Die Gartenlaube (1890)/Heft 27
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Halbheft 27. | 1890. | |
(8. Fortsetzung.)
„Sie werden vielleicht denken, Herr Pfarrer,“ fuhr Schönfeld nach einer Pause fort, „der Verdacht habe sich sofort auf uns gerichtet. Aber das geschah nicht, und es ging auch alles dabei ganz natürlich zu. Die Leiche des alten Heßberg wurde am späten Abend erst von seinem Bedienungsmädchen in seinem Zimmer aufgefunden. Ob hier ein Selbstmord oder ein Raubanfall vorlag, hatte das Gericht nicht festzustellen vermocht – die Richtung, in welcher die Revolverkugel vorgefunden wurde, ließ beide Annahmen zu – doch lag größere Wahrscheinlichkeit zu der letzteren vor, da Heßberg sich mit der zähen Beharrlichkeit geiziger Greise um so mehr ans Dasein klammerte, je älter er wurde, und eine plötzliche Geistesstörung ebenfalls nicht vorauszusetzen war. Da aber die Papiere des Todten sich in vollkommener Ordnung befanden, kein Thaler an dem in sorgfältigsten Listen verzeichneten Vermögen fehlte, so mußte es entweder ein Mord, aus Wuth und Rachsucht verübt, sein – was bei dem allgemein verhaßten Wucherer leicht möglich war! – oder der Mörder war, unmittelbar nach vollbrachter That, aufgeschreckt, vielleicht durch ein Geräusch in der Nähe vertrieben worden und entflohen. Das tobende Unwetter hatte alle Bewohner des Hauses in ihre Wohnungen gebannt, niemand hatte es gewagt, auch nur
ans Fenster zu treten und hinauszuschauen – von einem Schuß, einer geöffneten und geschlossenen Thür, einem Kommen und Gehen hatte kein Mensch bei dem fast unaufhörlichen Grollen des Donners auch nur einen Laut vernommen, niemand vermochte daher auch nur andeutungsweise anzugeben, um welche Zeit etwa der Mord verübt worden sein konnte.
Uns beide, Karl und mich, hatte man gegen drei Uhr mit Mützen und Stöcken
aus dem Hause gehen sehen – gegen vier Uhr waren wir mit nassen Kleidern,
da wir den Rückweg über den Hof nahmen und der Regen wolkenbruchartig
herabstürzte, wieder heimgekehrt; wir erklärten, einen Gang in die Stadt unternommen zu haben, unter einen Thorweg geflüchtet und endlich, da der Regen nicht nachlassen wollte, rasch nach Hause gelaufen zu sein.
Der einzige Hausbewohner, der Heßberg an diesem verhängnißvollen Sonntagnachmittag gesprochen hatte, war der Buchhalter gewesen – er räumte dies ohne weiteres ein, sagte aus, daß er eine geschäftliche Auseinandersetzung mit seinem Prinzipal gehabt habe und daß diese, da ihre Meinungen weit auseinandergingen, nicht friedlich verlaufen sei, so daß Heßberg Drohungen ausgestoßen und er, der Buchhalter, um sich nicht von seinem mächtig aufkochenden Zorn fortreißen zu lassen, die Unterredung gar nicht zu Ende
[838] geführt habe, sondern eiligst aus dem Zimmer gestürzt sei. Seine Gattin bestätigte, daß ihr Mann bleich und erregt etwa fünfzehn Minuten vor vier Uhr bei ihr eingetreten sei und ihr nur kurz berichtet habe, zwischen ihm und Heßberg sei es zu heftigen Erörterungen gekommen, und er danke nur Gott, daß er sich nicht zu Thätlichkeiten habe hinreißen lassen. –
Diese Aussagen wurden zu Protokoll genommen und der Buchhalter einstweilen in Untersuchungshaft gesetzt, nach kurzer Frist aber wegen mangelnder Beweise wieder freigelassen. Welche Angst mag der unglückliche Mann in seinem Innern wegen jenes Schuldscheins und der Verschreibung ausgestanden haben, von denen er während der Verhöre kein Wort gesagt hatte. Seine Auseinandersetzungen mit Heßberg hatten sich auf dessen gewissenlose Geschäftsführung bezogen, hatte er vor Gericht ausgesagt und in der That hatte er in Hast einige Namen von Persönlichkeiten genannt, die Heßberg gleich ihm zu Grunde gerichtet hatte, und hierauf gründete der Buchhalter seine Aussage. Ihm mußte es wie ein Wunder erscheinen, daß jene Papiere nicht aus dem im übrigen musterhaft geordneten Nachlaß des Verstorbenen zum Vorschein kamen – – aber sie blieben verschwunden, und er hat niemals den wahren Sachverhalt geahnt. Das große Vermögen des Verstorbenen fiel, da ein Testament sich nicht vorfand, an ein paar Seitenverwandte, die sich nicht einmal zur Beerdigung einstellten. Ohne Feierlichkeit und ohne Gefolge wurde Heßberg zu Grabe getragen und kein Auge weinte um ihn, keine theilnehmende Hand legte eine Blume auf seinen Hügel.
Ich blieb noch lange genug in Hamburg, um den Verfall der Familie, die mir wie eine eigene lieb geworden war, mitanzusehen; in einem anständigen Comptoir, das viele junge Leute beschäftigte, fand ich ein Unterkommen, und auch mein ehemaliger Vorgesetzter, der Buchhalter, bekam nach längerem Suchen eine ziemlich gut bezahlte Stelle. Aber es war nun alles zu spät. Der Gram um ihre beiden heimgegangenen Kinder, der Schreck und die Angst, ihren Gatten in Untersuchungshaft und vor dem Richter zu sehen, – das war zuviel für die ohnedies untergrabenen Kräfte der zarten Frau. Sie erlosch wie ein Licht, plötzlich, ganz plötzlich, und um den bedauernswerthen Mann ward es tiefe Nacht – er fiel in eine schwere Gehirnentzündung, wurde bewußtlos nach einem Hospital gebracht und starb dort nach vier oder fünf Tagen, ohne seine Besinnung auch nur für eine Stunde wiedererlangt zu haben. Die beiden jüngeren Kinder wurden mit dem kümmerlichen Rest Geld, der sich in der Hinterlassenschaft vorfand, in billige Pflege zu einfachen Leuten gegeben. Wenn ich mich recht erinnere, ist der Knabe im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren gestorben, das Mädchen später als Frau eines Missionärs nach Afrika gegangen, – – man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Mein Freund aber, Karl – mein einziger Jugendfreund – –“ Schönfeld bedeckte seine Augen mit der Hand und seufzte tief auf, „er war wie verwandelt seit jenem Unglückstage, das schöne Jugendfeuer in ihm erloschen, die ungestüme, hinreißende Leidenschaftlichkeit dahin! Aelter, ernster, gereifter um zehn Jahre, ohne Lächeln, ohne Freude, ohne Hoffnung – und, was für mich das Schlimmste war, mir innerlich entfremdet von der Stunde an, die mich zum Mitwisser seines Geheimnisses machte! Sonst kettet dies die Menschen fester aneinander, verbindet sie fürs ganze Leben – hier trat das Gegentheil ein! Er wußte bestimmt, ich würde ihn nie verrathen, er vertraute mir vollkommen, und das eine ‚Nein‘, das ich damals gesprochen hatte, wog in seinen wie in meinen eigenen Augen so schwer wie der feierlichste Eid. Aber mein Anblick quälte ihn, rief ihm unausgesetzt den Augenblick zurück, da wir beide uns über die Leiche beugten und der betäubende Donnerschlag über unsern Häuptern losbrach; er bemühte sich, mich sein Empfinden nicht merken zu lassen, mir gegenüber ganz der Alte zu sein – aber es half ihm alles nichts, ich kannte ihn zu gut. Ein einziges Ziel nur hatte er sich gesteckt, ein Ideal schwebte ihm vor: ein berühmter Künstler zu werden! Als ihm Mutter und Vater gestorben war und er seine Geschwister, so gut es eben anging, versorgt wußte, kam er, um Abschied von mir zu nehmen, da er nach München ging – mit seinem vornehmen, blassen Gesicht und den düster flammenden Augen seinem Vater ähnlicher denn je. Der Abschied von mir schmerzte ihn nicht, ich merkte es ihm an, ihn trieb es fort, fort wie mit Sturmesgewalt, er konnte Hamburg nicht rasch genug hinter sich lassen. Ich aber – ich habe nie wieder in meinem Leben einen Freund geliebt, – wie ich ihn geliebt hatte.
Ich bin dann noch eine Zeitlang in Hamburg geblieben, bin immer mehr in die Umtriebe der Anarchisten verstrickt worden – das Leben warf mich herum, hierhin, dorthin, – gefeiert, verwöhnt von meinen Anhängern … gehetzt, verfolgt von dem, was man bestehendes Recht und Gesetz nennt, – ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, nur mit den ‚Parteigenossen‘ verkehrend, nur der ‚Partei‘ lebend. Ich bin dann gesunken, von Stufe zu Stufe …
Er aber, den ich nie vergaß, den ich im Auge zu behalten wünschte, wo ich auch war, was ich auch trieb, wenn er selbst auch nichts mehr von mir wissen, nie mehr an mich denken sollte – er hat es mir nicht schwer gemacht, seine Laufbahn zu verfolgen. Er ist gestiegen, überraschend schnell, hoch und stetig, sein Name glänzt, wie er es gewollt hatte, als einer der ersten Sterne am Himmel der Kunst, und wie er sich auch zurückzieht und vor der Welt flieht, – sie läßt ihn nicht los, bemächtigt sich seiner und trägt ihm ihre Bewunderung, ihren goldenen Lohn und ihren Lorbeer nach. Wenn er selbst auch schweigt … seine Werke reden für ihn, und eine mächtige Sprache ist es, die sie führen! Ich habe oft und viel über ihn gelesen – man nennt ihn unzugänglich, menschenscheu und düster, und seine Bilder athmen die tiefste Schwermuth. Wem ein so unheilbares Gift in den Becher der Jugendlust gemischt wurde – wie soll der in seiner Kunst von Lebensfreuden erzählen können? –
Wir sind nie in ein und derselben Stadt gewesen – er war viel auf Reisen und fast nie in Europa – bis – bis – auf diese letzte Zeit! Man hat ihn hierher nach F. berufen und zum Professor an der Akademie gemacht, und er ahnt es nicht, daß ich ihm so nahe bin – und doch so unerreichbar weit! Er soll es auch nicht ahnen – mit keinem Wort möchte ich seinen Weg kreuzen – ich wollte, er hätte mich vergessen! Ich habe seiner gedacht zu tausend Malen, vielleicht, weil sein Name unauflöslich verbunden ist mit einer der wenigen wahrhaft guten Thaten meines Lebens! Denn eine gute That ist es gewesen, daß ich damals schwieg, und ich freue mich ihrer!
Vor einiger Zeit hat mir der Herr Direktor, durch Ihre Güte, Herr Pfarrer, dazu veranlaßt, Zeitungen zu lesen geschickt, – nicht den politischen Theil, nur die Feuilletons und die allgemeinen Nachrichten und wissenschaftlichen Besprechungen. Darin fand ich denn auch eine ausführliche Besprechung der letzten Gemäldeausstellung, und ein Bild war’s vor allem, das die Kritik zu einem wahren Sturm von Entzücken und Begeisterung hinriß: ‚Der Engel des Herrn‘! Von ihm! Er hat meist landschaftliche Motive gemalt, zuweilen auch Bildnisse, die meisterhaft sein sollen – jetzt wagt er sich auch an diese mystisch religiösen Darstellungen, und sie glücken ihm. Was glückte ihm nicht in seiner Kunst? Er ist ein großes Genie, ich hab’ es immer gewußt. Ich hätte gern dieses Bild gesehen ‚Der Engel des Herrn‘! – Von mir wird er nichts wissen – wie viele Künstler lesen die Gerichtsverhandlungen? Zudem habe ich verschiedene Namen geführt – wer sagt ihm, welches der rechte sei? Was haben sie miteinander zu schaffen – der zum Tode verurtheilte Verbrecher und der weltberühmte Maler, Professor Delmont? Da! Nun habe ich Ihnen dennoch den Namen genannt – Sie haben ihn ohnehin bei Nennung des Bildes errathen – auch thut es nichts! In drei Tagen habe ich zu sterben – – es ist Sonnenwende!!“
Es blieb eine Weile still auf Nummer achtundfünfzig. Der zum Tode Verurtheilte starrte mit einem ganz eigenen Ausdruck zu dem vergitterten Fenster empor, durch dessen Eisenstäbe ein Stückchen des rosig überhauchten Abendhimmels hereinsah. Die Sonne war himunter, aber die Goldglorie, die sie hinter sich gelassen hatte, schwebte noch über der blassen Himmelsbläue. Und der bleiche, schlanke Mann sah hinauf – hinauf und dachte, daß er nur dreimal noch den Sonnenball an seinem Fenster würde vorüberwandern sehen – und dann sollte es für immer zu Ende sein, das Leben, das ihm so wenige Rosen und so viele scharfe Dornen gebracht hatte! Seine Seele! Würde sie hinaufschweben zu den lichten Höhen, von denen jetzt das Sonnengold wie flüssig gewordenes Feuer niederrann – und würde der allerbarmende [839] Gott, der in alle Herzen, auch in das seine, schaute, und der da wußte, wofür er in seinem blinden Wahn gesündigt hatte, ihn aufnehmen und ihm verzeihen? –
„Daß ich Ihnen diese Geschichte erzählte, Herr Pfarrer,“ begann Schönfeld endlich aufs neue, „das soll zugleich die Antwort auf eine Frage sein, die Sie mir vor kurzem einmal vorgelegt haben: ob ich nicht inmitten meines wirren, wüsten Lebens das in mir gespürt hätte, was Sie mir als göttliche Regung ausgelegt und erklärt haben! Ich denke, mein unverändert tiefes und warmes Gefühl für diesen meinen verlorenen Jugendfreund und die Thatsache, daß ich sein Geheimniß bis auf den heutigen Tag treu behütet habe, – ich denke, das ist eine göttliche Regung gewesen!“ –
Immer noch saß Reginald von Conventius unbeweglich da, und die weißen Rosen nickten träumerisch über seinem blonden Haupt. Ein brütender Ernst, ihm sonst fremd, lag über seinen Zügen, und ein banges Fragen stand in seinen Augen zu lesen. Aber er raffte sich auf mit all seiner Kraft und ließ noch einmal die göttliche Lehre von Vergeben und Vergessen über seine Lippen strömen, und aus seinem tiefsten Herzen kam das Gebet, das er zum Schluß für die Seele sprach, die sich ihm anvertraut hatte mit all ihren Irrthümern und ihrer Reue. –
Aber als er um wenige Minuten später durch die Straßen schritt, da war der inbrünstige Ausdruck, der sein schönes Gesicht eben noch verklärt hatte, spurlos verflogen, – einem Nachtwandler gleich ging er mitten durch das fröhliche Gewühl der Menschen, die von ihren Ausflügen heimkehrten oder jetzt noch, nach des Tages Arbeit, ins Freie hinausstrebten – er sah keinen Gruß, der ihm zutheil wurde, beachtete keinen der verwunderten Blicke, die ihn trafen, – fuhr aber plötzlich schreckhaft, wie vor einer Geistererscheinung, zusammen, als er, um eine Straßenecke biegend, auf ein Paar stieß, das ihm gerade entgegenkam: Professor Delmont und Annie Gerold, Arm in Arm, sie, eifrig plaudernd, einen Strauß köstlicher Rosen an der Brust, heiter, jugendschön, wie verklärt von ihrem bräutlichen Glück, – er, stolz und vornehm, mit einem unbeschreiblichen Ausdruck heimlicher Wonne auf sie niedersehend, ein zärtliches Lächeln um die Lippen. Ein leichter Schreck überkam auch sie beide, als sie so ganz unvermuthet den Prediger von Sankt Lukas vor sich sahen – sie faßten sich aber rasch, grüßten verbindlich und blickten einander dann befremdet in die Augen.
Reginald hatte ihren Gruß nicht erwidert und war, so rasch ihn seine Fuße trugen, weitergestürmt.
Am Nachmittag desselben Tages, der Schönfelds Beichte gebracht hatte, ging es bei Rainers sehr heiter zu. Der neugebackene Bräutigam war da, der vergnügteste Ulan, den je Gottes Sonne beschienen hatte. Er wollte mit seiner Braut und Frau Hedwig Weyland einen Besuch in Professor Delmonts Atelier abstatten, nicht so ohne weiteres – bewahre! Das hatte bei dem unberechenbaren Künstler, der noch dazu auf seine schöne Braut so eifersüchtig war wie ein Türke, übel ablaufen können! Annie Gerold selbst hatte es übernommen, ihre Freunde in das Heiligthum, das nur sehr wenigen offen stand, einzuführen; denn Delmont machte auch darin eine Ausnahme von anderen Malern, daß es ihm gar nicht darum zu thun war, sein Atelier viel besucht und seine Bilder bewundert zu sehen, – im Gegentheil, er wies viele dahin zielende Wünsche ab und nahm den Berichterstattern und Kritikern gegenüber meist eine so herbe Miene an, daß diese Herren ihren ganzen Vorrath von Unparteilichkeit zu Hilfe nehmen mußten, um die Person von der Sache, um die es sich handelte, zu trennen. Frau Weyland und Hedwig Rainer nun hatten, als Annie Gerolds beste Freundinnen, den lebhaften Wunsch geäußert, des Professors Allerheiligstes zu sehen, und Fritz von Conventius hatte sich selbstverständlich angeschlossen, „schon, um zu sehen,“ wie er sich innerlich sagte, „wie ich mich als Bräutigam gegenüber dieser gefährlichen Annie als einer Braut benehmen werde, und ob ich mit Ehren vor ihr und vor mir selbst bestehen kann. Natürlich werde ich das gut zustande bringen, denn ich verliebe mich mit jedem Tage ernstlicher in mein kleines Mäuschen – aber eben darum! Fräulein Gerold soll doch sehen, daß andere Leute auch glücklich sein können, und daß man nicht Braut eines berühmten Künstlers und Professors zu sein braucht, um das Leben wunderschön zu finden!“
Fraut Weyland war zum Kaffee zu Rainers, die ein hübsches Gärtchen besaßen, gekommen – noch aber war’s zu dem beabsichtigten Gang zu früh, und der Lieutenant unterhielt die Damen einstweilen damit, ihnen Julchens neuestes Kunststück vorzuführen. Die begabte Hühnerhündin saß inmitten einer Jasminlaube auf den Hinterbeinen, sie hatte ein Schnittchen Butterbrot auf ihrer Nase liegen und balancirte dieses mit einem sehr unbehaglichen Gesichtsausdruck, ohne indessen ihre Stellung zu verändern. Erst wenn ihr Herr „Attention!“ rief, warf sie den Kopf zurück, fing das Schnittchen Brot in der Luft auf und sank in die gewöhnliche Stellung eines Vierfüßlers zurück, um dann noch vergebliche Versuche anzustellen, das letzte Restchen Butter vermittelst ihrer langen, geschmeidigen Zunge von der Nase herunterzuholen. Diese anspruchslose Kunstleistung unterhielt die Damen bestens und Julchen erhielt viel Anerkennung ob ihrer Gescheitheit. Mama Rainer, die „Perle einer Schwiegermutter“, saß mit ihrem guten, gemüthlichen Gesicht in der Jasminlaube und wünschte sich ihren seligen Mann herbei, auf daß er sehen könne, wie glücklich sein Kind sei und wie klug sie – seine Gattin – gehandelt habe, für Hedwig einen so prächtigen Mann auszusuchen. Frau Rainer war nämlich entzückt von ihrem Schwiegersohn und bildete sich demzufolge ein, sie habe ihn „ausgesucht“! –
„Jetzt wird es bald Zeit, aufzubrechen,“ meinte Frau Weyland, indem sie ihre Uhr zog.
„Wie unbehaglich Sie dazu aussehen!“ lachte Fritz. „Hand aufs Herz, verehrte Frau – haben Sie wieder Ihre Ahnungen? Mein Mäuschen hat mir so etwas davon verrathen! Sollte ich’s nicht sagen, Kleine?“
Das „Mäuschen“ sah ein wenig verlegen aus.
„Frau Weyland liebt es gar nicht, wenn darüber gesprochen wird – nicht wahr, liebe Hedwig?“
„Es kommt darauf an, wer es thut und in welchem Ton darüber gesprochen wird!“ entgegnete die Gefragte. „Meines Mannes spöttische Art kann ich nicht gut vertragen, das räume ich ein, – er hat sich’s aber überhaupt verbeten, daß ich ihm mit solchen Dingen komme. Ich thue es auch nie und bemühe mich redlich, alles ‚Uebernatürliche‘, wie Robert es nennt, in mir zu unterdrücken, denn er behauptet, es schade mir, und es kann ja sein, daß er recht hat. Ich gehe, wenn mich solche Stimmungen überkommen, absichtlich viel unter Menschen, ich lache und schwatze, treibe Musik, arbeite und spiele mit meinen Kindern und lese ein anregendes Buch – lauter Mittel, die meine Gedanken von dem abziehen sollen, was fort und fort in ihnen die Hauptrolle spielt. Zuweilen, wenn mein Ahnen und Befürchten nicht gerade besonders ausgeprägt ist, helfen diese Gegenmittel ganz gut, – ein andermal aber erweisen sie sich als völlig machtlos!“
„Und im gegebenen Fall?“ fiel Hedwig Rainer eifrig ein.
Frau Weyland sah sich ihre Zuhörerschaft der Reihe nach an: die alte Dame war ganz Erstaunen und Glauben, die kleine Braut ganz Theilnahme und freundschaftliches Mitgefühl, und der Lieutenant Fritz, den sie, trotz seiner ihr sehr angenehmen Persönlichkeit, am meisten im Verdacht der Gegnerschaft hatte, zeigte ein ganz sittsames, ernstes Gesicht und sah aus, als interessire er sich sehr lebhaft für die Sache.
„Nun, leider muß ich bekennen“ – Frau Weyland seufzte tief auf – „daß im gegebenen Fall jede Ablenkung bisher nutzlos gewesen ist. Ich habe mich selbst ernstlich deshalb gescholten, habe alles drangesetzt, meine Stimmung zu ändern … umsonst! Es gelang mir nur äußerlich, in meinem Innern blieb alles beim alten. Sie wissen ja, wie lieb ich Annie Gerold habe, nächst meinen Familiengliedern am liebsten von allen Menschen auf der Welt. Immer, seitdem Annie erwachsen ist, hat mich die Idee beschäftigt, wie wohl ihr künftiger Mann geartet sein würde – denn sie ist ja ein entzückendes Geschöpf und ganz dazu geschaffen, einen Mann unendlich zu beglücken! Von all den bisherigen Freiern und Verehrern, die um das reizende Wesen herum waren wie die Motten um das Licht, schien mir bis vor kurzer Zeit kein einziger geeignet, ihr Herz zu gewinnen und zu verdienen – einen ausgenommen – und der ist nicht der Erwählte! Sowie ich Annie mit Professor Delmont zusammen sah, faßte mich die geheime, unerklärliche Angst, die ich so gut an mir kenne, die Angst, daß einem geliebten Wesen ein Unheil drohe; dieses [840] Gefühl kündigte sich sogar schon an, noch ehe die beiden in meinem Hause miteinander in Berührung kamen. Seit der öffentlichen Verlobung habe ich meinen Liebling nur selten gesehen, Delmont ist keine gesellige Natur! Das Paar hat uns natürlich seinen Brautbesuch gemacht, dann hatten wir es eines Abends in kleinem Freundeskreise bei uns – Sie waren ja auch zugegen, liebe Hedwig! und einmal war ich gegen Abend dort; in Heinrichslust trafen wir noch ein paar Mal zusammen – und das ist alles! Aber jedesmal, so sehr ich mich dagegen sträubte, hat sich mein Empfinden verstärkt: dieser Mann macht Annie nicht glücklich – und Annies Herz wird schwer zu leiden haben, denn leider liebt sie den Mann, gegen den ich beim besten Willen nichts einzuwenden habe als mein Gefühl, daß er Annie unglücklich macht! – So – und nun lachen Sie die ‚sensitive Frau‘ nur tüchtig aus! Ich wollte von Herzen, ich könnte mit Ihnen lachen! Ich wollte, ich hätte niemals Erfahrungen gemacht, die mir die Heiterkeit vergehen ließen!“
Es lachte niemand in dem kleinen Kreise, Frau Rainer sah betrübt aus, ihr Töchterchen hatte gar Thränen in den Augen, und der Ulanenoffizier war sehr nachdenklich geworden. Er wußte ja genau, wen Frau Weyland mit dem einen, den sie Annie Gerold gegönnt und gewünscht hätte, meinte, und seine Gedanken weilten bei Reginald, der ja äußerlich unverändert war, weder bleich und krank umherschlich, noch einen unlustigen, gebrochenen Eindruck machte … aber Fritz kannte den Vetter! Reginald hatte seinen Stolz, und in Dinge, die ihn allein betrafen, die kein anderer wandeln oder bessern konnte, ließ er sich nicht hineinreden, die machte er mit sich ab. Daß es auch gerade Annie Gerold sein mußte, an die er sein gutes und großes Herz verloren hatte! Wer dies Mädchen aus tiefster Seele liebte, für den gab es sobald keine Hilfe und kein Vergessen!
In etwas gedrückter Stimmung machten die vier sich endlich auf den Weg.
Bei dem Brautpaar indessen hielt der Ernst nicht lange vor – sie waren ja jung, gesund und glücklich, in guten Verhältnissen, mit der Anwartschaft auf eine schöne Zukunft; dazu heller Sonnenschein, frohe, geputzte Menschen, wohin das Auge sah – es mußte ja alles, alles gut werden, die Welt war gar zu herrlich! Die beiden lachten und schäkerten miteinander, und der Weg zu Professor Delmonts Haus erschien ihnen so kurz, daß sie beide ein erstauntes „Schon!“ hören ließen, als man sich plötzlich am Ziel befand.
In dem prächtigen Treppenflur stand Frau Krämer, die Haushälterin, festlich angethan, und knixte – eben diesen Augenblick sei das Fräulein Braut angekommen: die Herrschaften möchten nur so gütig sein, sich nach dem Atelier hinaufzubemühen. –
„Bist Du schon oft in einem Maleratelier gewesen, Fritz?“ unterbrach Hedwig Rainer die feierliche Stille, während welcher nur der Schleppsäbel des Ulanen gegen die Treppenstufen geklirrt hatte.
„Ja, o ja, verschiedene Male, Mäuschen! ’s ist ganz hübsch, aber mach’ Dir nicht zu ungeheuerliche Vorstellungen von dem, was Du in solchem Atelier zu sehen bekommen wirst!“
„Ich war noch nie bei einem Künstler! Mir ist ganz feierlich und beklommen zu Muthe!“
Fritz stieß ein vielsagendes: „Na!“ aus. Aber als nun Frau Krämer die breite, dunkle, mit hellfarbigen Hölzern eingelegte Thür, die in das Atelier führte, öffnete, da stieß auch er, gleich den andern, einen Ruf der Ueberraschung und Bewunderung aus. – Nicht für sie, die Fremden, hatte Karl Delmont den weiten Raum so herrlich ausgeschmückt – er wußte es, daß seine Braut heute in Gesellschaft ihrer Freunde kommen würde, sein Atelier zu sehen – da mußte es würdig hergerichtet werden. Mit seinen raschen Künstlerhänden hatte er das reiche, köstliche Material, das ihm zu Gebot stand, hierhin und dorthin vertheilt, hatte aus Truhen und Schränken immer mehr neue und kostbare Stoffe hervorgekramt, seine besten Skizzen auf die regellos umherstehenden Staffeleien gestellt und eigenhändig die prachtvollen Gobelins, die allein schon das Entzücken eines Kenners bilden konnten, abgestäubt und anders geordnet.
Die breiten, gleißenden Fensterscheiben waren heute mit scheinbar kunstlos gerafften Brokatstoffen von einer satten Purpurfarbe drapirt und eine verschwenderische Fülle von Blumen war über den ganzen Raum ausgeschüttet. In schöngeschweiften Urnen, in bizarr geformten Vasen und Schalen blühte und duftete es, und auf einem seitwärts gerückten Tische waren die schönsten Früchte in seltenen Krystallgefäßen aufgehäuft, dazwischen standen gläserne Kannen, in denen goldfarbener und dunkelrother Wein funkelte, und auch hier schlanke Büschel von zartgelben und gluthrothen Rosen mit halberschlossenen Kelchen.
Das allerschönste aber in diesem künstlerisch schönen Raume war doch Annie Gerold – Annie in ihrem zartblauen, duftigen Kleid, einen Strauß auserlesener Rosen an der Brust, voll von einem sonnigen Strom des hellen Lichtes getroffen, die freudig erstaunten Augen auf ein Bild gerichtet, das Delmont ihr hinhielt. Es war in Pastell nach jener flüchtig hingeworfenen Bleistiftskizze ausgeführt, die er damals im Geroldschen Garten hastig auf das Papier gestrichelt hatte: Annie, wie sie mit hocherhobenen Armen eine ganze Last schaukelnder weißer Fliedertrauben zu sich niederzieht, das feine Profil aufwärts gerichtet.
