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Die Gartenlaube (1890)/Heft 28

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[869]

Halbheft 28.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(Schluß.)


In Reginalds Schlafzimmer standen die Fensterflügel weit geöffnet, und der Mond sah herein; ruhig schwamm seine Silbersichel im duftigen Gewölk des Nachthimmels, und ein Heer von Sternen flimmerte um ihn her. Die Luft ging still – kein Laut ertönte in der Sonnenwendnacht! –

Angesichts dieses tiefen Friedens ging es wie ein Sturm über des Mannes Seele. Nein, selbst der ungewohnte Genuß des Weines hatte es nicht vermocht, ihm Vergessenheit zu bringen. Die bis aufs äußerste erregten Nerven arbeiteten dem Einfluß des Weins entgegen und hoben seine Wirkung auf. Nicht betäubt und gedämpft – doppelt scharf und angespannt war sein Empfinden, keine Spur von Müdigkeit oder Verlangen nach Ruhe war über ihn gekommen, sein Gefühlsleben war wacher, thätiger denn je zuvor in ihm.

Er hob seine Augen auf zu dem Wunderwerk des nächtlichen Himmels. Von diesen Höhen war ihm bisher immer noch Trost und Frieden gekommen – aber seine Seele lag heute wie gelähmt in ihm, es war, als seien ihr die Flügel gebrochen, die sie sonst willig und sicher emporgetragen hatten.

Wenn er gewußt hätte, wo Recht und Pflicht für ihn lag – er würde nicht feig gezögert haben, sie auszuüben, gleichviel, was es ihn kostete. Aber dies wußte er nicht! Es war eine Stimme in ihm, die sagte: „Geh’ hin, lebe dein Leben weiter und schweige! Zerstöre nicht zwei liebenden Menschen ihr Lebensglück! Juristisch ist das Verbrechen verjährt, kein irdischer Richter der Welt würde heute mehr das Schuldig über den gereiften Mann aussprechen, der als jähzorniger Jüngling vor nahezu zwanzig Jahren die rasche That verübte. Und es war ja kein wohlüberlegter Mord, den er begangen hatte, nicht mit kaltem Blut hatte er ihn geplant. Nein! Im wilden Zorn gegen den Unmenschen, der die Armuth unterdrückte und zu seinen Zwecken ausnutzte, der seinen Vater zum unglücklichen Mann gemacht, dessen Familienleben vergiftet hatte und nun auch noch zum Uebermaß die abgöttisch geliebte Mutter hilflos in Krankheit und Entbehrung ließ, hatte der leidenschaftliche junge Mann auf seine Weise Gerechtigkeit geübt und ein Geschöpf aus der Welt geschafft, dessen Thaten eine ganz andere Strafe verdient hätten, als einen raschen, plötzlichen Tod!“ –

„Wenn es auch so

Hungrige Gäste.       Nach einem Gemälde von M. Thun.

[870] war,“ entgegnete die andere Stimme, „er hatte das Recht nicht, den alten Mann zu tödten! Gott allein hat zu entscheiden über Leben und Tod, wenn die irdische Gerechtigkeit machtlos ist, den Missethäter zu strafen! Eine Mördergrube würde die Welt werden, wenn jeder nach eigenem Gutdünken sich Recht und Gerechtigkeit verschaffen wollte! Du weißt das genau – hast du es nicht selbst vor kurzem noch dem zum Tode Verurtheilten gesagt, als er trotzig schwor, eine gute That begangen zu haben, indem er ein gemeinschädliches Dasein vernichtete? Liegt denn dieser Fall anders? Und du willst ein Diener Gottes sein, den Menschen den Spruch auslegen: die Rache ist mein – ich will vergelten, spricht der Herr! – und handelst deinen eigenen Worten zuwider? Ob verjährt, ob nicht – ob nach menschlichem Ermessen strafbar oder entschuldigt – es ist deine Gewissenspflicht, zu bekennen, daß du um diesen Mord weißt, entstehe daraus, was da wolle!“ –

Reginald trat verstört vom Fenster zurück und sah sich im Zimmer um – ganz deutlich war ihm gewesen, als höre er eine mahnende Stimme laut zu ihm sprechen! Aber es war niemand da, nur ein leiser Nachtwind machte sich auf und hielt ein raunendes Flüstergespräch mit den Bäumen, die in dem unter seinem Schlafzimmer gelegenen Garten standen. Jetzt waren sie wieder regungslos, und über die schlafende Welt kam tiefer Gottesfrieden. –

„Ich kann nicht – ich kann nicht!“ begann sein stürmisch klopfendes Herz zu sprechen. „Ist es nicht Annie Gerolds Lebensglück, um das es sich handelt? Und ich soll hingehen und ihr’s vernichten mit grausamer Hand und zusehen, wie sie sich an ihrem Gram verblutet? – Und wenn sie dir noch ein fremdes, gleichgültiges Geschöpf wäre, und du hättest nur ihre Schönheit bewundert! Aber du liebst sie … du liebst sie! Und eben weil du sie liebst, kennst du auch ihre Seele – die Seele, die zu dir sprach an dem Abend, da du sie zum ersten Mal sahst und ihre herrlichen, lieben Augen dir von ihrem Herzen erzählten, dem feurig empfindenden, zärtlichen, weichen! Du könntest dies geliebte Leben schützen, und du wolltest es nicht? Nein, was du auch thust – Annie Gerold darf es nie erfahren, daß der Mann, den sie liebt, ein Verbrechen begangen hat!“ –

„Wohl! Nicht durch dich soll sie es erfahren, – wird es ihr dadurch aber auf ewige Zeiten verborgen bleiben? Gottes Mühlen mahlen langsam, du hast es oft genug schon erlebt! Wer hieß dich gerade hierher an die Kirche zu Sankt Lukas kommen – wer führte dich in den ersten Wochen schon mit dem Mädchen zusammen, das du lieben solltest – wer fügte es, daß unter den deiner Seelsorge anvertrauten Gefangenen gerade Schönfeld war, Schönfeld, der bei der ersten Begegnung schon ein unerklärliches Interesse in dir erweckte, daß du dir heilig gelobtest, diese Seele zu gewinnen um jeden Preis? Und da du sie gewonnen hattest – wer zwang ihn, dir gerade jenes Erlebniß aus seiner Jugendzeit zu schildern, welches das Lebensglück dreier Menschen – denn auch das deinige steht auf dem Spiel! – in sich begreift? Du sprichst zu deiner Gemeinde so oft und überzeugungstreu von wunderbarer göttlicher Fügung, und du willst übersehen, daß an dir sich die allerwunderbarste vollzogen hat?“

„Nein – nicht übersehen! Es ist möglich, daß Annie Gerold auf anderem Wege, daß sie es in jäher, grausamer Weise, daß sie es zu spät erfährt, wer ihr Geliebter ist, welche That er begangen hat … durch mich soll sie es nicht hören! Ich kann es nicht! Ihn hat ihr Herz sich erwählt vor vielen andern, und ich habe es nicht hindern können – ich werde es auch nicht hindern, daß sie aus seiner Braut seine Gattin wird!“

„Und dein Gewissen? – Wird es dich nicht Lügen strafen auf der Kanzel – am Altar, von wo du deines Gottes Wort verkündigst? Als Mensch übst du Selbstverleugnung und Großmuth, indem du schweigst – – als Priester wirst du dir selber untreu, wenn du andern predigst: Gott über alles! Was hülfe es, wenn Ihr die ganze Welt gewännet, und nähmet doch Schaden an Eurer Seele? Gebt Gott, was Gottes ist! – – Wer ist der stärkere in dir: der Mensch, der nach Menschenmaß richtet und verfährt – oder der Diener des Höchsten, der alles, was er thut, in seinem Namen vollbringt?“ –

„Aber dies kann nicht Gottes Wille sein – dies nicht! Wie kann ich hingehen und den hochgeachteten, berühmten Mann des langverjährten Totschlags bezichtigen, ihn öffentlich an den Pranger stellen und sein Leben vernichten – nicht seines allein, sondern auch dasjenige des Liebsten, was ich selbst auf dieser Welt habe? Und in welchem falschen, selbstischen Licht stände ich da vor jenen – denn sie wissen es beide, daß ich das Mädchen liebe!“

„Wozu, meinst du wohl, hat Gott dem zum Tode Verurtheilten heute, am Tag der Sonnenwende, seine Beichte in den Mund gelegt, wenn nicht, um dir zu zeigen, daß es Gottes Wille ist, du sollest des Mädchens Verbindung mit diesem Mann verhindern?“

„Ich kann nicht! Nicht diesen Kelch! Ich kann nicht! Für mein ganzes Leben würde ich mir wie entehrt und beschimpft erscheinen!“

„So hättest du nicht Priester werden, nicht deine Seele Gott angeloben sollen! Deine Seele gehört nicht Gott – sie gehört der Welt! So, wie du handeln willst, handelt ein Kavalier, ein Ehrenmann, im Sinn der Kaste, der du angehörst – als demüthiger Knecht Gottes hast du nur einen Weg vor dir!“

„O, ein Wunder – ein Zeichen – eine Offenbarung von oben!“

„Du bedarfst ihrer nicht! Du findest die Offenbarung in der Tiefe deines Herzens – folge ihr! Es ist ein Pfad der Thränen und der Dornen, den du wandeln sollst – aber wer nicht sein Kreuz aufnimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht werth!“ – – –

Im Osten brach das Morgenroth an – ein Hahn krähte in der Nähe – die Baumwipfel schauerten im herben Frühlüftchen – hier und da setzte ein verschlafenes Vogelstimmchen mit einer einzelnen Note ein. Die Sonnenwendnacht war vorüber!

