dich der Schmerz!“ rief ich entsetzt.
„Nein, Anna, nein, nicht ungerecht; es ist leider die Wahrheit.“
„Elisabeth, bitte, sage, woraus Du das schließt.“
Sie zögerte noch ein Weilchen, dann begann sie stockend, mit fast heiserer Stimme. „Die beiden Jüngsten waren den Tag vorher begraben, aber der Junge war noch gesund. Ich hatte ihn in den Garten geschickt, damit er soviel als möglich ins Freie käme, um dem Ansteckungsstoff im Hause zu entgehen. Es war ein ungewöhnlich lebhaftes Kind. Ich stand am Küchenfenster und sah zu, wie er auf dem Rasen umher tollte; es war sonst den Kindern verboten, aber ich dachte heute nicht daran, ich hatte nur die Hände gefaltet und alles war bei mir ein Gebet: ‚Lieber Gott, laß mir den Einzigen, laß ihn mir!‘ – In Hermanns Studierstube, Du weißt, sie liegt nach dem Garten, hatte es schon ein paarmal an die Scheiben geklopft – ich glaube, Hermann arbeitete, er konnte arbeiten, er mußte vielleicht – dann rief er hinaus: ‚Johannes, sei still, augenblicklich gehorchst Du!‘
Ich weiß nicht, was dem sonst so folgsamen Kinde einfiel – war es ein unbewußter Abschied von seinem jungen lieblichen Dasein, war es schon Fieber, was hinter der kleinen Stirn raste – er stand einige Sekunden still, um dann auf die Schaukel los zu stürzen und mit einer Heftigkeit zu schaukeln, daß ich vor Angst, er könnte sich mit dem bald hoch in die Luft fliegenden, bald am Boden dahin sausenden Brettchen überschlagen, hinauseilte, um ihn zur Ruhe zu mahnen. Als er mich über den Grasplatz daherlaufen sah, schrie er: ‚Hussa, Mama, jetzt fliege ich in den Himmel, ganz hoch, ganz hoch!‘ – ‚Johannes!‘ rief ich angstvoll, aber da stand Hermann schon hinter mir, griff erst nach den Stricken der Schaukel und dann nach dem Kind. – Ich sehe noch die großen Blauaugen unter dem Pelzmützchen, die sich mit Thränen gefüllt hatten, und die Angst in dem kleinen Gesicht.
‚Hermann!‘ schrie ich, ‚schlage ihn nicht, schlage ihn heute nicht!‘ Aber es war zu spät – das gezüchtigte Kind – die Schläge waren nicht einmal stark gewesen – lag plötzlich wie bewußtlos mir in den Armen. Ich war hingekniet mit ihm auf den feuchten Rasen, und endlich sagte es leise: ‚Mama, ich habe so Kopfschmerzen,‘ und dabei griff es nach seinem Hälschen, und dann“ – Elisabeth hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und mir den Rücken zugewandt – „dann ward es krank, und –“
Was sie noch sagte, ging in einem Schrei, so weh und jammernd, unter, daß ich alles verstand, daß ich sie in beide Arme nahm und mit ihr, die wie außer sich an meiner Brust schluchzte, weinte.
„Elisabeth,“ sagte ich endlich, „Du weißt, wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Er hat ja nur die kleine Unart strafen wollen. Sieh –“
„Das,“ stieß sie hervor, „das hat er mir auch gesagt, aber Du weißt nicht, wie das war. Diese Veränderung in dem lieben Gesichtchen, diese großen angstvollen Blicke – was hatte er denn gethan, der kleine Kerl? Wild war er gewesen, wie Knaben es sind. Du kannst es nicht wissen, Anna, wie die Augen der Kinder blicken, wenn ihnen unrecht geschieht, so fragend, so todttraurig. Das letzte auf Erden war ein Schmerz, der ihm angethan ward, weil er gejubelt und gelacht hatte! Ich kann seitdem kein Kind mehr weinen hören, ich bin wie von Sinnen, wenn eins geschlagen wird, und ich habe Hermanns Hand von der kleinen Leiche hinweggestoßen wie außer mir. Ich weiß, ich bin anders wie sonst, aber man hat mich erst dazu gemacht – –“
So schluchzte sie fort, als bräche heute erst der ganze wahnsinnige Schmerz hervor. „Es ist eine Scheidewand zwischen ihm und mir auf ewig!“ schrie sie. „Gott erbarme sich meiner, aber so kann ich nicht weiter leben!“
Ich fand kein Wort des Trostes; sie erwartete es auch nicht. Sie drückte mir die Hand, und mit einem leise geflüsterten „Laß es genug sein!“ verließ sie das Zimmer.
Beim Mittagessen ward kein Wort gesprochen; Elisabeth verschwand nach Tisch in ihr Zimmer, der Pfarrer ging in die Kirche, und auch ich nahm das Gesangbuch und schritt hinüber zum Gotteshause. Ein junger Diakonus predigte vor etlichen Kindern und alten Mütterlein. Alles, was gesunde Füße hatte, war draußen in den Wäldern, um Pfingsten zu feiern. Ich entschloß mich, etwas umher zu schlendern nach dem Gottesdienst, und führte auch meinen Entschluß aus. Es hat für mich immer einen unsäglichen Reiz gehabt, in so kleinen alten Städten auf Entdeckungsreisen auszugehen; zudem litt es mich kaum in dem Hause.
Die Straßen lagen unter der strahlenden Pfingstsonne wie ausgestorben; ich ging so hindurch, ohne nachzudenken: wohin? Hier und da saßen einige alte Leute auf der Bank vor den Häusern und genossen das Fest auf ihre Weise. Einige breitere, hübschere Straßen durchwanderte ich, freute mich über alterthümliche Häuser, stand dann sehr erstaunt vor dem stillen, jetzt unbewohnten Fürstenschloß, hinter dem sich weite Gärten auszubreiten schienen, und fragte einen Jungen, ob man im Schloßgarten spazieren gehen dürfe.
„Ei ja, soviel Sie wollen!“ war die freundliche Antwort, der auch noch die Beschreibung des Weges folgte, und so kam ich endlich durch einige ganz enge Gäßchen zu einer prachtvollen Lindenallee, in welcher, wie es mir schien, die ganze Jugend Borndorfs umhertobte, und sah nicht weit von mir die geöffnete Pforte des fürstlichen Gartens, an der die verständige Verordnung auf einer Tafel angebracht war, daß Kinder und Hunde nur in Begleitung Erwachsener eintreten dürfen.
Große, sehr vernachlässigte Rasenplätze breiten sich da aus; ein kleiner rascher Gebirgsbach durchströmt den Park. Dichte Boskette blühender Gebüsche, in deren Schatten verlockende Ruhesitze sich bieten, und vor allem wundervolle hohe Bäume, die einen köstlichen erfrischenden Schatten spenden, machen diese Schöpfung vergangener Zeit zu einem wahrhaft vornehmen Garten.
Kein Mensch hier. Neben einer der Queralleen stand ein Wegweiser mit der Inschrift: „Zum fürstlichen Hoftheater.“
Ich verfolgte diesen Weg, und bergab steigend kam ich zu einem weiten Platz, auf dem ein baufälliges Miniaturtheater stand. Sämtliche Thüren und Fenster waren geöffnet, und ein alter Mann fegte wahre Staubwolken heraus.
Ach, heute abend sollte ja „Faust“ gegeben werden!
Ich faßte den Entschluß, hinzugehen, denn solche Wandertruppen haben immer etwas Reizvolles für mich. Elisabeth wird es recht sein, überlegte ich, sie ist ja am liebsten ganz allein.
Ich fragte den Alten, ob er Billette verkaufe.
„Nein,“ war die Antwort; aber zufällig sei die Frau Direktorin da; wenn ich nur hier gleich an die Thür klopfen wolle. – Ich war nämlich eingetreten in das dumpfe Gebäude und stand einer Thür gegenüber, die nach dem Bühnenraume führen mußte.
Auf mein Pochen kam keine Antwort; ich klinkte die Thür auf und fuhr erschreckt zurück. Der Bühnenraum lag in völliger Dämmerung, nur durch eine offene Luke über den Soffiten zuckte ein einziger blendender Sonnenstrahl. Hier stand die Gesuchte, die Schönheit von gestern abend; ihre lichte Gestalt hob sich grell aus dem Halbdunkel; die schwarzen Augen sprühten aus dem weißen Gesicht zu einem schlank gewachsenen Studenten hinüber, der, vor ihr stehend, mir den Rücken zuwandte. Wie ein feuriges Schwert lag zwischen ihnen der scharf begrenzte Sonnenstrahl, in dem Millionen Stäubchen tanzten.
Leise und schnell drückte ich die Thür wieder zu und verließ das Haus; ich athmete erst aus, als mich draußen die reine warme Luft umfing. Alles Blut war mir zum Herzen geströmt, als hätte ich da drinnen einen Spuk gesehen und könne mein Grauen nicht bemeistern. Und jetzt – ich stand unwillkürlich still – trat dort ein Herr aus der Allee, das Kind, das ich gestern gesehen hatte, an der Hand führend. Es war zierlich in Weiß gekleidet, und die langen blonden Haare trugen blaue Schleifen.
Ich hatte das Gefühl, als ob ein Unglück im Anzug sei, aber – ums Himmelswillen, was gingen mich jene wildfremden Menschen an und ihr häusliches Leben und Treiben? Diese Ansicht verhinderte mich indessen nicht, mich immer wieder nach dem Kinde umzuschauen. Das hatte ebenfalls sein Köpfchen auf dem Rücken, und als ich ihm eine Kußhand zuwarf, machte es sich von dem Vater los und setzte mir einen reizend ungeschickten kleinen Knix hin, der seine schelmische Lieblichkeit nur noch erhöhte.
Auf großen Umwegen kam ich wieder nach Hause, just zur Abendessenzeit. Elisabeth kam mir im Garten entgegen. „Arme Anna, Du langweilst Dich gewiß,“ sagte sie traurig, „wenn ich nur wüßte –“
[700] „Ach, sei doch gut, Lieschen, ich bin auf köstlichen Entdeckungsreisen gewesen.“
Wir saßen schweigend im Garten; ich brachte das Gespräch auf unsere Jugend. „Weißt Du noch, lüttje Elisabeth, wie Du Plattdütsch lerntest?“
Sie nickte. „Ich kann das Gedicht auch noch, Anna,
‚Ik wull, wie weern noch kleen, Jehann,
Do weer de Welt so grot,‘“
sagte sie; „ich habe mich einmal damit abgequält, es ins Hochdeutsche zu übersetzen, aber es gelang mir nicht.
‚Mitünner inne Schummerntid
Denn ward mir so to Moth.
Denn löppt bi den langs den Rügg so hitt,
As damals bi den Sot‘ (Brunnen).
Ach ja, die Kinderzeit, Anna, sie ist heilig wie das Kind selbst.“
Sie schwieg, denn ihr Mann kam daher.
Erst heute abend achtete ich auf das Verhältniß der beiden zueinander, erst während des schweigenden Mahles fiel es mir mit Centnerlast aufs Herz: wie nahe und doch wie weit sind sich die beiden! Fast ängstlich mied sie es, ihn anzuschauen, während er ihre Blicke suchte. Sie hatte jede Aufmerksamkeit für ihn, die er, wie es schien, gewöhnt war; sie mischte ihm den Thee, sie strich ihm die Brötchen, sie antwortete auch auf seine Fragen, aber es war fast automatenhaft. Er schüttelte wiederholt stumm seinen Kopf, indem er sich bemühte, mit mir auf irgend eine Weise Unterhaltung zu machen. Es war wie gestern auch, nur auffälliger, nachdem ich Elisabeths Beichte gehört hatte.