Keines von den beiden, die so vertieft auf das Bild schauten, wurde der Kommenden gewahr, – nur Ego, der zur Feier des Tages einen Jasminstrauß im Halsband trug, erhob sich würdevoll von seinem Platz neben dem Marmorkamin und kam den Fremden langsam entgegen, um ihnen, statt seines Herrn, die Honneurs des Hauses zu machen.
„Wie schön – wie entzückend schön ist das alles!“ flüsterte Hedwig Rainer ihrem Verlobten zu und drückte begeistert seinen Arm.
Fritz nickte nur, aber sein Blick streifte immer wieder bewundernd über den prachtvollen Raum, die wunderschön malerische Ausstattung und das lebende Bild, das er vor sich sah.
Ein leichtes Räuspern von Frau Weyland ließ die Gruppe sich lösen.
„Ah – da seid Ihr!“ rief Annie erfreut, lief auf ihre Freundinnen zu, umarmte sie, drückte Frau Rainer ehrfurchtsvoll die Hand und schüttelte dem Ulanenlieutenant die Rechte wie ein guter Kamerad. „Die Thür muß lautlos in den Angeln gehen, wir haben Euch nicht gehört, nicht wahr, Karl?“
Wenn Professor Delmont auch nicht gerade von der Anwesenheit der Gäste und Annies herzlicher Begrüßung derselben erbaut war, so ließ er sich dies doch nicht merken. Freundlich und verbindlich klang sein Willkommensgruß, er lud zum Sitzen ein und lachte fröhlich, als kein einziges der Anwesenden davon etwas wissen wollte. Sie wären gekommen, um zu sehen und zu staunen, nicht aber, sich auszuruhen, erklärte Fritz von Conventius, und zu sehen gebe es hier, daß man tagelang damit zu thun hätte. Mit diesen Worten stellte er sich mitten ins Atelier und sah sich mit einem bewunderungsvollen: „Donner und Wetter, ist das aber brillant hier!“ rundum.
„Hedwig, Liebste, sag’, ist es nicht schön, einzig schön hier – bei ihm?“ flüsterte Annie Gerold in Frau Weylands Ohr und schob ihren Arm durch den der Freundin, während Delmont bei Frau Rainer den Erklärer spielte.
„Entzückend, mein Herz!“
„Er hat mir gesagt, ich darf bei ihm sitzen, wenn er malt, sobald ich seine – seine Frau bin –“ Annie erröthete und lächelte – „er meint, er wird immer nur mich malen … aber das leid’ ich nicht! Einseitig soll er durch mich nicht werden! Sieh nur, die Waffen und Rüstungen und die venetianischen Spiegel! Diese Gobelins sind aus Brüssel, und der Teppich, auf dem wir stehen, ist flandrische Arbeit! Das große Wüstenbild rückt langsam vor, er malt viel zu viel dummes Zeug dazwischen – das heißt, es sind eben lauter Porträts von mir, in Wasserfarben, in Oel, mit farbigen Stiften, in Kreide – wie es gerade kommt! Wenn ich denke, ich soll bald hier sitzen und ihm zusehen! Es ist nicht auszudenken –“
„Wann soll Deine Hochzeit sein, Vögelchen?“
„Ach, Karl will sie schon zu Ende Juli haben, aber Thea meint, dann könne nichts in Ruhe besorgt, alles müsse überstürzt werden. Und weißt Du, Hedwig“ – hier sah Annie sich vorsichtig um und dämpfte die Stimme „so gern ich ihm alles zuliebe thue – hier bin ich auf Theas Seite. Nicht wegen der Ausstattung! Ob wir ein paar Stücke Möbel früher oder später geliefert bekommen und ob mir noch zwei Dutzend Servietten fehlen oder nicht … was thut das? Aber Thea bricht es das
[841][842] Herz entzwei, wenn sie mich so rasch schon hergeben soll, und darum – ihm darf ich das gar nicht sagen – “
„Sie stehen nicht herzlich miteinander, die beiden?“
Annie schüttelte den Kopf, und ihre Augen schimmerten feucht. „Nicht so, wie ich mir’s gedacht – nicht so, wie ich es für Thea gewünscht hatte! Wie Bruder und Schwester sollten sie sich lieben, meinte ich immer, und ich hatte geglaubt, es würde ein Zusammenleben zu Dreien werden; ich habe mir alle Mühe gegeben, es so zu getalten, aber es geht nicht – nein, es geht durchaus nicht!“
„Aber Du bist glücklich, Liebling, nicht wahr?“
„Unendlich, Hedwig! Aber sieh, es ist kein ganz vollkommenes Glück – das mag es wohl auf der Welt überhaupt nicht geben! Wenn ich immer nur an mich allein denken wollte – o, da bliebe mir nichts zu wünschen! Aber nun habe ich mein großes, ganzes Lebensglück für mich allein, und Thea, die mich mit so viel Liebe erzogen und mir tausend Opfer gebracht hat, sie, die so zahllose Dinge entbehren muß, steht von ferne und ist ausgeschlossen von meinem Glück! Sie kann ja Karl unmöglich lieben, denn sie kennt ihn nicht! Niemand kennt ihn, so wie ich ihn kenne, weil er sich keinem so giebt wie mir!“
Frau Weyland zog Annies kleines, süßes Gesicht zu sich herab und küßte die feuchtschimmernden Augen; ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen, ihr war beklommener zu Sinn als je! –
Indessen spielte Professor Delmont den liebenswürdigen Gastgeber – er öffnete seine Sammel- und Skizzenmappen, erläuterte dies und jenes, schloß seine in den Ecken stehenden, schweren Truhen auf und nahm herrliche Decken in Buntstickerei aus Tunis und Kairo heraus, zeigte Tschibuks und arabische Schmucksachen, türkische Kostüme und japanische Lack- und Flechtarbeiten vor, beschenkte die Damen mit hübschen, werthvollen Kleinigkeiten, kurz, er war so zugänglich und freundlich, daß Mutter und Tochter Rainer ihm innerlich Abbitte leisteten und der Lieutenant es nicht mehr ganz so unbegreiflich fand, wie ein kluges Mädchen „diesen wunderlichen Kauz von Farbenreiber“ überhaupt lieben könne.
Dann setzte man sich nach stundenlangem Fragen, Staunen, Bewundern um den runden Tisch und sprach dem Wein und den Früchten zu. Ego streckte sich zu Annies Füßen hin und schloß wohlgefällig die Augen, als diese kleinen Füße sich auf seinem breiten Rücken kreuzten; Delmont hatte ein Stück goldleuchtenden Brokats, schwer wie Leder, aufgestöbert, das drapirte er um Annies Gestalt und setzte ihr dazu ein venetianisches Perlenkäppchen auf das kastanienbraune Haar. Wie eine entzückende Dogaressa aus der versunkenen Dogenherrlichkeit, so saß das phantastisch geschmückte Mädchen auf dem alterthümlich geschnitzten Lehnsessel, das hohe Spitzglas mit dem dunkeln Wein in der Hand – „ein Bild zum Malen!“ wie Fritz von Conventius begeistert rief. Er konnte es Delmont nicht verdenken, daß er die schöne Braut unverwandt mit Augen ansah, aus denen ein verzehrendes Feuer brannte – er selbst vermochte kaum den Blick von ihr zu wenden! Gewiß, er war ein glücklicher Bräutigam, und das „Mäuschen“ lag ihm sehr am Herzen – aber diese Annie Gerold war doch ein unvergleichliches Geschöpf! Armer Reginald! –
Die Sonne war schon hinunter, und durch die gewaltigen Scheiben der Atelierfenster sah schon der in voller Pracht des Abendroths erglühende Himmel herein, als die kleine Gesellschaft sich endlich zum Aufbruch rüstete. Annie legte ihre schwere königliche Pracht beiseite und setzte statt des Perlenkrönchens ihren weißen Federhut auf, der ihr Gesichtchen äußerst reizvoll beschattete, – Ego blieb bei den halbgeleerten Weingläsern und Fruchtkörben als Wache zurück, und die Paare setzten sich heiter plaudernd und lachend in Bewegung, um sich an der nächsten Straßenecke zu trennen. Hier war es, wo Delmont und seine Braut die Begegnung mit Reginald von Conventius hatten.
Annie war unwillkürlich stehen gebliehen und hatte ihm nachgesehen.
„Was mag ihm gefehlt haben?“ fragte sie zaghaft. „Er sah so ganz verändert aus, und fast war es, als verursachte ihm unser Anblick einen heftigen Schreck!“
„Er beneidet mich um mein Glück, Herzliebste und ich kann’s ihm weiter nicht verdenken!“
„Nein, nein, das ist es nicht gewesen – das allein sicher nicht! Sahst Du nicht, wie er mit einem Male blaß wurde, blaß wie ein Sterbender, und wie es ihn durchzuckte, als habe ihn ein elektrischer Schlag berührt?“
„Du hast ihn merkwürdig gut beobachtet, den schönen und interessanten Pfarrer zu Sankt Lukas –“
„O Karl! Du weißt, daß ich es nicht ertrage, das zu hören! Ist das nun gut und großmüthig, mich immer damit zu quälen, Liebster?“
„Nein! Aber ich bin auch nicht gut und großmüthig – ich quäle, was ich liebe, und mache Dich, mein einziges Leben, unglücklich – und mich selbst dazu!“
„Karl!“
Sie waren am Geroldschen Hause angelangt – Annie zog die Glocke, und sie traten in den weiten, halbdunkeln Hausflur.
„Kommst Du nicht mit mir hinein?“
„Nein – ich habe Dich doch nicht allein für mich! Wollte Gott, Du wärst erst mein Weib! Annie, mein Herz, mein Alles – meine Welt –“
Er küßte sie, als wollte er ihre Seele in sich trinken – dann trat er rasch über die Schwelle zurück. –
Und Annie lief hastig durch den Flur in ihr Zimmer. Sie wollte Thekla nicht sehen lassen, daß sie weinte – sie hätte ja nicht zu sagen gewußt, warum! Aber sie weinte vor sich hin, unaufhaltsam und leidenschaftlich – es bedrohte sie etwas – ihr Herz zitterte vor einem großen Verlust – und doch wußte sie nicht, wovor es ihr bangte!
Fritz von Conventius hatte „seine Damen“ nach Hause begleitet, und es war ihm ganz gelegen gekommen, daß seine zukünftige Schwiegermutter erklärte, das viele Umherstehen und Beschauen habe sie etwas angegriffen und sie gedenke, sich heute früher als sonst zur Ruhe zu begeben. Die kleine Braut, die sich noch auf ein zärtliches Plauderstündchen mit dem Herzliebsten gefreut hatte, sah ein wenig traurig und enttäuscht aus, aber Fritz wußte es ihr so überzeugend vorzustellen, daß morgen auch noch ein Tag sei und wie er morgen wenig Dienst habe, daher früher abkommen könne, daß sich ihr Gesicht allmählich aufhellte und sie ganz gefaßt von ihrem hübschen Ulanenlieutenant Abschied nahm.
Dieser ging in straffem Rhythmus, von Säbel- und Sporengeklirr begleitet, seines Weges, aber er war tief in Gedanken dabei. Thor von Hammerstein, der ihm begegnete und ihn zu einem Abendschoppen im „Kyffhäuser“, einem berühmten altdeutschen Wein- und Bierlokal, verführen wollte, erfuhr eine deutliche Ablehnung von ihm und mußte allein seinem edlen Ziel zustreben. Dafür nannte Parsifal den neugebackenen Bräutigam in der Stille einen Philister, der schon vor der Ehe sträflich solid sei, und Fritz dachte bei sich: „Dies alte Nilpferd schwemmt seinen sogenannten Herzenskummer jetzt mit Spatenbräu oder Château Larose hinunter. O, reiner Thor, wenn Du – durch Mitleid wissend – ahntest, wen ich soeben stundenlang bewundert habe!“
Es war eine ziemlich späte Stunde, als der Lieutenant vor seiner Behausung anlangte; zu seinem Erstaunen gewahrte er von der Straße aus in seinem Wohnzimmer Licht. Sollte sein Bursch, dieser leichtfertige Schlingel, in dem Glauben, sein Herr bringe den Abend bei der Braut zu, mit gleichgestimmten Freundesseelen dort ein Gelage feiern? –
Fritz zog den Schleppsäbel an sich und ging auf den Fußspitzen über den Flur – er wollte den Missethäter überraschen. Das Oeffnen der Thür ging geräuschlos von statten, jetzt stand er auf der Schwelle seines Wohnzimmers, und dort blieb er wie festgewurzelt stehen – denn vor der hellbrennenden Lampe saß sein Vetter Reginald mit einem bleichen, verstörten Gesicht und fieberhaft leuchtenden Augen, und mit diesen Augen starrte er wie ein Geistesabwesender vor sich hin.
Der erste klare Gedanke, den Fritz hatte, war der: er will in ein Duell auf Tod und Leben gehen und wünscht dich zum Sekundanten – darum ist er hier! Dann fiel es ihm ein, daß Reginald ja Geistlicher sei – eine Thatsache, die der Lieutenant, angesichts der ritterlich schönen Erscheinung des Vetters, auch jetzt [843] noch zuweilen vergaß! – daß also diese Annahme unmöglich stimmen könne … was konnte es denn aber sein?
Bei einem leisen Klirren des Säbels fuhr der Pfarrer von seinem Sitz empor.
„Da bist Du ja! Du mußt mir schon verzeihen, Fritz, wenn ich hier herunterkam – Dein Bursch ließ mich ein – und mir’s bei Dir bequem machte. Du hättest freilich noch viel länger fort bleiben können – – wieviel Uhr haben wir denn? Und wie kommt es, daß Du nicht noch bei Deiner Braut geblieben bist? – Je nun, das ist gleichviel – mich freut es, daß Du da bist! Ich hielt es bei mir nicht aus – ich kann nicht allein sein mit meinen Gedanken, und wenn ich irgend ein Lokal gewußt hätte, wo ich ein paar Bekannte finden würde … wahrhaftig, ich wäre hingegangen, nur um andere Menschen zu sehen – Stimmen zu hören.“
„Dann muß es aber hart über Dich gekommen sein,“ zwang sich Fritz, zu scherzen, „wenn Du, der Heilsapostel und Seelenhirt von Sankt Lukas, Sehnsucht nach einem Kneiplokal verspürst!“
„Du hast recht – es ist hart über mich gekommen!“
Der Ton in diesen Worten und Reginalds Ausdruck dabei ließ den Offizier stutzen. Er trat nahe an den Vetter heran, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihm ernst ins Gesicht.
„Was hat’s denn gegeben, Regi? Kannst Du mir’s nicht sagen?“
„Nein, lieber Fritz, ich kann nicht!“
„Auch wenn ich Dir als Kavalier und Soldat mein Ehrenwort gebe, gegen jedermann zu schweigen?“
Reginald seufzte tief auf.
„Auch dann nicht!“
„Ist es ein Ehrenhandel, in den Du verstrickt bist?“
„Nein, Fritz! Ich weiß nicht – und sieh, das ist das Qualvolle für mich! – was Recht und Unrecht ist, ich weiß nicht, wo meine Verantwortung, wo meine Pflicht liegt!“
„Das wüßtest Du nicht? Du, die verkörperte Gewissenhaftigkeit?“
Fritz fühlte, wie unter seinen Händen die stolze, hohe Gestalt zusammenzuckte, und er sah, wie ein unsagbar leidvoller Ausdruck in Reginalds Augen kam.
„Gewissen! Eben das ist es! Ich kann es vor meinem Gewissen nicht verantworten, zu reden, und ebensowenig vermag ich es, zu schweigen … frag’ mich nicht weiter, Fritz, ich bitte Dich! Du hast mich ja immer liebgehabt und gut verstanden – thu’s auch heute! Hilf mir nur, den heutigen Abend und einen kleinen Theil der Nacht hinzubringen – vielleicht kann ich dann schlafen, und es ist mir morgen etwas leichter zu Sinn! Setz’ Dich her zu mir – so – und erzähle mir viel von Dir – von Deiner Braut – dem Dienst – den Kameraden – alles, was Dir nur einfällt – Du verstehst es ja, so hübsch zu plaudern!“
„Hm! Ja! Es plaudert sich auch ganz besonders hübsch, wenn man seinen besten Freund und Vetter mit solch’ einem Unglücksgesicht dicht vor sich sitzen hat, und er will nicht Farbe bekennen! Das soll kein Vorwurf für Dich sein, Regi – ich seh’s ja: Du kannst nicht sprechen, ’s ist nicht Deine Angelegenheit allein! Richtig? Na, also! Und ich werde Dich nicht mit Fragen quälen – bloß, wenn mein Geplauder nicht ganz so sorglos ausfällt wie sonst, mußt Du mir’s nicht verdenken! Was meinst Du denn, mein Alter, trinken wir am Ende etwas?“
Zu Fritzens ungemessenem inneren Staunen sagte Reginald ein hastiges „Ja.“
„Ich denke, ich muß das Fieber haben,“ setzte er hinzu, während der Ulan eilfertig ein paar Flaschen und Gläser herbeiholte, „ich habe einen wahren Brand in mir.“
Der Lieutenant wollte einen schlechten Witz machen, aber der Witz blieb ihm in der Kehle stecken, als er in Reginalds düster flammende Augen blickte.
„Das wollen wir schon kriegen, Dir wird zu helfen sein, Freundchen!“ äußerte er leichthin und goß den schweren, wie Oel fließenden spanischen Wein, den er sich nur für „große Gelegenheiten“ hielt, in die Gläser. „Gegen Deinen Zustand hilft am besten ein gesundes Räuschchen, und das holt man sich leicht, wenn man sich eine Weile an diese Sorte hält, und man pflegt sehr sanft und tief und traumlos danach zu schlummern, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Wir haben ohnehin bei mir noch gar nicht meine Verlobung begossen. Prosit, lieber Sohn! Das ist ein Weinchen – – Aber sei so gut und thu’ ihm etwas mehr Ehre an und genieße seine Blume mit Verständniß! Man spült einen solchen Tropfen nicht so ohne weiteres hinunter, als wär’s Zuckerwasser!“
Reginald lächelte ein wenig, aber die Augen hielten nicht mit, sie bewahrten ihr düster glimmendes Feuer.
„Verzeih’, lieber Fritz! – Ist Dir’s so recht?“
Er setzte sein halbgeleertes Glas an die Lippen und trank es langsam, Tropfen für Tropfen, aus.
„Bravo! Für einen Laien in der Kunst des Weingenießens eine ganz achtbare Leistung! Schade um Deine schönen Anlagen, die unausgebildet bleiben werden! Hier hast Du ein frisches Glas! Auf meine kleine Braut!“
„Von Herzen! Und nun erzähl’ mir, Fritz, erzähle – – wo warst Du heute? Was hast Du getrieben?“
„O – heute?“ Fritz fühlte sich etwas unbehaglich. „Wie war’s denn gleich?“
„Willst Du es mir nicht sagen?“
„Noch schöner! Warum sollte ich wohl nicht? Es ist ja auch ein Unsinn – Du bist doch ein ganzer Mann – wirst schon mit der Sache fertig werden – und bekommst den Namen noch hundertmal aus aller Leute Mund zu hören: also – wir, meine Kleine, die Schwiegermama, Frau Weyland und ich, waren heute mit Annie Gerold zusammen in ihres Bräutigams, Professor Delmonts, Atelier – – nun, aber – Regi – siehst Du – ich bitte Dich – trinke nicht soviel von dem schweren Zeug – weiß Gott, ich geb’ Dir’s gern, aber Du bist es so gar nicht gewohnt – ich hätte eine leichtere Sorte heraussuchen sollen –“
Reginald hatte sein Glas auf einen Zug hinuntergegossen und es sich neu bis zum Rand gefüllt.
„Laß’ nur, Fritz! Ich würde Deinen Wein und Dir sehr dankbar sein, wenn Ihr mir Selbstvergessenheit verschaffen könntet … nur glaube ich nicht so recht daran! – Sprich doch nur, bitte, sprich! Wie fandest Du die beiden – sie – und – ihn? Sehr glücklich – nicht wahr?“
„Es scheint so! Er ist rasend verliebt in sie – und sie ist ja auch ein wunderschönes Geschöpf, dabei so einzig, so lieblich – holdselig,“ – dem Lieutenant begann sich die Zunge zu lösen – „und heute vollends, in einem venezianischen Brokatstoff und Perlenkäppchen war sie ein traumhaft entzückender Anblick. Und nicht bloß Anblick! Diese ungesuchte Natürlichkeit, dieser rasche Geist – die Anmuth ihres Wesens – Du weißt ja –“
„Ich weiß … jawohl!“
„Kurz, es ist einfache Pflicht und Schuldigkeit von dem Menschen, wenn er sie anbetet. Seine Bilder sind übrigens brillant, sein Atelier prachtvoll, und seine Weine lassen sich trinken – der ganze Mann hat mir heute besser gefallen, als ich das, ehrlich gesagt, für möglich hielt. Und sie? Nach allem, was ich beobachtet habe, muß sie ihn wohl über alles lieben! Trotz dessen ist irgend etwas an diesem von der Natur überreich bedachten Brautpaar, was mir nicht ganz zusagen will. Hat mich vielleicht Frau Weyland mit ihren Kassandra-Ideen angesteckt? Ich bin ein zu einfältiger Kerl, um recht sagen zu können, was es ist – ’s läßt sich auch mehr fühlen, als sagen … irgend ein Schatten liegt dazwischen – – bei ihm, dem Maler, meine ich – sie, die schöne Annie, ist ganz lauterer Sonnenschein! – Aber es mag ja alles dummes Zeug sein, was ich da zusammengedacht und -geredet habe – ich habe bis jetzt noch in meinem ganzen Leben von einer Ahnung keine Ahnung gehabt! Wollen wir noch eine zweite Flasche aufmachen, Regi?“
„Ganz gewiß! Thut es Dir leid um Deinen theuren Wein?“
„Nein!“ sagte der Ulan sehr ernst. „Es thut mir leid um meinen theuren Vetter!“
„Um den sei außer Sorge! Meinst Du, ich könnte zum Trinker werden? Ich möchte nur vergessen und dann schlafen können – ich sagte es Dir schon! Dein Wein ist gut und stark, und doch ist mir’s, als hätte ich bis jetzt nur Zuckerwasser getrunken!“
Fritz, der an Weintrinken Gewöhnte, schüttelte erstaunt den [844] Kopf. Ihm waren die Glieder bereits schwer und die Augen müde geworden, und er hatte vielleicht den dritten Theil nur von dem zu sich genommen, was Reginald getrunken hatte.
„Du wolltest mir ja sonst noch allerlei erzählen – von Deiner Braut zum Beispiel ’ thu’ es doch!“
Fritz gehorchte – er berichtete von Hedwig, der Schwiegermama, Frau Weyland, erwähnte sogar Julchens Kunstfertigkeit mit dem Butterschnittchen – aber Reginald hörte offenbar gar nicht hin. Er nickte ab und zu mit dem Kopf wie ein Automat und goß sich das rasch geleerte Glas beharrlich wieder voll, aber er sprach kein einziges Wort dazu, und seine Augen blickten wie in weite Ferne.
Als Fritzens Regulator ein Uhr schlug und die zweite Flasche geleert war – Reginald hatte sie fast allein getrunken – erhob sich endlich der späte Gast. Die Hand, die er seinem Vetter reichte, fühlte sich fieberheiß an, aber sie zitterte nicht, der Blick war klar, Gang und Haltung fest und aufrecht. Der Lieutenant, dessen Augen umflort waren, betrachtete dies alles als ein Wunder.
„Hab’ Dank, lieber Regi, daß Du noch so spät gekommen bist – vielmehr, daß ich noch so spät – na, ich weiß nicht mehr recht, was ich hab’ sagen wollen – schadet aber auch nichts! Und meine kleine Braut, siehst Du – sie ist ein reizendes Käferchen, wenn sie auch keine Annie Gerold ist! Die Annies laufen nicht zu Dutzenden so herum, muß ich Dir sagen! Dieser Delmont muß mit einem Glückskleidchen geboren sein – es giebt solche Häute – sollen aussehen wie ein Netz – mit denen wird man geboren, und dann hat man ein heidenmäßiges Glück in der Welt! Du hast auch in so einem Kleidchen gesteckt, Deine alte Lehmann hat mir’s anvertraut, sie hat sich das Ding verwahrt und schwört Stein und Bein darauf. Dabei machst Du solche tragische Augen – Glückskind, das Du bist! Pfui! Ein so schöner Kerl – und Prediger zu Sankt Lukas – und Anwartschaft auf gut ’ne halbe Million – – und von den Damen als interessanter Beichtvater und Seelenhirt angebetet – und dies Gesicht dazu! Der Delmont sollte sich auch schämen – hat einen Ruhm wie der selige Rafael und gewiß noch dreimal soviel Geld und eine Braut, mit der sich nun ’mal kein anderes Mädel vergleichen darf – und macht auch solch’ tragische Augen! Geht mir doch, Ihr Glückspilze! – Ich werd’s Euch beweisen – ich Roderich Adalbert Fritz von Conventius, daß man glücklich sein kann ohne Ruhm und Schönheit – und Predigen – und alles! Zum Herbst wird geheirathet! Die Schwiegermama hat es mir heute mit ihren ehrwürdigen Lippen zugelobt! Zum Herbst wird geheirathet - und ein Hallunk meines Namens will ich sein, wenn ich mein Mäuschen nicht glücklich mache – – mein kleines Mäuschen – — das mich so lieb hat … “ – – –
Der Gedanke an das kleine Mäuschen und sein künftiges Lebensglück mußte den Lieutenant ganz überwältigen, denn er umarmte den Vetter und schwor ihm immer wieder, er wolle eher zum Spitzbuben, Räuber und Schurken werden, ehe er das Mäuschen nicht beglücke. Noch auf der Treppe hörte ihn Reginald betheuernd rufen: „Und zum Herbst wird geheirathet!!“ –
Die alte Lehmann saß in Reginalds Vorzimmer und strickte an einem Kinderstrumpf für eines ihrer Enkelchen. Sie konnte ohnehin nicht viel schlafen und suchte nie ihr Bett auf, ehe „Ehrwürden Herr Junker“ zur Ruhe war. Heute war er bei dem lustigen Vetter – nun, das war ihr lieb, etwas Heiterkeit konnte ihm nicht schaden! – – Aber das Gesicht, mit dem er jetzt eintrat, wußte nichts von Heiterkeit zu erzählen; er schalt auch nicht wie sonst seine alte Getreue ob ihres späten Aufbleibens. Mit seiner heißen Hand strich er ihr sanft über den spiegelglatten, eisgrauen Scheitel und hieß sie zu Bett gehen.
Alle Rechte vorbehalten.
Hinter der Düne.
„Weihnachtszeit, heil’ge Zeit,
Der Englein und der Kinder Freud’ –“
Kathi ten Eißen sang mit schriller, halblauter Stimme das alte Norderneyer Weihnachtslied und rührte dabei mit entblößtem muskulösen Arme den zähen Teig zu den Rosinenbrötchen.
„Der Englein und der Kinder Freud’“ – weiter kam sie nicht; es wiederholte sich dann immer ein kurzes abgebrochenes, heiseres Lachen, das Henri ten Eißen, ihrem Eheherrn, durch Mark und Bein ging.
Der kräftige, in blaues grobes Tuch gekleidete Fischer saß mit weit vorgestreckten Füßen auf dem dreibeinigen hölzernen Schemel, stützte den Ellbogen auf den rothgestrichenen Tisch und ließ den blonden Krauskopf schwer in der arbeitsschwieligen Rechten ruhen, während er mit der Linken den röthlichen, zweitheiligen Kinnbart strich.
Sein wettergebräuntes hübsches Gesicht belebten zwei große hellblaue Augen, welche einst sonnenhell ins Leben geblickt hatten. Aber das war nun vorbei, längst vorbei, jetzt folgten sie trübe den Hantierungen seines Weibes, deren Gesang er nicht länger mit anzuhören vermochte.
„Ach Du grundgütiger Gott! Und daran bin nur ich schuld!“ Damit erhob er sich, reckte seine sehnigen Glieder, stülpte den schwarzen, abgetragenen Filzhut auf und schritt zur Thür.
Draußen pfiff vom Meere her der heulende Nordost scharf über die baumlosen Dünen, wühlte die Wasser bis zum Grund auf, so daß sie sich zu Wellengebirgen thürmten, und fegte den feinen Sand über das Dach von Henri ten Eißens Hütte.
„Wenn er sie doch ganz verwehte!“ stöhnte der Fischer und gab seine breite Brust den rasenden Winden preis. Die schwarze schaumgekrönte Nordsee tobte wie ein wüthendes Raubthier, aber in ten Eißens Busen tobte der Sturm noch mehr. Es war ja schon lange her, seit es da drinnen zum letzten Male freudig geklopft hatte; aber heute, gerade heute am Weihnachtstage, da fiel ihm sein Kummer mit aller Schwere aufs Herz, daß er glaubte, ersticken zu müssen.
„Weihnachtszeit, heil’ge Zeit,
Der Englein und – – –“
brummte Henri jetzt mit seiner tiefen Baßstimme, aber das „der Kinder Freud’“ wollte ihm nicht über die Lippen. Da lag er im Sande, unter Strandhafer und Dünengras fast versteckt, der Sturmwind heulte über ihn hinweg und der eisenfeste Mann schluchzte laut in beide Hände.