Das Licht im Osten verstärkte sich, wurde strahlender, triumphirender hinter den Baumkronen hub es an, zu glühen wie eine Feuersbrunst – Eos, die rosenfingrige, kam in ihrem Sonnenwagen herauf. –

Zu Ende der Frühling – die Zeit des Sehnens, Hoffens, Erwartens, des schüchternen Blühens und Knospens; jetzt tritt der Sommer in sein Recht, er bringt die Erfüllung – die Entscheidung! –

Eine Fluth von rothgoldenem Licht ergoß sich über den einsamen Mann am Fenster.

„Sonnenwende!“ sagte er laut vor sich hin – dann deckte er seine Augen mit der Hand zu, als blende ihn der Glanz des glorreich aufsteigenden Tagesgestirnes. –




15.

Die Bewohner der „zweiten Hofgasse“ – es gab deren drei in F. – bescheidene, kleine Leute, Handwerker, Krämer, Trödler, waren erstaunt, einen schlanken, sehr hübschen Ulanenoffizier in voller Uniform heute, am Morgen des vierundzwanzigsten Juni, an ihren niedrigen Häuschen ruhelos auf- und abgehen zu sehen. Die „Hofgassen“ gehörten zum ältesten Theil der Stadt, sie waren eng und winkelig und sehr unregelmäßig gebaut, dazu nicht einmal von charakteristischem Aussehen, sondern häßlich und nüchtern. Früher hatte es hier ein paar öffentliche Gebäude gegeben: eine Kaserne, die schon seit Jahren nicht mehr als solche benutzt wurde, halb verfallen war und jetzt als eine Art von Proviantraum diente, und ein Arresthaus, das man ebenfalls nicht mehr brauchte und zu welchem ein viereckiger gepflasterter Hof gehörte, der nach der Straße zu mit einem festen Thor, aus zwei mächtigen, eisenbeschlagenen Flügeln bestehend, abgeschlossen war. – Vor diesem Thor nun ging der Ulanenoffizier, die halbe Hofgasse entlang, seit einer guten Viertelstunde auf und ab. Die Kinder, die vor den Thüren spielten, bewunderten jedes Stück seiner Uniform, und die Frauenzimmer, die ziemlich häufig die Köpfe aus ihren Behausungen streckten, angeblich, um nach ihren Kindern zu sehen, fanden, daß es ein hübscher Herr sei – aber was konnte er hier wollen? – Die Männer waren sammt und sonders schon an ihre Arbeit gegangen, aber auch von ihnen hätten es wenige zu deuten gewußt, was es mit der Anwesenheit eines Offiziers um diese Stunde und in dieser Gegend auf sich habe – sie lasen keine Zeitungen, höchstens kleine Flugschriften und Broschüren, die für den Arbeiterstand gedruckt wurden – und die Angelegenheit, um die es sich hier handelte, war von den Behörden sorgsam geheim gehalten worden und sollte erst als vollzogene Thatsache in kürzester Fassung dem Publikum bekannt gegeben werden. –

[871] Auf dem viereckigen, rings von hohen Brandmauern umgebenen Hof des Arresthauses wurden noch zuweilen Rekruten exerziert – außerdem aber hatte dieser Hof noch eine andere Bestimmung: die in F. vorkommenden Hinrichtungen wurden hier vollzogen.

Lautlos und in aller Frühe schon waren die nothwendigen Vorbereitungen getroffen worden. Selbst die bekanntesten Frühaufsteher der zweiten Hofgasse hätten nicht die kleinste Veränderung wahrzunehmen vermocht: alles sah ganz so aus wie sonst … und wäre auch einigen der dort wohnenden Leute eine Ahnung des Sachverhalts aufgestiegen – das schwere, eisenbeschlagene Thor war fest verschlossen und wies weder Spalte noch Oeffnung auf. Die Neugier wäre also hier ganz vergebens gewesen.

„Klipp-klapp! Klipp-klapp!“ machte der Schleppsäbel in taktmäßiger Bewegung auf dem Steinpflaster – was hatte der hübsche Lieutenant so ernst auszusehen und sich immer wieder so nachdenklich den kleinen Bart zu drehen? –

Neun Uhr! Die Uhr der altersgrauen Nikolaikrche sagte mit ihrer heisern, hohlen Stimme die Stunden her, und der Offizier fuhr zusammen und blieb zum ersten Male während seiner Wanderschaft stehen; es war, als lauschte er, – aber die Thorflügel waren massiv und ließen keinen Laut durch. „Klipp-klapp!“ begann der Säbel von neuem seine Musik auf dem Straßenpflaster.

Die Hausfrauen und Mädchen hörten allgemach auf, aus den Fenstern zu sehen – sie hatten alle zu thun. Die einen gingen auf den Fisch- und Gemüsemarkt in der Nähe, die andern trafen schon Vorbereitungen zum Essen oder warteten ihre kleinen Kinder; es nahm sich kaum eine von ihnen die Zeit, wieder einmal, inmitten der Arbeit, nach dem Ulanen zu sehen: ja – er war immer noch da! –

Ein frischer, leuchtender Sommermorgen – der Himmel mit kleinen, weißflockigen Wölkchen leicht überflogen, die Sonne warm und mild, aber nicht stechend – selbst die kümmerlichen Fleckchen Erde, die hier und da in der zweiten Hofgasse einen „Garten“ vorstellen sollten, grünten lustig, und ein kleiner Dompfaff, der in einem hölzernen Bäuerchen am offenen Fenster hing, pfiff wohlgemuth „Freut euch des Lebens“, brach aber immer in der Hälfte des Liedes ab und begann es unverdrossen von neuem.

Es mochte gegen halb Zehn sein, als sich die schweren Thorflügel knarrend in ihren Angeln drehten: eine Abtheilung Gendarmerie ward sichtbar, welche die Straße entlang marschirte – dahinter kamen einige Herren, die stumm nebeneinander hergingen; hinter ihnen wurde das Thor sorgfältig wieder geschlossen.

„Reginald!“ sagte der Offizier leise und legte einem der Herren die Hand auf den Arm.

„Du, Fritz! Wie kommst Du hierher?“

„Ich – nun, ich wußte ja doch – und so kam ich, Dich abzuholen, und kann bis Mittag mit Dir zusammenbleiben. Ich habe mich vom Dienst für heute frei gemacht.“

„Das ist sehr liebenswürdig von Dir! Darf ich die Herren mit meinem Vetter, Lieutenant von Conventius, bekannt machen?“

Die Herren – der Bürgermeister, ein Polizeirath, ein Regierungsbeamter und Direktor Warnow – zogen die Hüte, ein paar Wechselreden gingen hin und her, doch war niemand zum Plaudern aufgelegt, und am Ende der zweiten Hofgasse trennte man sich.

Die beiden Vettern gingen mit einander weiter. Fritz sah seinen Begleiter zuweilen besorgt von der Seite an. Was hatte Reginald nur? Es konnte kein gewöhnliches Ereigniß, es konnte auch nicht die doch längst erwartete Hinrichtung gewesen sein, die diesen kraftvollen, stählernen Charakter so tief erschütterte – der ganze Mann sah gänzlich verändert aus, er war kaum wiederzuerkennen. Als wenn eine schwere Last ihn niederdrücke, eine Schuld ihn beschwere, so ging er einher.

„Du hast doch jetzt Zeit, lieber Alter, um mit mir zu kommen?“ begann der Lieutenant, indem er seinen Arm vertraulich unter den des Vetters schob.

„Zeit? Jetzt? O ja! Das schon – aber wohin willst Du denn eigentlich mit mir?“

„Dahin, ‚wo man einen Guten schenkt‘, Freundchen! Ich weiß ein stilles, kühles, grünes Gärtchen, nicht allzu weit von hier, ein ganz neues Etablissement, allwo der Wirth sich angenehmer Getränke und einer stilgerechten Bedienung – weiblichen Geschlechts – befleißigt … na, mach’ nur nicht gleich Augen, geistlicher Herr! Ich liebe mein Mäuschen wahrhaftig – aber soll ich mich nun darum nie mehr weiblich bedienen lassen?“

Reginald ließ diese tiefe Frage unerörtert.

„Ehrlich gestanden, Fritz, ich verspüre keine große Lust, mich jetzt und heute in einen öffentlichen Garten hinzusetzen, mitten in ein Gewühl lustiger, plaudernder Menschen –“

„Du hast mir nicht zugehört, lieber Alter, sonst würdest Du so nicht reden! Ich sprach von einem kühlen, grünen, stillen Gärtchen! Wohlgemerkt: von einem stillen! Das ist’s ja eben! Ein neues, von mir zufällig entdecktes Lokälchen, in dem noch wenig oder gar kein Verkehr herrscht – zumal um diese Zeit, Ich wette, daß das ‚Gewühl plaudernder Menschen‘, dessen Du eben erwähntest, aus uns zweien bestehen wird – nun, und das hat gerade nichts Beängstigendes! Du kannst Dir da alles vom Herzen heruntersprechen, gerade als säßest Du zwischen Deinen vier Wänden – kannst mir, wenn Du willst, von Deinem armen Sünder berichten -“

„Verzeih’ mir – nein, das kann ich nicht! Später einmal vielleicht! Du hast auch schon sterben gesehen, ich weiß es, aber es ist ein anderes Ding, ob jemand friedlich in seinem Bett stirbt oder auf dem Schlachtfelde fällt, oder ob er gewaltsam durch den Arm der Gerechtigkeit aus dem Leben geschafft wird! Mich hat es hart angegriffen, und ich werde den Eindruck lange, lange Zeit mit mir herumtragen, das fühle ich! Gesteh’ es ehrlich, Fritz, ich bin ein trauriger Gesellschafter heut’ für Dich; Du solltest mich mir selbst überlassen!“

„Daß doch auch gescheite Leute offenbaren Unsinn schwatzen können! Gesellschafter! Als ob es mir darum zu thun wäre! Wenn Du mich nicht fortschickst …“

„Das nicht! Aber Du mußt mir nicht böse sein, wenn ich so gut wie nichts zur Unterhaltung beitrage.“