Als es halb elf Uhr schlug, fand ich es genug der Marter, die ich ausgestanden, und erhob mich, um Gute Nacht zu sagen. Da kam im Mondenschein, der glänzend weiß auf dem kiesbestreuten Weg lag, die Kathrin dahergelaufen, so rasch, wie ich es ihren alten Füßen nicht mehr zugetraut hätte.
„Herr Pfarrer –“ sie konnte die Worte kaum finden, „Herr Pfarrer, Sie möchten rasch in die ‚Forelle‘ kommen, der eine Schauspieler hat seine Frau erstechen wollen! Ach, Herr Pfarrer, laufen Sie doch nur – ehe sie stirbt!“
Eilig schritt er hinweg. Ich saß starr neben Elisabeth da und wußte, als wäre ich dabei gewesen, den Hergang der ganzen Geschichte. Jedes Wort hätte ich dazu nennen können, jede Einzelheit der That. „Das arme Kind!“ rief ich, der Kleinen gedenkend.
Dann war ich aufgesprungen und wollte dem Hause zueilen.
„Ein Kind, Anna?“ fragte Elisabeth und hielt mich am Arme. „Hat die Frau ein Kind?“
„Ja, ein Mädchen, ein liebes kleines Geschöpf.“
„Und die Mutter stirbt?“ forschte sie athemlos weiter.
„Ich weiß ja nicht, Elisabeth; ich will nachsehen.“
„Warte, ich komme mit Dir –“
Nach ein paar Minuten langten wir vor der „Forelle“ an. Eine Unmenge Menschen stand dort und gaffte zu den Fenstern des Hauses empor, Leute, von der Pfingstfreude angeheitert, mit grünen Zweigen an den Hüten und erhitzten Gesichtern, Mütter, mit kleinen Kindern auf dem Arm, und junge Mädchen in hellen Kleidern, die vom Tanzsaal heruntergelaufen waren. Alle wollten sie das Unglaubliche hören, womöglich auch sehen. „Der Oberpfarrer ist vorhin ’naufgegangen,“ hörten wir sagen, „und der Bürgermeister – die Polizei auch –“
Unter der Linde, zu der wir uns jetzt mühsam durchgekämpft hatten, saß eifrig redend ein ganzer Kreis älterer Männer; aus den Fenstern des großen Tanzsaales, der nach dem Garten zu lag, zogen die wiegenden Klänge eines Walzers in die warme bratwurstdunstige Luft hinaus und übertönten das Klappern der Bierseidel. – Endlich waren wir im Hausflur; nur ein Polizeidiener stand da, der uns den Eintritt verweigern wollte, dann aber, als er Elisabeth erblickte, zur Seite trat.
„Sie ist schon todt, Frau Oberpfarrerin,“ sagte er.
„Wo ist das Kind?“ war Elisabeths Frage.
„Das Kind wird wohl bei den Schauspielerinnen sein auf Nummer sieben; die sind ja alle mit hergelaufen vom Theater.“
„Geschah das Unglück im Theater?“ forschte ich.
„Ja, Madame, mitten auf der Bühne – er hat da, glaube ich, was zu spielen gehabt mit ’nem Messer –.“
Elisabeth eilte jetzt die Treppe empor und öffnete, ohne erst anzuklopfen, die Thür von Nummer sieben. Ich werde den Anblick nie vergessen! Ein dünnes Talglicht auf einem Porzellanleuchter erhellte nothdürftig das ziemlich große Zimmer, und da saßen und standen wohl sechs bis sieben Frauenspersonen, nach im Theaterkostüm, mit Gesichtern, die unter der Schminke erblichen waren.
Frau Marthe, sie mußte es dem Aeußern nach sein, hielt das Kind auf dem Schoß; die andern, die jedenfalls zum Volk gehört hatten, in wunderlich zusammengestoppelten altdeutschen Kostümen, schienen das Schreckliche noch immer nicht glauben zu wollen – ich sah nie so entsetzte Gesichter.
„Ist das die Kleine der verstorbenen Frau?“ fragte Elisabeth.
Die alte Person in ihrer Matronenhaube fing statt der Antwort an, zu schluchzen. Das Kind, durch die verstörten Gesichter ängstlich geworden, begann leise zu weinen.
„Ist der Mann wirklich der Mörder?“ fragte die kleine Frau an meiner Seite, ohne die Augen von dem blonden Geschöpfchen abzuwenden.
„Ja!“ lautete die einstimmte Antwort.
„Er gab den Valentin,“ sagte ein junges Mädchen. „Sie hatten nach dem ersten Akt einen so argen Wortwechsel; er behauptete, sie habe immerfort mit einem Studenten geliebäugelt. Ich sah es ja auch, er saß mit zwei oder drei andern in der Prosceniumsloge. Sie hat’s ja immer so gemacht, und der Direktor war so eifersüchtig wie Othello.“
„Ja,“ bestätigte eine andere, „schon vor ein paar Wochen in E., da dachten wir, er schießt sie todt. Nun wird er ins Zuchthaus kommen.“
„Wenn nicht Schlimmeres –“ schluchzte Martha.
„Ja, der wird hingerichtet –“ klang es förmlich schaurig aus einer Ecke.
Der Aufschrei einer andern machte die schreckliche Prophetin verstummen.
„Nein,“ vertheidigte eine dritte, „sie hat ihn soweit gebracht! Meiner Seel’, ich will’s beschwören – ich –“
„Hat der unglückliche Mann oder die Frau Verwandte?“ unterbrach Elisabeth das Hin- und Herreden.
„Nicht ’ne Katze gehört zu denen.“
„Was wird aus dem Kinde?“ klang abermals Elisabeths Stimme.
„Ja, das wissen wir auch nicht.“
Und jetzt erhob Frau Martha ihre dünne kranke Stimme und wollte der Todten einen Nachruf halten, der uns entsetzte, so schwerer Beschuldigungen voll waren schon die ersten Worte.
„Schweigen Sie,“ sagte Elisabeth ernst, „wir sind allzumal Sünder, steht in der Bibel; vielleicht erinnern Sie sich des Wortes noch aus Ihrer Kinderzeit.“
Sie stand jetzt plötzlich dicht vor der verblüfften Frau und nahm ihr ohne weiteres das Kind aus dem Arm. „Komm!“
„Zu meiner Mama,“ weinte die Kleine und legte doch ihr Aermchen zutraulich um den Hals und das Gesichtchen mit den schlaftrunkenen Augen an die Wange meiner Elisabeth.
„Ja, zu Deiner Mutter,“ tröstete sie. Als sie sich zur Thür wandte, trat der Pfarrer ein. Er sah seine Frau an wie eine Erscheinung.
„Elisabeth,“ sagte er stockend.
„Ich behalte es,“ klang es leise und fest.
„Komm heraus mit ihm, der Vater will Abschied nehmen –“
Die Thür fiel hinter uns zu. Da stand auf dem Flur, umgeben von zwei Polizisten und dem Gendarm, ein großer schlanker, noch junger Mann, dem die Haare an der feuchten Stirn klebten, mit todtenbleichen Zügen.
„Aengstigen Sie sich nicht um das Kind,“ sprach Elisabeth mild, „ich will es getreulich pflegen, wenn Sie es mir lassen wollen.“
Die Augen des Mannes hefteten sich auf die sanften Züge der Frau, als forschten sie, wem er seinen einzigen Schatz auf dieser Welt jetzt anvertrauen sollte.
„Es ist die Frau Obepfarrerin, Sie können froh sein!“ flüsterte ein Polizist ihm mitleidig zu.
Da flog es wie ein erlösender Schein über das starre Gesicht. Er riß das weinende Kind in seine Arme und küßte es, als wollte er es ersticken, und als er es Elisabeth wiedergab, sagte er kaum verstäudlich: „Gesegne es Ihnen Gott, daß Sie Erbarmen haben mit dem Kinde eines Mörders und einer Ehrlosen!“
Es war, als rüttelten diese Worte mich wieder wach, denn bis jetzt hatte ich das alles mit angesehen wie im Traume. – „Elisabeth!“ sagte ich.
Es war still geworden; die Schritte des Gefangenen und seiner Wächter verhallten; nur sie, der Pfarrer und ich standen noch auf dem Flur. Sie antwortete nicht, sie band sich ein Tuch [701] ab und hüllte das Kind hinein, das schon im Nachtkleidchen war; ihr Mann sah regungslos zu.
„Nun kommt!“ bat sie.
Wir gingen hinunter. Die Menge war hinter dem Armen dreingelaufen, der nach dem Rathhause geführt wurde; unsere Straße lag still und menschenleer.
Was mochte in dem Herzen des Mannes vorgehen, der da neben mir schritt? Elisabeth war voraus; so leichtfüßig ging sie durch den klaren Mondenschein, als trüge sie keine Bürde. Wir langten vor dem Hause an; er trat hinzu und öffnete seiner Frau die Thür. „In Gottes Namen denn!“ hörte ich ihn sagen.
Alle Rechte vorbehalten.
Hugo Thimig,
Kein Beruf scheint leichter als der des Komikers. Sowie sich die lustige Person auf der Bühne nur zeigt, kommt ihr die lachlustige Stimmung der Zuschauer aufmunternd entgegen. Und nicht umsonst trug der Spaßmacher fast aus aller Herren Ländern von altersher den Namen des Leibgerichtes der Bevölkerung mit sich fort: aus England stammte Jack Pudding, aus Frankreich Jean Potage, aus Italien Signor Maccaroni, aus den Niederlanden Pickelhering und Stockfisch, aus dem Reich Hans Wurst, aus der österreichischen Hauptstadt gelegentlich gar noch Hans-Pluntzen (Blutwurst) oder Hans-Carminadel (Carbonnade) – denn nichts mundet der Menge besser als Schwänke und Possen. Die Menschen wissen jedem Dank, der sie rechtschaffen aufheitert. Herzhafter, immer und überall wirksamer Humor wird nun freilich leichter gewünscht als zum besten gegeben; denn mit Ort und Zeit wandelt sich der Geschmack, verfeinern sich die Ansprüche der Hörer, und dauernder Erfolg wird auch im Dienst der heiteren Muse nur demjenigen zutheil, der es so ernst als möglich nimmt mit seiner fröhlichen Aufgabe. Das erkannte schon der erste große Wiener Hanswurst, Joseph Stranitzky, der, gut zwei Menschenalter vor der Begründnug des Burgtheaters durch Kaiser Joseph, der Reichshauptstadt – 1708 – ein stehendes deutsches Theater beschied und dabei die denkwürdige Losung ausgab: „Die Bühne soll so heilig sein wie der Altar und die Probe wie die Sakristei.“ Seine Lehre und sein Beispiel blieb unvergessen. Auf der Volksbühne wie auf dem Burgtheater behaupteten sich nur solche Humoristen in der Gunst der Wiener, die glückliche Naturanlagen in strenger Künstlerarbeit übten und immer erquicklicher entfalteten. Keiner der Trefflichen, die von Prehauser und Raimund bis auf Martinelli und Girardi als Volksschauspieler, von La Roche und Fichtner bis auf Baumeister und Gabillon als Hofschauspieler, Behagen und Frohsinn um sich verbreiteten, ist über Nacht geworden, was er war oder ist: jeder hat sich unverdrossen und mühsam Schritt für Schritt Geltung und Stellung erobern müssen.