„Herr Gott, vergieb mir! Ich wollte es ja gut machen – er sollte ein braver Mensch werden – da braucht’s Strenge – und nun kam es so – o mein Gott!“
[845] Und vor Henris Seele stieg jener furchtbare Tag auf, als Jann, sein einziger, bereits zum kräftigen Jungen herangewachsener Sohn, auf und davon ging. Er war ein wilder, unbändiger Bursche gewesen und der Vater hatte Mühe genug gehabt, ihn in Zucht zu halten; oft hatte das Tauende seine schmerzhafte Sprache zu dem kleinen Thunichtgut geredet. Je strenger indessen Henri gegen den Knaben gewesen war, desto mehr hatte ihn die Mutter verwöhnt.
Aber einmal war’s doch auch ihr zu toll gewesen, und sie sah wohl ein, daß er Strafe haben mußte, brachte es aber nichts fertig, ihn selbst zu züchtigen. So hatte sie ihm gedroht: „Warte nur, ich sag’s dem Vater!“
Das mochte auf Jann einen gewaltigen Eindruck gemacht haben, denn wenn sich die allzeit nachsichtige und gütige Mutter sogar bewogen fühlte, ihn bei dem Vater, dessen Strenge sie für ihn fürchtete, zu verklagen, so konnte er sich auf gehörige Strafe gefaßt machen. Die Furcht davor trieb ihn in die weite Welt, und die Eltern blieben mit ihrem Kummer allein zurück.
Doch ten Eißen unterbrach die trüben Erinnerungen, die an seinem inneren Auge vorüberzogen; er durfte Kathi, heute gerade nicht allein lassen, und so schritt er denn schwerfällig zu der rothen Ziegelhütte zurück, welche sich, von einem kleinen Gärtchen umgeben, dicht hinter den Dünen erhob. – Einst hatten in diesem Gärtchen während des Sommers rothe Nelken, duftende Rosen und schwarzgetüpfelte Feuerlilien geblüht. Die Fremden waren stehen geblieben und hatten sich der Blumenpracht gefreut. Aber nicht dieser allein galt ihr Verweilen, es galt noch mehr dem blondlockigen Knaben, der zwischen den Beeten spielte.
„Wie heißt Du, mein Söhnchen?“
„Ei, so sag’s doch! Wer wird so blöde sein!“ hatte Kathi dem Kleinen zugeraunt.
„Jann ten Eißen.“
„So ist’s recht! Nun gieb ein schön’ Patschchen,“ ermuthigte die muntere Fischersfrau ihren Liebling weiter, der sich endlich auch bewegen ließ, sein sandfeuchtes Händchen den Gästen entgegenzustrecken; selten zog er es ohne eine kleine Gabe zurück.
Und auch später hatte sich jeder über den strammen heranwachsenden Jungen gefreut, der da schon so flott seine Netze strickte oder das kleine Gärtchen in Ordnung hielt. – –
Das war nun vorbei: die Nelken verdorrt, die Rosen verwildert, die feurigen Lilien vom Strandhafer überwuchert – – und der blondlockige Jann ten Eißen spurlos verschwunden!
Henri öfnete mit Mühe die Thür, die der Sturm mit Gewalt in die Fugen drückte. Kathi kauerte mehr, als daß sie saß, in der Nähe des Ofens und sah geistesabwesend in die züngelnden Flammen. Das that sie oft; der hastigen, aufgeregten Arbeit folgte eine Abgespanntheit, welche ihren Mann noch besorgter machte. Dann hörte und sah sie nichts, mochte Henri sie ansprechen oder durch freundliche Liebkosungen zu ermuntern suchen.
Auch jetzt streichelte er ihr Haar und Wangen. Wunderbar, wie seine riesigen, groben Hände zart mit der Aermsten umzugehen wußten. Grenzenlose Liebe, Mitleid und tiefer Seelenschmerz lagen in jeder seiner Bewegungen.
Plötzlich fuhr die Frau empor, als wenn sie aus langem Schlummer jäh erwacht wäre, stürzte an den Tisch und formte aus dem Teige die Weihnachtsbrötchen.
„Für Dich – für mich – und die beiden für unsern Jann,“ sagte sie mit einem zärtlichen Lächeln, welches so schlecht zu dem starren Ausdruck ihrer Augen paßte. – Was lag nur darin? Wie ein Schleier breitete es sich über die dunklen Pupillen, die stets so furchtbar ernst in das Leere schauten.
„Bist Du mir böse, Henri? Unser Jann kommt heute! Schlage ihn nicht mehr! – Nicht wahr? – der böse, liebe Junge – so lange auszubleiben! – Ach du lieber Gott!“
Kathi nahm noch eine Hand voll Rosinen, wusch sie vorsorglich im frischen Wasser, drückte sie still lächelnd in die Wecken und legte auf die für Jann bestimmtenen zierlich die Buchstaben „J. t. E.“
Ten Eißen brach fast das Herz bei dem halb irrsinnigen Treiben seines Weibes. Er hoffte nicht mehr auf des Sohnes Wiederkehr. Jann war umgekommen, gestorben und verdorben, sonst hätte er in der langen Zeit doch irgend ein Lebenszeichen von sich gegeben!
Kathi griff nun zu ihrem schwarzen, wollenen Mantel, hüllte sich fest darin ein, schlang ein Tuch um den Kopf, nahm einen starken Tragkorb auf den Rücken und bald darauf watete sie, der Unbilden des Wetters nicht achtend, durch den tiefen Sand dem belebteren Theile des Dorfes zu.
Hier waren die Straßen mit rothen Ziegelsteinen gepflastert, und nun schritt sie tapfer aus, so daß sie bald den Marktplatz erreichte.
Ein grüner Wald war hier auf der sandigen, baumlosen Insel über Nacht erstanden. Die Finkenwerder Schiffe und der Dampfer, welcher von Norden kommt, hatten Tannenbäume in Hülle und Fülle herübergebracht.
„Ach wie schön! Wie schön!“ rief Kathi ten Eißen. „He, Tschade Severins, gieb mir einen recht, recht schönen – mein Jann muß den größten haben, den allergrößten! Du weißt doch, daß er heute kommt?“
Der alte Fischer sah das junge Weib schmerzlich an und gab ihr eine prächtige, schlankgewachsene Tanne.
„Danke, danke – wird der sich freuen!“ Damit ging sie weiter, kaufte hier blaues Zeug zu einem Anzuge, dort Aepfel, Nüsse, Lichter und echten friesischen Knüppelkuchen.
„Nun ist’s genug,“ sagte sie, packte alles in ihren Tragkorb, nahm ihn auf den Rücken, umfaßte den Christbaum mit ihren beiden kräftigen Händen und kämpfte sich wieder durch Sand, Nordost und Schneehuschen zu der Hütte hinter der Düne zurück.
„Die arme Kathi! Die hat’s zu sehr gepackt. Was war das für ein schmuckes Weibchen! Und eine tüchtige Hausfrau!“
„Gerade daß sie dem Jungen mit dem Alten gedroht hat, ist ihr ins Gehirn gefahren.“
„Und ten Eißen ist der Alte auch nicht mehr, an dem nagt der Wurm, daß er so streng mit ihm war.“
[846]
„Gott mag einen in Gnaden vor so etwas bewahren!“
Das waren so die Reden, welche die biederen Insulaner hinter der armen Kathi hersandten; und mehr als eine Mutter wischte sich die Thränen aus den Augen, um dann desto freudiger für ihre blonde Kinderschar den Weihnachttisch zu bereiten. – –
Die Sonne war bereits blutroth ins Meer getaucht, ihr goldig purpurner Nachglanz flammte am wolkigen Himmel, schwamm auf den wogenden Fluthen und blitzte in den blanken Fensterscheiben von ten Eißens Hütte.
Kathi schürte das Feuer auf dem offenen Herde, setzte Fische an, breitete über den Tisch ein schneeweißes Linnen, ordnete die Gaben, bog die Wachslichtchen um die Zweige des Weihnachtsbaumes und betrachtete wohlgefällig ihr Werk. – Da klopfte es.
„Komm herein!“
Der Bäckerlehrling trat ein, brachte in einem Schließkorbe die gebackenen Rosinenbrötchen und legte sie neben die Christgeschenke.
„Da, nimm, Weihnachtszeit – heil’ge Zeit –“ sagte Kathi und reichte ihm von den Aepfeln und Nüssen.
„Danke! Fröhliche Weihnachten!“ entgegnete der Knabe gewohnheitsmäßig und eilte wieder dem Dorfe zu.
„Fröhliche Weihnachten!“ stöhnte Henri, seinen Schmerz kaum noch beherrschend.
Es dunkelte ein wenig.
„Wo er nur bleibt?“ flüsterte Kathi.
Henri wandte das Gesicht ab und schwieg. Er wußte, daß reden hier umsonst sei.
„Er wird schon kommen!“ meinte die Frau und nahm wieder den Mantel von dem Nagel.
„So bleibe doch!“ bat ten Eißen.
„Bleiben? Bleiben?“ Kathi sah ihn so erstaunt an, als habe sie diese Worte nicht recht verstanden. Dabei legte sie den Mantel um, wickelte das Tuch wieder um den Kopf und winkte ihrem Manne geheimnißvoll mit dem Finger.
Der Fischer schüttelte verzweifelt mit dem Kopfe, entschloß sich aber doch, seinem Weibe zu folgen, welches hastigen Schrittes in dem tiefen weichen Sand zur Düne ging und deren Kamm erklomm.
Da stand die Frau wieder, wie schon so manches Mal, und schaute hinaus in das weite, brausende Meer, um ihren geliebten Jann zu erwarten. Und Henri harrte auch dieses Mal geduldig neben ihr aus.
Schäumend zischten die Wellen gegen die Dünen und leckten hinauf fast bis zu den Füßen der beiden, tosend brachen sich die Wasser und die Brandung heulte mit dem Sturme um die Wette.
Kathi hielt stand; in gespenstisch flatterndem Gewande, vom blassen Mondschein umflossen, so stand sie da und suchte mit ihrem Auge jede Wellentiefe zu ergründen, ob da nicht vielleicht ein Boot emporsteige, welches ihr Alles bringe.
„Horch – – Henri!“ rief sie plötzlich.
„Was willst Du, Kathi? Das ist der Sturm!“
[847] „Nein, nein – – ‚Mutter – Mutter!‘ ruft da jemand – ich höre es deutlich!“
„Kathi, die Möven! Komm, Frau!“
„Ach! Die Möven! – – Nun kommt er noch nicht, der böse, der liebe Junge!“
Ten Eißen umfaßte seine Frau fest, aber liebevoll und wollte sie zur Hütte zurückführen, denn sie war schwach geworden wie ein Kind und vermochte sich jetzt kaum noch auf den Füßen zu halten. – Er kannte das schon. – Da blieb sie wieder stehen. Wilde Verzweiflung kam über sie. Sie breitete die Arme aus: „Jann! Jann!“ klang es schaurig in die stürmische Nacht hinaus. „Dort! – Dort! – Mann! – – Mann! – – Er ist da! Er ist da!“
„Kathi –!“
„Sieh das Boot! Dort – es taucht auf – Jann! Jann! – – Jetzt ist’s verschwunden – – nein – nein – Mensch – Mann – Henri – siehst Du nicht? – Da kommt mein Kind – – mein Kind!“
Dem Fischer grauste, ihm war’s, als sträubten sich ihm die Haare, aber er folgte unwillkürlich mit den Augen der Handbewegung seines Weibes.
„Bei Gott dem Allmächtigen, wirklich ein Boot! – Ohne Mast – ein Mann steht aufrecht darin – es treibt umher! – Bleibe, Kathi, – bleibe! – Ich werde Hilfe herbeischaffen! Gieb ihm ein Zeichen! Winke mit dem Tuche! Hole die Laterne!“
Dahin stürzte Henri, um eiligst sein Boot klar zu machen, dorthin Kathi, damit sie die Laterne hole.
Henri ten Eißen, Emken Klüin und zwei andere Fischer stießen schon vom Lande, und Kathi schwenkte das Feuerzeichen, als gälte es, dadurch die Welt vor dem Untergange zu retten.
„Jann! Jann! – – Weihnachtszeit, heil’ge Zeit – – Jann! Jann! – Ich bin da – – der Engel und der Kinder Freud’ – ich bin da! – Komm ! – Komm! –“
Und vom schwankenden Nachen her erfolgte Antwort. Der Fetzen eines Segels wurde geschwenkt und Kathi glaubte die Stimme ihres Knaben zu hören, die sich für sie mit dem wüthenden Nordost zu einer jubelnden Weihnachtshymne vereinte.
Von der Hafenseite her kämpfte sich Henris Boot zu dem anderen heran. Jetzt tanzte es hoch auf den Wellen – nun verschwand es, jetzt faßten es die Wasser, daß das Steuer fast seine Kraft verlor. –
Kathi sah es, sie begriff die Gefahr und faltete die Hände zum brünstigen Gebet. Nun flog ein Tau hinüber zu dem entmasteten Fahrzeug, jetzt ein zweites – jetzt wandte ten Eißen sein Boot und schleppte das gerettete glücklich in den sicheren Hafen.
Da stand schon Kathi.
„Jann, Jann!“
Ein fast zum Mann gereifter Jüngling sprang ans Land, lag zu den Füßen des Weibes und umfaßte schluchzend ihre Kniee.
„Ich bin’s, Mutter – ich bin’s – – Vater, Mutter, vergebt mir!“
Henri ten Eißen stand sprachlos. Das Mutterherz hatte sich also doch nicht betrogen! – –
Es dauerte eine geraume Weile, bis der Ueberschwang der Gefühle ein richtiges Fragen und Antworten gestattete. Vom Arme der Mutter umschlungen, erzählte Jann, wie ihn das Heimweh unüberwindlich ergriffen habe, als er mit seinem englischen Schiffe so nahe gewesen. Da sei er entflohen mit Gefahr seines Lebens und seit drei langen, langen Tagen treibe er nun schon auf der See.
Aber es war, als ob Kathi das alles nicht hörte.
„Ich wußte es, daß Du heute noch kommst, ich wußte es ganz gewiß!“ wiederholte sie nur immerfort.
Sie schritten zur Hütte. Jann hätte den Sand seiner Heimath küssen mögen! – Da schaute das Dach schon hinter der Düne hervor und Kathi flog mehr, als daß sie ging, dem bescheidenen Heime zu.
„Wartet – wartet noch ein wenig! Erst –!“
Sie war schon hinter der Thür verschwunden, der bereitstehende Christbaum flammte auf im Lichterschein und erleuchtete den niederen Raum wie mit einem überirdischen Glanze.
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Im nächsten Jahre blühten wieder die Nelken, die Rosen und die Feuerlilien in dem kleinen Gärtchen vor Henri ten Eißens Hütte. Heller Sonnenschein lag darüber und fand seinen Abglanz in Kathis und Henris fröhlichen, zufriedenen Gesichtern.
Alle Dunkelheit war ihnen von Geist und Gemüth genommen, denn Jann war ja da, er war ein guter, rechtschaffener Sohn und tüchtiger Seemann geworden, welcher seinen Eltern in Liebe, Gehorsam und Arbeit getreulich zur Seite stand.
[848]Alle Rechte vorbehalten.
Der „Deutsche Tag“ in Amerika.
Die große Feier, die am 6. Oktober zum Gedächtniß der ersten deutschen Einwanderung von den Deutschen Amerikas begangen wurde, darf wohl des lebhaftesten Wiederhalls nicht nur im alten Vaterlande, sondern überall, soweit die deutsche Zunge klingt, gewiß sein. Kaum ist es ein Jahr her, daß die Anregung zu dem schönen Feste in der deutsch-amerikanischen Presse laut ward, und nun haben wir es erlebt, daß sich in allen größeren deutschen Ansiedlungen vom Atlantischen bis zum Stillen Meere deutsches Selbstgefühl wie auf höheres Geheiß erhob und unsere Landsleute aller Glaubens- und Stammesverschiedenheiten vergessen ließ, um in Eintracht sich alles dessen zu erinnern, was die deutsche Einwanderung seit zwei Jahrhunderten der Neuen Welt gewesen ist.
Es war im Sommer vergangenen Jahres, als in einer deutschen Zeitung Philadelphias, der ehrwürdigen Ouäkerstadt, wo im Jahre 1683 die ersten deutschen Einwanderer landeten, der Gedanke eines allgemeinen deutsch-amerikanischen Festes ausgesprochen wurde. Eine zeitgemäßere Anregung hätte Dr. G. Kellner, der verdiente Redakteur des „Philadelphiaer Demokraten“, nicht geben können. Seit den Anarchistengreueln in Chicago hatte sich der „Nativismus“, der fanatische Fremdenhaß, der Amerika von Zeit zu Zeit wie eine Seuche durchzieht, wieder geregt und sich nicht am wenigsten gegen die Deutschen gewandt. Umsonst mochten die langangesessenen und hochgeachteten Bürger deutscher Abkunft dagegen Verwahrung erheben, mit jenen blutdürstigen Mordbrennern auf eine Stufe gestellt zu werden. Man plante die bundesgesetzliche Beschränkung der Einwanderung und sah mit unverhohlenem Mißtrauen auf alle Bestrebungen der Deutsch-Amerikaner, ihr angestammtes Wesen zu erhalten und zu pflegen. Bald fand die Anarchistenfurcht in dem alten Deutschenhaß, dessen Wurzeln in grundverschiedenen Anschauungen von Sitte und Religion zu suchen sind, einen mächtigen Bundesgenossen. Besonders die deutschen Schulen erschienen den Nativisten als Pflanzstätten des verhaßten deutschen Geistes, und so entbrannte denn in verschiedenen Staaten der Republik ein heißer Kampf ums Deutsche, der leider nur zu oft mit der Niederlage unserer Landsleute endete.
Da war es denn hohe Zeit, daß sich die Deutschen ihrer langen und ruhmvollen Geschichte in Amerika erinnerten. Mochte der Hinweis auf den Vorzug der deutschen Schulen gegenüber dem landläufigen amerikanischen Erziehungswesen, auf die Schätze hoher Geisteskultur, die durch die Erhaltung der deutschen Sprache dem Lande zugeführt würden, auch wirkungslos verhallen, dem Zeugniß der Geschichte, das von deutscher Mitwirkung bei der Kolonisation, wie bei dem Auf- und Ausbau der Republik seit zweihundert Jahren redet, konnten selbst die fanatischsten Nativisten nicht widersprechen. Und was die Deutschen zur Entwickelung des Landes beitrugen, das durften sie sich rühmen, nicht als eine politisch vom alten Vaterlande abhängige Kolonie, sondern als patriotische Amerikaner geleistet zu haben, welche die Geschicke ihrer neuen Heimath ganz zu ihren eignen gemacht hatten.
Lange war der Sinn für die Geschichte der Deutschen in Amerika nur vereinzelt zu finden, bis mehrere hervorragende Männer wie Friedrich Kapp, H. A. Rattermann, G. Körner, Dr. O. Seidensticker u. a. dem Gegenstand ihre Aufmerksamkeit zuwandten und in Abhandlungen und Monographien die Kenntniß der deutsch-amerikanischen Vergangenheit in weitere Kreise trugen. Zum Ruhme der deutsch-amerikanischen Presse sei es gesagt, daß sie bei dieser Arbeit stets redlich mithalf und die Gründung von historischen Vereinen, wie sie heute z. B. in Philadelphia, Baltimore und an andern Orten bestehen, warm befürwortete.
Als erstes öffentliches Zeichen des neuen Geistes darf wohl die großartige Pionierfeier gelten, die im Jahre 1883 in Philadelphia und in anderen Städten der Union begangen wurde. Mit diesem Feste lebte das Gedächtniß der frühesten deutschen Einwanderung, über die man bis dahin wenig oder gar nichts gewußt hatte, unter der ganzen deutsch-amerikanischen Bevölkerung wieder auf, und so nachhaltig war der Eindruck, daß man sechs Jahre später, als man zur Feier des „Deutschen Tages“ sich nach einem würdigen geschichtlichen Ereigniß umsah, einstimmig an die große Pionierfeier vom Jahre 1883 anknüpfte. Und ein bedeutungsvolleres und schöneres Ereigniß als die Ankunft der ersten deutschen Ansiedler in Amerika hätte man kaum wählen können.
Wir verdanken es den ausgezeichneten Forschungen*[1] Dr. O. Seidenstickers, Professors an der University of Pennsylvania, daß uns die Geschichte der ersten deutschen Einwanderung erschlossen wurde. Wie in England, so gaben auch in Deutschland die Religionskämpfe, die keineswegs mit dem Dreißigjährigen Kriege beendet waren, den Anstoß zu der gewaltigen Völkerwanderung, die nun seit zwei Jahrhunderten schon nach den Gestaden der Neuen Welt wogt. Um frei ihren innersten Ueberzeugungen leben zu können, folgt die kleine deutsche Quäkerschar im Jahre 1683 der Einladung William Penns, sich in seiner amerikanischen Kolonie, dem heutigen Pennsylvanien, anzusiedeln. Und mit ihr ziehen nun auch deutscher Fleiß und deutsche Thatkraft, deutsche Sitte und deutsche Lebensanschauung in die Neue Welt ein, die sich gar bald bewähren. In wenigen Jahren ist die Einöde in lachendes Gefilde verwandelt, deutsches Leben regt sich überall in der jungen Niederlassung, und wie die Gestalt eines ehrwürdigen Patriarchen, rathend, mahnend und wegweisend, erscheint in dem freundlichen Idyll der Führer der Auswanderer, F. D. Pastorius, ein hochgelehrter Mann, der die ganze Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen hat.
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[850] Der kleinen Quäkergemeinde aus Crefeld folgt einige Jahre später die Auswanderung aus der Pfalz, die sich nach dem Staate New-York wendet unb dort das reizende Mohawkthal in einen blühenden Garten umschafft. Was jene erste pennsylvanische deutsche Ansiedelung als Vorbild gleichsam gestiftet, das wiederholt sich nun im Laufe der zwei Jahrhunderte in den verschiedensten Theilen der Union bis auf den heutigen Tag.
Der Urwald weicht dem fleißigen Anbau, Handwerk und Industrie erstehen in den deutschen Niederlassungen wie auf Zauberwort, daneben kehrt geselliger Frohsinn ein und bald finden auch Kunst und Wissenschaft ihr Heim. Kein Gebiet menschlicher Thätigkeit, in dem Deutsche nicht Großes geleistet hätten! Es wäre unmöglich, hier auch nur in gröbsten Umrissen den Antheil der Deutschen an der geistigen und materiellen Entwickelung Amerikas zu schildern. Und als es im vorigen Jahrhundert galt, das herrliche Gut der Freiheit zu erringen, als dann später in blutigem Bürgerkrieg die Schmach der Sklaverei ausgetilgt werden sollte, da durfte auch deutsches Heldenthum seine altbewährte Größe bezeugen.
Das sind in allgemeinen Zügen die Erinnerungen, die den „Deutschen Tag“ ins Leben riefen und die bei seiner Feier durch Wort und Bild zur Darstellung kamen. Denn es galt ja, die Bedeutung unseres Volksthums für Amerika nicht nur der Masse unserer Landsleute ins Gedächtniß zu rufen, sondern sie vor allem der amerikanischen Bevölkerung lebendig zur Anschauung zu bringen, die von geschichtlicher Bildung leider nur in Ausnahmefällen weiß und von deutsch-amerikanischer Vergangenheit in der Schule höchstens über die unglücklichen, im Unabhängigkeitskrieg an England verkauften „Hessen“ gehört hat.
Als Festtag hatte man so ziemlich allgemein in allen Städten den 6. Oktober, den durch Seidensticker festgestellten Landungstag der ersten deutschen Einwanderung in Pennsylvanien, gewählt. Nur in einzelnen Städten, wie z. B. in Cleveland, Ohio und in San Francisko, knüpfte man das Fest an einen andern deutsch-amerikanischen Gedenktag. Aber auch hier trug die Feier denselben Charakter, den ihr der gemeinsame große Zweck und die einmüthige Begeisterung an allen Orten aufdrückte. Und die echt deutsche Kunst, frohe Feste zu feiern, sorgte überall dafür, daß der Tag erhebend und eindrucksvoll verlief.
Natürlich gestaltete sich die Feier am großartigsten da, wo das Deutschthum zu vielen Tausenden vertreten ist, in Städten wie Baltimore, St. Louis, Milwaukee, Kansas City, Detroit u. a. An vielen dieser Orte ruhten für den Festtag die Geschäfte, die Straßen prangten in herrlichem Fahnen- und Blumenschmuck, und Tausende und Abertausende von Zuschauern sahen die geschmackvoll geordneten, imposanten Umzüge vorüberziehen. Wo es nicht gerade, wie diesmal in St. Louis, auf eine Massenparade abgesehen war, da hatte man weder Mühe noch Kosten gescheut, um glänzende historische Festzüge zu schaffen, die Scenen aus der Geschichte und dem Leben der Deutsch-Amerikaner zur Darstellung brachten. Vielleicht war der historische Festzug, den das kunstsinnige Deutschthum Milwaukees ausschmückte, das Vollendetste in dieser Beziehung. Doch auch da, wo man auf einen größeren Umzug verzichtete, fehlte doch das nicht, was bei allen Feiern in den verschiedensten Städten den Höhepunkt bildete: der mit Gesang und Musik begleitete Redeakt. Nur die größten Theater und Hallen reichten aus, um die Festtheilnehmer zu fassen, an den meisten Orten waren die Stadt- und Staatsbeamten erschienen, und in allen deutschen und englischen Festreden klang die schöne Begeisterung wieder, die an dem Tage das Deutschthum der Vereinigten Staaten wie nie zuvor vereinigte.
Schwer läßt sich die weitgehende Wirkung ermessen, die von dieser gewaltigen und doch so friedlichen Kundgebung ausging. Für die Deutschen Amerikas bedeutet die Feier, die wohl in Zukunft ein allgemeines jährliches Volksfest im schönsten Sinne werden wird, den Anbruch eines neuen Lebens, das seine Kraft aus dem Bewußtsein der errungenen Einheit zieht. Nur zu viele unserer Landsleute sind im Laufe der Jahrhunderte ins andere Lager übergegangen und haben das Andenken an ihren deutschen Ursprung nicht einmal in ihrem Namen bewahrt. Aber mit der Erinnerung an seine amerikanische Vergangenheit erwacht dem Deutschen auch das Bewußtsein an die hohen Kulturgüter, die er in Sprache und Sitte als heilig anvertrautes Erbe aus der deutschen Heimath mitgebracht hat und die in der neuen Heimath zu pflegen, zu erhalten und auszubreiten seine große Aufgabe ist. Denn als Sohn eines Volkes, dem die geistige und heute auch die politische Führerschaft der Welt zugefallen ist, tritt er in Amerika einer Kultur gegenüber, die an deutschem Geistesleben auf allen Gebieten sich zu bilden in ihren besten Vertretern bemüht ist. Wo aber im Deutsch-Amerikaner dies stolze Bewußtsein lebendig ist, da wird er ebensowenig bereit sein, seine Nationalität mit Sprache und Sitte von sich zu werfen, als sie von nativistischer Anmaßung sich rauben zu lassen.
Ja, an dem „Deutschen Tage“ war es auch in Amerika „ein Fest, Deutscher mit Deutschen“ zu sein. Die großartige Feier klang wie eine Antwort auf den prophetischen Willkommgruß, den Franz Daniel Pastorius vor zwei Jahrhunderten den kommenden Geschlechtern seines geliebten Volkes zurief und dessen lateinische Schlußworte lauten: „Vale posteritas! Vale Germanitas! Aeternum vale!“ was in freier deutscher Uebersetzung etwa heißt: „Sei mir gegrüßt, Geschlecht der Enkel! Sei mir gegrüßt, du Deutschthum! Sei mir gegrüßt auf ewig!“
New-York. Julius Goebel.
Bellamys Zukunftsstaat.
[„]Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“ – „nach dem 301. Tausend der amerikanischen Originalausgabe“.[2]
Wäre der Ruf des Buchs nicht seiner Uebersetzung längst vorausgeeilt, der erste Eindruck dieser Ankündigung müßte der einer riesenhaften Reklame sein, würdig, die Eifersucht eines Barnum herauszufordern. Wie Edward Bellamys „Looking backward“ aber thatsächlich beschaffen ist, so gehört die Mittheilung seiner unmittelbaren Wirkung zur wesentlichen Kennzeichnung des Buchs. Sie sagt uns: dieses Buch begegnet sich mit dem Interesse von Hunderttausenden, es ist ein Erlebniß unserer Zeit, ein Ausdruck ihrer gährenden Ideen, ein Spiegelbild der sich in ihr bekämpfenden Hoffnungen und Wünsche wie kaum ein anderes. Wie dies geschieht, deutet der Titel an: in Form einer Prophetie, die uns ausmalt, welche Zustände im Jahre 2000 an die Stelle der unseren getreten sein werden. Das ist zugleich Sozialkritik und Sozialpoesie. Und in dieser Verbindung, zeitgemäß wie sie ist, gleichzeitig an die Befürchtungen und Hoffnungen, an die Unzufriedenheit mit der Gegenwart und die Zukunftsideale unzähliger Zeitgenossen sich knüpfend, liegt das Geheimniß des unerhörten Erfolgs.