„Schon wieder! Unterhaltung! Wer in aller Welt verlangt denn das von Dir? Seit wann kommen wir beide uns mit höflichen Redensarten? Von Dir verbitte ich mir dergleichen geradezu – verstanden? Böse sein! Ich möchte wohl wissen, was Du anstellen müßtest, damit ich Dir böse sei! Basta! Alleinsein ist jetzt ein gefährliches Gift für Dich, daher wirst Du mich sobald nicht los, und solltest Du mich auch in der Stille dafür zu allen Teufeln wünschen!“

„Das wäre nun für mich wirklich ein ungeheuer passender Wunsch!“

„Pardon! Du hast recht! Ich muß mir am Ende wirklich das Fluchen abgewöhnen – Mäuschen und Schwiegermama sind auch nicht entzückt davon. Hör’, Mensch, die Schwiegermama hat mir gestern ein Cigarrenetui ihres Seligen geschenkt, echt vergoldet, von feinster Arbeit – feudal! Dieser gute Mann muß einen ausgesuchten Geschmack besessen haben, seine Witwe zeigte mir noch viel mehr solche feine Kostbarkeiten und ließ die angenehme Aussicht durchschimmern, daß ich allmählich die ganze Hinterlassenschaft antreten würde. Was sollte sie auch damit? In Ehren werde ich die Sachen schon halten – und sie kann sie ohnehin nicht brauchen, denn die wackere Dame raucht nicht!“

Unter solchem Geplauder führte Fritz den Vetter durch verschiedene Straßen, bis sie endlich vor einem hübschen, weißgetünchten Hause Halt machten, das neben einem Garteneingang mit der Inschrift „Gartenwirthschaft“ belegen war.

„Hier gehören wir her“ – der Lieutenant öffnete die hohe Gitterthür und steuerte geradeswegs auf eine schöne, schattige Baumgruppe los, unter welcher eine Anzahl gefällig gebauter Gartenmöbel stand. „Nun, verhält sich’s nicht, wie ich Dir prophezeit hatte: ‚leergebrannt ist die Stätte‘ – da hinten wimmeln ein paar nebelhafte Formen herum, die gehen uns aber nicht das mindeste an. Zenzi – Zenzi – liebliche Maid! – Du mußt wissen, hier giebt’s echtes Münchener Bier und echte Münchener Mädchen in Riegelhauben dazu – angenehm für Geschmack und Auge. Siehst Du, da ist sie!“

Ein zierliches junges Mädchen mit einem frischen Gesicht, dem das Riegelhäubchen allerliebst stand, kam auf Fritzens Ruf wie ein flinkes Bachstelzchen einhergetrippelt und fragte mit einem Knix, was denn die Herren haben möchten.

„Zunächst eine Patschhand, Zenzi! Und dann bringst Du zwei Franziskanerbräu und ein paar Rettige – Radi, Du weißt’s schon! – mit Salz und Butter – ich hab’ einen rechtschaffenen Hunger!“

[872]

In der Genesung.
Nach einem Gemälde von O. Erdmann.

[873] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [874] Zenzi knixte abermals und verschwand mit einem langen Seitenblick auf den schönen, blonden Mann, der weder Gruß noch Scherzwort für sie gehabt hatte.

„Das ahnungslose Wort Gottes! Jetzt thut er’s der Kellnerin an, ohne seine Augen nur aufzuschlagen!“ dachte Fritz für sich und forderte seinen Gefährten auf, sich umzusehen und ihm zuzugeben, daß es hier wirklich hübsch sei.

Ja – Reginald sah sich um und gab es zu. Der sauber gepflegte Garten wies nichts von der üblichen Nüchternheit sonstiger Restaurationsschauplätze auf – es gab liebliche, versteckte Plätzchen in ihm, buschige Anlagen, saftiges Rasengrün und eine Fülle verschiedenfarbiger Rosen zwischen würzig duftenden Nelkenbeeten.

Ab und zu trat ein einzelner Gast durch das Gitterthor und ging an den beiden, die bei ihrem Bierkrug und Rettig saßen, vorüber tiefer in die Anlagen hinein. So auch jetzt eben wieder: ein hochgewachsener, vornehm aussehender Herr schlenderte, von einem wunderschönen Rassehund begleitet, gemächlichen Schrittes den Kiesweg entlang; er stutzte und blieb etwas unschlüssig stehen, als er die beiden Vettern unter den Ahorn- und Lindenbäumen gewahrte.

„Du, Regi,“ raunte der Lieutenant hastig seinem Gefährten zu und erhob sich von seinem Sitz, „ist Dir’s sehr peinlich, mit dem Professor Delmont zusammenzuprallen? Wie der hierherkommt? ’s hilft aber alles nichts, ich muß den Mann anreden, ich bin erst neulich in seinem Haus gewesen, und er machte den liebenswürdigsten Wirth, – das darf nicht ungerochen bleiben! Ergebenster Diener, verehrter Herr Professor! Welcher Wind weht Sie in diesen verborgenen Erdenwinkel?“

„Vermuthlich derselbe, der Sie hierhergetrieben hat!“ erwiderte der Angeredete freundlich, zog den Hut, schüttelte Fritzens dargereichte Hand kräftig und verneigte sich gegen den Prediger. „Durch Zufall habe ich diesen hübschen, stillen Garten entdeckt, in dem man vor lästigem Jubel und Trubel sicher ist, und da meine Braut heute für den beabsichtigten Morgenspaziergang vor allerlei Aussteuersorgen nicht zu haben war, so wußte ich nichts Besseres zu thun, als eben hierher zu kommen, weil mir zum Arbeiten die Stimmung fehlte.“

„Lange wird dies anmuthige Idyll hier nicht währen!“ sagte Fritz gedankenvoll und griff nach einer kleinen hellgrünen Raupe, die sich an einem langen Faden von der nächststehenden Linde heruntergelassen hatte und sich dicht vor seinen Augen hin- und herschaukelte. „Andere Leute werden auch so klug sein, herauszufinden, daß sich’s hier gut hausen läßt – und in kurzer Zeit wird man hier im Garten kein leeres Plätzchen mehr finden, das edle Bier wird getauft werden, und aus dem lieblichen Naturkind Zenzi wird eine abgefeimte Bedienungsmamsell geworden sein!“

„Welch ein düsteres Mene Tekel!“ schob Delmont lächelnd ein.

„Glauben Sie’s mir immer dreist, Herr Professor – in Wirthshausfragen bin ich Autorität – meine Berühmtheit auf diesem Gebiet dürfte freilich bedeutend geschmälert werden, wenn ich meinen Nacken unter das sanfte Joch der Ehe beuge! – Nun, Ego, alter Freund, kennst Du mich noch?“

Das schöne Thier bewegte den buschigen Schweif und sah mit seinen sprechenden Augen zu dem Lieutenant empor.

„Was er doch zu meinem Julchen sagen würde! In ihrer Art ist sie auch ein Original, sehr gelehrig und für Schnepfen und Wildenten geradezu erstaunlich begabt – ’s ist eine Freude, mit Julchen auf die Jagd zu gehen – mehr mit ihr anzufangen als mit manchem Kameraden – in allem Ernst!“

Fritz sprach etwas gezwungen und lachte laut über seinen eigenen Witz; es war ihm peinlich, daß Reginald, sonst der formgewandteste Gentleman, mit keiner Silbe an dem Gespräch theilnahm, sondern stumm, mit niedergeschlagenen Augen, beiseite stand. „Was hat er denn nur?“ dachte der Offizier ungeduldig. „Früher oder später mußte er doch auf ein Zusammentreffen mit Delmont gefaßt sein, und er braucht es ihm wahrhaftig nicht mit dieser Geflissentlichkeit zu zeigen, daß er es nicht verwinden kann, von der schönen Annie um seinetwillen zurückgewiesen worden zu sein! Jetzt steht er da wie der steinerne Gast und macht ein Gesicht, als wäre der Professor der leibhaftige Gottseibeiuns. Es bleibt mir nichts übrig, als Regi zu entschuldigen, zumal der Professor schon ganz mißtrauisch zu ihm herübersieht!“

In der That hafteten Delmonts große Augen mit befremdetem Forschen auf dem Antlitz des Geistlichen – auch ihm schien es unglaublich, daß Conventius, ein Aristokrat, ein Mann der großen Welt, der ihre Formen vollkommen beherrschte, diese auffällige Zurückhaltung zur Schau trug, weil er einen bevorzugten Nebenbuhler vor sich sah!

„Sie müssen gütigst meinen Vetter entschuldigen, er ist heute kein ganz normaler Mensch!“ begann Fritz und nestelte an seinem Säbel. „Sie lesen wohl keine Zeitungen, Herr Professor?“

„Nur die Nachrichten über Kunst und Wissenschaft und das Allernothwendigste von Politik – anderes niemals.“

„Es kommt auch erst jetzt, nachdem alles vorüber ist, eine kurze Mittheilung in die deutschen Blätter – es handelt sich nämlich um einen Anarchisten und Mörder, der heute hingerichtet wurde und den mein Vetter in seiner Eigenschaft als Gefängnißprediger –“

„Ich bitte Dich, Fritz,“ unterbrach ihn nähertretend der Pfarrer von Sankt Lukas plötzlich mit offenbarer Unruhe und Aufregung, „was soll das alles? Brich ab von diesem Thema, nenne keinen –“

„Aber was ficht Dich denn an?“ fiel ihm der Lieutenant ins Wort, nun auch seinerseits ärgerlich, daß Reginald ihm den einzigen Milderungsgrund seines „wirklich ganz unparlamentarischen Betragens“ nicht gestatten wollte, auszusprechen. „Du thust gerade, als sei das alles ein Staatsgeheimniß! Heute noch kann Professor Delmont, wenn er Lust dazu hat, den Namen in allen Abendzeitungen lesen. Also der Mann hat sich in verschiedenen großen Städten auch verschiedene Namen gegeben, einmal nannte er sich Heller, ein andermal Deaks – sein eigentlicher Name aber ist Heinrich Schönfeld, und er stammt aus Hamburg.“

Hier hielt der Lieutenant inne und es wurde ihm seltsam und unbehaglich zu Muth. Delmont war fahl im Gesicht geworden, hatte sich vorgebeugt und starrte mit einem Ausdruck banger Frage und ungläubigen Schreckens in Reginalds Antlitz – dies Antlitz aber war urplötzlich dunkel erröthet, bis unter die Haarwurzeln in Purpurgluth getaucht – die Augen blieben beharrlich gesenkt, der Athem des Mannes kam und ging rasch und hörbar. So wie der Pfarrer von Sankt Lukas da stand, sah er – nicht Delmont! – aus wie das verkörperte Schuldbewußtsein!