Nicht anders erging es einem Dresdener Kind, Hugo Thimig, der in verhältnißmäßig jungen Jahren die Herzen der Wiener gewann. Auch ihn schuf die Natur selbst zur „lustigen Person“: er versteht es, munter zu sein und munter zu machen. Allein seine schönsten Erfolge dankt er, vielleicht mehr noch als seiner angeborenen, unversieglichen Laune, rastlosem Fleiße, unablässigem Studium. So hat er sich aus bescheidenen Anfängen rasch zum würdigen Nachfolger von Beckmann und Meixner, aus einem Schüler des Burgtheaters zu einem Meister aufgeschwungen, dessen Namen neben den ersten der alten und neuen Garde in Ehren besteht. So viel auch ein freundliches Geschick für ihn gethan: sein Bestes vollbrachte doch nur die eigene, tapfer aufstrebende Kraft.
Schon im Elternhause sah er, wie viel man mit redlichem, stetigem Bemühen leisten könne. Sein Vater, ein gelernter Handschuhmacher, hatte in seiner wackeren Frau eine werkthätige Gefährtin gefunden; dank ihrer Emsigkeit und Sparsamkeit kamen die beiden allmählich aus den engsten Verhältnissen zu behaglichem Wohlstand. 1854 wurde Hugo Thimig als letztes von vier Geschwistern, ein Spätling, geboren. Eine sonnige Kindheit war dem Kleinen vergönnt; der Vater war ein kerniges Original, dessen gesellige Talente ihn zum willkommenen Gast in jedem Kreise machten; die Mutter, schüchtern und ceremoniell im Verkehr mit Fernerstehenden, war daheim mit allen „Humoren“ des Alten innig verwachsen. So hörte unser Künstler viel von Herzen lachen von Jugend an. Die Gesundheit des Kindes ließ zu wünschen übrig, und deshalb kam der kränkelnde Kleine zu einem Landpfarrer, bei dem er von seinem zehnten bis dreizehnten Jahre blieb. Der fabulirende Sinn des Knaben, der sich schon hier mit einer Welt des Scheines umgab und die Söhne des Hauses und einige Mitpensionäre zu Darstellern seiner verwegenen Phantasien heranzog, fand wenig Verständniß bei dem braven Pastor, den ein unheilbares Uebel hart und zornig gemacht hatte. Dieser ersten Leidensschule folgte als zweite eine Lehrlingszeit in einem großen Dresdener Materialwarengeschäft. Ein unbestimmter Drang nach freier, künstlerischer Thätigkeit erfüllte das Gemüth des Jungen; nicht umsonst hörte er zu Hause von den großen Zeiten der Dresdener Bühne, von den Namen Burmeister, Pauly, Devrient und Dawison schwärmen; er schaute zu den Theaterleuten wie zu höher gearteten Geschöpten hinauf und lief oft im Sturmschritt durch wegabschneidende Quergäßchen, nur um von einem sicheren Posten aus die ganze nichtige Größe eines Dritten oder Vierten der Hofbühne heranwogen zu sehen. Den Gedanken, sich selbst dem Theater zuzuwenden, getraute sich der Knabe aber damals noch nicht zu fassen. Die Eltern empfanden indessen Mitleid mit seinen Berufsschmerzen: nach anderthalbjähriger Haft unter dem Schurzfell durfte er die Handelsschule besuchen. Und hier fand er in einem trefflichen, litterarisch wohlgebildeten Lehrer, Dr. Semmler, den Führer, der ihm eine neue Welt erschloß. Als kundiger Mentor las er mit seinen Zöglingen den „Zerbrochenen Krug“ von Kleist. Und wenn der junge Thimig da auch zum ersten Male durch eine Rollenbesetzung gekränkt wurde, weil ihm der Schreiber Licht und nicht der Dorfrichter Adam zugetheilt wurde: von Stund’ an war er entschlossen, Schauspieler zu werden. Die Eltern wurden, durch allerlei mimischen Schabernack seit seiner frühesten Kindheit ergötzt, von seiner Erklärung nicht allzusehr überrascht. Gleichwohl hielten sie ihm mit mildem Ernst die Gefahren des Standes, wie sie dem ehrenfesten Bürgerthum aus der Ferne sich darstellen, vor; zuguterletzt gaben sie dem geliebten Sohn aber mit gemischten Gefühlen der Besorgniß und des heimlichen Stolzes ihren Segen auf den neuen Weg und bewahrten ihn überdies fürsorglich vor allen Entbehrungen, die sonst wohl die Anfängerschaft mit sich bringt.
So trat er denn eines Tages klopfenden Herzens in das Studierzimmer seines Ideals, des Dresdener Charakterkomikers Ferdinand Dessoir, mit der Bitte, ihn als Schüler anzunehmen; dabei muß der ängstliche Novize nicht den Eindruck eines Himmelstürmers gemacht haben; als er aber versicherte, daß er die Unzulänglichkeit seiner Begabung wohl kenne und sich schon mit der Erreichung eines bescheidenen Künstlergrades begnügen wolle, donnerte ihm Dessoir die Worte entgegen: „Unsinn! Nur über Leichenhaufen umgespielter Kollegen führt der Weg beim Theater empor!“
„Nun gut,“ lautete die elegisch geseufzte Erwiderung, „dann also über Leichenhaufen!“
Dessoir fand an bem naiven Humor dieser Antwort so viel Gefallen wie späterhin an der Bildsamkeit seines neuen Jüngers.
„Ich kann Dich nur lehren, was Du auf der Bühne vermeiden, was Du dort thun sollst, kann Dich nur der liebe Gott lehren,“ meinte Dessoir eines Tages. Und mit dieser weisen Regel warf er den Schüler ins Wasser, um schwimmen zu lernen, d. h. er schenkte Thimig ein Paar alter Ritterstiefel, einen dito gestickten Kragen, sowie eine stolz wehende Straußenfeder und vertraute ihn der kleinen Wandertruppe des Direktors Schiemang an.
Am 15. Oktober 1872 spielte unser Künstler zum ersten Male in Bautzen auf einer wirklichen Bühne den Lancelot Gobbo im „Kaufmann von Venedig“. Und nun galt es ernstlich zu schwimmen, denn die Brandung des Repertoires warf ihn auf „Kunstreisen“ bis Ende April 1873, also in sechseinhalb Monaten in Bautzen, Kamenz, Zittau und [702] Freiberg in allen Fächern herum. Thimig spielte Liebhaber, komische Rollen, Väter, Helden und Naturburschen bei Schiemang „mit gleicher Ueberzeugung“; er tanzte und sang, wie es gerade – in des großen Schröder Jugend auch von diesem – verlangt wurde, und bewies sich in all diesen Leistungen so anstellig und eifrig, daß er dem Direktor Schiemang vom Breslauer Stadttheater wegengagirt wurde. In der schlesischen Hauptstadt lebte damals noch Karl v. Holtei, ein müder, kranker Mann; der jugendliche Komiker erregte aber den Antheil des alten Kenners dermaßen, daß dieser ihn Dingelstedt als „reif für das Burgtheater“ empfahl. Das Fürwort des greisen Meisters wirkte, Dingelstedt entbot den ahnungslosen Thimig zu sich in das Hotel; dort empfing er ihn in einer seiner beliebten Ministerposen.
„Sind Sie nicht älter?“ fragte er endlich, nachdem er eine Weile prüfende Blicke aus „müden Augendeckeln“ auf den zagenden Besucher gerichtet hatte; jeder weiteren, stammelnd gewagten Entgegnung bereitete er sodann ein jähes Ende mit der zweiten „Verblüffungsfrage“: „Sind Sie Frack- oder Mantelschauspieler?
„Herr Hofrath,“ erwiderte der schlagfertige Künstler, „in den Kleidern, die mir von der Direktion geliefert werden, spiele ich am liebsten.“
Dingelstedt lachte und lud Thimig 1874 zu einem Probegastspiel an das Burgtheater, wo er sich aufs glücklichste einführte. Im Lauf der Jahre bewährte er sich als „Frack- und als Mantelschauspieler“ so glänzend, daß er 1881 das Decret als wirklicher Hofschauspieler und vor Jahresfrist, dank Förster und Alfred Berger, einen lebenslänglichen Vertrag erhielt, dessen Bedingungen wohl bewiesen, daß kein Zweiter unter dem künstlerischen Nachwuchs von der Theaterleitung wie vom Publikum höher geschätzt wird als Hugo Thimig.
Verdient hat unser Künstler all diese Anerkennung so redlich und reichlich, daß ihm niemand seine Ehren und Erfolge mißgönnt. Mit edler Bescheidenheit hat er nach seinem Eintritt in das Burgtheater begonnen, von vorne an zu lernen und „umzulernen“. Im künstlerischen und freundschaftlichen Verkehr mit den Besten des Burgtheaters hat er sich in die Ueberlieferungen dieser Musterbühne eingelebt und über dem Studium der trefflichen Vorbilder von Hartmann, Schoene, Meixner etc. niemals vergessen, er selbst allein zu sein. An die größte wie an die kleinste seiner Aufgaben tritt er mit gleicher Liebe und Laune heran. Begabung und Fleiß halten gute Kameradschaft bei ihm und ihr fester Bund befähigt ihn, sich im klassischen und im modernen Lustspiel gleicherweise hervorzuthun. Im deutschen Schwank sind seine schüchternen Liebhaber, seine dummdreisten Offiziersburschen, seine derben und dämlichen Spießbürger allen guten Geistern der „Fliegenden Blätter“ ebenbürtig, in der Kunst der Maske zumal wetteifert er mit den besten Eingebungen von Oberländer und Busch. Für das moderne Pariser Konversationsstück bringt unser geschmeidiger Sachse die übermüthigste Champagnerlaune mit. Und noch viel andere Humore sind ihm geläufig; als Shakespearespieler braucht Thimig hinter keinen anderen zurückzutreten, sein Junker Christoph Bleichenwang in „Was Ihr wollt“ mit seinen trübseligen Räuschen und renommistischen Rundgesängen, mit seinem kranken Lachen und seiner gesunden Feigheit ist schlankweg klassisch; sein Friedensrichter Schaal in „Heinrich IV.“ behauptet sich neben der Meisterschöpfung von Karl La Roche; sein Gracioso in Calderons „Arzt seiner Ehre“, wie in Lopes „König und Bauer“ ist so untadelig wie sein Schmock in den „Journalisten“. Die Bockssprünge des Satyrs im „Kyklops“ des Enripides fallen ihm nicht schwerer als die mundartlichen Scherzreden seines sächsischen Landsmannes Schmählich in „Rosenkranz und Güldenstern“.
Man sollte denken, daß dieser weitumschriebene Kreis bedeutender Aufgaben den Ehrgeiz eines Künstlers befriedigen sollte. Allein so gern sich Thimig als Episodist mit seinen bis ins Kleinste und Feinste ausgeführten Miniaturen dem Gesamtbilde, dem berühmten Ensemblespiel des Burgtheaters unterordnet, bisweilen lockt es ihn doch, zu versuchen, wie weit er imstande sei, ein ganzes Stück allein auf seinen Schultern zu tragen. Das erste Mal erfuhr er zu seiner Freude, daß seine Kraft auch solchen Aufgaben gewachsen sei, als ihm Wilbrandt die Hauptrolle in Gogols „Revisor“ zutheilte. Besser als jeder Lobspruch zeugt für diese Leistung die Thatsache, daß ein namhafter russischer Kritiker, Boborykin, der auf der Durchreise zufällig das Burgtheater besuchte, Thimigs Chestakoff für die beste Vergegenwärtigung dieses Typus erklärte, die man überhaupt noch gesehen, den Darsteller selbst aber schlechterdings für einen Russen hielt.