Wer nähme heute – sei’s in Amerika oder in Europa – nicht Antheil an den großen Fragen nach der Möglichkeit eines Ausgleichs der sozialen Gegensätze, welche den Kampf der Interessengruppen in der modernen Gesellschaft von Jahr zu Jahr zu einer immer gefährlicher werdenden Gluth entfachen? Im Fürstenschloß, in der Bauernhütte, beim schwirrenden Triebrad unserer Industriestätten wie beim leisen Geräusch der schreibenden Feder im stillen Studierzimmer des Gelehrten, überall findet diese größte Frage des menschlichen Fortschritts ihren Widerhall. „Was will das werden?“ fragt, besorgt in das Wirrsal der sich bekämpfenden Interessen schauend, der berufene Deuter der Zukunft, der Dichter. „Nach uns die Sündfluth,“ antwortet kalten Blicks der durch Materialismus und Selbstsucht verhärtete Vertreter der frivolen Genußsucht. „Die Herrschaft des Proletariats – unsere Herrschaft, wenn ihr am Laternenpfahl hängt,“ erwidert grimmig der Anarchist. „Die Auflösung aller staatlichen Ordnung, ein wilder Verzweiflungskampf aller gegen alle,“ sagt, trüben Sinnes ins Weite schauend, der schwarzsichtige Zweifler. Jeder Sozialphilosoph antwortet mit einer anderen Formel, die wohl Begriffe, aber keine sinnliche Anschauung der Zukunft vermittelt; jeder Sozialdemokrat mit Forderungen, [851] für die er eingestandenermaßen friedliche Lösung selbst noch nicht weiß; der zukunftsgläubige Idealist mit dem Bekenntniß seiner Ueberzeugung, daß die Entwickelung der Menschheit trotz aller Hindernisse der Verwirklichung eines Reichs der Wahrheit, der Liebe, der Gerechtigkeit und Daseinsfreude entgegengehe … Aber die düstere Zweifelfrage: „Was will das werden?“ bleibt in Erwartung der nächsten Zukunft allerwärts bestehen.
Da kommt mit jenem stillen Lächeln um die Lippen, das der Humor erzeugt, ein Sohn des nordamerikanischen Freistaats, der hohen Schule des praktischen Lebenssinns, zu uns herüber und lädt uns ein, er wolle uns ein Märchen erzählen. Seine Stimme ist mild und freundlich, seine Rede ist ernst, fast trocken; aber um seine Augen ziehen sich die Fältchen verhaltener Freude, und aus den Augen dringt ein warmer Strahl froher Begeisterung, der eine ungewöhnliche Verheißung als Schlußsatz des Märchens ahnen läßt. Und er erzählt uns, wie er im Jahre 1887 durch die Behandlung eines Magnetiseurs in einen langen, langen Schlummer verfallen sei, in einem fest geschlossenen unterirdischen Gewölbe, das er sich wegen seiner Schlaflosigkeit als Schlafkabinett hatte bauen lassen, und wie er erst im Jahre 2000 wieder erwacht sei, ohne darüber eins seiner Lebensjahre eingebüßt zu haben. Er erzählt, wie Menschen eines andern Geschlechts, eines andern Jahrhunderts in sein bis dahin unentdeckt gebliebenes Gemach gedrungen, ihn ins Leben gerufen und freundlich aufgenommen haben in ihrer ihm so fremden Welt. Mit dem Aerger über einen langwierigen Arbeiterstreik, mit den häßlichen Eindrücken von Anzeichen einer gährenden Revolution sei er eingeschlafen; erwacht aber nun zu einem Zustand der Gesellschaft, in welchem die Menschen wie Brüder einträchtig zusammen leben, ohne Streit und Neid, Gewaltthat und Uebervortheilung; in welchem jeder in einem freigewählten Berufe gegen Leistung eines Maßes von Arbeit, das nicht größer ist, als es der Gesundheit zuträglich, völlig befreit ist von der Sorge um den kommenden Tag; in welchem es keine Unterschiede mehr giebt zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, sondern alle Menschen reich sind an Glück und Bildung, weil sie alle gleichen Antheil und Genuß am Nationalvermögen haben, zu dem sie alle nach ihrer Kraft und Art ein gleiches Maß durch ihre Arbeit beitragen. Und er zeigt uns, wie dieser Zustand herbeigeführt worden ist nicht durch „Theilung“ des Privatbesitzes an alle zu gleichen Theilen, sondern durch Abschaffung des Privatbesitzes, vor allem des Geldes, sowie des Handels, des Kaufverkehrs und des Kreditwesens mit eingebildeten Werthen, und an deren Stelle getreten ist der gleiche Kreditantheil aller am Vermögen der Nation, erworben durch pflichtmäßige Arbeit vom 21. bis zum 45. Jahre, und durch ein großartiges Kooperativsystem, eine Organisation der Arbeit, in welcher der Grundsatz der Arbeitstheilung und derjenige der genossenschaftlichen Erzeugung in gleichem Maße zur Geltung kommen.
Das neue Boston des Jahrs 2000 öffnet unseren erstaunten Blicken die Thore: eine Stadt mit breiten Straßen, die, von Bäumen beschattet und mit prächtigen Gebäuden umsäumt, auf Plätze münden, aus deren Parkanlagen Springbrunnen und Statuen hervorleuchten und die von kolossalen öffentlichen Gebäuden flankirt sind. Er führt uns in die Riesenbazare ein, wo die übersichtlichste Einrichtung eines Warenprobenlagers und praktischste Ausnutzung technischer Hilfsmittel es jedem Besucher ermöglicht, ohne besondere Bedienung jede beliebige Auswahl zu treffen und Bestellung zu machen, die durch eine ebenso prompte Expeditionsmaschinerie umgehend erledigt wird, so daß die Ware oft noch vor dem Käufer in dessen Haus ist. Käufer? Nun, ja! Jeder Bürger, jede Bürgerin, sie haben für ihre Person eine Kreditkarte, die auf ihren jährlichen Antheil am Nationalvermögen ausgestellt ist und auf welcher bei jeder Erwerbung der entsprechende Betrag kupirt wird.
Das neue Boston kennt keine Herren und keine Diener, nur Arbeiter und Arbeiterinnen, deren Gesammtheit ähnlich gegliedert ist wie ein Heer bei allgemeiner Wehrpflicht, und in welchem die Wahl der Waffe, d. h. der Berufsart, dem persönlichen Ermessen überlassen bleibt, das Aufrücken zu leitenden Stellen aber durch die persönliche Leistung bestimmt wird. Die ganze Nation, Frauen und Männer, geht in diesem Heer auf; an seiner Spitze steht der Präsident der Nationalrepublik; die Veteranen, welche Ehrenmitglieder ihrer Berufsgenossenschaften sind, üben durch Wahl die Besetzung der oberen Verwaltungsposten aus. Der neue Staat kennt keinen Neid, keinen Diebstahl, keine Heirath aus Eigennutz, keine Vermögensprozesse, keinen Krieg, weil er kein Geld kennt. Er übernimmt die Erziehung der Kinder mit der ausgesprochenen Absicht, deren eigenthümliche Anlagen für irgend einen Arbeitszweig zu entdecken, zu entwickeln und für die Zwecke der nationalen Arbeit zu üben.
Und damit es dem persönlichen Ehrgeiz nicht an Zielen fehle, winken der besonderen Leistung als Lohn öffentliche Anerkennung, soziale Auszeichnung, amtliche Machtstellung. Das künstlerische und wissenschaftliche Talent findet seine besondere Wartung; der Genuß der Kunst ist Allgemeingut bei reichster Auswahl für den persönlichen Geschmack; vom 45. Jahre an ist der Hauptzweck des Daseins, nur noch den höheren Genüssen der Kultur zu leben.
Gar anziehend, das Herz mit Ahnungen eines neuen goldenen Zeitalters berauschend, entrollt Bellamy diese Bilder. Und jeden Zweifel, der sich gegen die Möglichkeit dieser Friedenswelt regt, ist er sofort bereit, zu beschwichtigen durch blendende Beweisführung, den Protest des Individualismus durch die eifervolle Versicherung, daß in seinem Zukunftsstaat die persönliche Freiheit, die Behaglichkeit des Familienlebens, die Lust an Bewegung und Veränderung keineswegs zu kurz kommen.
Aber freilich – ein Märchen ist ein Märchen! Es kann uns schöne Zukunftsträume noch so glaubhaft machen, ihre Erfüllung bleibt Sache der Zukunft. Die Gegenwart kann sie nur durch Beherzigung des sittlichen Kerns verwerthen. Auch Bellamys Zukunftsstaat der nationalisirten Arbeit ist eine „Utopie“, ein „Nirgendheim“, wie Thomas Morus’ „Utopia“, Bacons „Neue Atlantis“, Campanellas Sonnenstaat oder die idealen Gesichte, denen Schillers Posa und Lessings Nathan Ausdruck verleihen. Aber noch nie hat sich ein Erzeugniß der Phantasie, wie es jede Utopie ist, so sehr an das Vorhandene anzulehnen verstanden wie Bellamys „Jahr 2000“, noch nie war für eine solche Prophetie so viel Wirklichkeitsstoff zur Anknüpfung in der Welt wie in unseren Tagen, wo die Ueberraschungen der Technik, die Fortschritte des neuen Kulturmotors, der Elektricität, die Erfolge der Verstaatlichung großer Betriebsanstalten, wie der Eisenbahnen, der Drang der Industrie zu bisher unerhörter Zusammenfassung der Arbeit etc. auf große Veränderungen in allen Gebieten des sozialen Lebens hinweisen.
Und mit großer Kunst hat der ebenso warmherzige wie phantasiereiche Amerikaner all das Wirkliche zur scheinbar festen Unterlage seines luftigen Baus gemacht, den er als verlockendes Zauberbild in den blauen Aether der Zukunft emporthürmt. Daher das vielerorts auftretende Mißverständniß, dies Werk eines humoristischen Dichters für ein ernstgemeintes Sozialreformprogramm zu nehmen; daher die Thatsache, daß eine neue politische Partei in Amerika schon jetzt ihre Forderungen auf Bellamys Looking backward stützt; daher die Gerüchte, in Boston bestehe bereits ein Verein, der begonnen habe, Bellamys Pläne „probeweise“ zu verwirklichen! Für den denkenden Menschen richten solche Versuche, den Traum eines Dichters in die rauhe Welt der Wirklichkeit einzuführen, sich selbst. Er weiß, daß dies immer und überall ein vergebliches Beginnen bleibt. Er faßt die luftigen Gespinste einer weitausgreifenden Phantasie als das, was sie sind, als die gestaltgewordene Sehnsucht einer edlen Seele, als ein Bekenntniß zu dem Glauben an den Fortschritt der Menschheit. Und fortschreiten wird die Menschheit, wenn sie auch den Sprung ins Land der Märchen niemals machen wird; fortschreiten wird sie, aber die Weltentwicklung läßt sich nicht meistern, nicht von dem Dichter und nicht von dem Revolutionsmanne; fortschreiten wird sie – dieser Glaube ist es, der auch um Bellamys Buch eine so große Gemeinde versammelt hat.
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Die Schlaraffengesellschaft.
So war es gemeint und wurde es gehalten in dem kleinen Kreise, der sich einst in zwangloser Geselligkeit beim Hopfentrank aus Pilsen in Prag zusammenschloß, und so ist es geblieben in dem jetzt über zwei Erdtheile sich erstreckenden Schlaraffenreich mit seiner in die Tausende angewachsenen Mitgliederschar.
Sagenhaft schon ist der Anfang dieser Schöpfung geworden. Keine Chronik vermöchte ganz zuverlässig einen einzelnen als ihren einzigen Urheber zu bezeichnen. Zumeist waren es Mitglieder des Prager Landes-Theaters, die zuerst am 10. Oktober 1859 nach der Vorstellung auf Verabredung in einer Bierwirthschaft zusammenkamen und in lustigen Einfällen sich vergnügten. Damals besaß jene Bühne unter ihrem Direktor Thomé einen stattlichen Bestand an jungen, aufstrebenden Talenten, von denen mehr als eines später zu Ruhm und schönen Erfolgen gelangt ist. Diesem jungen Volk, bei dem theilweis lieb gebliebenes Studententhum mit künstlerischer Genialität sich versetzte, war das Kneipen helle Lust, und jugendlicher Uebermuth suchte ihm einen idealen Zug zu geben. So entstand dort, was eine so große, ungeahnte Zukunft haben sollte.
Um dieselbe Zeit hatte sich in Prag ein ästhetisch-litterarischer Verein unter dem Namen „Arcadia“ gebildet, dem auch mehrere Angehörige des Theaters beitraten. Als aber einmal ein neu angemeldetes Mitglied bei der Ballotage abgelehnt wurde, erklärten in kollegialischem Ehrgefühl die schon aufgenommenen ihr Ausscheiden aus dieser Gesellschaft. Trutziglich beschlossen sie, aus der erwähnten lustigen Kneipverbrüderung eine freie Künstlervereinigung zu machen. Ihr Theaterdirektor schloß sich an und zog einen weiteren Theil seines Personals an sich; ebenso wurden neue Mitglieder aus anderen Berufskreisen gewonnen. Die auf solche Weise stattlich verstärkte Gesellschaft taufte sich in absichtlicher Herausforderung gegen die so wählerischen Arcadier unter großem Jubel „Schlaraffia“ und nahm sogleich den Umzug in ein anderes geräumigeres und besser geeignetes Lokal vor, bei welchem schon schlaraffischer Spaß genugsam in Scene gesetzt wurde.
Toller als zuvor sprudelte es nun von Witz und Humor in dieser Gesellschaft. Mit Feuereifer sorgten einzelne immer an den Abenden der Zusammenkünfte für künstlerisch gehobene Unterhaltung. Die vom Orchester spielten auf, die von der Oper ließen sich in Gesängen hören, die vom Schauspiel gaben Vorträge zum besten; in fröhlichem improvisirten Zusammenwirken wurde manch Possenspiel getrieben, das mehr und mehr stehende Bedeutung bei bestimmten Veranlassungen und sinnbildliches Gepräge annahm. Im Grunde lief es auf eine Verspottung der Eitelkeiten und Lächerlichkeiten dieser Welt durch einen feierlich närrischen Kultus derselben hinaus. Daher die Einführung eines höchst pomphaften Ceremoniells, das namentlich bei der Aufnahme neuer Mitglieder und bei Ertheilung des Ritterschlages zur Geltung kam. Ein mittelalterliches Kauderwelsch bildete sich für verschiedene Bezeichnungen von Dingen und Handlungen aus, Gruß, Beifalls- und Zutrunksruf lauteten anders als bei den gewöhnlichen Menschen. Dazu trat ein komischgravitätisch sich bewegendes, mit Schalksmütze stolzirendes Ritterthum, sich spreizender Hofwürden- und Reichsambtsdünkel, unfehlbarer Despotismus des Oberschlaraffen als des erwählten primus inter pares und demüthig ehrfurchtsvoller Gehorsam seiner Reichsunterthanen, die er zum Besten des Schatzes in Geldstrafen nehmen oder ins schauerliche Burgverließ zu Unken und Ratten werfen lassen konnte. Der Uhu wurde als mächtiger und kluger Wächter, auch als Bote der göttlichen Minerva, zum Schutzpatron erkoren und in ausgestopfter Leibhaftigkeit auf hohem Throne zur unbedingtesten Verehrung aller Genossen und Pilger (das waren die eingeführten Gäste) aufgestellt, später sogar eine Zeitlang durch einen lebendigen ersetzt. Ihm galt der erste „Lulugruß“ gleich beim Eintritt in die „Burg“, den Gesellschaftssaal. Als bösem Geist, der Uhus Dienst zu stören trachte, gab man einem Pokal den Namen „Oho“, und sowie er sein unheilvolles Wirken spüren ließ, beschwichtigte man ihn durch Trankopfer. Chorgesänge wurden gedichtet und komponirt, deren frische Ursprünglichkeit und melodische Eigenart noch heute in allen „Burgen“ weit und breit ihren bestrickenden Zauber ausübt.Der Corpsgeist, welcher gegen die Arcadier die Trutzschlaraffen hatte erstehen lassen, kräftigte sich durch alle diese heiteren Thaten und Genüsse; er bewirkte eine Brüderlichkeit der Gesinnung, die, wie dreißig Jahre es bewiesen haben, nicht von rasch verrauschender, phrasenhafter und schnell in Ernüchterung verfallender Flüchtigkeit war, sondern sich auch in fördernden und manchmal rettenden Beistand goldrein bewährt hat. Daraus ergab eine hingebende Liebe der Prager Schlaraffen an ihre Schöpfung und ein gerechtfertigter Stolz auf ihre Schalksritterschaft.
Im Anfang des Jahres 1861 hatte eins ihrer Mitglieder den ernsten Einfall, all dies Treiben und den Sinn des Schlaraffenthums in die regelrechten Formeln eines Reichsstatuts, eines „Spiegels“, zu fassen, und mit dessen Annahme erhielt die Schlaraffia ihre stehende Organisation und trat in ein gefestetes Vereinsverhältniß. Im wesentlichen ist dies Statut bis heute maßgebend für alle Erweiterungen geblieben, welche die Gesellschaft erfuhr.Dasselbe Mitglied der „Praga“, wie sich im besonderen die Schlaraffia jener Stadt nannte, rief dann nach seiner Uebersiedelung nach Berlin daselbst im Oktober 1865 eine neue Schlaraffia ins Leben, deren Verfassung es nach den Grundsätzen der Prager ausarbeitete, wenn auch in anderen Formen der Regierung. Es gab daher in der „Berolina“ anstatt dreier erwählter Oberschlaraffen einen „Mikado“ als persönlichen Vertreter aller Weisheit in den „Sippungen“, d. h. den immer parlamentarisch geleiteten geselligen Zusammenkünften, und einen natürlich allmächtigen Reichskanzler in der japanischen Benamsung eines „Taifun“; als Abzweigung der Prager Schlaraffia, als mit ihr eins, konnte die Berolina damals nicht angesehen werden, da überhaupt an eine Verbreitung des Schlaraffenthums als einer einmüthigen Genossenschaft [853] in andere „Burgen“ noch nicht gedacht wurde. Die Beziehungen der beiden Schlaraffenreiche in Süd und Nord blieben zunächst nur rein persönliche. Anders wurde es erst 1872, als von Berlin ein Apostelthum zur „Eroberung“ von Leipzig für die Sache des Schlaraffenthums ausging. Es führte dies zu einer Verbündung der drei nun bestehenden Reiche, von denen Praga als das mütterliche erklärt wurde. Auch in Graz erstand 1872 durch Berlin noch ein neues Reich, und von Leipzig aus erfolgte bald danach die Gründung eines solchen in Breslau. Ein Konzil, das im Jahre 1875 zu Leipzig stattfand, bewirkte eine Umarbeitung des „Spiegels“ im Hinblick auf den entstandenen und eine weitere Ausbreitung ins Auge fassenden Föderativbund „Allschlaraffia“, und damit wurden im Geiste der Prager Verfassung die Grundmauern zu dem Bau gezogen, der dann Ende der siebziger und anfangs der achtziger Jahre schnell zu mächtiger Größe aufwuchs.
Die „Berolina“ hatte auf diesem Konzil ihre berechtigten japanischen Eigenthümlichkeiten dem neuen Bundesspiegel geopfert. Siegreich über manche philisterhafte Vorurtheile erhob sich das schalkhafte Banner Uhus auf den Zinnen von immer mehr Burgen in Deutschland und Oesterreich, dann in der Schweiz und in Ungarn, endlich auch jenseit des Oceans in New-York, Chicago und San Francisko. Jede dieser neuen Gründungen mußte durch einen Schlaraffenritter durchaus nach den Vorschriften des Konzilsspiegels und Ceremoniells erfolgen; sie mußte durch ihn dasjenige Mutterreich zugewiesen erhalten, welches während des vorgeschriebenen Probejahrs der „Kolonie“ deren Erziehung überwachte und nach Vollendung derselben die Bestätigung bei „Allmutter Praga“ beantragte, wodurch die Kolonie erst ein in den Verband eingefügtes „Reich“ wurde. Jeder Schlaraffe ist denn auch Mitglied des Bundes Allschlaraffia und in allen Reichen des „Weltalls“ als Ritter zur Sassenschaft berechtigt.
Auf den alle fünf Jahre sich wiederholenden Konzilien und den damit verknüpften Bundesfesten kam das einhellige Gepräge des Schlaraffenthums in all seiner bunten Mannigfaltigkeit zum schönsten Ausdruck. Das einst bescheidene Rüstzeug im Auftreten nahm immer glänzendere, reichere Formen an. Ehrgeizig trachteten sodann die einzelnen Reiche, ihre besonderen Feste, wie Stiftungstage, zehn-, zwanzig- und dann gar fünfundzwanzigjährige Jubiläen, womit die Praga 1884 den Reigen stolz eröffnen konnte, mit allem schlaraffischen Hofstaatspomp in Scene zu setzen und den aus allen Reichen Geladenen eine schöne Gastfreundschaft zu erweisen.
Großartiges hat neuerdings die Berolina zur dreitägigen Feier ihres fünfundzwanzigjährigen Jubiläums in den unteren Räumen des Kaiserhofhotels geboten. Die Abbildungen, welche wir bringen, führen einiges von der stehenden Ausschmückung der „Burg“ vor, in welcher die Berliner Schlaraffen „sippen“, und von den Gebräuchen dieses fröhlichen Ritterordens unserer Zeit. Da ist das Reichswappen der Berolina mit dem Datum ihrer Gründung und dem Schildspruch, der Allschlaraffia gehört „In arte voluptas“, „die Kunst ein Vergnügen!“ Von Palmen umkränzt ist das Gesammtbild ihrer Verstorbenen mit deren photographischen Porträts. „In Ahalla!“ so heißt es von den aus diesem Leben Abgerufenen, denen feierlich das „Trauerlulu“ nachgerufen worden ist. Die Verneigung vor dem in jeder Burg thronenden Uhu ist, wie erwähnt, die erste Pflicht des „einreitenden“ Schlaraffen. Auf seinem Thron ist einer der Oberschlaraffen, welcher „fungirt“ in seiner „Rüstung“ zu sehen; auf dem größeren Bilde erblicken wir ihn und seine beiden „Amtsbrüder“ mit dem ganzen erlauchten Hofstaat, Kanzler, Ceremonienmeister, Schatzmeister, Marschall, Junkermeister, Mundschenk, Truchseß, auch den Hofnarren, damit beschäftigt, die vorgeführten fremden Ritter würdig zu begrüßen. Etwa 350 Schlaraffen aus etlichen fünfzig Reichen waren in der großen Festhalle der Berolina beisammen, in welcher unter rauschender Musik der pompöse Aufzug und „Ehrenritt“ vor der „Allmutter Praga“ stattfand, in der bei perlendem Pilsener „tapfer gesippt“ wurde, „die ganze Nacht“ heitere und weihevolle Vorträge poetischer, musikalischer und dramatischer Art sich in überreicher Fülle drängten und Chorgesänge die aufs prächtigste geschmückten Räume durchbrausten.
Ein Mummenschanz! Aber getragen von dem Geiste harmloser Lust, geweiht den Genien der Poesie und Kunst, darf er wohl als etwas Einziges in seiner Art gerühmt werden. Alt sind manche in seinem Kultus geworden und in treuer Begeisterung mit jungem Sinn ihm ergeben geblieben. Gebildete verschiedenster Berufsklassen haben sich mit Herz und Mund zu ihm bekannt, und wer unter den im Kaiserhof so frohmüthig Sippenden auch an die hundert graue Köpfe mit leuchtenden Augen gesehen, alte Herren von sechzig, siebzig, ja achtzig Jahren mit dem bunten Helm auf dem Haupt, der mußte sich sagen, daß dies Schlaraffenthum das Zeug in sich trage, deutsche Männer in der ganzen Welt zu edler Brüderlichkeit zusammenzuschließen und einem idealen Zuge in unserem Zeitalter frohmüthig und siegreich zu folgen.
Finstere Mächte.
(Fortsetzung.) |
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Die Otterhofbäuerin, eine behäbige, dumme, gutmüthige Frau, Erbtochter eines reichen Vollhufners, bemerkte mit Befremden die Zeichen der Neigung Evas zu einem Knechte; sie konnte sich eine solche Geschmacksverirrung nicht erklären, sie warnte Eva, sich beim Bauer etwas anmerken zu lassen, und schüttelte bedenklich den Kopf, als das Mädchen feuerroth wurde, sowie sie Rupert erwähnte.
„Es ist Zeit, daß Du Dich mit dem Burkhard fest versprichst!“ sagte sie; „Du wirst gar zu wunderlich!“
„Den Burkhard will ich nicht!“ stieß Eva hervor.
„Mir wär’ er auch zu roh,“ sagte die Bäuerin. „Gieb acht, der schlägt Dich in den ersten paar Tagen!“
„Ich will ihn nicht!“ wiederholte Eva.
„Nun ja, das wird sich schon finden,“ sagte ruhig die Bäuerin. „Nimm Dich nur beim Jakob in acht, wenn der merkt, wie sonderbar Du mit dem Rupert bist, wird er fuchswild.“
Jakob war aber nicht so blind, nichts zu merken. Er merkte sowohl Evas als Ruperts Liebe, aber seitdem er den letztern schätzen und achten gelernt hatte, konnte er nicht umhin, es höchst begreiflich zu finden, daß ein Mädchen ihn dem rohen, untauglichen [854] faulen und dabei schmächtigen, unansehnlichen Burkhard vorzog.
Ganz ohne jede Spur von „Fuchswildheit“ redete er eines Tages Rupert, der mit einem Sack Kartoffeln über den Hof ging, darauf an und erklärte ihm, daß auch er es viel lieber sehen würde, wenn die Eva ihn nähme und nicht den Burkhard, daß es aber doch nun einmal zu den Unmöglichkeiten gehöre, so lange er keinen eigenen Hof habe, und daß er es sich deshalb ja nicht einfallen lassen solle, mit der Eva je ein Wort von Liebe zu reden, da alsdann seines Bleibens auf dem Hofe nicht mehr länger sein könne. Rupert verlegte sich nicht aufs Leugnen, er gab finster zu, daß er Eva liebe und daß er wohl wisse, daß es ganz aussichtslos sei.
„Ihr könnt Euch darauf verlassen, Bauer,“ sagte er bitter, „ich weiß, was sich für einen Knecht gehört gegenüber einer reichen Bauerntochter. Zu einem eignen Hof kann ich’s ja doch mein Lebtag nicht bringen!“
Jakob zuckte die Achseln, „Ich glaub’s selbst nicht, daß Dein Großvater, der alte Schachtelschnitzer, große Schätze in der Truhe hat, und was Deine Mutter beim Lohnspinnen erspart hat, reicht auch wohl nicht aus zu einem eignen Hof, wenn’s auch kein besserer zu sein brauchte wie Euerer draußen in der Moorheide, wo keine Krähe sich satt fressen kann.“
„Na, Bauer, es könnte doch sein, daß der Moorheidehof einmal dem Rupert gehört,“ sagte ein Knecht, der schon eine Weile gehorcht hatte, indem er jetzt näher trat. „Gestern hat’s in der ‚Blauen Schwalbe‘ beim Kegelschieben Schlägerei gegeben, und da ist der Burkhard so übel zugerichtet worden, daß er daheim hinterm Ofen sitzt und vom Doktor hat vernäht werden müssen.“
„Das ist nicht das erste Mal,“ sagte Rupert, während Jakobs Augenbrauen sich in verhaltenem Zorne über den rauflustigen Neffen finster zusammenzogen. „Wer am Werktage zum Kegelschieben geht, trifft dort nichts als Tagediebe und schlechtes Gesindel, da giebt’s immer Keilerei.“
„Diesmal hat er aber einen so bösen Hieb bekommen, daß es das nächstemal nur ein bißchen tiefer zu gehen braucht, dann gehört der Hof dem Rupert,“ bemerkte der Knecht.
„Schweig’!“ fuhr ihn der Otterhofbauer an, froh, seinen Grimm an jemand auslassen zu können. „Setz’ dem Rupert nicht solche Mucken in den Kopf; über so was hat schon gar mancher so lang gegrübelt, bis er dann selber nachgeholfen hat und zum Mörder geworden ist.“
„Zum Mörder, der Rupert?“ rief der Knecht. „Nein, Bauer, so hab’ ich’s nicht gemeint, ich meine nur, es könnte sich ganz gut zufällig mit einem andern so fügen. Der Burkhard trinkt und rauft das ganze Jahr, da kann es doch leicht geschehen, daß einer einmal zu gut trifft. Zum Mörder braucht darum der Rupert nicht zu werden.“
Jakob entfernte sich brummend, und nun sagte der Knecht zu Rupert: „Weißt Du auch, worüber sie gestern in der ‚Blauen Schwalbe‘ gerauft haben? Es hatte einer den Burkhard damit gehänselt, daß Du sehr in Gunst ständest bei der Eva. Also nimm Dich vor ihm in acht! Dem, der das gesagt hat, hat er gleich mit dem Messer geantwortet, der versteht keinen Spaß!“
Rupert zuckte die Achseln und trug schweigend den Sack in den Keller hinab.