Fritz sah von einem zum andern in der tiefen Stille, die seinen Worten gefolgt war; er wußte nicht, was er in seiner Verwirrung denken sollte – das eine fühlte er deutlich: hier lag irgendwo der Schlüssel zu Reginalds seit kurzem so auffällig verändertem Wesen. Was, ums Himmels willen, konnte ihm denn geschehen sein?

Da fühlte der Ulanenlieutenant mit einem Male eine Hand auf seiner Schulter, und er fuhr so heftig herum, als hätte ihn eine Natter gestochen.

„Wetter, Conventius, müssen Sie ein schlechtes Gewissen haben!“ rief Lieutenant Gründlich lachend und legte grüßend die Hand an die Mütze. „Verzeihen die Herren, daß ich Ihnen da so ohne weiteres in Ihr tête-à-tête falle, ich hätte aber gern mit dem Kameraden Conventius ein Wörtchen unter vier Augen gewechselt – soviel kann ich ja verrathen: es handelt sich um das Festessen zu Ehren unseres scheidenden Obersten. Jammervoll, daß er geht, einen solchen Vorgesetzten können wir uns künftig nur abmalen! Ihr Vetter Fritz, Herr von Conventius, hat von uns allen im Regiment entschieden den glücklichsten Arrangirmuskel, eine beneidenswerthe Naturanlage, und ich hoffe, seine Bräutigamspflichten werden ihn nicht verhindern, uns seine Fähigkeiten bei dieser feierlichen Gelegenheit zur Verfügung zu stellen. Für die Herren hat dies natürlich gar kein Interesse – Sie entschuldigen es daher wohl, wenn ich Ihnen den lieben Fritz auf eine kurze Weile entführe! Einstweilen habe ich die Ehre! – Also, Conventius, wir hatten zunächst gedacht, um die Sache würdig einzuleiten …“

Damit faßte Gründlich seinen Kameraden unter den Arm und führte ihn, eifrig in ihn hineinredend, ein Stück weiter, einem kleinen, von Weidengebüsch umstandenen Weiher zu, neben welchem die beiden Offiziere, gänzlich außer Gehörweite und durch ein paar schlankaufgeschossene Birken auch den Blicken entzogen, stehen blieben.

Reginald von Conventius und Delmont standen einander allein gegenüber, – – beide wie von einem Bann umfangen – [875] regungslos. Der gesenkte Blick des Geistlichen hob sich, wie von einer fremden Gewalt gezwungen, und seine Augen, über denen es wie ein Flor lag, sahen in das entfärbte Gesicht des andern. Dann tastete Reginalds Hand unsicher nach seinem auf der Tischplatte liegenden Hut, und er machte eine Bewegung, als wollte er sich zum Gehen wenden.

Da hielt ihn Delmont zurück und fragte mit heiserer, stockender Stimme:

„Er hat Ihnen – hat Ihnen Beichte abgelegt?“ Und, da Reginald stumm blieb, drückte er die geballte Faust auf den Tisch und sagte gebieterisch: „Sie müssen mir das sagen – ich muß es wissen – vielmehr, ich weiß es schon – ich lese es Ihnen ja vom Gesicht herunter …“

Reginald wollte erwidern, aber er brachte kein einziges Wort heraus – was hätte er auch sagen sollen? Er wisse von nichts, Schönfeld habe ihm nicht gebeichtet? Eine offenbare Lüge – er – ein Geistlicher! Und Delmont würde sie ihm keine Minute lang geglaubt haben!

„Daß er meinen Namen ausgesprochen hat!“ vollendeten nach einer Weile flüsternd Delmonts Lippen.

„Er ist ihm wider Willen am Ende seiner Erzählung entschlüpft; er hatte keine Ahnung, daß ich Sie kannte!“ Reginald sprach mit großer Anstrengung.

„Ich glaube es! Er war mir ein treuer, ergebener Freund und ein Mann von Charakter, was auch das Leben und die Verhältnisse später aus ihm gemacht haben! Also hingerichtet!“ Ein Schauer fuhr ihm durch die Glieder. „Und er hat Ihnen alles gesagt – alles – wie es gekommen ist?“

„Nun – und Sie?“

„Ich?“ Der Geistliche richtete sich straff empor. „Ich bin in einen schweren Konflikt mit mir selbst gerathen – Sie werden sich vielleicht vorstellen können … nun, wie dem auch sei: ich habe beschlossen, zu schweigen. Hatten Sie es anders von mir erwartet?“

Ueber Delmonts Züge ging ein Zucken, als er stumm den Kopf schüttelte.

„Ein schwerer Entschluß!“ sagte er endlich wie für sich.

„Gott wird mir verzeihen – ich kann nicht anders handeln!“

„Das meinte ich jetzt nicht – ich dachte an mich selbst!“

„An Sie – warum – was –“

„An den Entschluß, den ich zu fassen habe!“

„Ums Himmels willen – Sie könnten – nur weil ich – Gott weiß es, ohne mein Zuthun! – Ihr Geheimniß erfuhr? Ich bin der einzige lebende Mensch, der darum weiß, und wenn ich Ihnen bei meinem Eid als Priester, bei meinem Wort als Mann, bei meiner Ehre schwöre, nie mit einem Hauch, nie mit einer Miene, gegen wen es auch sei –“

Delmont hob beschwichtigend die Hand.

„Dessen bedürfte es nicht – ein einfaches Wort von Ihnen würde mir genügen. Nicht Ihre Mitwissenschaft ist es“ … er schöpfte tief Athem – dann, nach einer langen Pause: „Es war eine That heißer, jugendlich zorniger Leidenschaft, und nach menschlichem Maßstab kann sie kaum noch an mir gestraft werden. Es war ein schlechter, bösartiger Mensch, gegen den ich meine Hand erhob – gleichviel – es war ein Mord! Glauben Sie, daß ein Mädchen, und wenn es einen Mann noch so innig liebt, ihm ruhig zum Altar folgen möchte, wenn es wüßte, dieser Mann hat gemordet?“

„Ich meiß es nicht! Wenn der Mann nicht den Muth hat, ihr, die sein Alles werden soll, sein besseres Ich, vertrauensvoll sein ganzes Leben klar zu legen, sich offen zu seiner Schuld zu bekennen –“

„Niemals!“ unterbrach Delmont den Redenden hastig. „Ich habe mit mir gekämpft, gerungen – umsonst! Ich weiß es, sie würde sich mit eiserner Kraft beherrschen, aber sie würde nie aufhören, innerlich vor mir zurückzuschaudern – sie – vor mir! Und so muß ich denn mein ganzes Lebensglück und das ihre, unsere Ehe und unsere Stellung vor der Welt auf einer Lüge aufbauen … oder …“ er vollendete nicht, aber er erbleichte bis in die Lippen hinein.

„Nicht so!“ sagte Reginald sanft. „Sie sind in Aufregung jetzt, und wer möchte es Ihnen verdenken? Aber ich bitte, bedenken Sie nur: bisher war Ihr Geheimniß im Besitz eines Menschen, bei dem Sie es sicher aufgehoben wußten; er ist jetzt todt, und das Geheimniß hat den Besitzer gewechselt, die Sicherheit aber ist genau dieselbe. Sie haben bisher oft mit Zweifeln und Bedenken gekämpft und manche schwere Stunde gehabt, ich glaube es Ihnen – Sie werden das auch in Zukunft müssen, es kann Ihnen nicht erspart bleiben – aber Ihre Lage hat sich in nichts geändert.“

Der Künstler lächelte bitter.

„Doch! Sie hat sich geändert! Der Verstorbene war mein Freund, er verdankte mir viel, er hing mit feuriger Liebe an mir – falsch und verächtlich hätte er an seinem liebsten und einzigen Jugendfreunde gehandelt, wenn er mich verrathen haben würde. Ihr Schweigen würde ein ebenso unverbrüchliches sein wie das seine, das weiß ich gewiß, es bedarf dazu keines Eides – was mich aber dort kaum ängstige, weil ich es unbedenklich als etwas Selbstverständliches entgegennahm, das würde mich hier zu Boden drücken. Ich dachte selten mehr an Schönfeld; ich hatte einmal flüchtig gehört, er habe sich in anarchistische Bestrebungen eingelassen, dann war seit langen Jahren alles über ihn verstummt, ich war auf Reisen, deutsche Zeitungen kamen mir selten zu Gesicht – ich dachte zuweilen, er müsse schon lange todt sein. Nicht, daß ich einen Mitwisser bei meiner That gehabt, beunruhigte mein Gewissen … die That selbst war es, die immer wieder in mir aufstand, mich marterte und peinigte, und niemals qualvoller, als wenn ich bei meiner Braut gewesen war. Mit tausend Stimmen schrie es in mir: wie darfst Du es wagen, dies ahnungslose, engelreine Geschöpf an Dein Herz zu drücken, und bist doch des Mordes schuldig? Nur in ihrer Nähe lassen die Furien mich los – mit hundertfacher Gewalt fallen sie mich an, wenn ich sie nicht bei mir habe! – Und jetzt – zu wissen, zu denken: der Mann, der ihrer unsagbar viel würdiger ist als du – der Mann, der sie liebt aus ganzer Seele, den sie wieder lieben würde, wärest du nicht - der ihr ein ungetrübt glückliches, sonnenhelles Los bereiten würde, wie es ihr, dem sonnigen Geschöpf, einzig zukäme … gerade dieser eine Mann, und kein anderer, weiß um deine dunkle That – er schweigt aus Seelengröße, aus Edelmuth – aber er weiß darum … und wenn er fortginge aus Deutschland, und wenn du selbst fliehen wolltest bis ans Ende der Welt: er weiß darum! – Glauben Sie nicht, daß ein solches Bewußtsein ein Leben, das ohnehin von Qual und Reue und Gewissenspein halb zerstört ist, unheilbar vergiften kann?“

Wieder ein tiefes, bedrücktes Schweigen. Nur ein kleiner Fink, der im Lindenwipfel sein Nest hat, sitzt auf einem schwankenden Zweiglein und schlägt aus heller Kehle in den schönen Sommertag hinein, und von fern hört man ein paar Kinder, die sich am andern Ende des Gartens haschen, lustig auflachen.