Seinen stärksten Trumpf spielte Thimig aber mit seinem Truffaldino aus, dem venezianischen Harlekin in Goldonis „Diener zweier Herren.“ Der Held dieser italienischen Volkskomödie ist ein Schelm aus Bergamo, der sich aus Hunger und Habsucht gleichzeitig zwei Herren verdingt, für die er vollauf zu thun hat. Dabei richtet er in seiner Einfalt, Gefräßigkeit und Verliebtheit soviel Verwirrung an, daß er von beiden geprügelt wird, bei beiden nicht satt zu essen bekommt und zuguterletzt keinen anderen Profit davonträgt – „wenn’s einer ist!“ – als ein Kammerkätzchen, das seine Frau wird. Dieser blutarme Teufel mit all seinen Schnurren und Streichen blickt nebenher auf einen jahrtausendealten Stammbaum zurück, denn in Wahrheit ist dieser venezianische Hanswurst der unmittelbare Abkömmling der verschmitzten Sklaven der altrömischen Komödie, ein Bursche, dem man trotz all seiner Frechheit und Verlogenheit nicht dauernd gram sein kann, da er uns immer wieder durch seine naive Unverschämtheit belustigt, durch seine närrischen Ausreden und tollen Stücklein entwaffnet. Seit Schröders Zeiten hat die deutsche Bühne immer wieder versucht, gerade diese Goldonische Posse, gleichsam als Musterstück des alten Stegreifspiels, in den festen Bestand ihres Repertoires aufzunehmen, denn Truffaldino wirkt weit mehr als durch die vorschriftsmäßigen Worte des Bühnentextes durch seine pantomimischen Zwischenspiele, durch seine Balletsprünge und Turnerkünste. Thimig hat sich mit wahrhaft genialer Schöpferkraft dieser Aufgabe bemächtigt; er wollte mit dem großen Arlechino Sacchi wetteifern, zugleich aber das strenge künstlerische Maß festhalten, welches die vornehmste deutsche Bühne auch der ausgelassensten Faschingsposse vorschreibt. Und dank der einzigen Mischung seines übersprudelnden Temperaments und seiner strammen künstlerischen Zucht gelang es ihm wirklich, Hanswursts Unsterbliches in den Burgtheaterhimmel hinüberzuretten. Er wagte es, dem übermüthigen Bengel eine körperliche Gelenkigkeit und Springfreudigkeit zu geben, die ihn wenig vom Seil- und Grotesktänzer unterscheidet. Im Kostüm behielt er pietätvoll das Abzeichen des Bergamasker Bauern, das Hasenschwänzchen am Hut, bei, während er das buntscheckige Harlekinsgewand weiter zurück vermenschlichte in das, was es vielleicht immer andeuten sollte: das geflickte Jäcklein eines armen, lustigen Hans Dampf. Vor allem schenkte Thimig Truffaldino aber sein ganzes Herz: „ich kroch in seine Haut,“ so scherzte er einmal, „als wenn sie meine eigene werden sollte, und nahm die verwegensten Uebertölpelungen so ernst und wahr, als ob mein Lebensglück davon abhinge, suchte naiv und überzeugt zu sein und mied ängstlich alle parodistischen Streiflichter, die den Darsteller klüger sein lassen, als seine Rolle.“ Jahrhundertalte halbverschollene Ueberlieferungen der volksthümlichen, wälschen und deutschen Komödie hat Thimig solcherart wiederbelebt und als moderner wohlgeschulter Schauspieler verjüngt, die venezianische typische Maske in eine lebenswahre und -warme, individuell bestimmte Persönlichkeit umgewandelt. Kein Zweifel, daß diese Leistung Thimigs einen Gipfel der neueren deutschen Schauspielkunst bezeichnet. Kein Lebender hat Thimig in der Heimath oder in Italien den „Diener zweier Herren“ vorgespielt, und wir glauben nicht, daß ihm irgendwer seinen Truffaldino, von dem Bild und Wort kaum eine Vorstellung geben können, nachspielen wird.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Ostjaken.
(Fortsetzung.)
Dem Wollen des Menschen fügt sich hier wie überall der Hund, aber der Mensch muß sich den Bedürfnissen des Renthieres fügen. Diese Bedürfnisse, nicht der Wille oder die Laune des Hirten, bestimmen das Wanderleben des umherschweifenden Ostjaken. Mit Beginn der Schneeschmelze zieht er langsam dem Gebirge zu; mit Beginn der Mückenplage steigt er an den Wänden der Berge aufwärts oder mindestens zu den Rücken der Hügelzüge empor; mit dem Aufhören der Qual, welche freilich auch die freien Höhen nicht gänzlich verschont, kehrt er allmählich wieder in die Tieftundra zurück, um hier, womöglich in der Nähe seines heimathlichen Stromes, den Winter zu verbringen. Dies ist der Kreislauf, welchen er in jedem Jahre zurücklegt, falls nicht das Unglück über ihn hereinbricht, die entsetzliche Seuche ihn heimsucht.
Noch bevor der kurze Sommer einzieht in seine unwirthliche Heimath, noch bevor das erste Wehen des Frühlings sich regt, in einer Zeit, in welcher die starke Eisdecke noch unerschüttert liegt auf dem gewaltigen Strome, seinen Zuflüssen und allen den unzähligen Seen der Tundra, bringen die Renthiere ihre Kälber; es gilt deshalb mehr als je, einen Platz aufzusuchen, welcher auch jetzt den Altthieren wie den Kälbern gedeihliche Weide bietet. Zu diesem Zwecke wandert unser Hirt nicht den tiefsten Thälern, sondern im Gegentheile den Höhen zu, von deren Kämmen der tobende Wintersturm so viel als möglich den Schnee weggeweht hat, und schlägt hier seinen Tschum an der geeignetsten Stelle auf. Tage-, wochenlang verweilt er hier, bis die freigelegte Renthierflechte ringsum überall aufgezehrt worden ist und auch der breite Huf des Thiers, welcher den Schnee wegräumt, um zu der von diesem bedeckten Weide zu gelangen, nichts mehr zu Tage fördert. Dann erst bricht er von neuem auf und wendet sich einer unfernen Stelle zu, welche ähnliche Vorzüge besitzt wie die erste. Auch sie verläßt er nicht früher, als bis er wiederum Weidemangel verspürt; dennoch erfreut er sich einer Zeit, welche er die gute nennen darf. Die Herden weiden jetzt in dichtgeschlossenen Trupps; unter den Hirschen, deren Geweihe eben erst zu sprossen begonnen haben, herrscht tiefster Friede; die Kälber werden von den sorgsamen Altthieren nicht aus den Augen gelassen; die Herde zerstreut sich weder, noch entfernt sie sich weiter aus der Nähe des Tschums, als der laute Hirtenruf tönt, welcher sie gegen Sonnenuntergang zurückruft. Nachts zwar umschleicht sie der gierige Wolf, welchen der Winter vom Gebirge herabtrieb in die Tieftundra, aber die muthigen Hunde halten scharfe Wacht und wehren dem Räuber; unser Hirt sorgt sich daher ebenso wenig um den Wolf wie um den Winter, welchen er wie alle hochnordischen Völker als die beste Jahreszeit betrachtet. [703] Die noch sehr kurzen Tage werden rasch langer und die Nächte immer kürzer; die Gefahren für seine wehrlosen Herdenthiere also geringer. Der Strom wirft seine winterliche Decke ab, mit den in den Steppen des Südens erwärmten Fluthen strömen laue Winde durch das Land; ein Hügelrücken nach dem andern wird schneefrei, und hier wie im Thale, wo die jungen Knospen üppig schwellen, finden die wetterharten Thiere reiche Weide; die Tieftundra ist zu einem Paradiese geworden in den Augen unseres Hirten. Doch nur kurze Zeit währt sein und seiner Herdenthiere behagliches Leben, die rasch sich hebende und immer länger, immer wärmer strahlende Sonne schmilzt auch in den flacheren Thälern den Schnee, auf den breiten Seen das Eis, thaut selbst die Oberfläche der gefrorenen Erde auf und ruft neben den ersten harmlosen Kindern des Frühlings – Milliarden quälender Mücken, zudringlicher Bremsen zum Leben wach. Nunmehr beginnt die Wanderung wirklich; jetzt zieht der Hirt, in kurzen Tagesmärschen zwar, aber doch eilig dem Gebirge zu.
Sobald der Nachtthau trocken geworden ist auf Moosen, Flechten, Gräsern und jungen Blättern der Zwerggesträuche, brechen die Frauen den Tschum ab, welchen sie gestern erst errichtet haben, und bepacken die Schlitten. Währenddem jagt der Hirt auf seinem leichten, mit vier kräftigen Hirschen bespannten Schlitten der zerstreut äsenden oder weidesatt in Gruppen gelagerten Herde zu, treibt die Thiere zusammen und nach der Lagerstelle, auf welcher seine Familiengenossen bereits zum Empfange gerüstet sind. Ein dünnes Seil, welches die Renthiere nur selten zu überspringen wagen, in den Händen haltend, bilden sie einen Kreis um die Herde; der Hirt begiebt sich, die Fangschlinge in der Rechten, mitten unter die Thiere, wirft den erwählten Hirschen fast unfehlbar die Schlinge um Hals oder Geweihe, fesselt sie, schirrt und spannt sie ein, befiehlt, daß alle übrigen entlassen werden, besteigt wiederum seinen Schlitten und fährt in der Wegrichtung davon. Alle übrigen Schlitten, gelenkt von den Mitgliedern der Familie, folgen ihm in langer Reihe nach; auch die gesamte freie Herde setzt sich blökend und grunzend und bei jedem Schritte eigenthümlich knackend in Bewegung; die Hunde endlich umspringen, beständig bellend und die zum Umherschweifen geneigten Thiere zusammenhaltend, den ganzen Zug, können es aber doch nicht hindern, daß einzelne Renthiere seitwärts abschweifen und zurückbleiben. Mehr und mehr breitet sich die Herde aus; malerisch schmückt sie alle Höhen umher; von besonders beliebter Aesung festgehalten, verweilt sie truppweise hier und da, bis der Hirt mit seinem Adlerblick den ganzen Unfug wahrnimmt, seitlich ausbiegt, in weitem Bogen die Säumigen umfährt und durch das Machtwort seiner Stimme oder durch die Hunde den vorausgezogenen Genossen nachtreibt. Neues, allgemeines Grunzen, lauteres Bellen der Hunde – und dahin wogt die wieder geschlossene Schar, ein wahrer Wald von Geweihen.
Die Sonne neigt sich; die Zugthiere ächzen und stöhnen mit lang aus dem Halse hängender Zunge: es wird Zeit, ihnen Ruhe zu gönnen. In geringer Entfernung, neben einem der zahllosen Seen, hebt sich ein flach gewölbter Hügel; ihm wendet der Hirt sich zu; auf der Höhe desselben bringt er sein geweihtragendes Gespann zum Stehen. Ein und der andere Schlitten langt dort an; die freie Herde erscheint ebenfalls, begiebt sich jedoch sofort auf die Weide, und die entschirrten Zugthiere folgen nach. Die Frauen wählen eine geeignete Stelle zur Errichtung des Tschums, stellen die Stangen im Kreise auf und umkleiden sie mit dem Rindenmantel; der Hirt aber geht mit seiner zum Gebrauche fertigen Wurfleine unter die Herde, wählt sich kundigen Auges einen jungen feisten Hirsch und wirft ihm die Schlinge über. Vergeblich versucht der Renhirsch sich zu befreien, er muß dem Fänger bis in die Nähe des inzwischen, aufgestellten Tschums folgen. Ein Beilhieb auf den Hinterkopf wirft das Opfer zu Boden, ein Messerstich ins Herz endet sein Leben. Zwei Minuten später ist das Thier bereits gehäutet, aufgebrochen und kunstfertig ausgeweidet; eine Minute darauf tauchen alle rasch versammelten Familienglieder die in Streifen zerschnittene Leber in das in der Brusthöhle zusammengeflossene Blut und das „blutige Mahl“ beginnt. Im Kreise um den noch lebenswarmen Hirsch hockend, schneiden sich die Schmausenden Rippen oder Stücke von den Rücken- und Schenkelmuskeln ab; die Lippen röthen sich, ein und der andere Blutstropfen fließt an ihnen herab, über Kinn und Brust; die Hände färben sich ebenfalls, beschmieren, triefend von Blut, auch Nase und Wangen, und blutige Gesichter starren dem verwunderten Fremdling entgegen. Die Hunde aber sitzen lauernd hinter den Essenden und schnappen die abgenagten Knochen auf, welche man ihnen zuschleudert. Gesättigt erhebt sich ein Mahlgenosse nach dem andern, wischt sich die blutige Hand am Moose ab, reinigt das Messer in gleicher Weise und begiebt sich sodann in den Tschum, um hier behaglich zu ruhen. Die Hausfrau aber füllt den Kochkessel mit Wasser, legt sodann so viel Fleisch von dem halb aufgegessenen Thiere in den Kessel, als dieser fassen kann, und zündet Feuer an, um den Nachtimbiß zu bereiten.