Scheu blieben auf dem Otterhofe die aus- und eingehenden Knechte vor den Fenstern der Stube stehen, in der sich der Bauer aufzuhalten pflegte, und horchten auf die lauten, zornigen Stimmen, die immer heftiger herausschallten. Burkhard war, nothdürftig genesen, zu seinem Oheim gestürzt und setzte diesen heftig darüber zur Rede, daß er eine Liebschaft zwischen dem Rupert und der Eva duldete. Der Otterhofbauer war aber nicht der Mann, der sich zur Rede setzen ließ, und Burkhard merkte alsbald, daß er mit seinen Drohungen und Vorwürfen an den Unrechten gekommen war; er fing an, sich vor Jakobs maßlosem Zorn zu ängstigen, und verfiel in ein scheues, finsteres Schweigen, während Jakobs donnernde Stimme noch lange im ganzen Hause gehört wurde.
„Und jetzt mach’, daß Du hinauskommst, Tagedieb, Taugenichts, Raufbold!“ schloß Jakob seine niederschmetternde Strafpredigt. „Die Ev’ nimmt keinen, der nicht auf eignem Grund und Boden sitzt, das weißt Du so gut wie ich, aber Dich nimmt sie auch nur, wenn Du ganz anders wirst. – Da kommt der Rupert,“ fuhr er fort mit einem Blick in den Hof. „Verhalt Dich still, verstanden? Kein Wort sprichst Du mit ihm, oder ich fahr’ Dir dazwischen, daß Dir Hören und Sehen vergeht!“
Rupert trat in die Stube und warf einen erstaunten Blick auf seinen mit verbissener, düsterer Miene in einer entfernten Ecke stehenden Bruder; er begrüßte ihn kurz und wandte sich dann zu dem Bauer, der noch immer aufgeregt hin und her ging.
„Meine Mutter war hier, Bauer,“ begann er; „sie sagt, der Herr Förster hätt’ erlaubt, daß sich mein Großvater droben an der Klausenschlucht Tannenzweige holt zur Streu für sein Stück Vieh. Der alte Mann kann nicht selbst hinauf, da wollt’ ich Euch bitten, daß Ihr mich auf ein paar Stunden hinauflaßt, die Mutter wünscht’s.“
„Tannenzweige zur Streu!“ höhnte Burkhard aus seiner Ecke. „Das giebt einen feinen Dünger! Aber freilich, für die paar Kartoffeln, die Dein Großvater zieht, wird er gut genug sein!“
„Mit Dir red’ ich nicht!“ sagte Rupert barsch.
„Meinst Du, ich ließ’ mir den Mund verbieten und noch dazu von einem Knecht?“ fuhr Burkhard auf und stürzte ohne weiteres mit erhobenen Fäusten auf Rupert los. Dieser packte ihn aber mit eisernem Griff an der Kehle und in der nächsten Sekunde lag Burkhard der Länge nach auf dem Boden. Gewandt wie eine Katze sprang er wieder auf, aber die rauhe, kraftvolle Faust des Otterhofbauern verhinderte die Fortsetzung des Kampfes. Er packte jeden der Gegner, die mit funkelnden Augen sich maßen, am Arm und hielt sie auseinander.
„Haltet Ruh’!“ donnerte er. „Rupert, der Burkhard ist mein Neffe und Du bist mein Knecht, das vergiß nie wieder! Geh’ jetzt, hol für Deinen Großvater die Tannenstreu, aber um sechs Uhr bist Du wieder hier und fährst die Dreschmaschine hinunter auf den Unterhof!“
Rupert ging schweigend hinaus.
„Du bleibst, bis er fort ist!“ sagte Jakob zu Burkhard. „Wenn Ihr jetzt hintereinander käm’t, so gäb’ es blutige Köpfe!“
„Wir werden schon hintereinander kommen, dafür steh’ ich Euch, Ohm!“ murmelte Burkhard, indem er mit feindseligem Blick in den Hof sah, wo Rupert, mit einer Axt, Strohseilen und einem schweren Hackklotz versehen, eben sich zum Fortgehen rüstete. Am Röhrenbrunnen stand Eva, die den Salat für das Abendessen wusch; Rupert trat auf sie zu, und Burkhard sah, wie sie ihm die Hand gab. Burkhards Augen funkelten und er preßte halblaute Drohungen zwischen den Zähnen hervor.
Aus einem der Ställe kam Magnus gelaufen.
„Wo gehst Du hin, Rupert?“ rief er, „nimm mich mit!“
„Das geht nicht,“ entgegnete Rupert freundlich, „ich gehe hinauf in die Klausenschlucht, wo die schwarzen Felsen und der große Wasserfall sind; da darfst Du nicht mitgehen. Das ist zu weit für Deine kurzen Beinchen und Du könntest auch in den Wasserfall stürzen.“
„Ich könnte mein Schiffchen hineinsetzen!“ rief Magnus mit leuchtenden Augen.
„Dein Schiffchen segelt viel besser im Brunnentrog oder dem Mühlbach“ erwiderte Rupert.
Magnus wollte noch weiter drängen, aber jetzt rief der Otterhofbauer durch das Fenster ihm in strengem Tone zu, er müsse da bleiben, die Klausenschlucht sei zu gefährlich für ihn.
Rupert verließ den Hof. Am Thore schaute er sich noch einmal nach Eva um, die, noch immer am Brunnen, Magnus’ stets schmutziges Gesichtchen mit einem Zipfel seiner Kittelschürze abwusch; sie hütete sich ängstlich, sich nach Rupert umzuwenden, denn sie hatte Burkhard am Fenster stehen sehen. Kurz darauf kam dieser am Brunnen vorüber; er blieb stehen und betrachtete Eva mit Blicken, aus denen weit eher Haß als Liebe sprach.
„Wann gehst Du denn wieder zum Tanz?“ fragte er in grobem Tone. „Das ist ja ganz wunderlich, daß Du da nie mehr zu sehen bist!“
„Es läuft ja immer auf eine Schlägerei hinaus,“ entgegnete Eva kurz; „daraus mach’ ich mir nichts. Du magst’s schon eher gewöhnt sein, drum geh’ Du nur hin!“
„Kommst Du nächsten Sonntag?“ fragte Burkhard in einem Tone heimlicher Drohung.
„Nein, da ist Kindtauf’ beim Rainbauer. Da geh’ ich hin.“
„So! Der Rainbauer ladet wohl auch die Knechte ein zur Kindtauf’, drum gehst Du hin?“ höhnte Burkhard grimmig.
[855] Eva zuckte die Achseln. Dann nahm sie ihre Salatschüssel auf, ließ Burkhard ohne Gruß stehen und ging ins Haus zurück. Burkhard sah ihr eine Weile nach, dann verließ auch er den Hof.
Im Hausflur begegnete Eva dem kleinen Magnus, der mit seinem Segelschiffchen zur Thür hinaus wollte.
„Wo gehst Du hin?“ fragte sie zerstreut, das Herz noch voll zorniger Erregung über Burkhards Reden.
„An den Mühlbach,“ erwiderte Magnus.
„Fall’ ja nicht hinein!“ warnte Eva.
„Nein, nein!“ versicherte Magnus.
Er schlüpfte eiligst hinaus.
Die Nebel, die aus den Wiesenthälern aufstiegen, verkündeten das Nahen des Abends.
Die Dreschmaschine, die um sechs Uhr in den Unterhof gefahren werden sollte, war aus der Scheuer herausgeschoben worden; aber nun stand sie verlassen im Hof und niemand dachte daran, die Pferde anzuschirren. Im Otterhofe herrschte Bestürzung und Aufregung, denn bereits seit zwei Stunden vermißte man den kleinen Magnus, und alle Bewohner des Hofes, alle Nachbarn waren unterwegs, um ihn zu suchen. Einige durchstöberten mit Stangen den nur wenige Fuß tiefen Mühlbach; das Wehr war gerade geschlossen gewesen und das Mühlrad gestellt, so daß bald festgestellt werden konnte, daß das Kind nicht darin lag; andere liefen die Landstraße entlang oder suchten im Walde. Der kleine Gänsehirte dachte an den Ententeich hinter der Hutwiese, und da Magnus mit seinem Segelschiffchen weggegangen war, eilte er dorthin.
Der Otterhofbauer, der mit angstgefoltertem Herzen es kaum über sich vermochte, äußerlich ruhig zu bleiben, kam auf den Gedanken, Magnus könnte seinem geliebten Rupert in die Klausenschlucht nachgefolgt sein, und machte sich schleunigst auf den Weg dorthin; er sagte keinem Menschen etwas davon, er wollte allein sein mit seiner Angst, deren er sich vor Zeugen geschämt hätte. Er hatte sein Weib zu einer Nachbarin sagen hören: „Der Jakob ist ganz auseinander vor Angst,“ und ihm, der so stolz auf seine kaltblütige Ruhe war, hatte das einen empfindlichen Stich ins Herz gegeben.
Die Ruhe, mit der inzwischen die Bäuerin die Kartoffeln zur Abendsuppe schälte und in Scheiben in den Topf schnitt, war keine erkünstelte; es kam ja hundertmal vor, daß Kinder sich verliefen, es war ganz in der Ordnung, daß man sie suchte, aber wozu diese erregten Gesichter, das Hin- und Herlaufen, diese Aufregung, als wäre etwas Unerhörtes geschehen? Es war gut, dachte die Bäuerin, daß sie vernünftiger war! Sie allein war daheim geblieben und that gelassen die liegengebliebene Arbeit; auch die Abendsuppe ihres Söhnchens, die Eva bereits gekocht hatte, hielt sie sorgfältig warm und hütete sie vor dem Ueberkochen.
Jetzt sah sie den kleinen Gänsehirten in größter Eile über den Hof laufen. „So, der wird ihn wohl gefunden haben,“ dachte sie, den Topf mit Magnus’ Suppe etwas zur Seite schiebend, um sie abkühlen zu lassen. Magnus aß nichts Heißes.
„Bäuerin, Bäuerin!“ rief athemlos der Gänsehirt, „der Magnus liegt drüben am Ententeich, dicht am Rande. Er ist ganz naß und zittert so, daß er nicht gehen kann. Zum Tragen ist er mir zu schwer, kommt schnell!“
„Bleib’ hier in der Küche, Peterle, es ist sonst niemand daheim,“ sagte die Bäuerin, sich die Hände an der Schürze abwischend. „Wenn der Speck geschmolzen ist, kannst Du die Zwiebeln hineinthun.“
So schnell, wie ihre Behäbigkeit es erlaubte, eilte sie über die Hutwiese, über welcher der Nebel dick und feucht lag, auf den Ententeich zu; an seinem mit einzelnem Strauchwerk bepflanzten Rand fand sie Magnus, ganz in sich zusammengekauert, mit nassen Kleidern, zitternd und wimmernd.
„Was hast Du denn angestellt, Du böser Bub’?“ fragte sie, indem sie ihn in die Arme nahm; „bist in den Teich gefallen?“
Magnus’ Zähne klapperten, er gab keine Antwort.
„Wirst Dich recht verkältet haben,“ sagte die Mutter, und noch schneller, als sie gekommen war, eilte sie auf den Hof zurück. Dort zog sie Magnus aus, rieb ihn mit warmen Tüchern, steckte ihn in sein mit vielen heißen Steinkrügen erwärmtes Bett, gab ihm die bereitgehaltene Suppe und hieß ihn schlafen. Da sie sah, daß er zum Erzählen zu erschöpft war, fragte sie ihn nicht weiter aus; es war ja auch ganz unwichtig, zu erfahren, was ihm geschehen war. Nach einigen Minuten ging sie leise zur Kammerthür und sah nach, ob Magnus schlief; er lag wach, erhitzt und aufgeregt in seinen Kissen.
„Mutter, Mutter, geh nicht fort!“ rief er, als er die Bäuerin erblickte.
„Warum nicht?“ entgegnete sie. „Du fürchtest Dich doch nicht? Ich will mein Spinnrad holen und mich zu Dir setzen.“
„Nein, nein, bleib hier!“ sagte Magnus aufgeregt und weinerlich. „Hol Dein Spinnrad nicht! Wenn Du hinausgehst, kommst Du nicht wieder herein!“
Die Bäuerin setzte sich auf eine Truhe und blieb ruhig sitzen, bis tiefe, ruhige, wenn auch etwas heisere Athemzüge ihr ankündigten, daß der kleine Ausreißer fest eingeschlafen war.
Peter war mittlerweile herumgelaufen und hatte die Nachricht von Magnus’ Rückkehr verbreitet. Zum Otterhofbauer wäre sie wohl nicht gedrungen, denn an die Klausenschlucht dachte niemand; dieser aber war nach einiger Zeit von selbst umgekehrt, um, von planloser Unruhe getrieben, noch einmal, ehe er weiter ging, auf dem Hofe nachzusehen, ob man Magnus nicht etwa gefunden habe. Eine Centnerlast fiel ihm vom Herzen, als er erfuhr, daß sein Liebling ruhig schlafend und unverletzt im Bette liege; am liebsten hätte er laut aufgeweint oder laut aufgejubelt; aber keins von beiden that er und versagte es sich sogar, in die Kammer zu gehen und sich an dem Anblick des wiedergefundenen Kindes zu weiden; es galt jetzt doppelt, allen Leuten, die ihm die Angst angemerkt hatten, Ruhe zu zeigen.
Er bemerke sofort die Dreschmaschine und fragte unwillig, ob Rupert noch nicht zurückgekommen sei. Die Knechte wußten nichts, sie waren bloß herumgelaufen, Magnus zu suchen. Da vor Einbruch der Nacht viel versäumte Arbeit nachzuholen war, so war niemand da, um die Dreschmaschine auf den Unterhof zu fahren, und nach einer halben Stunde ungeduldigen Wartens machte sich Jakob zum zweitenmal auf den Weg zur Klausenschlucht, um nachzusehen, wo Rupert so lange bliebe. Bei dessen Pünktlichkeit und Pflichttreue war anzunehmen, daß ihm ein Unfall zugestoßen sei; dennoch ging Jakob viel leichteren Herzens als vorhin den steilen, felsigen Pfad hinauf, der in die Klausenschlucht führte.
Es war eine unheimliche, öde Gegend; der Pfad führte hoch hinauf in den Wald oberhalb des Wasserfalles und wurde nur zu Zeiten, wenn dort oben Holz gefällt wurde, von Waldarbeitern betreten, sonst war er stets unbegangen. Eng wand er sich zwischen dem hohen, aus Felsstücken und Geröll bestehenden Abhang, auf dessen Höhe düstere Tannenwaldungen sich meilenweit erstreckten, und dem mit starkem Gefälle gurgelnd und rauschend herunterschießenden Wasser empor. Oberhalb des Wasserfalles wurde die Schlucht breiter und der Pfad führte vom Wasser ab, seitwärts in den Tannenwald, dessen dunkle Tiefen ins Unendliche zu führen schienen.
Bis zum Wasserfall aber brauchte Jakob nicht zu gehen. Schon halbwegs traf er mit Rupert zusammen. Dieser saß auf einem Stein am Rande des Wassers, in gebeugter müder Haltung, mit bleichem verstörten Gesicht, über welches Blut herabrieselte; auch seine Kleider und seine Hände waren blutig und seine von Blut verklebten Haare zeugten von einer Wunde am Kopfe. Er achtete nicht auf Jakobs Nahen und blickte nicht zu ihm auf, als dieser vor ihm stehen blieb.
„Na, Rupert, was ist Dir denn geschehen?“ fragte der Bauer in mehr unzufriedenem als mitleidigem Tone.
„Nichts,“ erwiderte Rupert, dumpf vor sich hinstarrend.
„Nichts? Du blutest aber!“
Rupert fuhr sich mit der Hand nach dem Kopfe, als müßte er sich überzeugen, daß er verwundet sei. Dann zog er sein Taschentuch hervor und begann es zusammenzulegen, um sich damit zu verbinden.
„Komm nach Haus!“ sagte Jakob, „Du bist schlimm zugerichtet und hast Deine fünf Sinne nicht mehr beisammen. Kannst Du nicht einmal sagen, was Dir geschehen ist?“
„Ich bin gestürzt,“ erwiderte Rupert mit matter Stimme. „Sagt es dem Vater und der Mutter nicht!“
Ruperts verstörtes Wesen fiel dem Bauer auf; er sah ihn scharf an und fragte mit finster gekrauster Stirn:
„Sag’, Bursche, Du hast doch nicht etwa Streit mit dem
[856][857] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [858] Burkhard gehabt? Hat der niederträchtige Raufbold seinen eigenen Bruder …“
„Nein, nein!“ unterbrach ihn Rupert hastig; „ich bin gestürzt. Sagt’s dem Vater nicht!“
„Steh auf und komm nach Hause!“ wiederholte Jakob.
Rupert erhob sich wankend. Aber der kraftvolle Arm des Otterhofbauern war eine wirksame Stütze, und so gelangte der Verwundete in verhältnißmäßig kurzer Zeit auf den Hof. Die Knechte und Mägde liefen aus allen Ecken zusammen und umringten ihn mit lauten Schreckensrufen.
„Hat das der Burkhard gethan?“ riefen mehrere mit Empörung.
„Nein, ich bin gestürzt,“ erwiderte Rupert.
„Du hast aber eine Wunde an der Stirn und eine am Hinterkopf,“ sagte einer der Knechte, „Du kannst doch nicht auf den Vorder- und Hinterkopf zugleich gefallen sein?“
„Wo hast Du Dein Handwerkszeug, Deine Axt und Deinen Klotz?“ fragte ein anderer.
„Das liegt alles oben in der Klausenschlucht,“ erwiderte Rupert; „thut mir den Gefallen und holt es mir!“
Eben fuhr in seinem Korbwägelchen der Dockenförther Arzt am Hofthore vorüber. Rasch eilte Eva, die bisher wie gelähmt vor Schreck, stumm und regungslos dagestanden hatte, dem leichten Gefährt nach. Der Arzt hörte ihr angstvolles Rufen und hielt sein Pferd an. Athemlos und mit Thränen in den Augen erzählte ihm Eva, daß Rupert gestürzt und schwer verletzt sei.
„So such’ nach reinem alten Leinen und reiße es in lange Streifen!“ sagte der Arzt, und, sein Pferd wendend, fuhr er in den Otterhof.
Rupert war in seine Kammer geführt worden, und der Otterhofbauer, der bei Unglücksfällen stets selbst zugriff, ohne sich erst umzusehen, ob sich kein anderer dazu verstünde, wusch eigenhändig die Kopfwunden, während die Mägde frisches Wasser herbeischafften und das blutige hinaustrugen. Der Arzt kam hinzu, verband die Wunden mit schneller, geschickter Hand und sagte, sie hätten nichts zu bedeuten.
„Er ist aber nicht recht bei sich,“ bemerkte der Bauer. „Er ist ganz duselig und dämelig und kann nicht einmal erzählen, wie er eigentlich gestürzt ist.“
„Gestürzt ist er allerdings und zwar auf den Hinterkopf,“ sagte der Arzt. „Rupert, wo hast Du die Stirnwunde her?“
Rupert lag auf dem Bette mit geschlossenen Augen, in einer Art Halbschlummer; das Verbinden hatte ihn sehr erschöpft. Er öffnete jetzt die Augen und murmelte: „Ich bin gestürzt.“
„Du hast einen gewaltigen Schlag gegen den Kopf erhalten und bist hingestürzt,“ sagte der Arzt. „Wer hat Dir den Schlag gegeben?“
Rupert schwieg.
„Der Schlag rührt von etwas Stumpfem her,“ sagte der Arzt, „von einem Hammer zum Beispiel.“
„Ich glaube, er hat mit dem Burkhard Streit gehabt,“ bemerkte der Bauer. „Man merkt ihm an, daß er etwas nicht sagen will. Die zwei sind gewiß hintereinander gekommen!“
„Die eigenen Brüder!“ sagte der Arzt. „Da kann ich ja gleich auf den Moorheidehof fahren und nachsehen, ob der Burkhard auch Löcher im Kopfe hat!“
„Ich bitte, Herr Doktor, sehen Sie sich erst noch den Magnus an,“ sagte zögernd der Bauer. „Er ist heute nachmittag in den Ententeich gefallen.“
„So? Nichts als Unglück heute bei Euch, Bauer! Na, ein kühles Bad wird dem strammen Bürschchen nichts anhaben können! Ich will aber doch nach ihm sehen.“
Er folgte dem Otterhofbauer in die Kammer, wo Magnus fest schlief. Der Arzt befühlte und behorchte ihn und konnte dem angstvoll zusehenden Vater die Versicherung geben, daß nur etwas Schnupfen zu befürchten sei.
„Mit Rupert wird es auch bald besser werden,“ bemerkte er im Weggehen. „Er ist noch betäubt von dem heftigen Schlage, er wird bald wieder zu klarerem Bewußtsein kommen.“
Er bestieg sein Korbwägelchen und fuhr davon, während Jakob die Pferde aus dem Stalle zog, um selbst die Dreschmaschine auf den Unterhof zu bringen, wo am andern Morgen Punkt vier Uhr das Dreschen beginnen sollte, die Maschine also geheizt und zum Betriebe fertig sein mußte.
Da erschienen am Hofthore ein paar dunkle, in Lumpen gehüllte, kräftige Gestalten, die in der mittlerweile hereingebrochenen Dunkelheit ein unheimliches Aussehen hatten; sie traten näher, und Jakob erkannte, daß es Waldarbeiter waren, wie man sie in der Klausenschlucht und an anderen schwer zugänglichen Stellen der großen Waldungen anzutreffen pflegt, in denen die besseren Holzknechte nicht arbeiten wollen.
„Guten Abend, Bauer,“ sagte der eine, seinen breiten Filzhut lüftend. „Wir kommen vom Moorheidehof; wir haben dem Bauern Burkhards neuen grünen Hut mit den Pfauenfedern gebracht, der droben in der Schlucht am Wasserfall lag. Der Moorheidler sagt aber, seit vielen Stunden sei Burkhard fort und noch nicht wieder daheim gewesen, und er läßt bei Euch anfragen, Bauer, ob er vielleicht hier im Otterhofe sei.“
„Und hier,“ sagte ein anderer, während der Otterhofbauer verneinend den Kopf schüttelte, „ist Ruperts großes Gartenmesser, das lag auch am Rande des Wasserfalles, und hier sind seine Axt und sein Hackklotz. Aber der ist ganz voll Blut und sein Messer auch!“
Den Otterhofbauer überrieselte es kalt. Wie ein Blitz durchfuhr ihn der Gedanke, daß hier etwas Schreckliches an den Tag komme, und mit einem Gefühle des Abscheus nahm er die blutbefleckten Gegenstände in Empfang.
„Die Bündel Tannengezweig, die Rupert zusammengebunden hatte, haben wir zum alten Schachtelschnitzer geschafft,“ bemerkte einer der Waldarbeiter.
„Gut,“ sagte Jakob kurz, „ich will Euch einen halben Tagelohn bezahlen. Dafür geht Ihr zurück nach Dockenförth und sagt meinem Schwager, Burkhard sei nicht hier.“
„Das wird er nicht anders erwartet haben,“ sagte der erste Waldarbeiter. „Er meinte gleich, Burkhard sei in den Wasserfall gestürzt. Gerade oberhalb des stärksten Gefälles, wo die Steine den Bach noch dämmen, lag sein Hut am Wasser und Ruperts Messer daneben.“
„Ja, Ruperts Messer daneben!“ wiederholte ein anderer mit Betonung; „wir haben’s dem Moorheidler gar nicht gezeigt.“
„Geht!“ befahl der Otterhofbauer. „Geht!“ donnerte er mit der Stimme eines gereizten Löwen, als die Leute noch zögerten. Wie gescheuchte Unglücksraben stoben sie davon und verschwanden im Dunkeln.
Der Bauer stürzte in die Stube, nahm das Oellämpchen von der Wand und ging damit in Ruperts Kammer.
Dieser lag nicht mehr auf dem Bette; er hatte Licht gemacht, saß auf einem Schemel und starrte still vor sich hin; er fuhr auf, als der Bauer polternd hereinstürzte und ihn mit eisernem Griffe am Arme packte.
„Mensch, jetzt gesteh’, was geschehen ist!“ schrie Jakob. „Burkhard ist in der Klausenschlucht gewesen! Warum hast Du’s geleugnet? Ihr seid aneinander gekommen, denn Dein blutiges Messer, siehst Du, das Messer hier, hat neben seinem Hut gelegen! Warum hast Du’s geleugnet?“
Rupert war leichenblaß geworden und heftig machte er sich aus Jakobs Händen los.
„Bauer, Ihr fragt … Ihr fragt so – als glaubtet Ihr … als glaubtet Ihr, ich hätte dem Burkhard etwas angethan, als hätte ich ihn gemordet!“ rief er mit unheimlich blitzenden Augen.
Den Bauer überlief es wieder kalt.
„An welcher Stelle hast Du gearbeitet droben in der Schlucht?“ fragte er mit erzwungener Ruhe.
„Im Gehölz unterhalb vom großen Wasserfall, hundert Schritt seitwärts über dem Weg,“ antwortete Rupert, Jakobs Gesicht mit finsteren Blicken prüfend.
„Und hart am großen Wasserfall, da wo der Bach sich vor dem Sturze staut, hat Deines Bruders Hut gelegen! Und Du hast Burkhard nicht gesehen?“
„Ich habe ihn gesehen, aber ich wollte es nicht sagen,“ entgegnete Rupert nach einigem Zögern. „Er kam herauf und fragte mich, ob ich gutwillig auf die Eva verzichten wolle, sonst wolle er mir jetzt die Fahrkarte in die Hölle besorgen. Ich saß oben auf einer Tanne und, da er nicht klettern kann, so lachte ich und sagte, er solle mich doch holen. Da nahm er den Klotz, auf dem ich meine Zweige zerhackte, und warf ihn mir so furchtbar an den Kopf, daß ich herunterstürzte, und dann weiß ich nichts mehr von mir.“
„Warum hast Du das nicht gleich so erzählt?“ fragte Jakob kalt. „Warum hast Du geleugnet, daß Du mit dem Burkhard Streit gehabt hast?“
„Weil sich’s der Vater immer so zu Herzen nimmt, wenn [859] mir der Burkhard etwas Böses thut,“ erwiderte Rupert. „Und dann war mir’s auch noch so wüst im Kopf, wie Ihr mich in der Schlucht gefunden habt … Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, damit der Vater nichts erfährt.“
„Und was ist aus Burkhard geworden?“
„Das weiß ich nicht. Ich war ja wie todt!“
„Er scheint in den Wasserfall gestürzt zu sein. Er ist nicht nach Hause gekommen und sein Hut lag am Wasser.“
Rupert schüttelte den Kopf.
„In den Wasserfall? Wie denn? Er war ganz nüchtern, und der Wasserfall liegt ja ein gut Stück weiter oben. Der Weg macht da eine starke Biegung seitwärts in die Waldungen, da kann selbst im Dunkeln niemand ins Wasser gerathen.“
„Wenn man ihm nicht hineinhilft!“ stieß Jakob mit heiserer Stimme hervor; „Du sagst die Wahrheit nicht, Rupert! Wenn der Burkhard im Wasser gefunden wird, wenn er nicht doch noch nach Hause kommt, dann sag’ ich Dir’s ins Gesicht, daß Du Deinen eigenen Bruder erstochen und ins Wasser geworfen hast!“
Ruperts Augen starrten mit gläsernem, hohlem Blick in das hochgeröthete Gesicht des Otterhofbauern; wie Angst und Schrecken sprach es aus diesen Augen und wie gelähmt erschien auf Augenblicke seine ganze Gestalt. Dann aber sprang er auf, und in fiebernder Hast, ohne ein Wort zu reden, riß er seine an der Wand hängenden besseren Kleidungsstücke von dem hölzernen Kleiderrechen herunter und schleuderte alles in die Kiste, die seine sonstigen Habseligkeiten enthielt. Dann nahm er die Kiste wie eine Feder auf seine Schulter, stieß den Otterhofbauer zur Seite und trat unter die Thür. Dort aber blieb er stehen, und mit unheimlich aus dem bleichen Gesicht herausblitzenden Augen rief er zurück: „Ich geh’ nach Hause, Bauer! Wo man mich für einen Brudermörder hält, bleib’ ich nicht!“
„So geh!“ sagte Jakob in hartem Tone, „ich halte Dich nicht!“
Rupert ging ohne weiteren Gruß hinaus, aus dem Hause, aus dem Hofe; er warf keinen Blick auf Evas erhelltes Fenster, nur auf die Dreschmaschine warf er einen, deren rauchloser Schlot drohend in die Nacht hineinragte und vor der die Pferde geduldig standen, auf das Anschirren wartend. Ihn ging das nichts mehr an. Auf der finstern Landstraße kamen ihm Bauern aus Dockenförth eiligen Schrittes entgegen, sie trugen große Stangen und Laternen; er drückte sich seitwärts in den tiefen Graben und ließ sie vorüberziehen, ebenso den Arzt in seinem Korbwägelchen und den Gendarmen, der in kurzem Galopp auf Wieselbach zusprengte.
„Sie wollen den Burkhard suchen,“ murmelte Rupert halblaut vor sich hin. „Ob sie ihn im Wasser finden werden?“
Er dachte nicht daran, sich den Suchenden anzuschließen. Seine Wunde schmerzte furchtbar, Fieber verwirrte ihm die Sinne, so daß er, als die Kiste ihm zu schwer wurde, dieselbe ohne weiteres auf der Landstraße stehen ließ. So kam er in tiefer Nacht auf dem Moorheidehof an.
Am andern Morgen wurde Burkhards Leiche im Wasser gefunden; er hatte eine klaffende Wunde am Kopfe und noch viele am Körper. Am Abend, einem trüben, regenschweren Herbstabend, erschien der Gendarm auf dem Moorheidehof und verhaftete Rupert wegen dringenden Verdachtes, daß er den Burkhard im Streit erstochen und die Leiche in den Wasserfall geschleppt habe.