Endlich sagt Reginalds tiefe, sonore Stimme:

„Sie denken an sich selbst – Sie sprechen von sich selbst – aber sie – Annie!“

In den düstern Augen des Malers nachtet es, und seine Brust hebt sich wie im Krampf.

„Eben weil ich an sie denke …“ hebt er an, bricht aber plötzlich und unvermittelt ab.

„Sie hören noch von mir!“ Er greift nach Reginalds Hand, preßt sie, daß es schmerzt, und eilt hastig, ohne zu grüßen, ohne umzublicken, dem Ausgang zu. –




16.

„Ich möchte doch wissen, was das mit Karl ist!“ bemerkt Annie Gerold gedankenvoll und wickelt ein buntes Seidensträhnchen, mit dem sie gerade ein stilvolles Muster in einen Tischläufer zu nähen begonnen hat, um ihre schönen Hände. „Du wirst nun sagen, Thea, daß ich Dir das im Laufe der letzten Tage mindestens schon hundertmal anzuhören gegeben habe, und daß es nichts weniger als geistreich ist, unaufhörlich über Dinge zu reden, über die man keine Gewalt hat und die man aus eigener Machtvollkommenheit nicht wandeln kann – aber ich kann es nicht ändern!“

Nein, Thekla sagt nichts dergleichen. Sie sitzt in ihrem Lehnstuhl, hat heute einen ausnahmsweise guten Tag und kränkt sich, daß das Vögelchen, so auserkoren zum Glück, nun schon mehrere schlechte Tage zu verzeichnen hat. Draußen fällt ein [876] regelrechter, gleichförmiger, ausdauernder Landregen, der Himmel ist mit einer Schicht von trübem Weißgrau überzogen, und aus den aufgesperrten Drachenmäulern an den Dachrinnen sprudelt es ohne Aufhören.

Thekla hat sich Kopf und Augen ein wenig müde gelesen und sitzt nun müßig da und sieht auf Annie. Ihr ist seltsam weich zu Sinn, schon seit längerer Zeit! Immer näher rückt nun die Frist, da man ihr den Augentrost, das Sonnenlicht, das Herzblatt, das Vögelchen fortnehmen wird, und die „gelehrte Thekla Gerold“ findet, daß das ganze Arsenal der Kantschen, Fichteschen, Schopenhauerschen, Hartmannschen Philosophie, mit dem sie gegen sich selbst zu Felde zieht, nichts ausrichtet gegenüber dem bangen, unsäglich trostlosen Gefühl, das sie jedesmal beschleicht, wenn sie es sich recht eindringlich sagt und vorstellt: ohne das Vögelchen! –

„Wann bekamst Du doch seinen Brief mit der Nachricht von der Reise?“ fragt sie, obgleich sie dies ganz genau weiß; sie weiß, Annie spricht am liebsten von ihm!

„Genau vor vier Tagen, am vierundzwanzigsten Juni, gegen Abend. Ich hatte ihn morgens fortgeschickt, weil ich unmöglich Zeit für ihn hatte, und wir hatten verabredet, er sollte am Abend kommen; statt seiner langte um sechs Uhr ein Zettel an, ganz eilig geschrieben, er müsse schleunigst verreisen, würde mir bald näheres melden. Bis jetzt warte ich noch darauf!“ Annies Stimmchen wurde etwas unsicher. „Es muß doch etwas Geschäftliches sein!“

„Selbstverständlich ist’s das!“ schaltet Thekla ein.

„Ja – wenn ich nur wüßte, was! Er hat ja alles mit mir besprochen, ich weiß, was er fertig hat! Das Wüstenbild kann’s nicht sein, das steht noch auf der Staffelei – aber freilich – einer kann es gesehen haben und wünscht, darüber zu unterhandeln – dann müßte doch aber der Kunsthändler hierherkommen, um mit Karl abzuschließen. Oder vielleicht das Nildelta – er hat schon so viele Angebote zurückgewiesen … reisen lassen will er das Bild nicht, zu Ausstellungen hat er’s auch nicht schicken mögen, und die Galerien, die es kaufen wollten, waren ihm nicht bedeutend genug. Er ist ja ein berühmter Künstler und weiß selbst am besten, welchen Werth seine Bilder haben! Aber daß es so furchtbar eilte! Daß er nicht ein paar Minuten mehr fand, Lebewohl zu sagen!“

„Und er hat Dir wirklich das Ziel seiner Reise nicht genannt?“

„Aber Thea! Würde ich Dir das verschwiegen haben?“

„Nun – er hätte Dich ja darum bitten können, es mir zu verschweigen!“

„Dann würde ich Dir gesagt haben, daß er dies that! Nein, ich habe keine Ahnung, wo er geblieben sein kann!“

„Findest Du es nicht etwas sonderbar, Vögelchen, daß er Dir, seiner Braut, dies verschweigt?“

Noch vor zwei Tagen würde Annie dies nie und nimmer zugegeben und ihren Geliebten kräftig vertheidigt haben; aber zwischen vorgestern und heute lagen achtundvierzig Stunden voll bangen Wartens, voll muthloser Gedanken, voll quälender Ungewißheit. Sie senkte daher jetzt das Köpfchen und sprach ein tonloses „Ja“.

„Möchtest Du einmal hierher zu mir kommen, Vögelchen?“ fragte Thekla sehr sanft.

Vögelchen kam. Es rückte sich den Schemel herbei und setzte sich so dicht als möglich neben Theklas Sessel, die Wange an Theklas Arm gelehnt. Es war lange her, seit sie diese Stellung zum letzten Male eingenommen hatte.

„Möchtest Du mir nicht vertrauen wie sonst immer? War nicht im Wesen Deines Verlobten zuweilen etwas, was Dir auffiel? Ich tadle ihn ja nicht“ – Annie hatte eine abwehrende Bewegung gemacht – „ich frage Dich nur! Er liebt Dich über alles, das weiß ich – Du liebst ihn wieder – er ist ein hochberühmter, gefeierter Künstler, dem Gold, Ruhm und Ehren von allen Seiten zuströmen … wie geht es zu, mein Herz, daß er bei alledem nicht glücklicher ist? Hast Du nicht oft darüber nachgedacht?“

„Sehr oft – sehr oft!“ Annie versteckte ihr Gesicht an Theklas Arm und brach in Thränen aus.

„Vögelchen – mein liebes – mein Kind – weine nicht so, ich bitte Dich! Sieh, mir ist es aufgefallen, wie Delmonts Gesicht oft einen so harten, fremden Ausdruck annahm, wie seine Augen sich verdüsterten, er immer wortkarger und finsterer wurde, – es ist für mich ganz sonnenklar, daß ihn etwas drückt und quält; hast Du keine Idee, was es sein könnte? Hat er Dir’s niemals angedeutet?“

„Nein, niemals, Thea!“ Annie hob ihr Gesichtchen empor und wischte sich die Thränen aus den Wimpern. „Ich hab’ es ein einziges Mal in letzter Zeit versucht, ihn zu fragen, als diese düstern Stimmungen immer häufiger wurden – jetzt, da unsere Hochzeit so nahe ist! – aber er hat mir nichts sagen wollen. ‚Ich kann nicht!‘ hat er ausgerufen, mit einem so gequälten Gesicht, daß ich mir innerlich Vorwürfe machte, nicht meinem Vorsatz treu geblieben zu sein, nämlich, abzuwarten und ihm zu vertrauen in dem Gedanken, er müsse es am besten wissen, ob er mir etwas sagen könne oder verschweigen müsse! Hedwig Weyland sagte einmal, im Leben der Männer gebe es mancherlei, was sie allenfalls ihrer Frau, nie aber ihrer Braut anvertrauen würden. Daran habe ich immer denken müssen und versucht, mich damit zu trösten – es wollte aber nicht recht gehen!“

Thekla streichelte sanft Annies Haar. Sie litt nicht an Ahnungen wie Hedwig Weyland, aber sie sagte sich aus eigener Beobachtung jetzt zum hundertsten Mal innerlich, daß ihr Vögelchen kein glückliches Los erwarte an der Seite dieses Mannes. Warum mußte Annie gerade ihn lieben? Wer ihr das hätte sagen können!

Es blieb lange still im Zimmer. Vor den Fenstern machten ein paar Spatzen mit verregnetem, gesträubtem Gefieder einen schüchternen Versuch, zu zwitschern, gaben aber bei dem trostlosen Wetter diesen verwegenen Gedanken alsbald wieder auf. Eintönig – eintönig plätscherte der Regen herab, die Luft war weich und schwer.

An der Hausthür klang das Glockenspiel. „Ich wollte, wir bekämen Besuch,“ dachte Thekla, „sei es nun schon, wer es sei, meinetwegen Hertha Kreutzer oder sonst eine von den jungen Zieräffchen – es wäre immerhin eine kleine Zerstreuung.“

Es kam kein Besuch, sondern Agathe mit einem Brief. „Für Dich – Vögelchen, ’s ist eine italienische Postmarke drauf, die kenne ich!“

Thekla sah, daß Annie jählings erblaßte beim Anblick des Briefes, sie winkte darum der Alten, die erwartungsvoll dastand, das Zimmer zu verlassen, und wandte sich selbst ihrem Buche zu, um anscheinend eifrig zu lesen. Annie war aufgesprungen und las ihren Brief in der Nähe des Fensters.