Währenddem hat der Hirt sein Obergewand abgeworfen und sich selbst so dem Feuer genähert, daß die Flamme mit voller Wirkung gegen den entblößten Oberleib strahlen kann. Er fühlt sich höchst behaglich und denkt an neuen Genuß. Ein wunderlicher Kauz, welcher in seiner Gesellschaft dem Gebirge zuzieht, ein Deutscher seines Herkommens, hat ihm nicht allein Tabak, ein wahrhaft entsetzliches Kraut allerdings, aber ein sehr kräftiges Kraut, sondern auch einen großen Bogen Zeitungspapier geschenkt. Von diesem reißt er bedächtig ein viereckiges Stück ab, dreht es zu einer kleinen spitzigen Düte zusammen, füllt diese mit dem Tabak, knickt sie in der Mitte, und das Pfeifchen ist fertig, brennt auch einen Augenblick später trefflich und riecht so vorzüglich, daß seine Gattin die Nüstern weitet und nach demselben Genusse verlangt, auch ihren Wunsch sofort erfüllt sieht. Reihum wandert das Pfeifchen, und jedes Familienglied erfreut sich der Labung.
Doch im Topfe beginnt es zu brodeln; die Abendkost ist fertig geworden und alle „erheben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Dann tritt der Hirt vor die Thür des Tschums, stößt mit langgezogenen Lauten einen weitschallenden Ruf aus, versammelt durch ihn für heute zum letztenmal die unruhige Herde und kehrt befriedigt in den Tschum zurück. Hier hat unterdessen die Frau das Mückenzelt aufgeschlagen, und wenige Minuten später verkündet lautes Schnarchen, daß die ganze Familie den Schlaf der Gerechten gefunden hat.
Am nächsten Morgen beginnt derselbe Tageslauf, und so geht es weiter, bis die Höhen des Gebirges längeres Rasten und Verweilen auf einer und derselben Stelle gestatten. Der oben sehr zeitig fallende Schnee mahnt bereits im August zur Rückkehr, wiederum beginnt die Wanderung und führt, jetzt nur langsamer und gemächlicher, Hirt und Herden nach der Tiefe zurück.
Mit dem Schwinden des Eises beginnt auch die Thätigkeit der ostjakischen Fischer am Strom. Viele dieser Fischer arbeiten im Solde oder doch in Gemeinschaft der Russen, andere verhandeln nur einen Theil des Ueberschusses ihres Fanges an diese und fischen auf eigene Rechnung. Unmittelbar nach dem Eisgange stellen die einen ihren Tschum neben den Fischerhütten der Russen auf oder beziehen die andern ihre hart am Strome gelegenen Sommeransiedelungen, Blockhäuser einfachster Bauart. Da, wo ein Fluß in den Strom mündet, sperrt man ihn durch einen Zaun, welcher nur einen Durchgang enthält; bei tieferem Wasserstande stellt man Reusen und legt Grundangeln; außerdem fischt man nur mit dem Zugnetze und Schleppnetze.
Rege Thätigkeit herrscht auf allen Fischplätzen, wenn es guten Fang giebt. Ueber der Oeffnung des Zaunes hocken auf schwankendem Gerüst halberwachsene Jungen, eher Knaben als Männer, und sehen scharf in die trüben Fluthen unter sich, um zu erfahren, ob Fische einlaufen in das von ihnen gehaltene, den Durchgang schließende Netz, heben dasselbe von Zeit zu Zeit mit der gefangenen Beute auf und entleeren seinen Inhalt in ihre kleinen Boote. Die Männer fischen auf einer Sandbank gemeinschaftlich mit dem Zugnetze oder auf seichteren Stellen des Stromes mit dem Schleppnetze. Nachmittags oder gegen abend kehren die Fischer heim und theilen jeder Haushaltung ihr Maß von der Beute zu. Am nächsten Morgen beginnt die Wirksamkeit der Frauen. Einzeln oder in Gruppen hocken sie um große Fischhaufen, jede mit einem Brett und einem scharfen Messer ausgerüstet, um die Fische zu entschuppen, auszunehmen, zu theilen und auf lange, dünne Stöcke zu spießen, welche dann an den Trockengerüsten zum Dörren aufgehängt werden. Geschickt und sicher geführte Schnitte öffnen die Bauchhöhle des Fisches und trennen seine seitlichen Muskeln von der Wirbelsäule, einige Handgriffe mehr die Leber und die übrigen Eingeweide von Kopf und Gerippe und den werthvolleren Seitentheilen des Leibes. Eine Leber nach der anderen gleitet über die schlürfenden Lippen; denn die Frauen sind noch nüchtern und nehmen als Vorspeise den Leckerbissen zu sich. Regt sich der Magen doch noch, so wird [704] ein Fisch entschuppt, ausgenommen und in lange Streifen getheilt, das Ende eines solchen in das aussickernde Blut getaucht, also gewürzt in den Mund gesteckt und mit raschem, von unten her hart an der Nasenspitze vorbeigehendem Schnitte ein mundgerechter Bissen nach dem andern abgetrennt. Die Kinder, die sich um die arbeitenden Mütter einfinden, erhalten je nach ihrer Größe Leber- oder Muskelstreifen; vierjährige führen auch das Messer beim Bissenvertheilen bereits ebenso geschickt wie die Alten, welche sich auch Renthierfleischstreifen in dieser Weise zerstückeln. Bald glänzen die Gesichter der Mütter wie der Kinder von Fischblut und Leberthran, die Hände von anklebenden Fischschuppen.
Schlaflose Nacht! Kennst du sie nicht? –
Es losch des müden Tages Licht,
Die Nacht sinkt still und friedlich nieder,
Und schwer sind deine Augenlider;
Da ruhst du auf dem weichen Pfühl. –
Verstummt der Straßen laut’ Gewühl!
Du hörst den Pendelschlag der Uhr,
Des eignen Herzens Pochen nur,
Vor deinem Fenster in den Bäumen
Rauscht es so leise – du willst träumen.
Doch weshalb kommt der Schlummer nicht?
Stört dich vielleicht das blasse Licht
Des Monds mit seinem matten Schimmer? –
Horch, eine Fliege summt durchs Zimmer;
Der unruhvolle, kleine Gast,
Er raubt dir die ersehnte Rast …
Du ärgerst dich – die Kissen drücken,
Du mußt sie dir bequemer rücken –
Doch nun, aufs neu’ die Augen zu –
Rastlose Seele, halte Ruh!
Unklar verdämmern die Gedanken,
Und blasse Traumesbilder schwanken
Auf leisem Fittig schon herbei – –
Da tönt verhallend, fern ein Schrei.
War das im Traum, in Wirklichkeit?
Was soll der Schrei um diese Zeit?
Sucht sich ein Vogel noch sein Brot?
War es ein Mensch in Todesnoth?
Du fährst empor, du lauschest still,
Ob sich nichts weiter regen will –
Doch stumm bleibt alles wie zuvor,
Und wieder legst du dich aufs Ohr.
Doch mit dem Schlafen ist’s vorbei.
Du hörst noch immer jenen Schrei,
Phantastisch spinnst du fort daran,
Und was Du sinnst, wird zum Roman.
Es fällt dir bei aus Jugendtagen,
Wie einen Wand’rer man erschlagen
Bei stiller Nacht im grünen Tann – –
So schrie wohl der unsel’ge Mann!
Und wenn du in die Jugendzeit
Dich erst verirrt, so frei und weit,
Dann will an dir vorüberschweben
Dein ganzes Leben.
Gestalten kommen auf Gestalten,
Du wehrst umsonst – sie müssen walten,
Die stille Nacht ist ja die Frist,
Da Geistern Macht gegeben ist!
Was dir an Lust und Leid beschieden
Seit Jahren war, stört dir den Frieden.
Lebendig wird, was längst verblich,
Verschlossne Grüfte öffnen sich,
Und groß erscheint die kleinste Schuld …
Da springst du auf in Ungeduld,
Dir ist so heiß – die Stirne brennt –
Die Fenster auf! – Am Firmament
Stehn mit dem lieben Licht die Sterne,
Die Erde schläft, nur aus der Ferne
Hallt leis der Schritt des Wächters wider –
Du legst aufs neu’ zum Pfühl dich nieder.
Du denkst an das wogende Aehrenfeld,
An des Meeres Welle, die steigt und fällt,
An alles, was dich beruhigen kann,
Umsonst, dein Schlaf kommt nicht heran.
Die Uhren scheinen still zu stehn,
Gleich abgelebten Greisen gehn
Die Stunden müden Ganges hin,
Und einen Wunsch nur hegt dein Sinn:
O, daß doch bald der Morgen käme
Und diese Nacht ein Ende nähme! …
Jetzt naht des Tages Dämmerschein,
Frühroth erglänzt in das Zimmer herein,
Da weichen leise die Schatten der Nacht,
Die Geister schwinden still und sacht,
Und auf die müden Augenlider
Senkt sich ein sanfter Schlummer nieder …
Und du erwachst – schon ist es Tag,
Beruhigt ist des Herzens Schlag,
Das Leben zeigt dir neue Huld –
Wo bleibt, die dich gequält, die Schuld?
Dein Zimmer ist wieder voll Sonnenlicht …
Schlaflose Nacht! Kennst du sie nicht?
Anton Ahorn.
Etwas Neues vom Himmel.
Großes Aufsehen erregte es in der ganzen gebildeten Welt, als im Jahre 1845 auf Grund der Berechnungen Leverriers ein bisher unbekannter Planet, der Neptun, entdeckt und aufgefunden wurde. Aus den Unregelmäßigkeiten im Laufe, den sogenannten „Störungen“ des Uranus, des dem Neptun am nächsten liegenden Planeten, hatte man schon lange vorher das Vorhandensein eines weitern Planeten vermuthet; aber erst Leverrier suchte an der Hand der astronomischen Berechnungen der Sache näher zu treten. Aus den erwähnten Störungen berechnete er Lage, Masse, Umlaufszeit und dergleichen mehr des noch ungesehenen Planeten. Da in Paris zu der Zeit ein genügend starkes Fernrohr nicht vorhanden war, wandte sich Leverrier an die Berliner Sternwarte, deren verdienstvoller Direktor Galle den Neptun an der ihm bezeichneten Stelle wirklich auffand. Zwar bedurften die übrigen Rechnungen Leverriers erheblicher Berichtigungen, aber das erreichte Ergebniß war darum nicht weniger erstaunlich und lieferte ein glänzendes Beispiel dafür, daß das mit den Mitteln der Wissenschaft ausgerüstete geistige Auge weiter sieht als das körperliche. – Eine Entdeckung ähnlicher Art ist vor kurzem von dem amerikanischen Astronomen Pickering in Cambridge, V. St. A., gemacht worden. Dieser Astronom befaßte sich viel mit der Untersuchung der Sterne mittels des Spektroskopes nach einem vor dreißig Jahren von den Heidelberger Professoren Bunsen und Kirchhoff angegebenen Verfahren, dem wir schon manche sehr wichtige Entdeckung zu verdanken haben. Pickering hatte sein Instrument auf den Mizar, den mittleren der drei Sterne im Schwanze des Großen Bären, gerichtet, um photographische Bilder des Spektrums dieses Sternes aufzunehmen.