Eine gebrochene, wankende Greisengestalt begleitete den bleichen, finster dreinschauenden Rupert zum Leiterwagen, auf welchem dieser neben dem Gendarmen zur Stadt fahren sollte. Es war der Moorheidler, der unter der Wucht des so plötzlich über ihn gekommenen furchtbaren Geschicks bis zur Unkenntlichkeit gealtert war. Seine Hände zitterten, als er des Sohnes Hals zum Abschied umklammerte, aus seinen sanften Augen strömten die Thränen unaufhaltsam. Er küßte Rupert mehrere Male, stand lange an dem in den Angeln niederhängenden Hofthore und schaute dem Leiterwagen nach, der durch die feuchten Dünste der Moorheide dahinfuhr. An einem der kleinen Giebelfenster des Hauses stand Gertrud und schluchzte in ihre Schürze hinein.
Die Leute, die im Abendzwielicht dem Wagen begegneten, wichen ihm scheu aus und warfen verstörte Blicke auf den regungslos dasitzenden Rupert. Man zweifelte nicht daran, daß Rupert des Mordes in der That schuldig, daß der Verlauf seiner Begegnung mit Burkhard so, wie er ihn erzählte, erlogen sei. Warum hatte er anfangs, als die Leute ihn gefragt, ob Burkhard ihn verwundet habe, verneinend geantwortet? Warum war er so verstört, so sonderbar gewesen? Und vor allen Dingen, wie sollte Burkhard in den Wasserfall gerathen sein? Ruperts eigene Verwundung sowohl als sein blutiges Messer bewiesen, welchen blutigen Kampf die Brüder dort oben in der Schlucht mit einander gekämpft hatten, da war es nur allzu glaubhaft, daß Ruperts überlegene Kraft seinen Bruder das Leben gekostet hatte. Als aber der Leiterwagen, der den Verhafteten zur Stadt brachte, am Otterhofe vorüber fuhr, stürzte Eva heraus und drückte heftig Ruperts Hand.
„Ich weiß, daß Du’s nicht gethan hast!“ rief sie und ihre Augen strahlten im Hochgefühle, ihre Liebe jetzt bethätigen zu können. „Laß nur die Leute reden und glauben, was sie wollen, ich weiß, daß Du nicht lügst!“
Rupert erwiderte den Händedruck und sagte mit trübem Lächeln und zuckenden Lippen: „Wenn Du nur dabei bleibst, Ev’! Wer weiß, was die klugen Leute vom Amt alles herausbringen! Vielleicht drehen und wenden sie’s so, daß sie mich zum Mörder machen.“
„Wenn Du Dich nicht selbst dazu machst, das Amt macht Dich nicht dazu,“ sagte der Gendarm streng.
„Komm ins Haus, Ev’, daß Dich der Bauer nicht sieht!“ mahnte eine der Mägde ängstlich.
„Sorg’ mir für den Vater und für die Mutter, so lang ich fort bin, Eva!“ rief ihr Rupert noch zu.
Der Leiterwagen holperte davon, die dunkelnde Landstraße entlang. In den kleinen Bauernhäusern am Wege erloschen allmählich die Lichter, nächtliche Stille senkte sich auf das Thal, auf die immer mehr in die Ferne schwindenden zerklüfteten Felsmassen des Gebirges; laut und brausend aber schoß in der Tiefe das Gewässer dahin, der Bach aus der Klausenschlucht.
Drei Monate blieb Rupert in Untersuchungshaft, dann kam die Verhandlung vor dem Schwurgerichte, zu der viele Zeugen aus Wieselbach und Dockenförth geladen wurden. Sie mußten über das Verhältniß der beiden Brüder zu einander berichten, über Drohungen, die der eine oder der andere etwa hatte laut werden lassen. Für Rupert lauteten die Berichte günstig, der Anklage auf vorsätzlichen Mord wenigstens entzogen sie jede Begründung; er hatte nie Drohungen gegen seinen Bruder ausgestoßen, während ein Dutzend Zeugen sich vorfand, die von Burkhard die Absicht hatten aussprechen hören, Rupert demnächst „die Fahrkarte in die Hölle zu besorgen“, genau die Worte, die Rupert in seiner Aussage über den Vorgang in der Klausenschlucht zu Protokoll gegeben hatte. Für den letzteren belastend war aber sein heißer Wunsch nach einem eigenen Hof, seine bedrückende Stellung als fremder Leute Knecht, sowie der Umstand, daß er, so oft sein Bruder ihn thätlich angegriffen, diesen niemals geschont, sondern ihm alles so gründlich heimgezahlt hatte, daß auch jetzt die Wahrscheinlichkeit eines Todtschlages nicht ausgeschlossen war. Früher hatte Rupert keine so tiefgehenden Ursachen gehabt, Burkhard zu hassen, wie später, als ihm dieser seinen „Schatz“ streitig machte, ihn zum Dienen zwang, ihm sein ganzes Leben verbitterte und verdarb, indem er ihm das väterliche Haus verschloß. Daher war es wohl anzunehmen, daß Rupert die Gegenwehr, zu welcher der Bruder ihn nöthigte, willkürlich oder unwillkürlich zu weit getrieben hatte. Dazu kam die Aussage des Otterhofbauern und seiner Knechte über Ruperts verstörtes und auffälliges Wesen an jenem Unglücksabend und über seine sich widersprechenden Berichte. Man merkte bei den Aussagen des Otterhofbauern nichts von dem Wohlwollen, welches er Rupert in der letzten Zeit erzeigt und auch aufrichtig für ihn gehegt hatte. Jetzt war Rupert für ihn nur noch der Mörder seines Neffen, seines todten und daher, als nunmehr unschädlich, wieder zu vollen Ehren angenommenen Neffen; Rupert war nur noch der Sohn der Lohnspinnerin, der den Sohn der Schwester des Otterhofbauern erstochen hatte. Sein einziger Gedanke war jetzt Rache. Er betonte daher auch in seinem Berichte immer wieder das blutige Messer, das am Rande des Wasserfalles gelegen hatte, und die von etwas Spitzem, Scharfem herührenden Wunden, die beim Leichenbefunde an Burkhards Körper wahrgenommen worden waren.
Diese beiden scheinbar belastenden Umstände wurden aber vom Gerichtshofe nicht in Betracht gezogen, denn nach dem Gutachten der Sachverständigen konnten die Wunden ebensogut von den im Wasser des Klausenbaches vorhandenen spitzen, scharfen Felsstücken herrühren, und was das Messer betraf, so war es unzweifelhaft, [860] daß es nur von einer blutigen Hand ergriffen, nicht aber zur Ausführung eines tödlichen, also tiefen Stiches verwendet worden war.
Es war schwer, Klarheit in die Sache zu bringen. Wie war Burkhard ins Wasser gerathen? Und wessen blutige Hand hatte das Messer am Rande des Wassers liegen lassen?
Nach Ruperts Aussage hatte er das Messer benutzt, um die Tannenzweige abzuschneiden, da er in dem dichten Geäste für das Schwingen einer Axt keinen Spielraum gehabt hatte; dann war er, von Burkhards Wurf getroffen, mit dem Messer herabgestürzt. Burkhard mußte ihm darauf das Messer genommen und sich selbst und das Messer dabei mit Blut befleckt haben. Und dann? Dann mußte er davongelaufen und vom Pfade ab den felsigen Abhang hinaufgeklettert und in den tosenden Wasserfall gestürzt sein! Noch war die Annahme möglich, daß er auf die andere Seite des Wassers hatte gelangen wollen, daß er die nur theilweise überflutheten Felsstücke hatte betreten wollen, hinter denen sich das Wasser vor dem Sturze staute. Wozu aber über den Bach? Ihm, dem rohen, gewaltthätigen Raufbolde konnte der Anblick eines blutenden Gegners kein solches Entsetzen einjagen, daß er kopflos fortgestürmt wäre, um auf schwindelndem gefährlichen Wege das wilde jenseitige Ufer zu erreichen, wo er doch nicht bleiben konnte.
Für die Wieselbacher und Dockenförther Bauern, für fast alle Bewohner des Gebirgsthales war die unaufgeklärte Frage, wie Burkhard ins Wasser gerathen sei, der Beweis, daß Rupert ihn hineingeworfen habe; für das Gericht war sie es nicht.
Entscheidend war zuletzt die Aussage des Dockenförther Arztes, der sich alle andern Sachverständigen mit ihrem Gutachten anschlossen. Danach mußte ein Wurf, wie er Rupert getroffen hatte, unbedingt sofortige und langandauernde Bewußtlosigkeit zur Folge haben, er konnte nicht anders als völlig bewußtlos von der Tanne herabgestürzt sein; dafür sprach auch der Ortsbefund, bei dem man deutlich im blutgetränkten Moose erkannt hatte, daß der Kopf nur an einer Stelle gelegen haben konnte. Dafür sprach auch ferner der betäubte Zustand, in dem Rupert noch lange nachher gewesen war, in dem ihn der Otterhofbauer und der Arzt gefunden hatten; er hatte daran gemahnt werden müssen, sich den Kopf zu verbinden, und hatte später, noch immer halb unzurechnungsfähig, seine Kleiderkiste auf offener Landstraße stehen lassen. Damit war sein verstörtes, auffälliges Wesen zur Genüge erklärt, ferner aber auch damit, daß er seinem Vater Burkhards Unthat hatte verbergen wollen und darum zu leugnen versuchte, überhaupt mit ihm zusammengekommen zu sein.
Das Gutachten sämmtlicher Aerzte über die unbedingt das Bewußtsein raubende Beschaffenheit der Kopfwunde führte den Gerichtshof und die Geschworenen zu der Erkenntniß, daß Rupert nach Empfang derselben nicht imstande gewesen war, seinen Bruder anzufallen ober gar einen schweren Körper den Abhang hinauf ins Wasser zu schleppen. Ebenso unmöglich war das Umgekehrte, daß Rupert nach vollbrachter That verwundet worden sei. Die Geschworenen verneinten sämmtliche Schuldfragen und Rupert wurde sofort freigelassen.
Der Winter war vergangen und unter Stürmen und gewaltigem Aufruhr der Elemente bereitete sich die Auferstehung der Natur vor; in der Gegend, in der unsere Geschichte spielt, ist dieselbe kein sanftes Erwachen zu neuem Leben, kein fröhliches Hervordrängen der grünen jungen Keime zum warmbelebenden Kusse der Sonnenstrahlen, sondern ein Ringen mit furchtbaren Gewalten, die das sich emporkämpfende Leben zurückzwingen möchten in die Tiefen der Erde. Und dies Leben selber erscheint nicht in lieblicher Gestalt, sondern mit Gewitterstürmen, mit Donner und Blitz besiegelt das Frühjahr seinen mühsam errungenen Sieg.
Ein noch düstereres Bild als gewöhnlich bot die Moorheide in dieser Jahreszeit, wo der schmelzende Schnee sie ganz unwegsam machte und wo in den Steinbrüchen in der Nähe des Gehöftes das schmutzige Wasser brausend herabstürzte. Der Moorheidehof war nur durch die hölzerne Nothbrücke zu erreichen, die ihn mit der Landstraße verband.
Selten aber krachte das morsche Balkenwerk dieser Nothbrücke unter dem Fuße eines Nahenden. Der Moorheidehof mit seinen düsteren, baufälligen Gebäuden und seiner öden Lage sah nicht nur aus wie von der übrigen Welt ausgestoßen, er war es auch wirklich. Das „Amt“ hatte Rupert nicht zum Mörder gemacht, wie dieser es befürchtet hatte, die Volksstimme aber machte ihn dazu. Die Frage, wie Burkhard in das Wasser gerathen sei, war unbeantwortet geblieben, und den Bauern war es nicht aus den Köpfen zu bringen, daß ihm Rupert hineingeholfen haben müsse.
Rupert merkte auf Schritt und Tritt, daß er geächtet war; er fühlte und hörte es aus allem heraus, ohne daß es ihm irgend jemand gesagt hätte, ohne daß ihm eine Handhabe gegeben worden wäre, jemand darüber zur Rede zu stellen. Niemand sprach den Verdacht mit klaren Worten aus, niemand nannte das Gespenst beim Namen, das auf der Schwelle des Moorheidehofes hockte, aber gemieden und geächtet war es fortan, dies unheimliche Haus, in dem jeder Winkel, jedes Geräth, der leere Platz am Herd und der leere Platz am Tisch den Mörder an den Gemordeten mahnen mußten.
Aber die Bewohner des unheimlichen Hauses ließen sich von dem allem nicht beugen und niederdrücken. Erlöst von der marternden Angst, Rupert könnte schuldig gesprochen werden, und erlöst von Burkhards roher Tyrannei, schien der Moorheidler neu aufzuleben. Wohl grämte es ihn tief, daß Rupert so furchtbar angeschuldigt wurde, aber er war es nicht gewohnt, Ansprüche auf ein ungetrübtes Glück zu erheben; er ertrug klaglos den auf ihm lastenden Bann, äußerte nie ein einziges Wort darüber, und je mehr die Außenwelt ihn von sich ausschloß, desto mehr genoß er den Frieden seiner Häuslichkeit in der öden Moorheide. Seine Hauptsorge war, daß dem Rupert die Gerüchte, die über ihn gingen, einmal zu Ohren kommen könnten, denn er glaubte – oder redete es sich vielleicht auch nur ein –, daß dieser es gar nicht merke, wie man ihn fürchtete und mied. Freilich fiel es ihm manchmal im stillen auf, daß Rupert selbst unwillkürlich allem aus dem Wege ging, was die Leute genöthigt hätte, Farbe zu bekennen; er gab ihnen niemals Gelegenheit dazu, gegen ihn freundlich oder unfreundlich zu sein. Er wollte den Augenblick hinausschieben, der doch einmal kommen mußte, wo der ihn bisher nur im Dunkeln umschleichende, wesenlose Gegner ans helle Tageslicht treten, wo der Verdacht, in Worte gefaßt, ihm entgegengeschleudert werden würde; er wollte ihn hinausschieben, denn er fühlte, daß er es nicht ertragen würde, das Wort „Mörder“ zu hören. Und doch sehnte er sich wieder danach, sich einmal Luft zu machen, sehnte sich danach, diesen abscheulichen Verdacht in der Person seiner Verbreiter zu Boden zu schlagen!
Er hatte seit seiner Entlassung aus dem Gefängnisse den Otterhof nicht wieder betreten, Eva nicht wieder gesehen. Und doch hätte er jetzt um sie anhalten können, er war der Erbe eines Bauernhofes und dadurch ihr ebenbürtig, und mit ihrem Geld, das sie, wie sich die Bauern ausdrücken, gleich im Strickbeutel mitbrachte, konnte er den Moorheidehof ausbauen, erneuern, vergrößern, die Steinbrüche ausnützen und schließlich aus dem düsteren Gehöfte eine stattliche Besitzung machen, eine würdige Wohnstätte für die reiche Bauerntochter.
Aber er fühlte nur allzu deutlich, daß er in der Person des Otterhofbauern seinen erbittertsten Gegner zu suchen habe, denjenigen, dessen gewichtiger Einfluß den Verdacht gegen ihn nährte und wach erhielt, der es nicht litt, daß die Gerüchte schwiegen und in Vergessenheit geriethen.
Er blieb daher dabei, den Otterhof nicht zu betreten, so sehr auch sein Herz sich danach sehnte, Eva wiederzusehen, ihr zu danken für den treuen Abschiedsgruß, den sie ihm damals auf seinen traurigen Weg mitgegeben hatte. Den Dockenförther Arzt aber, für den er, seit sein Gutachten ihn gerettet hatte, wärmste Dankbarkeit und Freundschaft hegte, hatte er gebeten, doch einmal Gruß und Dank an Eva zu übermitteln, wenn er am Otterhof vorüberführe. Dieser hatte die Botschaft getreulich ausgerichtet und von Eva einen herzlichen Gegengruß zurückgebracht nebst der Versicherung, daß bei ihr noch „alles beim alten sei“. Das war für Rupert Sonnenschein und Lebenslust gewesen. Die böse Meinung, welche die andern von ihm hatten, erregte seinen Grimm, kränkte und schmerzte ihn aber nicht; wenn Eva, wenn seine Eltern ihn für einen Mörder gehalten hätten, so hätte ihm, meinte er, das Herz darüber brechen können. Da diese aber von seiner Unschuld überzeugt waren, da auch der Dockenförther Pfarrer, der Lehrer, der Arzt und noch manche andere Persönlichkeiten, auf die er etwas hielt, durch ihre Besuche im Moorheidehofe [861] ihre Theilnahme für dessen Bewohner an den Tag legten, so war Rupert gutes Muthes, arbeitete tüchtig, freute sich über die zufriedene Miene des Moorheidlers und über Gertruds heitere Ruhe und hoffte auf die Zukunft, die alles gut machen werde. Der Arzt, der sich einmal als ein zuverlässiger Liebesbote erwiesen hatte, vermittelte von da an häufig Grüße zwischen Rupert und Eva, und diese Grüße waren nicht nur der einzige Sonnenstrahl, der in Ruperts Leben fiel, sie waren auch Evas einzige Freude. Denn seit Burkhards Tod war ihre Stellung im Otterhofe eine sehr peinliche geworden. Sie war die einzige, die an Ruperts Unschuld glaubte, und sie machte kein Hehl aus ihrer Ueberzeugung; so hatte sie viel unter offenen Angriffen und versteckten Anspielungen zu leiden, und ein Glück war es für sie, daß Jakob verboten hatte, Rupert überhaupt zu erwähnen, so daß sie in des Bauern Gegenwart wenigstens Ruhe hatte. Auch Magnus’ sehnsüchtiges Fragen nach Rupert war durch Jakobs barschen Befehl, nie wieder von ihm zu sprechen, abgeschnitten worden.
Der kleine Magnus ging zu seines Vaters größtem Stolze seit Ostern in die Schule. Indessen nur ein paar Tage hatte Jakob die Freude, ihn mit dem Schulranzen wandeln zu sehen, dann brach eine Scharlachepidemie aus und die Schule wurde schleunigst geschlossen. Aber die Krankheit trat gutartig auf, Todesfälle kamen nicht vor. Nur ein einziges Opfer schien der Würgengel fordern zu wollen – und das war der kleine Magnus. Bei diesem allein trat die Krankheit gleich anfangs mit einer Gewalt auf, der kein Einhalt zu thun war. Das Fieber ließ sich nicht bändigen, nur abschwächen auf ein paar kurze Stunden. Des Kindes zähe Lebenskraft leistete lange Widerstand, dann schien sie urplötzlich zusammenzubrechen.
Der Otterhofbauer verging vor Angst und Schmerz, In diesem Kind vereinigte sich alles, was seinem Leben Werth gab, nichts galt ihm mehr etwas, wenn es starb. Er flehte täglich den Arzt an, ihm zu helfen, doch dieser zuckte die Achseln; er flehte den Pfarrer an, für das Kind zu beten, und dieser versprach es mit traurigem Lächeln. Wenn aber dann der Pfarrer in milder Weise versuchte, den Vater darauf vorzubereiten, daß es vielleicht Gottes Wille nicht sei, einem solchen Gebete Erhörung zu schenken, so wurde der Geängstigte so wild, als wäre er von Sinnen, und stieß in seiner haltlosen Verzweiflung die gotteslästerlichsten Reden aus.
Wenn Gott nicht helfen konnte oder wollte, so half vielleicht ein anderer, den anzurufen es Jakob immer gegraut hatte, bis ihm der letzte Hoffnungsfunke, daß Magnus sich doch noch erholen würde, erlosch. Gott war durch nichts zu bestechen, jener andere aber verkaufte seine Hilfe um den Preis einer Seele, und Jakob achtete sein Seelenheil für nichts angesichts seines sterbenden Kindes. Sein Glaube war nicht stark genug, um ihn zu stützen. so wurde er eine Beute des Aberglaubens.
An einem stürmischen Frühlingsabend kam der Arzt in seinem Korbwägelchen aus den tiefer liegenden Ortschaften und hielt auf seinem Wege nach Dockenförth am Otterhofe an. Er wurde von Eva in die Kammer des kleinen Magnus geführt, aber zu ihrem Schrecken fanden sie das Bettchen leer und niemand im Zimmer.
„Er wird doch nicht in der Fieberhitze herausgesprungen sein?“ rief der Arzt.
„Ach, dazu hatte er die Kraft gar nicht mehr!“ sagte Eva traurig. „Er lag so still, so still da, kein Fingerchen bewegte er mehr und machte die Augen gar nicht mehr auf.“
[862] „Wer war bei ihm?“ fragte der Arzt erregt.
„Der Bauer selber. Ach! was mag der mit ihm angestellt haben, er war den ganzen Tag so verstört, so … ich weiß nicht, wie ich’s nennen soll!“
„Wir müssen ihn suchen, Eva!“ entschied kurz der Arzt.
Da erschien unter der Thür lautlos eine unheimliche Gestalt, lang und hager, mit wirrem Haar und langem, grauem, struppigem Bart. Eva fuhr zusammen, sie erkannte den alten Gemeindehirten, vor dem sich alle Kinder und Frauen fürchteten, weil er aussah wie ein Zauberer und von ihm das Gerücht ging, daß er mit Mächten in Verbindung stehe, die mit Blut unterschriebene Pakte forderten.
„Was wollt Ihr hier, Hoppe?“ fragte Eva, „schickt Euch der Bauer her mit einer Botschaft?“
„Nein,“ sagte der Alte mit seiner tonlosen Stimme und doch voll Eifer, „aber ich hab’ ihn gesehen, den Otterhofbauer mit dem kleinen Buben. Der braucht jetzt keinen Doktor mehr, der Kleine, Sie können schon ruhig nach Hause fahren, Herr Doktor.“
Eva preßte erbleichend die Hand auf ihr Herz, das vor Schreck stillstehen wollte, und der Doktor fragte hastig:
„Ist das Kind gestorben?“
„Das nicht, und es wird auch nicht sterben; der Schwarze reitet’s, Ihr werdet’s sehen! In den Moorheidehof trägt der Bauer das Kind. Er hätt’ es schon längst hintragen sollen; er hat sich zeitlebens wenig um den Herrgott gekümmert, der Otterhofbauer, da wird sich der Herrgott auch nicht um ihn kümmern, da hilft ihm am ersten noch der mit dem Pferdehuf.“
„Ist er rasend?“ rief der Arzt, indem er zur Thür stürzte, „in die Abendluft, in den Sturm und die Feuchtigkeit hinaus trägt der hirnverbrannte Mensch das scharlachkranke Kind?“
„Und warum gerade in den Moorheidehof?“ fragte Eva bebend, die sich plötzlich des Glaubens erinnerte, daß jede Krankheit weichen müsse, wenn die Hand eines Mörders sich dem Kranken aufs Herz lege. Sie ahnte den Zusammenhang zwischen diesem abergläubischen Wahne und der verzweifelten Handlung des Otterhofbauern.
„Weil da einer ist, der helfen kann!“ flüsterte der Gemeindehirte. „Es sagt’s keiner, aber es weiß es jeder, daß der Rupert helfen kann, wenn er will. So vielen Kranken kann einer das Leben retten, als er Mordthaten begangen hat – freilich, es muß ihm einer helfen, den man lieber nicht beim Namen nennt.“
„Rupert ist kein Mörder!“ schrie Eva auf. „Du grundgütiger Herrgott! Was sind die Menschen so schlecht!“
Auch sie stürzte hinaus und kam noch ans Hofthor, ehe der Arzt davonfuhr.
„Nehmen Sie mich mit auf den Moorheidehof!“ rief sie athemlos.
„Was willst Du dort?“ entgegnete der Arzt.
Sie wußte es selber nicht und stieg doch eiligst in das Korbwägelchen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, daß sie dabei sein müsse, wenn Rupert des Mordes beschuldigt wurde, sie wollte es mit ansehen, wie er den Verleumder von sich stieß. Sie wollte zu ihm halten vor Jakobs Augen.
„Ich hoffe, wir holen ihn unterwegs ein,“ sagte der Arzt, „es ist am Ende ganz gut, daß Du mitkommst und ihm zureden hilfst. Er scheint nahe daran zu sein, den Verstand zu verlieren.“
Der Moorheidler und Rupert saßen indessen, von der Tagesarbeit ausruhend, auf der Ofenbank, beide zufrieden ihre Pfeifen rauchend; Gertrud bereitete in dem unteren Theile des großen Kachelofens, der bis in den Mai hinein geheizt werden mußte, die Pfannkuchen für das Abendessen; auf einem Schemel saß die Magd und spann. Der Tisch war schon mit sauberen Linnen und blanken Zinnschüsseln gedeckt und die darüber hängende Lampe verbreitete ihr schwaches Licht in dem großen, niedrigen Raume. Draußen pfiff der Sturm über die Moorheide und wie der schwere Flügelschlag eines riesigen Vogels klang sein Brausen um das freistehende Haus.
„Böses Wetter, böses Wetter!“ sagte kopfschüttelnd der Moorheidler. „Und ’s kommt noch schlimmer. Droben im Gebirge wird’s böse Schneewehen geben. Dein Vater muß zu uns herunterkommen, Weib, eh’ der Schnee schmilzt. Seine Hütte steht zu dicht an den Matten des Hochachtners, und so beim Frühlingsanfang ist der Hochachtner ein böser Berg!“
„Hast Du die Laterne an der Nothbrücke angezündet, Rupert?“ fragte Gertrud. „Wenn bei dem Wetter einer ins Moor geräth, hört man ihn nicht rufen.“
„Die Laterne brennt,“ erwiderte Rupert, „aber wer wird wohl noch herkommen?“
„Ist auch das Hofthor fest zu?“ fragte der Moorheidler. „Ich glaube, ich hör’ es knarren.“
„Verriegelt ist es nicht, aber fest im Schloß,“ gab Rupert zur Antwort.
„Horch, knarrt es nicht?“ sagte der Moorheidler aufstehend.
„Der Sturm rüttelt daran,“ meinte Rupert. Aber draußen rasselte die Kette des aus seiner Hütte stürzenden Hofhundes und dann vernahm man ein kurzes, scharfes Bellen, dem wieder das Rasseln der Kette folgte; der Hund war zurückgekrochen, denn in der kräftigen, in einen Mantel gehüllten Mannesgestalt, die durch das mit gewaltigem Ruck aufgeworfene Hofthor kam, hatte er einen langjährigen Bekannten entdeckt und sich beruhigt.
„Wer ist da?“ rief der Moorheidler aus dem Fenster.
Aber schon in der nächsten Sekunde ward die Thür aufgerissen und der Otterhofbauer stand in der Stube. Mit einem unterdrückten Schrei sprang die Magd von ihrem Schemel auf, während die andern den bleichen, unheimlich verwildert aussehenden Mann mit erschreckten Blicken anstarrten.
„Guten Abend, Schwager!“ sagte schüchtern der Moorheidler, „ich bitte Dich, setz’ Dich. Wie geht’s Deinem Jungen? Und was für einen großen Packen hast Du unter Deinem Mantel? Leg’ ihn doch ab, Schwager!“
Der Otterhofbauer schlug stumm den Mantel zurück – es war der kleine Magnus, den er trug. Kaum athmend, mit festgeschlossenen Augen, schwarzblauen, von Fieberhitze verbrannten Lippen und todtenstarren Zügen lag das Kind in seinem Arm. Entsetzen erfaßte die Anwesenden bei diesem Anblick, sie glaubten alle, das Kind sei gestorben und Jakob irrsinnig geworden.
„Barmherziger Herrgott!“ rief der Moorheidler, die Hände zusammenschlagend. „Bist Du auch ganz bei Dir, Schwager? Wozu bringst Du das Kind hierher?“
„Lebt es noch?“ fragte Rupert und trat näher, um Magnus zu betrachten.
Mit verzehrendem Blick bohrten sich Jakobs hohlliegende Augen in Ruperts Züge, mit brennend heißer Hand ergriff er dessen Handgelenk.
„Es lebt noch!“ preßte er hervor, „Du kannst’s noch retten! Rett’ es mir, Rupert!“
„Ich?“ sagte Rupert und blickte den Bauer mit großen Augen an. „Für wen haltet Ihr mich? Ich bin kein Doktor und keiner, der Krankheiten besprechen kann.“
„Ich will’s nicht sagen, wofür ich Dich halte,“ sagte Jakob, der Ruperts Hand mit eisernem Griffe festhielt, „will’s jetzt nicht sagen und auch in Zukunft nicht, niemals, niemals! Und wenn ich’s jemand sagen höre, so will ich dem einen Denkzettel geben, daß er’s niemals wiedersagt! Nur rett’ mir den Buben!“
„Ich verstehe Euch nicht!“ sagte Rupert, „Ihr seid von Sinnen.“
„Leg’ Deine Hand auf des Kindes Herz, Rupert, so rettest Du es mir, und ich dank’ es Dir ewig, ewig!“ rief Jakob in jammervoll flehendem Tone, der bei dem hochmüthigen, kaltblütigen Mann erschütternd wirkte, weil er so offenbar aus gefoltertem Herzen kam; „weiter nichts, nur Deine Hand leg’ ihm aufs Herz!“
Der Moorheidler und Gertrud zuckten zusammen, Rupert prallte zurück und ein düsteres Feuer blitzte in seinen schwarzen Augen auf; urplötzlich begriff er, was Jakob meinte. Mit einem Ruck entriß er ihm seine Hand und wies auf die Thür.