Thekla zwang sich gewaltsam dazu, ihre junge Schwester nicht zu beobachten; sie sah unausgesetzt in das Buch hinein, aber sie hatte keinen Schimmer von Verständniß für das, worauf ihre Augen ruhten.

Endlich drehte sich Annie vom Fenster weg und kam auf Thekla zu, und diese hob den Blick und sah in das junge Gesicht, das todesblaß war und einen hilflosen Ausdruck zeigte.

„Lies Du, Thea – und sag’ mir, ob das sein kann – und wenn Du es begreifst, erklär’ es mir – ich kann das ja gar nicht verstehen!“

Sie griff sich mit beiden Händen an die Stirn – dabei fiel der Brief in Theklas Schoß. Diese nahm ihn und faltete ihn auseinander; Annie setzte sich auf die Seitenlehne des Sessels, legte ihren Arm um Theklas Schulter und sah mit ihr in den Brief hinein. Er war aus Florenz datirt.

„Ich bin hierher gegangen, Annie – nicht, weil ich Geschäftliches hier zu thun habe, sondern weil ich geflüchtet bin vor Dir – ja, vor Dir – und auch vor mir selber!

In meinem Wesen ist Dir manches räthselhaft gewesen, ich weiß es genau, und das wäre geblieben – ich hätte Dir mein Inneres nie ganz erschließen können, auch wenn Du mein Weib geworden wärest. Das hätte die schönste Blüthe des ehelichen Glücks, das Vertrauen, im Keim erstickt, es hätte Dein sonniges Gemüth getrübt und Dich unsicher und unglücklich gemacht, denn Du sahst den dunklen Schatten jetzt schon, wie er schwer und erdrückend über mir hing … um wieviel mehr würdest Du ihn empfunden haben im engen Verkehr des ehelichen Zusammenlebens, dessen vornehmste Bedingung in dem Satz enthalten ist: was trifft – trifft beide! –

Es hätte beide getroffen, aber nicht in dem Sinn, in welchem dieser Satz gemeint ist! Oft schien es mir, als ob in Deiner Nähe alles Finstere von mir weiche, wie Nebel vor der Sonne

[877]

Juleber.
Nach einer Zeichnung von A. Zick.

[878] fliehen, aber es schien auch nur so, denn in der letzten Zeit hat Dein klarer, liebevoller Blick, wie er in banger Frage auf mir ruhte, meine Qual noch verzehnfacht!

Um Gotteswillen, frage nicht – nein – ich mache es Dir unmöglich, daß Du fragst! Ich leide mehr, als ich sagen kann, und ich glaube nicht, daß ein Mensch auf dieser leiderfüllten Erde unglücklicher ist als ich. Die Verkörperung seines höchsten Ideals von Glück und Lebensfülle vor sich zu sehen, dicht vor sich – und zu wissen, es ist erreichbar – man darf nur den Muth haben, die Hand auszustrecken, es sich anzueignen, um überreich fürs ganze Leben zu sein und nun sich unaufhörlich sagen zu müssen, du hast kein Recht darauf – Annie – kann es einen trostloseren Gedanken geben? –

Ich denke an Dich und an mich zugleich, wenn ich Dein Schicksal von dem meinigen löse: es hätte für mich keine Ruhe – keinen Frieden – nur ewige Angst – eine Seelenfolter, die mich das Leben nicht ertragen ließe, gebracht, für Dich aber eine jährlich, täglich wachsende Pein – ein ruheloses Grübeln – ein Heer von quälenden Gedanken … dies das Los eines Wesens, dem ich ein Paradies auf Erden hätte bereiten wollen?

Versuch’ es, mir zu verzeihen, daß ich in Dein Leben eingriff, daß ich die Kraft, die Selbstbeherrschung nicht besaß, Dir fern zu bleiben! Annie, mein Herz, verzeih’ mir das! Ich blicke zurück auf eine Erinnerung, einen Liebestraum, so wonnig und schön, wie nur die Gottbegnadeten unter den Menschen ihn haben dürften – Dir stehle ich eine köstliche Spanne Glück und Freude, denn Dein treues zärtliches Herz wird lange um mich trauern und es schwer finden, mich zu vergessen, ich weiß es! Aber, glaube es mir, ich werde hart bestraft dafür, daß ich Dir dies angethan!

Und Du bist jung, bist vielseitig begabt und elastischen Geistes; Gottlob, für Dich wird die Zeit noch die große, allmächtige Trösterin sein, die sanft und unmerklich Dein wundes Herz zu heilen versteht. Für mich ist sie nur das Mittel, mehr und mehr aus einem Leben entrückt zu werden, das keine Sonne und keine Hoffnung mehr kennt.

Denke an mich als an einen unheilbar Kranken, dem nichts zu helfen imstande ist – selbst nicht Deine Sorge und Deine Liebe! –

Und versuche nicht, meine Spur zu entdecken, es wäre umsonst! Wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich schon weit von dem Ort entfernt, an welchem ich ihn schrieb, und ich habe Sorge getragen, daß man mich nicht auffindet. Ob ich später wieder arbeiten kann, weiß ich nicht – es ist wie eine todte Wüste in mir und um mich her! –

Wie ich Dir danke für alles, was Du mir gewesen bist, das vermag ich in Worten nicht auszudrücken. Mein ganzes Leben, Dir allein gewidmet, würde nicht ausgereicht haben, Dir dies zu beweisen. Ueberschwänglich reich hast Du mich gemacht, und daß ich nun so bettelarm dastehe, ist lediglich meine Schuld.

Ich werde mein Leben nie freiwillig von mir werfen, denn ich habe eine Schuld zu sühnen und will sie büßen, aber Du, Annie, sende, wenn Dir mein Andenken theuer ist, ein Gebet zu dem Gott, an den Du glaubst, empor, er möge mein Dasein bald auflösen in das große Nichts, das alles Lebende in sich aufnimmt!

Noch einmal kniee ich im Geist zu Deinen Füßen, wie ich es im Lehen so oft gethan habe, und sage Dir tausendfältigen Dank und flehe Verzeihung an für mich!
 Karl Delmont.“


Thekla hatte gelesen und bog den Kopf zurück; Annie war noch immer merkwürdig blaß und ihre Augen flimmerten.

„Träume ich das alles nur, Thea?“ fragte sie endlich mit halber Stimme.

„Mein Kind – komm’ hierher – so – blick’ nicht so starr vor Dich hin – könntest Du nur weinen!“

Annie schüttelte den Kopf.

„Mir ist so, als hätte mir jemand das Herz in der Brust todtgeschlagen – und das hat Karl gethan, der mich so lieb hatte! Aber ich werde ja nicht daran zu Grunde gehen; gebrochene Herzen giebt es nicht mehr, sagen die Menschen!“

Sie nahm den Brief, legte ihn sorgfältig wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag, alles mit einer ganz unnatürlichen Ruhe, die Thekla je länger je mehr beängstigte. Dann stand sie auf und räumte ihre Arbeit fort, sammelte jedes verstreute Seidenfädchen auf, schloß alle Haken des Etuis und trug es an seinen Platz. Endlich blieb sie mitten im Zimmer stehen und sah sich darin um.

„Wenn ich nur wüßte, was ich jetzt noch im Leben soll!“ sagte sie halblaut vor sich hin.

Thekla biß die Zähne fest zusammen und senkte den Kopf tief auf ihre Brust. Sie wußte es ja so genau: der Schmerz ist immer selbstsüchtig, und die Jugend ist meist, ohne es zu wissen, hart – sie denkt an sich und schont nicht des andern! Aber daß auch Annie so war, – ihr Kind – ihr Kleinod – das Wesen, das sie vom ersten Tage seines Daseins mit selbstloser Liebe und Sorgfalt behütet, das für sie, die arme Kranke, der einzige Zweck ihres Daseins gewesen war, und das nun sie fragte, was sie im Leben noch solle!! – –

Annies Blick war auf den Fensterscheiben haften geblieben, an denen der Regen niederrann. Draußen standen die Bäume, die Blumen still, mit ergebungsvoll gesenkten Häuptern, wie gebadet in Thränen.

Lange starrte das junge Mädchen hinaus, endlich wandte sie sich mit einer müden Bewegung ab; dabei fiel ihr Blick zufällig auf Thekla, und sie sah, daß diese weinte!

Das hatte Annie noch nie gesehen bei der älteren, so ungewöhnlich selbstbeherrschten Schwester, die alle „Empfindsamkeit“ so herbe verspottete. Es mußte sie etwas hart angefaßt haben, daß ihr die Thränen kamen, – und diese Thränen hatte sie verschuldet, sie, Annie, mit ihren harten, herzlosen Worten! –

Und beim Anblick des Leidensgesichts, das von lebenslangen Qualen sprach, und der lautlos geweinten Thränen, die um Annies willen flossen, schmolz auch die Rinde um das junge Menschenherz, das seinen ersten großen Schmerz erfahren hatte, und Annie schluchzte auf: „Thea – ach, Thea, verzeih’ mir! Weine nicht! Ich bin schlecht gewesen, aber ich bin so unglücklich!“ Und sie weinte, als sollte ihr das Herz brechen! – –




17.

Der Herbst war dahin und ein rauher, stürmischer, böser Herbst war’s gewesen, der dem lachenden Sommer gefolgt war … jetzt zog der Winter in das Land – ein weißer, lautloser Gast.