Unseren Lesern ist das Sternbild „der Große Bär“ vielleicht besser unter dem Namen „der Wagen“ bekannt. An demselben ist der Mizar der mittlere Stern des Gespannes, der mit dem sogenannten Reiterchen, dem Alkor. Die nebenstehende kleine Sternkarte, die allerdings nur einige leicht zu merkende Sternbilder enthält, zeigt bei A den Großen Bär, 1 ist der Mizar, 2 das Reiterchen Alkor. Der Große Bär geht für unsere Gegend nie unter, sondern ist bei klarem Sternhimmel stets sichtbar und wegen seiner hervortretenden Gestalt leicht aufzufinden. Er dient deshalb auch zur Bestimmung der Himmelsgegenden. Verfolgt man nämlich die Richtungslinie, welche durch die äußersten Sterne des Großen Bären (die Hinterräder des Wagens) gelegt wird, so trifft man auf einen ziemlich hellen Stern, den Polarstern P, welcher stets nahezu an derselben Stelle des Himmels und fast genau im Norden steht, so daß man nach demselben die Himmelsgegenden bestimmen kann. – Der Polarstern bildet den äußersten Stern des Kleinen Bären B, welcher aus bei weitem weniger hellen Sternen besteht als der Große Bär, im übrigen aber haben beide Sternbilder der Gestalt nach große Aehnlichkeit miteinander. Geht man über den Polarstern hinaus in derselben Richtung weiter, kommt man zu einem hervorragenden Sternbilde, der „Cassiopeia“ (bei C), welches die Form eines M oder W hat. Diese beiden Sternbilder, der Große Bär und die Cassiopeia, drehen sich und mit ihnen der ganze Sternhimmel scheinbar stets in der Richtung der Pfeile unserer Karte um den Polarstern. Aus diesem Grunde steht der Große Bär bald nahe dem Horizonte (und alsdann nördlich) oder nahezu über uns, oder rechts oder links vom
[705][706] Polarstern. Wer in der Astronomie bewandert ist, kann seine Uhr danach stellen: und der Seemann richtet sein Schiff danach. Auch unsern Lesern wird es nach dem Vorhergehenden nicht schwer werden, sich zu orientiren und den Mizar aufzufinden. Im September und Oktober ist die auf der Karte dargestellte Lage gegen Mitternacht zu sehen.
Bei den erwähnten Aufnahmen Pickerings zeigte sich nun die auffallende Erscheinung, daß sich die Spektrallinien des Mizar in Zeitabschnitten von 52 Tagen verdoppelten. Das Maß dieser Verdoppelung entspricht einer Verschiebung der Lichtwellenlänge um den viertausendsten Theil ihrer Größe. Da die Geschwindigkeit des Lichtes 40 000 Meilen in der Sekunde beträgt, so bedeutet diese Verschiebung der Spectrallinie eine Geschwindigkeit der Lichtquelle von 10 Meilen in der Sekunde. Da ferner diese Verschiebung nach beiden Seiten zugleich stattfand, so schloß Pickering, daß der für einfach gehaltene Stern in Wirklichkeit aus zwei Sternen bestehen müsse, die, einen Doppelstern bildend, wie das in andern Fällen vielfach beobachtet war, um einen gemeinschaftlichen Punkt kreisen.
Ein Blick auf die nebenstehende Figur wird die Sache sofort erläutern.A und B bedeuten die einzelnen Sterne des Doppelgestirns, die sich in der Richtung der Pfeile bewegen, E sei unsere Erde, die man sich aber unendlich weit abstehend vorstellen muß. Man sieht, daß sich Stern A von der Erde entfernt und B sich ihr nähert. Nach 26 Tagen gelangt A in die Stellung bei D, und B geht nach C. In diesem Augenblick entfernen sie sich nicht mehr von der Erde, also die Spektrallinien werden einfach. Nach wiederum 26 Tagen tritt wieder der zuerst erwähnte Fall ein. Es ist klar, daß zu einem ganzen Umlaufe 104 Tage gehören. Läuft aber der Stern 104 Tage lang mit einer Geschwindigkeit von 10 Meilen in der Sekunde, so legt er 90 Millionen Meilen zurück, seine Bahn, die wir uns kreisförmig vorstellen dürfen, hat dann rund 30 Millionen Meilen Durchmesser; somit stehen die beiden Sterne um die Hälfte weiter voneinander, als die Entfernung der Erde von der Sonne beträgt. – Hat der Astronom aber Geschwindigkeit und Bahngröße gefunden, so ist es für ihn ein einfaches Rechenexempel, auch die Größe der Masse zu berechnen. Hiernach stellte sich heraus, daß der Mizar aus zwei Sonnen besteht, deren jede einzelne 20mal so viel Masse hat als unsere Sonne.
Wenn trotz dieser bedeutenden Größe der Sterne und trotz ihrer großen Entfernung voneinander der Doppelstern selbst in den stärksten Fernröhren als einfacher Stern erscheint, so beweist dies die sehr große Entfernung des Mizar von unserem Sonnensysteme.
Somit sieht unser geistiges Auge Dinge, die dem körperlichen Auge wohl für immer werden verschlossen bleiben.
Aber auch dasjenige, was wir sehen, ist wunderbar genug, um noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Wir erwähnten zu Anfang, daß das Licht in einer Sekunde einen Weg von 40 000 Meilen zurücklegt. Für die Entfernungen, nach welchen die Astronomie mißt, genügen, sobald es sich um Fixsterne handelt, die Meilen als Maßstab nicht mehr, die betreffenden Zahlen würden zu lang werden; auch der Erddurchmesser genügt nicht mehr, selbst nicht einmal der Sonnenabstand, obwohl er die stattliche Länge von 20 Millionen Meilen beträgt. In der Fixsternwelt mißt man nach Lichtjahren, das heißt mit Strecken, die das Licht in einem ganzen Jahre zurücklegt. Von der Sonne bis zu uns gebraucht das Licht etwa 8 Minuten, die Reise vom Polarsterne bis zu uns dauert dagegen ganze 15 Jahre, und bei den von Herschel für die entferntesten gehaltenen Sternen sind sogar 3541 Jahre erforderlich, bis die von dort ausgehenden Strahlen unser Auge erreichen. Wenn wir zur Fixsternwelt emporblicken, so sehen wir Strahlen, die schon vor Jahrtausenden ihre Heimath verlassen haben und seit grauester Vorzeit auf der Reise zu uns sind.
Acht Minuten von der Sonne zu uns – Jahrtausende vom Fixsterne zu uns – in jeder Sekunde 40 000 Meilen – Wer lernt’s fassen und begreifen?! H.
Blätter und Blüthen.
Die Ueberfüllung der gelehrten Berufsarten ist eine der brennenden Fragen der Gegenwart, mit der sich in jüngster Zeit die öffentliche Meinung vielfach befaßt hat. Die socialen Gefahren, die mit ihr verbunden sind, dürfen nicht weggeleugnet werden, das sogenannte „gelehrte Proletariat“ ist ein Uebelstand, dessen Aufkommen mit allem Ernst verhindert werden sollte. Der „Allgemeine deutsche Realschulmänner-Verein“ hatte einen Preis ausgesetzt für die Beantwortung der Frage: „Woher rührt die Ueberfüllung der sogenannten gelehrten Fächer und durch welche Mittel ist derselben am wirksamsten entgegenzutreten?“ Es wurden zwei Arbeiten, die eine von Oberlehrer Dr. Pietzker, die andere von Professor P. Treutlein, mit Preisen ausgezeichnet, und dieselben sind unter dem Titel „Der Zudrang zu den gelehrten Berufsarten, seine Ursachen und etwaigen Heilmittel“ im Verlage von Otto Salle in Braunschweig erschienen. Die Schulreformen, welche die beiden Verfasser wünschen, sind ziemlich eingreifend und die nähere Prüfung und Erörterung derselben gehört wohl in den Kreis der Fachmänner. Das große Publikum, die Eltern, welche ihren Söhnen eine höhere Schulbildung angedeihen lassen, können vorderhand mit Reformplänen nicht rechnen; sie müssen sich in die gegebenen Verhältnisse fügen, aber für sie ist es von großem Interesse, zu erfahren, wie es eigentlich um die Ueberfüllung der gelehrten Fächer bestellt ist. Eine nähere Prüfung dieser Frage finden wir in der Arbeit von Prof. Treutlein. Das Bild der Ueberfüllung ist in den verschiedenen deutschen Staaten verschieden. Im großen und ganzen dürfte jedoch das folgende Gesamtergebniß als allgemein gültig und zutreffend angesehen werden:
Eine entschiedene Ueberfüllung ist bei den Juristen und Lehrern für höhere Schulen festgestellt worden. In diesen Fächern giebt es mehr Kandidaten als freie Stellen, und selbst die Nebenfächer, die von dieser Klasse der Gelehrten versorgt werden, die der Bibliothekare und Archivbeamten, sind ungemein übersetzt.
Dasselbe ist auch bei den Chemikern der Fall. Im ärztlichen Stande tritt die Erscheinung zu Tage, daß nur die Großstädte zum größten Theil mit Aerzten überfüllt sind, während auf dem Lande sich noch vielen Aerzten das Feld zu einer ersprießlichen Thätigkeit bietet. Man hört zwar Klagen über den verschärften Wettbewerb auf diesem Gebiete, aber die Statistik zeigt, daß von einer Ueberfüllung in diesem Berufe im ganzen nicht eigentlich die Rede sein kann. Was endlich das vierte Fach, das der „Gottesgelahrtheit“ anbelangt, so verlautet hier nichts von einem übermäßigen Zudrang; im Gegentheil, sowohl in der protestantischen wie in der katholischen Kirche ist ein Mangel an Theologen fühlbar.
Es erhellt nun daraus, daß namentlich diejenigen Fächer, welche auf eine Amtsstelle Aussicht eröffnen, überfüllt sind. Thatsache ist es, daß, während unsere Bevölkerung in den letzten 18 Jahren im Verhältniß von 100 auf 114,8 gewachsen ist, in derselben Zeit eine Steigerung der Studentenzahl von 100 auf 211,6 vor sich gegangen ist.
Wenn auch viele neue Amtsstellen geschaffen, neue Schriften etc. gegründet worden sind, so ist doch die Nachfrage nach Stellen größer als das Angebot, eine Ueberfülle von gelehrten Kandidaten unverkennbar.
Dies sollte für die Eltern ein Wink sein, dort, wo wirkliche Begabung nicht in Frage kommt, von dem Erzwingen einer gelehrten Lebenslaufbahn bei ihren Söhnen abzusehen. Der Allgemeinheit erwächst aber angesichts dieser Thatsache die Pflicht, dahin zu wirken, daß die „nicht gelehrten“ Berufsarten, Gewerbe, Handel, Handwerk und Landwirthschaft, mehr zu der ihnen gebührenden Ehre und Anerkennung in der Oeffentlichkeit gebracht werden, als dies bis jetzt mitunter der Fall ist.