„Hinaus!“ sagte er mit heiserer Stimme und gewaltsamer Fassung, „fort! Mehr weiß ich Euch nicht zu sagen.“
„Geh’, geh’, Schwager!“ bat der Moorheidler sanft. „Wir würden Dir von Herzen gern helfen, wenn wir könnten, aber daß Du glaubst, der Rupert hätt’ einem das Leben genommen, das ist schlecht von Dir, Schwager!“
Die Röthe der tiefsten Entrüstung schoß dabei dem Moorheidler in das runzelige Gesicht.
„Nichts glaub’ ich, nichts, gar nichts!“ stieß Jakob in wachsender Aufregung hervor; „ich weiß, daß der Rupert ein tüchtiger, fleißiger Mensch ist, und das Amt hat ihn ja auch freigesprochen. Aber es ist ja auch nicht viel, was ich verlange … [863] Allmächtiger Herrgott, Du wirst mir doch das Kind nicht sterben lassen, Rupert …“
Heftig wurde die Thür aufgerissen; der Arzt stürzte in die Stube und hinter ihm erschien Eva.
„Da ist er wirklich!“ rief der Arzt. „Otterhofbauer, seid Ihr vom Satan besessen, daß Ihr das Scharlachkind in stürmischer Nacht spazieren tragt? Wenn es noch in dieser Stunde stirbt, so habt Ihr’s auf dem Gewissen und könnt nachher herumgehen und mit Eurer Mörderhand Kranke heilen!“
Mittlerweile war Eva zu Rupert herangeschlichen, und verstohlen, aber heftig, drückte sie ihm die Hand.
„Immer, wenn sie mich zum Mörder machen wollen, bist Du da und zeigst mir, daß Du mich nicht im Stiche läßt!“ sagte er leise und innig; „das ist lieb und gut von Dir, Eva! Aber nun mach’, daß Du den Bauer heimbringst mit seinem armen Wurm!“
„Oheim, kommt heim!“ bat Eva und legte ihre zitternde Hand auf Jakobs Arm.
„Ich rühr’ mich nicht von der Stelle, keinen Schritt weich’ ich!“ schrie Jakob laut, Magnus krampfhaft festhaltend, der die Augen weit aufriß und, von Frost geschüttelt, sich auf den Armen seines Vaters bäumte. „Rupert, hast Du denn kein Erbarmen mit dem unschuldigen Kind? Und Du brauchst doch nur die Hand auszustrecken, um es zu retten!“
Er ergriff Evas Hand und fuhr fort:
„Die Ev’ geb’ ich Dir und alles, was Du sonst noch haben willst, mir ist die ganze Erde nichts mehr werth. wenn das Kind nicht mehr darauf ist, und mir ist’s dann gleichgültig, ob Gott oder der Teufel mich abholt aus diesem elenden Leben.“
„Versündige Dich nicht, Schwager!“ bat der Moorheidler, von Grauen gepackt; „bet’ zum Herrgott, daß er Dir das Kind erhält und daß er Dir verzeiht, denn Du weißt ja nicht, was Du thust!“
„Schwager!“ rief Jakob, der jetzt mit beiden Armen den in qualvoller Unruhe sich wälzenden kleinen Kranken festhalten mußte, „hab’ ich Dir nicht immer geholfen und beigestanden, hab’ ich …“
„Du hast’s wohl meistens gut gemeint, Schwager,“ sagte der nachsichtige Moorheidler ausweichend.
„Allmächtiger Himmel!“ schrie Jakob plötzlich auf, „ich glaub’, es geht zu Ende! … Magnus, Magnus, mein kleiner Bub’, das darfst Du Deinem Vater nicht anthun! Du darfst nicht sterben!“
Es entstand eine tiefe Stille, jeder horchte auf die röchelnden Töne, die sich der schwer arbeitenden kleinen Brust entrangen; die weit aufgerissenen, starren Augen hatten einen Ausdruck irrer Angst.
Der Arzt wollte den Kleinen aus des Vaters Armen nehmen, aber Jakob hielt ihn krampfhaft fest und wandte sich wieder zu dem finster dreinschauenden Rupert, der sich in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen hatte.
„Hilf, hilf!“ flehte ihn Jakob an; „ich will Dir alles thun, Dich schätzen und hochhalten, nur leugne jetzt den Mord nicht! – oder leugne ihn, wenn Du willst, aber streck’ Deine Hand aus …“
„Schweig, Ehrabschneider!“ schrie Rupert und stürzte mit wutverzerrtem Gesicht auf Jakob los und schüttelte ihn so, daß die silbernen Knöpfe seiner Jacke kirrend aneinander schlugen. Aber der verzweifelte Otterhofbauer war halb sinnlos vor Angst, der thätliche Angriff und die Beschimpfung kamen ihm nicht zum Bewußtsein, er fühlte nur die Weigerung heraus. Er warf sich seinem einstmaligen Knechte zu Füßen und bestürmte ihn aufs neue mit Bitten und Versprechungen, bis ihm die Stimme versagte und er in Thränen ausbrach. Dem Arzte schnitt dieser Anblick ins Herz.
„Thu’ es doch!“ sagte er zu dem verwirrt und verstört dastehenden Rupert; „sonst verliert er den Verstand!“
„Thu’ es nicht!“ schrie der Moorheidler auf. „Was der Teufel die Seinigen lehrt, soll ein Unschuldiger nicht nachmachen!“
Rupert hatte auf die Mahnung des Arztes hin schon die Hand bewegt, jetzt zog er sie wieder zurück.
„Ich kann nicht … steht auf, Bauer!“ preßte er hervor.
„Rett’ mir das Kind, Rupert!“ keuchte Jakob.
„Thu’s!“ drängte leise der Arzt. „Es wird nichts helfen, aber es kann doch auch nichts schaden, und ich sag’ Dir, er wird sonst toll, noch eh’ das Kind todt ist. Vorwärts, daß die Geschichte ein Ende nimmt!“
Der Arzt hatte, seitdem er durch sein Gutachten vor Gericht den Rupert gerettet, großen Einfluß auf ihn. Jetzt streckte Rupert mechanisch die Hand aus und legte sie auf Magnus’ Brust, wo sie Jakob ergriff und auf das Herz lenkte, sie fest darauf drückend. Aber schleunigst zog sie Rupert zurück, er bereute schon, nachgegeben zu haben.
„Es wird nichts helfen!“ murmelte er.
Jakob sprang auf.
„Ob es hilft oder nicht,“ rief er und bedeckte Magnus’ glühendes Gesichtchen mit Küssen; „ich dank’ es Dir ewig, und magst Du zehnmal ein Mörder sein!“
Hermann Heiberg.
Auf meinen täglichen Spaziergängen durch die Leipziger- und Friedrichstraße in Berlin, wo die gewaltigen Wellen des Weltverkehrs auf- und niederrollen, begegne ich sehr häufig einer auffallenden Erscheinung, einem ungewöhnlich großen, schlanken und doch kräftig gebauten Mann, der sich in merksamer Weise von den vorüberhuschenden Alltagsgestalten abhebt, einem Mann mit schmalgeformtem, scharf hervortretendem Gesicht, langer nervös witternder Nase und unheimlich klugen, freundlich blickenden Augen. In ruhiger Gelassenheit schreitet er durch die Straßen, die Art seines Ganges, die Weise, mit der er den Hut lüftet oder seinen näheren Bekannten zunickt, verrathen seine geschmeidige Formen und den kundigen Weltmann. Wäre mir der Mann persönlich unbekannt geblieben, hätte ich kaum der Versuchung widerstehen können, ihn mir als Modell zu leihen und zum Mittelpunkt einer interessanten Novelle zu machen; das gütige Schicksal aber bewahrte die deutsche Litteratur vor dieser Bereicherung, indem es mich mit der Thatsache rechtzeitig vertraut werden ließ, daß der Mann selber Novellen schreibe. Für den Ausfall meiner Geschichte wurde ich jedoch aufs schönste entschädigt, denn ich lernte in meinem „Modell“ einen der liebenswürdigsten und geselligsten Menschen kennen. Ja, ich gehe soweit, zu behaupten, daß er der liebenswürdigste und geselligste Schriftsteller von ganz Berlin ist. Nach diesem Satze weiß jedermann, der nur einigermaßen die Berliner literarischen Kreise kennt, wen ich meine, auch wenn dessen Name nicht an der Spitze dieses Aufsatzes stände. Die Verehrer der Heibergschen Schriften werden darüber einigermaßen erstaunt sein, denn das alte, längst erprobte Wort, daß die Autoren das Gegentheil ihrer Bücher seien, paßt auf ihn keineswegs. Jene köstliche Behaglichkeit, jener zur künstlerischen Vollendung sich steigernde Lebensgenuß, jenes heißblütige und warmherzige Erfassen der Außenwelt – herrliche Eigenschaften, die uns den Menschen Helberg so lieb und werth machen, sie blühen uns mit nicht geringerer Kraft aus seinen Werken entgegen, von denen ja auch die Leser der „Gartenlaube“ den Roman „Ein Mann“ in diesem Jahrgange kennengelernt haben.
Hermann Heiberg ist in der modernen Litteratur eine ganz eigene Erscheinung. Ich wüßte augenblicklich keinen zweiten gegenwärtigen deutschen Schriftsteller zu nennen, der in das Weltgetriebe nach seinen verschiedensten Richtungen hin so genau Einblick zu nehmen Gelegenheit gehabt hätte, als ihn. Das Schicksal hat ihn dabei keineswegs mit Sammethandschuhen angefaßt und erst nach vielen bitteren Prüfungen und Erfahrungen rang er sich zu jener geläuterten, sonnighellen Weltanschauung empor, in welcher alle seine Werke wurzeln. Hermann Heiberg ist der Zeit seines ersten Auftretens nach einer unserer jüngeren Schriftsteller: im Jahre 1881 erschien er mit seinen „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland“ und binnen wenigen Jahren gelang es ihm, in der deutschen Litteratur einen vordersten Rang und die wärmste Verehrung der weitesten Leserkreise sich zu erobern. Er sprang aber nicht als unklarer Jüngling, sondern als ausgereifter Mann in die Litteratur hinein.
Er wurde am 17. November 1840 in Schleswig als der Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, der sich um die Verbreitung deutscher Ideen im Norden große Verdienste erworden hat, geboren. Der Dichter erzählt von sich, daß er ein übermüthiger, zu tollen Streichen stets aufgelegter Knabe gewesen sei, und mit einem gewissen schmunzelnden Behagen stellt er eine Liste jener Possen auf, die er seinen Lehrern gespielt. Er sagt, der Kitzel, seine Umgebung in Gang, Haltung und Worten zu kopiren und karikieren, sei ihm angeboren gewesen. Wem fallen dabei nicht seine entzückenden, rührend heiteren Kindergeschichten ein? Auch in allerlei Leibesübungen brachte er es zu einer großen Gewandtheit: er war ein Schwimmer, lag mit dem Segelboot auf dem Wasser, konnte reiten und kutschiren, spielte Komödie, sang, blies auf der Flöte, schwang das Tanzbein, war überhaupt von der Natur zu allem leidlich veranlagt mit – einer Ausnahme: „Mathematik,“ seufzte er, „war und blieb mir ewig ein chinesisches Alphabet!“ Diese Mittheilungen sind für denjenigen, welcher dem Zusammenhang zwischen der Person eines Autors und dessen Büchern nachspürt, von Wichtigkeit,
[864] denn die Kinder- und Hundegeschichten Heibergs gehören zum Eigenartigsten, Ursprünglichsten und Ergreifendsten, was wir diesem Autor überhaupt verdanken, und zeigen, daß einem Künstler nur dann eine vollendete Leistung gelingt, wenn er seine Stoffe, seine Stimmungen und Scenerien aus dem unmittelbaren Born der Wirklichkeit schöpft, und der zwölfjährige Heiberg, der den unwiderstehlichen Drang empfindet, trotz der schlimmen Erfahrungen, die sein Rücken dabei machte, alles zu kopiren und karikieren, bereitete sich schon damals für seinen Beruf vor, das Leben darzustellen. Seine Leser werden übrigens finden, daß Heiberg die Gabe, falkenschnell zu beobachten und die Linien der Wirklichkeit ein wenig ins Lächerliche und Drastische zu verschieben, bis heute sich ungeschmälert bewahrt hat.
Familienverhältnisse zwangen den heranwachsenden Jüngling, von seiner Absicht, Jura zu studieren, abzustehen; nachdem er die Schule verlassen, wurde er im Jahre 1857 Buchhändler, entwickelte als Verwalter und Begründer größerer Unternehmungen eine rege Thätigkeit. Er erwarb eine eigene Druckerei und betrieb einen umfangreichen Schulbücher-Verlag; aber nicht lange duldete es ihn in dieser Thätigkeit, er verkaufte sein Besitzthum und siedelte nach Berlin über. Hier trat er an die Spitze einer Reihe bedeutender Anstalten: er leitete den geschäftlichen Theil der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, dann übernahm er die Direktion der „Spenerschen Zeitung“, und als dieses Blatt einging, wurde er in die Direktion der Preußischen Bankanstalt berufen. „Ich befaßte mich,“ sagt Heiberg, „mit dem eigentlichen Bank-, wenn auch nicht mit dem Börsengeschäft, lernte das Versicherungs-, Terrain-, Häuser- und Hypothekenwesen kennen, das Getriebe und Treiben der großen Emissionsbanken, die vielseitigen kaufmännischen Spezialitäten, die Fabrik- und Bergwerksverhältnisse und machte während längerer Jahre viele ausgedehnte Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Holland, Dänemark, Belgien, England und Frankreich.“
Als Heibergs Bank infolge des Zusammenbruchs einer Stettiner Firma in Liquidation treten mußte, stellte er sich auf eigene Füße und befaßte sich mit der Einleitung zur Finanzirung von Sekundäreisenbahn- und Tramway-Unternehmungen, aber er zog sich schließlich infolge übler Erfahrungen und nach Verlust der Früchte seines Fleißes von allen geschäftlichen Dingen zurück – und schrieb, „um seine mißmuthigen Gedanken zu tödten“, sein erstes Buch.
Dieses erste Buch waren die „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland“. Es wirkte überraschend und verblüffend wie etwas vollständig Neues, bisher Ungesagtes. Niemand konnte ahnen, daß diese Skizzen, Feuilletons, Plaudereien und Stimmungsbilder das Ergebniß einer mißmuthigen Laune waren, denn sie quellen über von romantisch schimmernden, bizarren, drolligen, gemüthstiefen Einfällen, die in ihrer Zusammenstellung und Gesammtheit einen bestrickenden Zauber auf den Leser ausüben. Das Geheimniß dieser Wirkung besteht vielleicht darin, daß sich das Buch wie ein allerliebster, ausgelassener Backfisch giebt, in Wahrheit aber die Seele und den Verstand eines ausgereiften Menschen besitzt. Die „Plaudereien“ lenkten mit einem Schlage die Aufmerksamkeit der tonangebenden Kritik auf das neue Talent, und nun hatte der ehemalige Bankdirektor sich selbst gefunden. Er stand auf einem Gebiete, auf welchem er seine glänzende Begabung ungehemmt entfalten konnte. Im Laufe von kaum zehn Jahren gingen aus seiner Hand ungefähr zwei Dutzend Bände hervor, von denen ein ansehnlicher Theil einen bleibenden Werth besitzt und seinem Urheber einen unverrückbaren Ehrenplatz in der deutschen Litteratur sichert.
Das Ungestüme, Springende, Improvisirende seines Wesens, wie es in den „Plaudereien“ und in „Ausgetobt“, einer Geschichte von entzückender Frische und Laune, zutage tritt, finden wir in den folgenden Werken gemildert und geglättet. Mit überraschender Schnelligkeit hat sich Heiberg die Regeln und Handgriffe der modernsten Erzählungskunst angeeignet und meistert sie mit künstlerischer Fertigkeit. Dieser Vorzug allein hätte ihn durchaus nicht zu einem verwöhnten Liebling des Publikums gemacht, wenn er nicht noch andere gewichtige Eigenschaften besessen hätte. Es ist eine psychologisch merkwürdige Thatsache, daß Hermann Heiberg, dessen Schicksale eine Reihe hastig abwechselnder Gegensätze und aufregender Erlebnisse bilden, das deutsche Familienleben in seiner süßen Traulichkeit, innigen Behaglichkeit und keuschen Weise so anmuthig, so farbenleuchtend und so anschaulich schilderte, wie es nur wenigen gegenwärtigen Autoren gelungen ist. Hermann Heiberg hat sich durch diese Seite seines Wesens zum Familienschriftsteller im vorzüglichen Sinne aufgeschwungen. In letzter Zeit haben gallige und verbitterte Kritiker dem Familienroman den Krieg erklärt. Ist es aber gerecht, weil es einige schlechte Schriftsteller giebt, welche in Bezug auf Handlung und Charakteristik überspannte und unmögliche Familienromane verbrochen haben, gleich die ganze Gattung zu verurtheilen? Ich für mein Theil kann mir kein schöneres und edleres Ziel denken, als auf Tausende junger, unbefangener Herzen zu wirken, im engen Kreise der Familie gelesen zu werden und dort den Sinn für das Gute und Wahre in der Kunst zu wecken. Man nehme zum Beispiel eine der Heibergschen Novellensammlnngen („Acht Novellen“, „Ein Buch“, „Ernsthafte Geschichten“, „Neue Novellen“, „Liebeswerben“, welche wie seine sämmtlichen Schriften und zwar in wiederholten Auflagen bei Wilhelm Friedrich in Leipzig erschienen sind) zur Hand, und man wird sich erfreuen und erquicken an der Fülle lieblicher Familienbilder, während solche in seinen Romanen, wie die Leser es ja aus „Ein Mann“ wissen, einen wesentlichen Bestandtheil der Handlung selbst bilden.
Die größten Erfolge erntete Heiberg indessen nicht mit Novellen, sondern mit Romanen. So stattlich die Anzahl derselben auch ist, in jedem einzelnen läßt der Autor seine Begabung von einer neuen Seite spielen, in jedem einzelnen behandelt er ein anderes Problem, und seine Phantasie ist unerschöpflich in der Erfindung spannender, eigenthümlicher und ergreifender Auftritte. Zeigte sich in der „Goldenen Schlange“ noch ein allzu vorwiegend romantischer Zug, so bewegte sich der Autor in dem meisterhaften „Apotheker Heinrich“ vollends auf dem Boden der poetischen Wirklichkeit. Viele halten diesen Roman für Heibergs hervorragendstes Werk. Es ist schwer, diese Frage entscheidend zu beantworten, denn wir besitzen aus seiner Feder noch viele Werke, die auf die Leser keine geringere Wirkung ausübten. Glühende Leidenschaft athmen „Esthers Ehe“ und „Ein Weib“, in welchen beiden Dichtungen Hermann Heiberg sich als großen Kenner des weiblichen Geschlechtes erweist; aufregende tragische Ereignisse stehen hier dicht neben idyllischen Ruhepausen und halten den Leser von Anfang bis zum Schluß in unablässiger Spannung. Einen überraschenden Gegensatz zu diesen dramatisch belebten Romanen bildet die „vornehme Frau“. Eine eigene Goldglanzstimmung, wie über einer Rheinlandschaft, geht durch dieses edle und vornehme Werk. Hermann Heiberg versteht es eben, aus der Fülle seiner Erfahrungen heraus die verschiedensten, räthselhaftesten Frauencharaktere zu gestalten und sie in die Mitte einer eigenartigen Handlung zu rücken. In dem zweibändigen Roman „Der Januskopf“ erweitert er den Horizont seiner bisherigen Schöpfungen in bedeutsamer Weise: er entrollt uns ein großes, farbenreiches Bild aus dem sozialen Leben der Gegenwart. Das Wesen des Buchhandels, der durch Tausende von Kanälen in die breiten Massen des Publikums den stolzen Strom deutscher Poesie und Wissenschaft lenkt, erfährt durch Heiberg eine vertiefte, plastische und lebenstrotzende poetische Ausgestaltung. In seinen weiteren Werken, „Menschen untereinander“, „Kays Töchter“, „Schulter an Schulter“, „Dunst aus der Tiefe“, „Die Spinne“, zeigt er sich immer mehr und mehr als ein Erzähler, in dessen Schöpfungen das moderne Leben sich nach den verschiedensten Richtungen hin widerspiegelt.
Im Laufe seiner Thätigkeit entwickelte sich in ihm eine Seite seines Talentes, welche ihn zu einer litterarischen Besonderheit machte. Die Berliner Lokalbelletristik, welche in den letzten Jahren üppig in die Halme geschossen ist, besitzt in ihm einen ihrer begabtesten und erfolgreichsten Vertreter. Man braucht nur Romane wie „Esthers Ehe“, „Die Spinne“, „Dunst aus der Tiefe“ zu lesen, um sofort zu erkennen, wie viele Berliner Farben Heiberg auf seiner Palette hat, und wie er es versteht, durch Mischung derselben die feinsten Stimmungen hervorzubringen. Heutzutage ist es Mode geworden, bei jedem erfolggekrönten Autor zu fragen, ob er Realist oder Idealist ist. In richtiger Auffassung des Wesens der echten Kunst hat sich Heiberg von allen Auswüchsen des französischen Naturalismus ferngehalten und nimmt sozusagen, wie jeder wahre und selbständige Künstler, eine vermittelnde Stellung ein. Was er gestaltet, ist poetisch und wirkt wie ein in eine höhere Sphäre emporgehobenes Stück Leben. Er schafft getreu nach der Natur, aber er veredelt und durchgeistigt sie.
Blätter und Blüthen.
Der Zählkommissar im Hinterhause. (Mit Abbildung S. 861.) Es ist keine Kleinigkeit, Millionen zu zählen. Ein zungenfertiger Mensch kann bei deutlicher Aussprache der Zahlen in einer Minute etwa bis 200 gelangen. Er braucht also, um eine Million zu zählen, rund 5000 Minuten oder 83 1/3 Stunden oder 8 volle Arbeitstage. Wollte er bis zur Höhe der letzten Bevölkerungszahl des Deutschen Reiches mit rund 47 Millionen weiterzählen, so müßte er sich schon 3916 2/3 Stunden bemühen, er würde also schon in einem ganzen Jahre nicht mehr fertig. Und nun sollten am 1. Dezember d. J. diese 47 Millionen sammt dem Zuwachs seit 1885 nicht bloß gezählt, sondern auch aufgeschrieben, nach Namen, Stand, Religion und allerlei anderen Gesichtspunkten bestimmt und verzeichnet werden – welch eine Riesenarbeit! Kein Wunder, daß, um diese Millionenzählung zu bewältigen, fast wieder Millionen von Zählern erforderlich waren!
Die Beamten, die sonst wohl mit der Bevölkerungsstatistik beschäftigt sind, reichen natürlich bei der alle fünf Jahre wiederkehrenden allgemeinen Volkszählung lange nicht aus, und so ist es üblich geworden, in allen [865] größeren Gemeinden freiwillige Hilfskräfte heranzuziehen, Leute, die womöglich über freie Zeit verfügen, die vermöge ihrer Bildung dazu befähigt sind, den Zweck der Zählung richtig zu verstehen, die Formulare richtig anzuwenden und die richtigen Fragen zu stellen. Denn es ist gar nicht immer so leicht, den Zählkommissar zu spielen. Er hat mit gar viel Unklarheit, Unverstand, ja nicht selten geradezu mit bösem Willen zu kämpfen; wenn so ein gut gekleideter, „herrisch" aussehender Eindringling in die Hinterhäuser und in die Dachstuben kommt, zu den Armen und Gedrückten, da begegnet er oft dem bittersten Argwohn. „S’ ist ja doch bloß wieder wegen der Steuer" denkt der und jener, und es bedarf umständlichen Zuredens und Beschwichtigens, bis endlich die nöthigen Angaben zögernd und vorsichtig gemacht werden.
Nun, so gefährlich steht es nicht in dem Hinterhause, in welches unsere Skizze uns einen Blick thun läßt. Hier ist der selbstlose Herr, der sich als Zählkommissar hergegeben hat, lediglich Gegenstand einer kindlichen Neugierde. Ja, fast will es scheinen, als ob der Herr Kommissar seine Arbeit in diesem Falle ganz interessant fände, als ob er sich gar nicht übermäßig beeilte, mit seinem Auftrag zu Ende zu kommen, und recht gerne die liebliche junge Frau weiter examinirte, die, ihr Jüngstes auf dem Arme, ihm kurz und sachlich Auskunft giebt. Er ist wohl noch nie mit den Menschen dieser Volksschichte in Berührung gekommen, kennt sie nur vom Hörensagen und hat sich kein besonders günstiges Bild von ihnen gemacht. Nun ist er eingetreten in diese bei aller Enge doch saubere Stube, sieht das trauliche Zusammenleben der drei Generationen, bemerkt mit Freuden die manierlich erzogenen Kinder und bewundert den ruhigen Anstand der jungen Mutter – und für seinen ausgefüllten Fragebogen, für seine Zahlen und Vermerke, die er mitnimmt, hat er etwas zurückgelassen in dem schlichten Hinterhause – ein Vorurtheil.
Ueberschwemmungen. Der Winter brach in diesem Jahre mit einem Wettersturz herein, der im Gedenken vieler Menschen als eine Zeit des Schreckens und der Trauer sich eingraben wird. Heftige, andauernde Regengüsse und in der Nacht vom 23. zum 24. November ein gewaltiger Föhnsturm führten Hochwasser fast in ganz Mitteleuropa herbei und besonders der Rhein und Main, die Moldau und die Elbe traten verheerend über ihre Ufer, brachten Jammer und Elend über viele Tausende von Familien und begruben Millionen von Werthen in ihren schlammigen Fluthen. Unter all diesen grausigen Verwüstungen haben in hervorragender Weise die, welche Karlsbad betrafen, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt; nicht, daß die Stadt der berühmten Ouellen am meisten zu leiden gehabt hätte – Barmen, Kösen u. s. w. haben vielleicht ebenso schwer gelitten – aber Karlsbad ist ein weltbekannter Ort, seine Straßen und Anlagen an der Tepl, jedes der alten gemüthlichen Häuser in der Nähe des Sprudels des Mühl- Markt- und des Theresienbrunnens, die Kaffeehäuser der „Wiese“ sind Hunderttausenden von Kurgästen vertraut und lieb geworden, all diese Oertlichkeiten umschweben sicher so mancherlei Erinnerungen unzähliger dankbarer Patienten, daß es wohl gerechtfertigt ist, wenn wir an diesem sozusagen klassischen Punkt die furchtbaren Wirkungen des rasenden Elementes unsern Lesern zeigen, zumal wir durch die Liebenswürdigkeit eines Freundes der „Gartenlaube“ in der Lage sind, an der Hand von Photographien unsere Leser mitten in die Greuel der Zerstörung hineinzuversetzen.
Wer in Karlsbad gewesen ist, weiß, daß die Tepl ein kleines harmloses Flüßchen ist, welches, eingeengt zwischen Wassermauern, Quais und meist alten Häusern, sich durch die Stadt windet. Am Montag den 24. November strömten plötzlich die Fluthen dieses Wasserlaufs mit rasender Gewalt drei Meter hoch durch die Marienbaderstraße, die alte und neue Wiese, den Marktplatz, die Mühlbadgasse, Sprudelgasse, Kaiser- und Egerstraße, überschwemmten den Quai und richteten fürchterliche Verheerungen an. Ein reißender Strom ergoß sich sozusagen mitten durch den Kern, den belebtesten, mit Geschäften erfüllten Theil, der Stadt, Thüren und Läden eindrückend, in die Häuser dringend und aus diesen fortschwemmend, was in sein Bereich kam. Die schwersten Möbel, Betten, Haushaltungsgegenstände wurden hinausgerissen, fortgetrieben, Brücken und Stege, Wassermauern und Quaianlagen stürzten in die schwarze tobende Fluth. – Nachdem die eiserne Sophienbrücke den rasenden Wassern zum Opfer gefallen, strömte die Fluth ungehemmt auf das Haus „Zur Stadt Hamburg“ zu – dessen Grundmauern sie unterwusch – man erwartete jeden Augenblick dessen Einsturz, und mit unsäglicher Mühe gelang es, die gefährdeten Einwohner zu retten – das allbekannte Haus „Zum Kaffeebaum“ an der Kreuzgasse stürzte unter furchtbarem Krachen zusammen. Vom Goethedenkmal, dieser Zierde Karlsbads, wurde die schwere Marmorbüste herabgeschleudert. – In den berühmten Puppschen Verkaufsläden stand das Wasser mannshoch – genug, es war für die Karlsbader ein Augenblick, als sollte die Welt untergehen. Ein besonders tragischer Zug kam in die Katastrophe dadurch, daß der Bürgermeister Knoll beim Beaufsichtigen der Rettungsarbeiten angesichts eines mit den Wogen ringenden Mannes vom Schlage gerührt wurde und sofort verschied. Schwer hat der weltberühmte Badeort gelitten, aber das Kostbarste, was er besitzt, – die Quellen, sind von der Verheerung völlig unberührt geblieben.