Die alten Leute in F. sagten es immer wieder, sie könnten sich keines ähnlichen Winters entsinnen – es schneite und schneite ohne Unterlaß, sacht und still, vom Morgen bis zum Abend, und wenn die Arbeiter sich tagüber müde geschaufelt und die Straßen einigermaßen frei gemacht hatten, dann schneite es leise und unaufhaltsam über Nacht weiter, und die Mühe begann von neuem. An den Häusern thürmten sich die Schneewälle immer höher empor, obgleich lange Wagenreihen ununterbrochen hin- und herfuhren, die Schneemassen fortzuschaffen. Wind gab es keinen; die Flocken schwebten so ruhig vom gleichmäßig grau in grau getönten Himmel herab, als sollte das so fortgehen bis ans Ende aller Tage. Die Leute, die im Erdgeschoß wohnten, sahen nichts als Schneeberge vor sich, die täglich anwuchsen; man fragte einander umsonst, wo das eigentlich hinauswollte, und nur die Kinder waren vergnügt, schrieen, lachten und schneeballten und versanken oft bis an die Brust in den leuchtend weißen lockern Massen.

Trotz des Schnees begann man dennoch, Gesellschaften zu geben. Die bekannten gastfreien Häuser thaten ihre Pforten auf – Diners, Soupers, große Routs, musikalische Abendunterhaltungen, Bälle – jeder Tag hatte ein anderes vergnügtes Gesicht. Die jungen Damen hatten sich nun in die Ulanen gefunden und die Dragoner fast ganz vergessen – nun, die Ulanen waren in der That entzückend, und einer von ihnen, dieser prachtvolle Lieutenant von Conventius, hatte inzwischen seine blonde Hedwig heimgeführt und machte ein famoses Haus; auch Thor von Hammerstein, Parsifal genannt, hatte sich verlobt, und zwar mit Hertha Kreutzer, die kein Hehl daraus machte, daß sie eigentlich lieber einen andern gehabt hätte (ebenso, wie ihr Verlobter lieber eine andere gehabt hätte, setzten die boshaften „Freundinnen“ in der Stille dazu!), indessen es ginge nicht immer im Leben so, wie man wolle, und ihr Erwählter war sehr verliebt und sehr wohlhabend, und vor Herthas erfreuten Blicken gaukelten die schönsten Zukunftsträume von kostbaren Toiletten und endlosem Vergnügen.

Aber – aber! Es gab viele Unzufriedene in diesem schneereichen Winter! Zumeist waren sie männlichen Geschlechtes – doch liefen auch viele weibliche mit unter. Der „Stern“ der drei letzten Saisons, die Perle unter den jungen Damen, Annie Gerold, [879] fehlte – saß ruhig daheim bei ihrer kranken Schwester und studirte und nähte und strickte für die Armen und zeigte ihr liebliches Gesichtchen selten bei ihren Freunden, selten auch auf der Straße, denn sie erging sich am liebsten in ihrem Garten, in welchem sie stundenlang auf und ab wandern konnte, mit ernsten, dunkeln, schwermüthigen Augen vor sich hinsehend.

Niemand wußte recht zu sagen, weshalb Annies Verlobung aufgelöst worden sei und wer von den beiden, die ein so überglückliches Paar geschienen hatten, sie gelöst haben könnte! Annie hatte zu Hedwig Weyland nur gesagt. „Es ist alles zu Ende! Frag’ mich nicht, wenn Du mich lieb hast!“ Nun, Frau Hedwig hatte sie lieb und triumphierte gar nicht, daß ihre Ahnungen wieder einmal eingetroffen waren – sie fragte wirklich niemals, kam aber sehr oft, Annie zu besuchen, und weinte im stillen manche Thräne um das zerschlagene Lebensglück ihres Lieblings. Durch sie hatte sich das Gerücht verbreitet, Delmont sei unheilbar krank gewesen und habe es darum nicht über sich gewonnen, Annies Leben an das seine zu ketten. Man fand es sehr unrecht von ihm, daß er sich, wenn er seinen hoffnungslosen Zustand kannte, überhaupt mit Annie verlobt habe – aber man bemitleidete das junge Mädchen allgemein und verschonte es mit lästigen Fragen.

Das letztere war es, was Frau Weyland gewollt hatte. Diese und die kleine Frau von Conventius besuchten Annie am häufigsten, ohne auf Gegenbesuche zu rechnen, ohne überhaupt von ihr irgend etwas zu verlangen. Sie thaten das, was echte Freundinnen immer thun sollten; sie gaben, ohne je zu fragen: wann bekomme ich etwas wieder? –

Die Herren also waren entrüstet, daß ihnen eine Tänzerin und Gesellschafterin wie Annie Gerold fehlte, und mancher kräftige Fluch über den „verdammten Kerl, den Maler“, kam von den bärtigen Lippen der Ulanenoffiziere, nicht zum wenigsten von denen des Lieutenants von Conventius, der an Delmonts unheilbare Krankheit durchaus nicht glauben wollte. „Der Mensch sah so gesund aus wie ich und Du!“ pflegte er zu seiner rosigen kleinen Frau zu sagen. „Und wenn ich an sein Gesicht und an das von Regi denke, damals im Münchener Biergarten – und ich denke oft daran! – dann könnte ich meinen Kopf drum wetten, daß hier ein Geheimniß sitzt – nur daß ich nicht sagen kann, wo! Und Du kannst’s auch nicht, Mäuschen – was?“

Nein – Mäuschen konnte es auch nicht! – –

Unter den Damen gab es ebenfalls zahlreiche mißvergnügte Elemente. Man ging so fleißig zur Kirche und erbaute sich wirklich an den guten Predigten und sammelte für die Armen eines ganz besondern Sprengels und trug dem Geistlichen dieses Sprengels namhafte Summen ins Haus und hatte keine Annie Gerold mehr zu fürchten, die besagter Geistlicher früher offenbar ausgezeichnet hatte, die er aber jetzt nie mehr wiedersah … und trotz alledem blieb dieser wunderliche Heilige, der Pfarrer von Sankt Lukas, wie von Stein! Er nahm sehr selten eine Einladung an, schaute ungerührt in all’ die fromm aufgeschlagenen, thränenfeuchten Augen und bewegten Mienen, hörte all’ die Bekenntnisse und Aengste schöner Seelen ruhig mit an und tröstete sie auf die unpersönlichste Art und Weise, die sich denken ließ – hielt die hilfbereiten zarten Händchen nicht eine Sekunde länger fest, als die nothwendigste Höflichkeit erheischte, und strich die Summen für die hungernde Armuth dankend ein, ohne anscheinend zu ahnen, daß die edlen Spenderinnen hierbei noch einen profanen Nebengedanken haben könnten!

Dabei verschönte sich der Mann von Mal zu Mal, und seine Reden wurden immer inniger und tiefer, so daß die Gläubigen Sturm liefen zur St. Lukaskirche. Offenbar glaubte Pfarrer von Conventius jedes Wort, das er sagte, – und schon diese Thatsache allein, abgesehen von seinem Aeußern, seiner Herkunft und seinem gewinnenden Wesen, eroberte ihm viele Herzen, denn das fühlt die Menge von selbst, wenn ein Geistlicher aus der Tiefe seiner Ueberzeugung redet.

Langsam, langsam ging der Winter hin, und nicht wie im Jahr zuvor kam der Frühling schon im März – er ließ diesmal auf sich warten, er ließ sich bitten und herbeisehnen von aller Welt und kämpfte sich endlich verstohlen zwischen allem Schneewirbel und Nebelgewölk hindurch – Gottlob, nun war er da!!

Und als es Frühling geworden war, ging Annie Gerold mit dem Weylandschen Ehepaar nach Italien.

Den ganzen Winter hindurch hatte Thekla die junge Schwester zu überreden gesucht: „Thu’ es!“ Und immer hatte Annie geantwortet: „Laß’ mich doch hier. Ich möchte bei Dir bleiben!“ Aber Thekla dachte an das Sprichwort vom steten Tropfen, der den Stein höhlt, und sie kam beharrlich wieder mit ihrem Vorschlag, den Frau Weyland mit eifrigen Bitten unterstützte, bis Annie endlich mit einem etwas ungeduldigen: „In Gottes Namen denn – ja!“ ihre Einwilligung gab.

Die Reisevorbereitungen waren getroffen, die Koffer gepackt, die Abschiedsbesuche erledigt, morgen früh sollte es fortgehen. In ihrem gemüthlichen Wohnzimmer saßen die Schwestern abends bei der Lampe zusammen. Thekla hielt ihren geliebten Fichte in der Hand und las Annie daraus vor.

„Hieraus ersiehst Du,“ sagte sie und ließ das Buch sinken, „was Fichte mit seiner Lehre des welterschaffenden und weltbeherrschenden Ichs meint: die innere Kraft des strebenden Ichs sei die Einbildungskraft, und von der schöpferischen Einbildungskraft gehe die ganze Wirksamkeit des Menschengeistes aus!“

„Wer nun aber über keine schöpferische Einbildungskraft verfügt?“ warf Annie ein.

„Der kann auch nicht wirksam sein!“ lautete Theklas Antwort.