Auf das Ehrenvolle, Nützliche und Ebenbürtige dieser Berufe im Vergleich zu den gelehrten Fächern sollte namentlich die Jugend schon frühzeitig und nachdrücklich aufmerksam gemacht werden. Das ist ein Mittel, mit dem die Gesellschaft selbst zum Theil jener schädlichen Ueberfüllung steuern kann.Der letzte Menschenfresser. Berka heißt ein kleines Bad bei Weimar an der Ilm. Der Ort selbst ist nach den Birken, von denen auf der Schloßseite manche hundertjährige Exemplare stehn; eine prächtige Pappelallee nach Goethe, der sie pflanzte; eine Stahlquelle nach dem Herzog Karl August benannt.
An diesen idyllischen lieblichen Ort, dieses „Meran Thüringens“, das alle Jahre angenehmer und reicher an bequemen Schlössern, Burgen und Villen für die Fremden wird, knüpft sich eine merkwürdige Erinnerung. Vor einem Jahrhundert ereignete sich hier der letzte unzweifelhaft beglaubigte Fall, daß in Deutschland jemand aus Geschmack für Menschenfleisch wiederholt mordete. Vor einem Jahrhundert gab es hier einen Kannibalen, einen Oger, gleich den Menschenfressern, wie sie in unseren Märchen, in Klein Däumling, Rapunzel mit dem langen Haar und Riquet mit dem Schopf, als ein dumpfer Nachklang der vorhistorischen Menschenfresserei fortleben.
In einer alten Innungslade findet man unter den „Exekutionen, so allhier in Berka geschehen“ (nach der Verbrennung der alten Glasern auf dem sogenannten Hexenberge im Jahre 1673) folgende schaurige Notiz: „A. D. 1772, den 3. April ist Joh. Nikol. Goldschmidt, ein Kühhirt aus Eichelborn allhier zur gefänglichen Haft gebracht worden, weil er einem Mädchen von 11 Jahren, einzige Tochter einer Witfrau zu Eichelborn, in seinem Hause die Kehle abgeschnitten und mit dem Beile vollends todtgeschlagen, den Körper entkleidet und in lauter Kochstücke zerhackt, sich auch ein Stück davon gekocht und gegessen. Selbiger hat im Verhör gestanden, wie er auch einen Handwerksburschen auf dem Felde erschlagen, ins Holz geschleppt und des Abends in einer Berre Holz stückweise nach Hause getragen. Es wurde ihm nach eingeholtem Urtheil das Rad zuerkannt, welches auch den 24. Juli 1772 unter Zuschauung vieler tausend Menschen an ihm vollzogen worden. Gott behüte alle und jede Christen vor bösen Thaten, damit sie nicht den gleichen Lohn bekommen! –“
Noch etwas ausführlicher meldet eine Chronik von Berka: „In eben diesm Jahr (1772) erlebten wir ein sehr trauriges Exempel. Joh. Nikolaus Goldschmidt, der in Eichelborn Hutmann war, erschlug an einem Bußtag einen Handwerksburschen, als er ihm auf dem Felde begegnete, theilte ihn und nahm jeden Tag bei dem Eintreiben des Viehs ein Stück davon in einer Welle Holz mit sich nach Hause, welches er kochte und davon aß. Da es aber zu riechen begann, fütterte er damit seinen Hund, schlachtete alsdann denselben und fraß ihn auch. Einige Zeit darauf bekommt er Appetit nach jungem Menschenfleisch; er wählte also, seinen grausamen Hunger zu stillen, ein artig Kind, wie er mir selbst gesagt, daß er vor anderen dieses (10–11jährige) Mägdlein immer lieb gehabt hätte. Dieses locket er, indem es aus der Schule geht, zu sich, zeigt ihm unter anderem auch seine Stubenuhr, und indem das Mägdlein darnach sieht, nimmt er [707] es bei den Haaren und schneidet ihm den Hals entzwei, schlachtet es hierauf ordentlich aus, wie ein Fleischer sein Fleisch in Stücken haut, und nachdem er diese schreckliche That verrichtet, so kocht er davon und ißt. Allein wie konnte die Rache Gottes hierzu stillschweigen? Das Mägdlein wurde gesucht, aber nicht gefunden. Endlich sieht eine ihm gegenüberwohnende Bauersfrau, daß sich Goldschmidt unter (während) der Kirche gar sehr beschäftigt und immer etwas verdeckt aus seinem Hause in einen daran liegenden Keller trägt, dabei sie auch gewahr wird, wie ein Zipfel von des ermordeten Mägdleins Rock unter dem seinigen hervorguckt; da sie denn solches anzeigt, worauf der Mörder sogleich eingesetzt wurde. Man fand nun das zerhackte Mägdlein, welches in einem Sacke hiehergebracht wurde, und sahe es fast nicht für Menschenfleisch an, so reinlich und kochstückenartig hatte es der Mörder zerhackt. Der Mörder gestand bald seine bösen Thaten und wurde darauf lebendig von unten hinauf gerädert.“
Hier ist also noch etwas mehr als die Schandthaten des Mörders Raskolnikow, dessen unheimliche, von Dostojewskij erzählte Geschichte jetzt in Leipzig als Drama aufgeführt ward, und dabei ein Verbrechen, das nicht bloß der Phantasie eines Romanschriftstellers angehört; die Akten (aus denen übrigens hervorgeht, daß der Mord keine anderen Beweggründe gehabt hat) sind noch vorhanden und wurden bisher von dem Amtsgericht zu Blankenhain (Vieselbach) zu näherer Kenntnißnahme mehrmals, zum Beispiel dem Herrn Oberforstmeister Schatter, der einen Vortrag über die Sache halten wollte, ausgefolgt.
In dichten und abgelegenen Wäldern, in solchen Winkeln der Erde scheint die Weltgeschichte stillzustehen: hier halten sich mitunter seltsame Originale und Ueberlebsel längst vergangener Zeiten. Daß in vorgeschichtlichen Perioden die Menschenfresserei allgemeiner gewesen ist, wird durch Knochenfunde in Höhlen Italiens, Belgiens und Frankreichs höchst wahrscheinlich; sämmtliche menschliche markhaltige Knochen der Höhle von Chauvaux bei Namur waren künstlich geöffnet – „Und sogen als Kraftsaft das Mark.“ Nicht bloß auf den Westindischen Inseln, auch in unserem Europa lebten Kannibalen. – Bekanntlich sollen die ersten Kannibalen die Bewohner der Karibischen Inseln gewesen sein, welche ihre getödteten Feinde zu verzehren pflegten (angeblich spanisch Canibal = Caribal); in Ungarn wie auch in den deutschen Forsten gab es menschenfressende Ungeheuer oder Oger – dieses Wort, französisch Ogre, vielleicht eher mit dem lateinischen Orcus (Unterwelt) zusammenhängend, ist lange auf die Ungarn bezogen worden, welche im Mittelalter den Westen verwüsteten (angeblich französisch Ogres = Hongres, Hongrois, Oigours). Die Erinnerung an diese dunkeln Zeiten klingt noch heute in den Weihnachtsvorstellungen der Leipziger Kinder nach, wenn im dritten Akt ein finstrer Wald erscheint und eine erste Verwandlung die Graue Frau, eine zweite den Menschenfresser bringt. Einzelne Menschenfresser fanden sich übrigens von jeher auch in civilisierten Staaten – in Italien und Deutschland läuft eine und dieselbe Schauergeschichte von einem Fleischer um, der in seinem Keller Menschen verwurstete. Civilisation! Wir müssen nicht allzu stolz sein auf unsere Civilisation; etwas Barbarei ragt am Ende heute noch hinein. In Quedlinburg wurde noch 1750 ein Zauberer geviertheilt, in Würzburg 1780 eine Hexe verbrannt, 1772 in Berka an der Ilm, wo man jetzt mit Liebe behandelt, aber keineswegs aufgegessen wird, in den herrlichen Wäldern Gesundheit und edle Pilze sucht und (bei Schloß Rodberg) in Waldschlafstätten ruhig schläft, der letzte Menschenfresser gerädert. Rudolf Kleinpaul.
Gustav zu Putlitz †. Es war im Jahre 1858, als sich in der schlesischen Hauptstadt in einem am Schweidnitzer Stadtgraben gelegenen Hotel eine Gemeinde von Dichtern, Künstlern und Kunstfreunden versammelt hatte. Eines jener theatralischen Ereignisse, die wohl zu den Seltenheiten gehören, hatte den Anlaß zu diesem künstlerischen Stelldichein in Breslau gegeben; es handelte sich um die erste Aufführung eines neuen Schauspiels, dessen Hauptrollen mit den ersten Kräften des Wiener Hofburgtheaters besetzt waren. Und in der That führte eine geistvolle Schauspielerin den Vorsitz an den geselligen Abenden, welche dem Tage der Aufführung vorausgingen. Es war Julie Rettich, die Schülerin Ludwig Tiecks, die Freundin Friedrich Halms, als stilvolle Künstlerin eine Zierde des Burgtheaters, als eine klardenkende, für ihre Aufgaben hochbegeisterte Frau eine Zierde der deutschen Bühne überhaupt. Neben ihr saß Joseph Wagner, der damalige erste Liebhaber des Burgtheaters, ein feuriger Darsteller mit seelenvollen Augen und ausdrucksvollen Gesichtszügen, aber von einer Schweigsamkeit, welche ihn selten aus sich heraustreten ließ; diese Innerlichkeit seines Wesens machte ihn zu einem der besten Darsteller des Hamlet, welche die deutsche Bühne gesehen.
Auch er war von Wien herbeigekommen, um mitzuwirken bei der ersten Aufführung des Schauspiels „Das Testament des Großen Kurfürsten“, dessen Dichter, Gustav zu Putlitz, den Mittelpunkt unseres Kreises bildete; ich selbst lebte damals in Breslau und verfehlte nicht, den Sangesgenossen aufzusuchen, auch der damalige Regierungsassessor Alfred von Wolzogen war anwesend, der sich durch seine Theaterkritiken und Schriften über bildende Kunst einen Namen gemacht hat. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß unser kleiner Kreis diese zwei Männer in sich schloß, welche später nacheinander die Intendanz des Schweriner Hoftheaters bekleiden sollten.
Wir waren natürlich in großer Spannung wegen des Erfolges; denn es war der erste Versuch des Dichters auf dem Gebiete des ernsten Schauspiels, nur ein daran streifendes geschichtliches Intriguenstück war ihm vorausgegangen: aber wir konnten bald einen glänzenden Erfolg feiern. Das vorzügliche Spiel der beiden Wiener Gäste trug nicht wenig zu demselben bei. Von Breslau aus nahm das Stück seinen Weg über die beiden Hoftheater von Wien und Berlin und ging über fast alle deutschen Bühnen, wie wir’s in gehobener Stimmung nach der Aufführung prophezeiten. Was Putlitz vorher geschaffen, war so gänzlich anderer Art, daß man ihm damals kaum den dichterischen Schwung der Tragödie zugetraut hätte. Seine Märchendichtung „Was sich der Wald erzählt“ (1850), welcher ähnliche Plaudereien aus dem Reiche der beseelten Blumen folgten, wies ebensowenig auf ein Geschichtsdrama hin wie seine bereits an vielen Bühnen aufgeführten behaglichen dramatischen Einakter, wie „Badekuren“, in denen er sich schon damals wie auch in seinen späteren Lustspielen an das bürgerliche Lustspiel von Roderich Benedix anlehnte. Obschon aus einem alten kurmärkischen Geschlechte stammend (er war am 20. März 1821 zu Retzien in der Priegnitz geboren), hatte er durchaus nicht, um mit Heine zu sprechen, das Wesen eines „ukermärkischen Granden“; es lag in seiner Natur ein jovialer Grundzug, und auch den Dichter der träumerischen Wald- und Blumenlyrik hätte man sich anders gedacht.