Vom Weihnachtsbüchertisch. Prachtwerke. Es herrscht in diesem Jahre nicht gerade Ueberfülle auf dem Gebiete der Prachtwerke, und das ist vielleicht ganz gesund; denn naturgemäß ist die Aufnahmefähigkeit des Publikums für solche theureren Werte nicht so groß wie für gewöhnliche Bücher in schlichtgediegener Ausstattung.
Eine der reizendsten Neuigkeiten ist „Allerlei aus A. Hendschels Skizzenmappen" (M. Hendschel, Frankfurt a. M.). Wer kennt sie nicht, die reizenden Hendschelschen Zeichnungen, diese fein hingestrichelten bald rührend anmuthigen, bald urkomischen Gestalten und Figürchen, wie sie nur der geborene Humorist herausfindet aus dem wirren Treiben des Alltagslebens! Seit Jahren schon waren die photographischen Nachbildungen dieser Hendschelschen Skizzen das Entzücken des Kunstliebhabers, aber die Blätter waren zu kostbar, als daß viele sie sich zu eigenem Besitze hätten erwerben können. Erst die Vervollkommnung des Lichtdruckverfahrens hat es möglich gemacht, billigere Ausgaben zu veranstalten, und so sind in den letzten Jahren nacheinander drei schöne Bände voll solcher Lichtdruckwiedergaben „Aus A. Hendschels Skizzenbüchern" erschienen.
[866] Die neueste Sammlung unter dem Titel „Allerlei aus A. Hendschels Skizzenmappen“, ein fein ausgestatteter Quartband von 40 Blatt, unterscheidet sich von den früheren dadurch, daß sie bisher noch nicht Veröffentlichtes enthält. Es sind Reiseeindrücke, Porträts, Thier- und andere Studien, Humoristisches und Ernstes.
Von einem anderen, verwandten Unternehmen haben wir unseren Lesern bereits wiederholt berichtet. Es sind die „Studienmappen deutscher Meister“, herausgegeben von Julius Lohmeyer (Breslau, C. T. Wiskott). Die heuer erschienene Mappe ist Paul Meyerheim gewidmet, von dem sie zehn Studienblätter in Lichtdruck bringt. Meyerheim ist ein Künstler von seltener Vielseitigkeit, das spiegelt sich auch in diesen wenigen Blättern wieder; sie vereinigen Thierstücke, Landschaftliches und Genre. Besonders interessant sind die Loggienbilder aus der Gartenhalle des Geh. Kommerzienraths Borsig in Berlin, welche Scenen aus der Welt des Maschinenbaus enthalten. – In dem Augenblick, da wir diese Zeilen druckfertig machen, geht uns auch die nicht minder gediegene A. v. Werner-Mappe zu. – Und noch ein Künstleralbum haben wir zu besprechen: es führt uns einen etwas einseitigeren, aber in seiner Beschränkung vollendeten Meister vor, Carl Fröschl. Seine wunderbar zart gehaltenen Porträts und seine reizenden Kinderscenen haben ihm nicht bloß in der Werthschätzung unter den Fachgenossen einen der ersten Plätze errungen, sondern ihm auch eine weitreichende Beliebtheit in den Kreisen der Laien gesichert. Das nunmehr im Verlage des litterarischen Jahresberichts (Leipzig, Artur Seemann) erschienene Fröschl-Album vereinigt sechzehn köstliche Kinderscenen und bildet eine wahrhaft herzerquickende Gabe für alle Kunstliebhaber, ganz besonders aber für die Kinderfreunde unter ihnen.
In Halbheft 23 haben unsere Leser schon ein paar Proben aus dem Prachtwerke von C. W. Allers über die Meininger kennen gelernt. Das ganze Werk (bei Friedrich Conrad in Leipzig erschienen) umfaßt 40 solcher prächtiger Zeichnungen, wie wir sie in jenem Halbheft mitgetheilt haben; sie schildern uns die Meininger nicht bloß auf der Bühne, sondern auch hinter den Coulissen, bei der Probe, daheim in ihren vier Wänden, man lebt alle ihre Leiden und ihre Freuden, viel Ernst und noch mehr Humor mit ihnen durch. Allers’ graziöser Stift hat in seinen „Meiningern“ ein Werk geschaffen, das seinen früheren Veröffentlichungen, die sich so rasch die Gunst des Publikums erobert haben, ebenbürtig an die Seite tritt.
Um vorläufig in dem Gebiete des Dramas zu bleiben, sei hier erwähnt, daß Alexander Zick eines der schönsten Ritterschauspiele, welche unsere Litteratur besitzt, das „Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe“ von Heinrich v. Kleist, zu illustrieren unternommen hat. Zicks Zeichnungen sind in jeder Beziehung vortrefflich gelungen, und die neue Prachtausgabe (Berlin, Verlag von Albert Goldschmidt) wird nicht verfehlen, die Dichtung Kleists dem deutschen Volke vertrauter zu machen, wie dies mit dem „Zerbrochenen Kruge“ durch die wunderbaren Zeichnungen Adolf Menzels geschehen ist.
Die landschaftlichen Prachtwerke, welche lange das Feld fast vollständig beherrschten und z. B. noch im vorigen Jahre in Jensens „Schwarzwald“ einen hervorragenden Vertreter fanden, treten diesmal ganz zurück. Das einzige, das hier der Erwähnung bedarf, ist Rudolf Cronaus „Im wilden Westen. Eine Künstlerfahrt durch die Prairien und Felsengebirge der Union“ (Braunschweig, Oskar Löbbecke). Unsere Leser kennen die gewandte Feder und den nicht minder gewandten Stift des Schriftstellers und Künstlers Cronau, und so ist aus seinen Händen ein hochinteressantes, Genuß und Belehrung glücklich verbindendes Buch hervorgegangen, das jung und alt erfreuen wird. – Viele Freunde wird sich, besonders in Thüringen, ein kleines, aber wunderhübsch ausgestattetes Bändchen erwerben, „Thüringen in Bild und Poesie“ (Eisenach, Verlag von Hugo Brunner). Es enthält eine Menge meist farbig ausgeführter Vignetten, kleine Kabinettstückchen der Landschaftsmalerei von der Hand einer künstlerisch begabten Dame, Lisa Vielitz, denen sich zugehörige Verse aus dem reichen Schatze der deutschen Poesie anschließen. Und es giebt ja fast keinen unter unseren großen Dichtern, der nicht einmal in seinem Leben die Stimme zum Preise des schönen Thüringerlandes erhoben hätte!
Eigentlich unter den Jugendschriften einzureihen wäre gewesen ein Prachtwerk aus dem Verlag von Adolf Titze in Leipzig, „Prinzen-Märchen“ von Agnes Schöbel, illustriert von Georg Schöbel. Der Text bewegt sich mit Glück im schlicht anmuthigen Märchenton, der sich dem kindlichen Verständniß so leicht anschmiegt, während die Zeichnungen ihre Wirkung mehr bei den Erwachsenen üben dürften.
Und nun einen Sprung aus dem Land der zarten Märchen in das der rauhen Politik. Ein politisches Prachtwerk – beinahe eine sogenannte contradictio in adjecto, ein Widerspruch in sich selbst! Und doch möchten wir das „Bismarckalbum“ des Kladderadatsch so nennen, das uns die Geschichte des großen Mannes von einer so eigenartigen Seite vorführt, das zugleich selbst ein Stück Geschichte der modernen Karikatur überhaupt bildet. An äußerem Erfolg reiht sich ja auch das Bismarckalbum mit seinen fünfzehn Auflagen in neun Monaten (Berlin, A. Hofmann u. Co.) den Löwen des Tages, „Rembrandt als Erzieher“ und Bellamys „Jahr 2000“, an.
Ein lebender Frauenschmuck. (Mit Abbildung.) Im Juni dieses Jahres habe ich von unserm Standquartier im Harz aus in Gesellschaft von Kurgästen einen Ausflug gemacht. Als wir am späten Abend heimkehrten, zogen die Johanniskäfer ihre leuchtenden Bahnen durch die Luft. Eine der jungen Damen fing einige derselben, um damit ihren Hut zu schmücken, und in der That leuchteten die Käferchen, in dem Tüllschleier gefangen, wie kleine Juwelen.
Der Einfall, sich mit strahlenden lebenden Wesen zu schmücken, war nicht neu. Die Damen im tropischen Amerika, namentlich die Mexikanerinnen tragen schon seit lange Leuchtkäfer als Schmuck. Die amerikanischen Leuchtkäfer von dem Geschlecht Pyrophorus (wörtlich = „Feuerträger“) leuchten aber viel stärker als unsere Johanniskäfer. Der Pyrophorus oder Elater noctilucus ist den Spaniern unter dem Namen Cucuyo bekannt: er ist schwarzbraun, 30 bis 50 mm lang und 10 bis 15 mm breit. Das Licht sieht man am deutlichsten an zwei rundlichen Stellen des Halsschildes sowie unter dem Bauch zwischen dem Bruststück und den Hinterleibsringen erstrahlen. Es ist so stark, daß man bei ihm lesen kann, wenn man den Leuchtkäfer nahe an die Schrift bringt und ihn längs der Zeile fortbewegt, namentlich dann, wenn der Käfer besonders erregt ist und in diesem Zustande kräftiger leuchtet.
Die Leuchtkraft des Cucuyo wird in verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zwecken benutzt.
„So steckt man,“ heißt es in Brehms Thierleben, „einige in ausgehöhlte, mit kleinen Löchern versehene Flaschenkürbisse, um natürliche Laternen dadurch herzustellen. Sehr sinnreich ist die Verwendung zu nennen, welche die Damen davon machen, um ihre Reize zu erhöhen. Sie stecken des Abends die Käfer in ein Säckchen von feinem Tüll, deren mehrere in Rosenform am Kleide befestigt werden; am schönsten aber soll sich dieser Schmuck ausnehmen, wenn er, mit künstlichen aus Kolibrifedern gefertigten Blumen und einzelnen Brillanten verbunden, als Kranz im Haare getragen wird. Die Käfer bilden in Veracruz eben darum einen Handelsartikel.“
Diese Mode hat auch in New=York Eingang gefunden. Die Matrosen in Havanna, Cienfuegos etc. zahlen für einen lebenden Käfer gern sogar 1 Peso (= 1 Dollar); gelingt es ihnen dann, denselben lebend nach New=York zu bringen, so erhalten sie von den dortigen Damen 10 bis 20 Dollars. – An diese interessante Thatsachen erinnerte ich mich, als meine Begleiterin sich mit Glühwürmchen schmückte. Wie war ich aber überrascht, als einige Tage darauf in einem Postpacket zwei lebende Cucuyos eintrafen!
Lebende amerikanische Leuchtkäfer sind schon öfters nach Europa gebracht worden. In einer Nachricht von Bondoroy in den „Mémoires de l’Acadèmie des sciences 1766“ wird erwähnt, eine Anzahl dieser Käfer, welche zufällig in altem Holze nach Paris gelangt waren, hätten in der Vorstadt St. Antoine gewaltigen Schrecken verursacht. An die Käfer, die ich erhalten habe, knüpfte sich jedoch ein besonderes Interesse. Sie kamen nicht aus Amerika, sondern von Prag, wo sie meines Wissens zum ersten Male in Europa gezüchtet wurden. Der glückliche Züchter, Herr J. B. Pichl, wird später über die zwei Jahre dauernde Entwickelung des Käfers genauere Nachricht geben. Vor der Hand muß man lebende Exemplare von ihm beziehen. Sie werden in Glasgefäßen gehalten, getrocknetes Zuckerrohr, in dem sie versendet werden, ersetzt ihnen ihre Heimath; ein feuchter Lappen, der im Glase liegt, macht die Luft des Behälters der feuchten tropischen ähnlich. Der Cucuyo lebt in der Gefangenschaft von Rosinen, Feigen und zuckerhaltigem Biskuit – leider aber lebt er nur eine kurze Zeit – unter günstigen Umständen etwa 4 Monate.
Es ist ein eigenartiger Reiz, diese Käfer daheim beobachten zu können. Nach Sonnenuntergang erstehen sie zu fröhlichem Leben und beginnen sich zu tummeln, sie leuchten mit den Platten auf der Brust und am Bauche. Das Licht ist grünlich, sehr wirkungsvoll und die Käfer bewegen sich wie kleine Lokomotiven in der Nacht, wobei die Brustplatten die Laternen darstellen. Das effektvolle Leuchten, welches der Käfer aus eigenem Antriebe sehen läßt, das bald verlöscht, bald zu einem starken Glanze aufflackert, dauert gewöhnlich drei Stunden. Dann beruhigt sich das Thierchen, beginnt zu fressen und leuchtet nur mit der Brust. Das Licht, welches der Cucuyo ausstrahlt, ist übrigens so stark, daß es auch am Tage wahrgenommen wird, wenn man den Käfer in die Hand nimmt oder auf eine andere Weise aufmuntert.
J. B. Pichl stellt der europäischen Damenwelt durch seine gelungenen Züchtungen die Möglichkeit in Aussicht, die Mode, lebendige Leuchtkäfer als Schmuck zu tragen, den Mexikanerinnen zu entlehnen. Ob diese Mode bei uns Eingang finden wird? Das ist Geschmacksache. Aber das Halten und namentlich das Züchten des Cucuyo wird, sobald Näheres darüber bekannt sein wird, ohne Zweifel viele Liebhaber finden; denn eine mit Leuchtkäfern besetzte „Lampyrière“, wie Pichl sein Glasgefäß nennt, bildet am Abend einen wirklich ausgesuchten Zimmerschmuck. Auch die Wissenschaft kann den Erfolg des Züchters nur willkommen heißen, da diese Käfer zum Studium der noch so wenig erforschten Phosphoreszenz der Thiere, dank ihrer starken Leuchtkraft und dank der Leichtigkeit, mit welcher sie sich behandeln lassen, ein äußerst günstiges Material abgeben. [867] Eine künstliche Volksmenge. (Mit Abbildung.) „Was ist das für ein sonderbares Bild?“ so hören wir den Leser fragen, der diese Seite der „Gartenlaube“ aufschlägt. Welch eine riesige Menge Menschen wie eigenthümlich ihre Aufstellung, wie merkwürdig glatt die Ebene, auf der sie stehen! Wie seltsam die Gleichartigkeit in den Bewegungen der Personen und welche Regelmäßigkeit in dem scheinbaren Wirrsal!
In der That ist der Anblick, den unsere Vignette bietet, geeignet, rathlose Verwunderung hervorzurufen, und wir können gestehen, daß auch wir zunächst dieses Schicksal theilten, als wir zuerst des Bildchens in dem „Neuen Universum“ ansichtig wurden. Nach der Natur dieses Werkes, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, die interessantesten Erfindungen und Entdeckungen auf allen Gebieten, insbesondere den technischen, in einer für Haus und Familie faßbaren Form alljährlich mitzutheilen, lag allerdings der Verdacht nahe, daß es sich bei dieser „Volksmenge“ um irgend einen optischen Kunstgriff handeln werde. Und so war es auch. In Wirklichkeit besteht nämlich dieses Massenaufgebot von Menschen aus – drei Personen; alles übrige aber, die unendliche Vervielfältigung dieser Drei, besorgt der Spiegel. Es sind nämlich drei große Spiegelscheiben ohne Rahmen derart aneinander gestellt, daß ihre Grundlinien ein gleichseitiges Dreieck bilden. Angenommen nun, es tritt eine Person in das Innere dieses Prismas, so spiegelt sie sich zunächst in jedem der drei Gläser einmal ab; diese Spiegelbilder selbst aber werden wieder je einmal von jedem der beiden andern Spiegel wiedergegeben, und so geht es fort bis zu unendlichen Wiederholungen – die künstliche Volksmenge ist fertig. Sie verräth freilich ihre Künstlichkeit durch die Symmetrie ihrer Anordnung, es fehlt den einzelnen Mitgliedern dieses „Volks“ entschieden an Individualität, denn sie gleichen sich alle auf ein Haar; wenn sich aber statt einer Person drei, wie auf unserem Bilde, oder gar sechs in den prismatischen Raum begeben, der zu diesem Zwecke durch eine Luke im Fußboden oder von oben her zugänglich gemacht werden muß, so kann die Täuschung eine vollkommene werden. Das Ganze ist jedenfalls ein höchst interessantes optisches Experiment, eine Anwendung des unserer Jugend wohlbekannten Kaleidoskops im Großen.
Die letzte Zuflucht. (Zu dem Bilde S. 849.) Ein Theaterbrand! – Seit dem entsetzlichen Unglück vom 8. Dezember 1881, da das Wiener Ringtheater in Flammen aufging, zittert die Welt noch bei dem Worte „Theaterbrand!“ Und es giebt in der That nichts Schrecklicheres. Ein leiser, verdächtiger, brandiger Geruch – ein Schreckensruf: „Feuer!“ – und in wenigen Minuten, Sekunden ein flammen- und qualmerfülltes Haus, eine Stätte namenlosen Wirrsals und lähmender Todesangst! Und es ist nicht bloß die äußere Lebensgefahr an sich, die das Entsetzen weckt, auch wenn man sich nur in Gedanken eine solche Katastrophe ausmalt. Es ist noch mehr fast der schneidende Gegensatz zwischen zwei Augenblicken, die so nahe beieinander liegen wie der ein- und ausgehende Athem. Eben noch fröhliche Lust, heiterer Flitter, Glanz und Freude – jetzt markerschütterndes Nothgeschrei, zertretene Menschenleiber, Tod und Grab – eben noch sorgloses Genießen – jetzt der Kampf um die Selbsterhaltung in seiner grassesten Gestalt! Das ist es, was auf das menschliche Empfinden so tief erschütternd wirkt, was aber auch einem Theaterbrand eine Art von fürchterlicher Romantik verleiht.
Auch unser Bild stellt einen Akt aus einem solchen grauenvollen Drama dar. Drei Mädchen, Darstellerinnen von koketten Operettenrollen, haben sich durch eine schmale Fensterluke auf den obersten Dachsims des brennenden Theaters gerettet. Sie waren eben in der Garderobe mit dem Umkleiden beschäftigt, als das verheerende Feuer losbrach, und mit dem Instinkt der Todesangst haben sie, nur nothdürftig bekleidet, diese letzte Zuflucht gefunden. Da schweben sie zwischen Himmel und Erde, von dem rasenden Elemente umdroht, das unter ihnen zu dem hohen Bogenfenster herauszüngelt und bereits den Holzrahmen des Fensters ergriffen hat, das ihnen eben noch den Weg ins Freie gebahnt und sie vor dem Tode des Erstickens behütet hat. Schon ist eine von ihnen ohnmächtig zurückgesunken, aber die gellenden Nothrufe der andern sind nicht ungehört verhallt. Von zwei Seiten, von unten her auf der Leider und um die Ecke des Daches, nahen die braven Feuerwehrleute – die Retter. Und das mildert den schreckensvollen Anblick der Scene, wir wissen, daß nur noch wenige Sekunden vergehen werden und die verzweifelnden Geschöpfe fühlen sich von starkem Arm ergriffen und sicheren Tritts Sprosse für Sprosse hinabgetragen auf die rettende Erde.
Kriegsbeute. (Zu dem Bilde S. 856 u. 857.) Hussein Ben Ali, der Beherrscher von Abnam – liebte. Hunderte von Sklavinnen standen seinen Launen zur Verfügung, er aber begehrte Selima, die schöne Braut des Bei Sidi Mohammed drüben am Gebirge. Seine Späher brachten Kundschaft, daß der tapfere Bei mit der Blüthe seiner Krieger auf Raub ausgezogen sei; da sendet Hussein Ben Ali seine Macht gegen den Nachbar und in leichtem Kampfe werden die Zurückgebliebenen überrumpelt, die Stadt verbrannt. Triumphirend kehren die Sieger zurück und treten mit den erbeuteten Fahnen und der gefangenen Fürstenbraut vor ihren Gebieter.
Mit der würdevollen Ruhe des Orientalen empfängt sie Hussein Ben Ali inmitten seines Rathes; wer erkennt auf dem Marmorgesichte den Sturm der Leidenschaften, der seine Brust durchtobt! In edlem Stolze steht die Begehrte vor ihm, die Fürstenbraut – als Sklavin.
Aber noch während der Anführer der glücklichen Kriegerschar seiner Belohnung harrt, der schwarze Hofmusikus und Märchenerzähler rechts im Vordergrunde überschwängliche Worte zum Preise der neuen Lieblingssklavin zusammendichtet, sind auf windschnellen Rossen, getrieben von wildem Schmerz und blutigem Rachedurst, Sidi Mohammed und seine kampfgewohnten Scharen schon über die Grenze von Husseins Reich hereingebrochen. Noch wenige Stunden, und Mohammed, der Niebesiegte, eilt durch den brennenden Palast seines Todfeindes, die Geliebte zu retten.
Neue Porzellanmalvorlagen. Wir haben auf S. 324 d. Jahrg. Gelegenheit genommen, unseren Leserinnen zwei Vorlagenhefte für Porzellanmalerei von Göppinger (München, Fr. Bassermannsche Verlagshandlung) zu empfehlen. Heute nun, wo das ganze Werk in 4 Lieferungen vorliegt, kommen wir gern auf dies höchst zeitgemäße Unternehmen zurück. Was bisher der Privatfleiß mühsam in Gewerbemuseen und Sammlungen aufsuchen mußte, die echten Muster der alten Porzellanmalerei, das wird hier als systematisches Ganzes geboten. Da sind die Blumenstücke von Sèvres, Meißen und Frankenthal, für Schüsseln und Platten berechnet, die zierlichen Streublümchen in bunt und einfarbig, ein wahrer Reichthum der verschiedensten Bouquets und Ranken. Neu hinzu kommen jetzt in den soeben ausgegebenen Heften: kleine Vögelgruppen, Blumen und Insekten in Goldcartouchen, dann allerliebste kleine Landschäftchen für Dosendeckel und figürliche Darstellungen nach alten Meißner Tassen und Platten. Eine ausführliche Anweisung für den Gebrauch der Porzellanfarben und die Farbenmischung für das Brennen macht es auch der ungeübteren Hand möglich, sich einzuarbeiten und bald erfreuliche Erfolge zu erlangen.
Die Ausstattuug des eleganten Mäppchens macht es zu einem sehr reizenden Weihnachtsgeschenk. Außerdem aber hat die Verlagshandlung die dankenswerthe Einrichtung getroffen, daß alle Blätter zu billigem Preise einzeln zu kaufen sind.
„Weihnachtsgeschenk.“ „Er gehört zu den Barbaren, welche wild werden, wenn ihnen eine Dame ein Kunstwerk weiblicher Handarbeit, eine Stickerei oder dergl. schenkt. Sagen Sie mir doch, was schenkt man einem solchen Herrn? Ich möchte ihn erfreuen und ihm ein wirkliches Andenken geben, das nicht den gewöhnlichen Werth einer gekauften Ware hat.“ Theure Fragestellerin, wir kennen weder Sie noch „Ihn“, und darum ist es uns schwer möglich, zu rathen, was Sie machen sollen, um Ihn zu erfreuen. Wenn er aber kein Freund von Nadelstichen ist, so versuchen Sie es mit einer anderen Kunst. Es giebt ja so viel andere schöne Sachen, die eine Damenhand ausführen kann. Man kann ja auf Porzellan, Glas, Thon und Holz malen, in Leder punzen, in Holz oder Leder brennen, Metalle, Steine und Elfenbein ätzen, aus gepreßten Blumen Lampenschirme oder „Pflanzenfenster“ machen, aus Eisendraht und verzierten Nägeln kleine Kunstwerke herstellen und aus Gummi unverwelkliche Blumen kneten! Kurz gesagt, versuchen Sie es einmal mit einer der Liebhaberkünste. Welche Ihren Fähigkeiten am meisten entspricht, darüber müssen Sie selbst entscheiden, und in der Wahl kann Ihnen ein Buch helfen, in dem nicht weniger als 31 dieser Künste beschrieben sind. Wenn man darin blättert und die schönen Vorlagen für allerlei Teller, Tassen, Vasen, Aschenbecher, Serviettenringe, Mappen, Bücherdeckel, Zeitungshalter, Kassetten, Licht- und Ofenschirme, Tischplatten und vieles andere bis zum Fliegenwedel ansieht, dann gelangt man unwillkürlich zu der Ueberzeugung, daß in demselben ein wahres Dorado für geschenklustige Damen enthalten ist. Das Werk ist von Franz Sales Meyer, Professor an der Kunstgewerbeschule in Karlsruhe, herausgegeben und führt den Titel „Handbuch der Liebhaberkünste zum Gebrauche für alle, die einen Vortheil davon zu haben glauben“ (Leipzig, Verlag von E. A. Seemann).
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Allerlei Kurzweil.
Weihnachts-Rösselsprung. |
Weihnachts-Hieroglyphen.
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Die Bilder stellen den Anfangsbuchstaben ihres Namens dar. Auf diese Weise sind nur die Consonanten angegeben; die Vokale sind dem Sinne nach zu ergänzen. |
Dominoaufgabe. |
Kombinationsaufgabe.
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A, B, C und D nehmen je sechs Steine auf. Vier Steine mit zusammen 24 Augen bleiben verdeckt im Talon. B hat auf seinen Steinen 15 Augen mehr als C, aber 12 Augen weniger als D. |
1. Bote, Herodias, Thale; 2. Kirche, Rain, Reh; 3. Aga, Mantel, Schill; 4. Holz, Freund, Tenor; 5. Bor, Heliand, Herder; 6. Advent, Gero, Toni; 7. Flotten, Gesten, Hof; 8. Niger, Miere, Kies; 9. Bonn, Oregon, Riehl. | ||
A hat: | Aus jeder dieser neun Wortgruppen sind zwei miteinander in irgend einer Beziehung stehende Wörter zu bilden. Beispiel: Gram, Ton, Warze = Mozart, Wagner. Die zu suchenden Wörter bedeuten: 1. zwei weibliche Vornamen, 2. zwei Watvögel, 3. zwei Singvögel, 4. zwei Schlachten aus dem Siebenjährigen Kriege, 5. zwei männliche Vornamen, 6. zwei Städte in Italien, 7. einen britischen und einen österreichischen Admiral, 8. zwei Namen aus her Thierfabel, 9. eine Oper von Weber und eine von Wagner. | ||
A setzt Doppel-Sechs aus und gewinnt dadurch, daß er seine Steine zuerst los wird. Er setzt zuletzt Eins-Sechs an Eins. B und C müssen bei der ersten, zweiten, dritten und fünften Runde passen. A und D können stets ansetzen. C behält 5 Steine mit zusammen 8 Augen und D einen Stein mit 8 Augen übrig. Die Summe der Augen auf den 13 gesetzten Steinen beträgt 104. Welche Steine liegen im Talon? Welche Steine behalten C und D übrig? Wie ist der Gang der Partie?A. St. |
Ist alles richtig gefunden, so ergeben die Anfangsbuchstaben der Wörter den Titel eines geschichtlichen Romans von Herman Schmid. | ||
Charade.
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Hat auch herb in deinem Leben |
Doch wem diese nicht verliehen, |
Soeben erschien :
Ein Band von 20 Bogen mit sechs Kunstbeilagen in Photogravüre in zierlichem Originaleinband mit Goldschnitt. Preis M. 6.-.
Der Musen-Almanach, einst hochberühmt durch die Mitarbeiterschaft Schillers und Goethes, tritt nach fast jahrhundertlanger Pause zeitgemäß verjüngt und verschönt wieder in die Oeffentlichkeit. Im Anschluß an seine berühmten Vorbilder bietet der neue Musen-Almanach eine reiche Fülle kostbarer dichterischer Blüthen auf dem Gebiete der Novelle, poetischen Erzählung, der Lyrik und des Epigramms. Drei Novellen, Kabinettstücke dichterischer Erfindung und Darstellung, eröffnen den Reigen:
"Der Probierstein" von Georg Ebers. – "Lieb’ läßt sich nicht lumpen" von P. K. Rosegger. "Wassertropfen" von Richard Weitbrecht.
Denselben schleißt sich eine Reihe poetischer Erzählungen und Balladen von Martin Greif, M. Haushofer, Ul. Kaufmann, C. Lemcke, Conr. Ferd. Meyer, Alb. Moeser, O. Roquette, H. Bierodt, Sophie Waldburg und Ernst Ziel an. Die Gedichte verschiedenen Inhalts und die lyrischen Dichtungen zählen zu ihren Vertretern: F. Avenarius, Fr. Bodenstedt, H. Bulthaupt, F. Dahn, M. von Ebner-Eschenbach, E. Eckstein, J. G. Fischer, U. Fitger, L. Fulda, Jul. Grosse, C. Hecker, Wilh. Hertz, H. Hoffmann, R. Graf Hoyos, W. Jensen, W. Jordan, M. Kalbeck, J. Kurz, H. Lingg, St. Milow, G. v. Oertzen, Ed. Paulus, A. Bichler, E. Rittershaus, J. Rodenberg, F. von Saar, G. Scherer, L. Schneegans, Prz. Emil zu Schoenaich-Cárolath´, C. Schoenhardt, A. Silberstein, R. Weitbrecht, A. Wilbrandt, K. Woermann u. a., während die Kunstbeilagen nach Originalen von F. A. von Kaulbach, W. Kray, Chr. Kröner, H. Lossow, G. von Hötzlin und R. Geiger hergestellt sind. Auch durch die reizvolle Ausstattung, den eleganten Einband von mattblauem Brokat-Kaliko mit reicher Vergoldung in zierlichem Rokokostil, eignet sich das Buch zu einem sinnigen Festgeschenk.