Gustav zu Putlitz steuerte nur sechs Jahre lang in dem Kurs des historischen Dramas, als dessen begabter Vertreter er damals in Breslau seine ersten Lorbeeren errang, Für Julie Rettich hatte er auch die Hauptrolle in seinem nächsten Trauerspiel „Don Juan d’ Austria“ (1860) geschrieben; es folgte „Waldemar“ (1862), in welchem Stücke er den echten letzten Askanier zum Helden machte; dann legte der Dichter die Feder des historischen Dramatikers nieder. Mißstimmung über Publikum und Kritik gab ihm wohl hauptsächlich den Anlaß zu diesem Verzicht auf ein Weiterschreiten in der so erfolgreich betretenen Bahn. Namentlich die Wiener Kritik zerpflückte seine Werke aufs grausamste; das Publikum selbst schenkte dem geschichtlichen Trauerspiel nur geringen Antheil.
Seit jener Breslauer Zusammenkunft habe ich stets mit warmem Antheil den Lebenslauf des Dichters verfolgt: ich freute mich, daß seine Berufung nach Schwerin als Intendant des Hoftheaters (1863) ihn der Bühne wieder näher führte, und in der That hat er seitdem einige seiner besten frischen Lustspiele: „Spielt nicht mit dem Feuer“, „Gut giebt Muth“ und andere geschaffen, von denen „Die alte Schachtel“ und „Das Schwert des Damokles“ besonders volksthümlich geworden sind. Im Jahre 1867 wurde er Hofmarschall des preußischen Kronprinzen, lebte dann längere Zeit in Berlin, bis ihm 1873 die Generaldirektion des Karlsruher Hoftheaters anvertraut wurde, die er bis zu seinem Todesjahr führte. Ein schwerer Schlag für ihn war der Tod seines talentvollen Sohnes, der als Berliner Privatdocent durch Selbstmord endete, infolge getrübter Familienverhältnisse. Die tiefe Erschütterung beugte den Vater danieder; er war seitdem ein gebrochener Mann, auch von körperlichen Leiden heimgesucht. Am 5. September dieses Jahres ist er auf seinem Familienschloß Retzien gestorben.
Viele unserer Leser werden den dramatischen Dichter auch als liebenswürdigen Erzähler kennen; in den letzten Jahrzehnten hatte er sich vorzugsweise der Novelle zugewendet. „Die Nachtigall“, „Die Alpenbraut“, „Das Frölenhaus“, das „Maler-Majorle“ und andere Erzählungen zeugen oft von einer kernhaft tüchtigen Darstellung bürgerlichen Lebens. Um das deutsche Theater hochverdient, ein vielseitiger, ebenso frischer wie geistig feiner Dichter, hat Gustav zu Putlitz sich ein ehrenvolles Gedächtniß bei unserem Volke gesichert. R. v. Gottschall.
Eigenthümliches Trinkgefäß der Helgoländer. Die Bewohner von Helgoland sind sehr tüchtige Trinker; und wenn sie trotzdem den Ruf der Nüchternheit genießen, so mag das nur daher rühren, daß sie so viel vertragen können, daß sie auch bei großartigen Leistungen im Trinken „nichts spüren“. Nach einer Sage soll einmal ein großes Kruzifix zusammen mit einer Glocke an die Insel angeschwemmt worden sein. Mit dieser Glocke konnte man nun, was für Fischer und Schiffer sehr vortheilhaft war, den Wind machen. Für den Fischfang der Insulaner war zu manchen Zeiten ein anhaltender Ostwind von besonderem Werth. Um sich denselben vom Himmel zu erflehen, zogen die Fischer in Prozession in die Kirche, beteten vor dem Kruzifix ein Vaterunser, füllten die Glocke mit starkem Getränke und tranken einander der Reihe nach die Gesundheit zu: „Auf eine glückliche Zeit und Ostwind!“ Wurde hierdurch nicht ein günstiger Wind erzielt, so wiederholte man das Verfahren – und der Erfolg blieb nicht aus. Der holsteinische Ritter Bertram Pogwisch hat noch zu Ende des 16. Jahrhunderts diesen sonderbaren Gebrauch mitgemacht und sich aus der merkwürdigen Glocke „einen gelinden Westwind ertrunken“, mit dessen Hilfe er ganz gemüthlich nach Eiderstedt segelte.
Kleiner Briefkasten.
M. in H. Auf Ihre Anfrage: „Wie kann man Blätter oder auch Zweige mit Früchten bezw. Fruchtknoten auf beliebige Zeit in ihrer natürlichen Farbe grün und elastisch erhalten?“ theilen wir Ihnen folgendes mit: Man bringt die Blätter, Zweige oder Früchte in eine aus 20procentigem Alkohol und etwas saurem schwefligsauren Kalk bestehende Flüssigkeit. Färbt sich der aufgegossene Alkohol, so wird er durch neuen ersetzt. Den saueren schwefligsaueren Kalk setzt man stets erst zu dem mit dem Alkohol übergossenen Präparate. Die Menge des Kalksalzes richtet sich nach der Beschaffenheit des aufzubewahenden Pflanzenkörpers. Bei grünen Pflanzenkörpern setzt man auf 200 Kubikcentimeter Alkohol nur 1 bis 2 Tropfen der 7 bis 8 % schweflige Säure enthaltenden Lösung zu. Dieses Verfahren stammt von Prof. Dr. J. Neßler. Die Präparate Neßlers von weißen und grünen Trauben, von Rebtheilen und Blättern, ja selbst mit Insekten, befinden sich in Stopfgläsern und stehen, ohne sich zu verändern, jahrelang in einem hellen Zimmer in einem Glasschrank. Ich empfehle außerdem, mittelst Chlorophylls die grüne Farbe der Blätter zu heben, indem man das Chlorophyll in Alkohol löst.
Luise Sch. in Karlsruhe. Sie möchten wissen, wie sich Angst und Scham oder Zorn bei den Negern äußern, da diese doch nicht blaß oder roth werden können wie wir weißen Menschenkinder. Bekanntlich werden die Erscheinungen des Blaßwerdens und Erröthens durch den Einfluß der Nerven auf die Blutgefäße hervorgerufen. In dem ersten Falle werden die Blutgefäße zusammengezogen und das Blut nur in geringen Mengen der Haut zugeführt, in dem anderen werden sie erweitert, und den betreffenden Theilen des Körpers wird mehr Blut zugeführt. Derselbe Vorgang spielt sich nun auch im Negerorganismus ab. Es ist bekannt, daß Gesichtsnarben bei Negern sich in gegebenen Fällen röthen. Dr. Eugen Wolf, der berühmte Afrikareisende und ehemalige Genosse Wißmanns, berichtet, daß bei Angst, Kälte und Hunger, wo der Weiße blaß wird, die Hautfarbe des Negers ein graues Ansehen bekommt, während sie bei Zorn und nach genossener Mahlzeit – Umstände, die des Weißen Antlitz zu röthen pflegen – dunkler wird. Die Neger, die nach Europa gebracht werden, „bleichen oft aus“; dieses Ausbleichen läßt sich durch die geringere Blutfülle der Haut erklären, da die Neger in unserem Klima zumeist krank werden, also nach unseren Begriffen blaß aussehen.
O. S. in Baden-Baden. Als eine Ihren Wünschen entsprechende Zeitschrift für Mädchen von 11 bis 16 Jahren nennen wir Ihnen „Das Kränzchen“. Dasselbe erscheint wöchentlich und ist in jeder Buchhandlung zu haben.
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Allerlei Kurzweil.
Skataufgabe Nr. 6. Von K. Buhle. |
Geometrische Aufgabe. |
Bilderräthsel:
Indianischer Muschelgürtel. | |||||||
Der Spieler in Hinterhand tourniert, da er Grand nicht wagen will, auf diese Karte: |
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das | und findet noch | Der Spieler verliert aber mit | |||||||
Schneider, denn er bekommt nur einen Stich. Die Gegner, von welchen jeder 4 Trümpfe und 15 Augen in der Hand hat, bekommen 95 Augen herein. Wie sitzen die Karten? Was hat der Spieler gedrückt und wie ist der Gang des Spiels? | |||||||||
Anagramm. Messen. Karat, Eldena, Brahma, Stoa, Samen, Hera, Speise, Erbsen, Gerona, Rasen, Sehne, Alter, Carmen, Wechsel. Nach dem Hinzufügen je eines Buchstabens ist aus jedem der obigen |
Auflösung des Homonyms auf S. 676: arm – Arm.Auflösung des Scherzbilderräthsels auf S. 676: Lampencylinder.Auflösung der Charade auf S. 676: „Er“ – Barmen – Erbarmen.Auflösung des Logogriphs auf S. 676: Jugend – Tugend.Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 676: Makrone – Matrone.Auflösung des Räthsels auf S. 676: Besteck – Beste. |
Auflösung der Kombinationsaufgabe auf S. 676:
Eidechsen, Donnerstag, Einsiedeln, Lauenburg, Torstenson, Anzengruber, Niederlande, Neusilber, Elmsfeuer. – Edeltanne. | ||||||
Auflösung der Schachaufgabe Nr. 5 auf S. 676: |
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1. S b 8 – a 6 | S b 2 – c 4 | A) B) C) D)||||||
2. S a 6 – c 7 † | K d 5 – c 5 | ||||||
3. | b 3 – b 4 matt.|||||||
A 1. … | S d 8 – b 7 | B 1… | S d 8 – f 7 | ||||
2. L c 8 – f 7 † | K d 5 X c 6 | 2. D e 1 – h 1 † | K d 5 – e 6 | ||||
3. D c 1 – c 8 matt | 3. L c 8 – d 7 matt | ||||||
C 1. … | g 4 – g 3 | D 1. … | L f 6 – c 3 (d 4, g 7, h 8) | ||||
2. f 2 – f 3 | beliebig | 2. S a 6 – c 7 † | K d 5 – c 5 | ||||
3. D c 1 – c 4 (c 5) | matt | 3. D c 1 – c 7 matt. | |||||
Auf andere Gegenzüge von Schwarz setzt Weiß im zweiten Zuge matt. |
Auflösung der Dominoaufgabe auf S. 676: |
Auflösung des Kreisräthsels auf S. 676:
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Im Talon lagen: |
I. | II. | III. | ||||
B behielt: | E Ost Tasso Jupiter Stieglitz |
G Aal Sonne Waldeck Antiochus |
M Rom Spohr Verrina Siemering | ||||
C behielt: | IV. | V. | VI. | ||||
Der Gang der Partie war: |
O Uhu Linde Demeter Nachtigal |
N Eid Vesuv Toscana Parthenon |
T Zug Hulda Delphin Correggio | ||||
Egmont – Goethe.
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[Verlagswerbung Ernst Keil für Roman von Werner und Lustspiel von Arnold.]
- ↑ Die Vollendung des angekündigten Romanes „Eine unbedeutende Frau“ hat sich durch Krankheit der Verfasserin verzögert. Derselbe wird nunmehr sicher in Heft 1 des nächsten Jahrganges zu erscheinen beginnen. Inzwischen stellt uns die Verfasserin die hier folgende fesselnde Novelle zur Verfügung, welche von ihren zahlreichen Verehrern gewiß nicht minder freundlich aufgenommen werden wird.