„Wie zum Beispiel ich! Ich komme mir in meinem Innern so alt und zerbrochen vor – wo sollte ich wohl jetzt und jemals überhaupt schöpferische Einbildungskraft hernehmen?“

„Die hast Du stets in Dir gehabt, mein Vögelchen, obgleich Du nie Lieder komponirt, Statuen gemeißelt oder Dramen geschrieben hast – schöpferische Einbildungskraft steckt eben in jedem mit Phantasie begabten Menschen, und reicher ist selten jemand an Phantasie gewesen als gerade Du. Auch jetzt ist diese Schöpferkraft keineswegs todt in Dir, wie Du annimmst, nur matt und unlustig – sie wähnt sich vernichtet, ist es aber nicht – und wenn sie allgemach zu erwachen, ihre Flügel zu regen beginnt, so wirst Du zuerst erstaunt sein, dann unwillig, wie das möglich sei, Du wirst Dich dagegen wehren … aber, Liebling, Du wirst es nicht hindern können!“

„Meinst Du, Thea?“ fragte Annie gedankenvoll. „Du hast so oft recht in dem, was Du sagst, und Du kennst mich besser als irgend jemand, vielleicht besser, als ich mich selbst kenne … aber ich weiß nicht, ob Dein Scharfblick Dich nicht diesmal doch täuscht. Wäre mir mein Liebster gestorben, dann wäre es doch anders – der Tod ist der unerbittlichste Abschluß von allem, was Hoffnung und Sehnsucht heißt. Ich aber – ich hoffe freilich nichts mehr, ich weiß es ja genau, es ist vorbei für immer … aber oft habe ich das Gefühl, als müßte mich die Sehnsucht tödten!“

Mit einem Gefühl heißen Schreckens blickte Thekla in Annies Antlitz. Das junge Wesen hatte sich so tapfer beherrscht, war äußerlich so unverändert, daß die ältere Schwester schon heimlich den segensreichen Einfluß der mächtigen Bundesgenossin, der Zeit, zu spüren gemeint hatte. Irrthum! Und Thekla mußte Annie recht geben: die Beendigung ihres Liebesglücks hatte etwas Gewaltsames, Unnatürliches gehabt; alles war zu Ende, aber es hatte kein erlösender Accord dabei mitgeklungen, mit einer schrillen Dissonanz war es vorbei gewesen. Einen Todten kann man heiß beweinen, man soll ihm alles verzeihen; in dem Schmerz um einen lebendig Todten kann die trauernde Seele keine Ruhe finden! –

Die Reise – die Reise! Andere Menschen – täglich wechselnde Bilder, herrliche Kunstschätze, überschwänglich schöne Naturgenüsse – dazu Annies empfängliche Seele, ihre lebhafte, rasche Auffassung … Tausenden ist schon auf diese Weise das wunde Herz geheilt worden. Tausenden wird es noch geheilt werden. Thekla hielt Annies Hand, die schöne Hand, die Karl Delmont so zahllose Male geküßt und bewundert hatte, still in ihren beiden Händen und sah liebevoll in das liebliche Gesicht mit den großen, sehnsüchtigen Augen. – – – –

*      *      *

Etwa acht Wochen später war’s und in Bellaggio am Comersee. Dorthin war das Weylandsche Ehepaar mit Annie Gerold vor der Hitze, die in Italien zu herrschen begann, geflüchtet, und nun sahen sie von dem Balkon ihres herrlich gelegenen Hotels einen Sonnenuntergang mit an, der die Berge in Feuerflammen [880] badete und den Spiegel des herrlichen Sees in ein Goldmeer verwandelte.

In Annies Augen schwamm ein träumerischer Glanz, wie ihn Hedwig Weyland, die fein beobachtende Freundin, gar nicht liebte. Wenn Annie so aussah wie jetzt, dann gingen ihre Gedanken verbotene Wege, das war sicher, – und sie war in der letzten Zeit so heiter und vergnügt gewesen, daß das Ehepaar sich miteinander von Herzen dessen gefreut hatte. Sie sagte nicht mehr zu allem „Ja“, was man ihr vorschlug, sie fand nicht alles gut und schön, wie Weylands es wollten, – sie hatte ihre eigenen Ideen, dachte sich dies und jenes aus und zeigte deutlich, daß sie wieder einen Willen besaß … ein überaus günstiges Zeichen, wie Frau Hedwig immer wieder gegen ihren Robert betonte.

Jetzt aber dieser weltentrückte Blick, – es wurde Frau Weyland eigenthümlich beklommen ums Herz. Doch nicht wieder Ahnungen? Ums Himmelswillen! Daß nur Robert nichts merkte! Sie sah ihn heimlich von der Seite an: nein, er merkte gar nichts, er zog seine Uhr und wunderte sich, warum der Kellner die Zeitungen nicht bringe, die Post müsse doch längst angekommen sein!

Nach einer kleinen Weile trat der Erwartete durch die Glasthür und legte ein ganzes Packet des gewünschten Lesestoffs vor Herrn Weyland hin, deutsche, französische, italienische Blätter, alles durcheinander.

„Bitte, meine Damen!“ Weyland hielt seiner Gattin und Annie die Zeitungen zur Auswahl hin.

„Wie galant er sich anstellt!“ lachte Hedwig. „Als wenn wir nicht genau wüßten, daß er die deutschen Blätter für sich beansprucht und stillschweigend voraussetzt, wir würden, mit Rücksicht auf ihn, die ausländischen für uns nehmen nicht wahr, Annie?“

„Es ist ein feines Kompliment für Euch darin enthalten,“ behauptete Herr Weyland mit großem Ernst, indem er ohne weiteres die „Allgemeine Zeitung“ auseinanderfaltete – „Ihr seid als kluge und gebildete Damen der verschiedensten Idiome mächtig, ich gewöhnliche Kaufmannsseele aber verstehe nur das mütterliche Deutsch, allenfalls noch englisch – weiter schreibt Paulus nichts!“

Damit vertiefte er sich in sein Blatt, um, nach einigen Minuten schon, eine seltsame Unruhe blicken zu lassen. Er sah sichtlich betroffen aus, räusperte sich leicht, starrte beharrlich seine Frau an, um ihren Blick auf sich zu lenken, rückte mit dem Stuhl hin und her, knisterte mit der Zeitung, – umsonst! Hedwig war ganz vertieft in ihre Lektüre, Annie gleichfalls – nun, das traf sich günstig, aber seine Frau! Sie wollte ja immer so feinfühlend und ahnungsvoll sein – warum war sie es denn in diesem Augenblick nicht, da die Gelegenheit es so gebieterisch erforderte?

Endlich hatte Herr Weyland unter dem Tisch den Fuß seiner Frau gefunden, und er trat ihr heimlich darauf, so daß sie sich umwandte und ihn ansah. Endlich! Er winkte mit den Augen nach Annie hinüber und schob der Gattin möglichst unauffällig die Zeitung hin – sie sollte lesen.

Es dauerte eine Weile, ehe Frau Weyland das fand, was ihres Mannes Aufmerksamkeit erregt hatte. Endlich traf ihr Blick darauf – eine Notiz unter „Verschiedenes“ war’s:

„In Calcutta ist am achtzehnten Juni, kurz nach seiner Ankunft, der berühmte Porträt- und Landschaftsmaler Karl Delmont am gelben Fieber gestorben.“

In Hedwigs Hand bebte das Blatt und sie warf einen besorgten Seitenblick auf Annie, die sich in den französischen „Moniteur“ vertieft hatte. Wie, wenn jene Nachricht auch in diesem Blatt zu lesen stand, wie es die größte Wahrscheinlichkeit war?

Die beiden Gatten wußten nichts besseres, als einander sorgenvoll anzusehen – verstohlen natürlich, damit Annie es nicht merke. Sie wußten beide nicht, was sie thun sollten – wenn Annie nun auch in ihrem Blatt die Nachricht fand … was würde werden? Und wenn sie dieselbe nicht fand … waren in dem Fall nicht sie, Weylands, verpflichtet, ihr die Trauerbotschaft mitzutheilen? –

Auf dem Balkon, der ihnen zunächst lag – das große Hotel besaß deren mehrere – ging es lebhaft und lustig her. Man unterschied deutlich die verschiedenen Stimmen – helle, hohe Kinderlaute, dazwischen einen väterlichen Baß und ein weiches, verschleiertes Frauenorgan, abwechselnd mit einer sonoren Männerstimme – die beiden letzten sicher einem Brautpaar zugehörig, denn der tiefe Baß warnte ein paarmal nachdrücklich: „Alfred, verwöhnen Sie uns das Kind nicht so sehr!“ Dann bewunderte wieder jemand den herrlichen Sonnenuntergang, und ein Plan zu einem gemeinsamen Ausflug für den nächsten Tag wurde besprochen; die Kinder jubelten laut darüber und versprachen, sehr artig zu sein, wenn man sie mitnehme. Frau Hedwig hörte mit halbem Ohr hinüber, ohne einen Augenblick den Gedanken an ihre junge Freundin aufzugeben.

Plötzlich bemerkte sie, wie das Zeitungsblatt in Annies Hand seltsam raschelte und bebte – sie bog sich ein wenig vor: Annie starrte mit weitoffenen Augen in das Blatt, als ob sie ihren Sinnen nicht traue, dann ließ sie es langsam sinken, und Frau Hedwig sprang auf und legte den Arm um sie.

Aber Annie war zu jung und zu gesund, um ohnmächtig zu werden. Sie blieb bei wachen Sinnen, sah das Abendgold auf den Bergen verglühen und im Wasser zittern, gewahrte die besorgten Gesichter ihrer Freunde, wie sie sich über sie neigten, und hörte deutlich den Ton einer Zither, die drunten im Hotelgarten jemand sehr kunstfertig zu spielen begann. Eine wehmüthig süße, einfache Volksmelodie war’s, und der rührende Ton der Zither machte, daß es wie das Schluchzen eines zum Tode betrübten Menschen klang.

„Annie – liebes, liebes Herz – Du hast gelesen –“

Sie nickte nur und blieb stumm und regungslos sitzen wie zuvor.

Auch die Freunde schwiegen – was hätten sie sagen sollen? –

Nebenbei auf dem Balkon war alles still – sie hörten der Zither zu, die ihr trauriges Lied zu Ende klagte. Als der letzte Ton verhallt war, da war auch die Farbenpracht am Himmel und im See dahin – hier wie dort schwamm nur noch ein sanfter, rosiger Abglanz der verschwundenen Herrlichkeit. Und durch die tiefe Stille hörte man deutlich eine Stimme von drüben her sagen: „Heut’ haben wir Sonnenwende!“ –




18.

„Es ist nicht wahr, daß man im späten Alter keine festen, dauernden Freundschaften mehr schließt, es kommt hier wie überall auf die Persönlichkeiten an. Alte Freunde können uns oft, wenn seltsame, ungewöhnliche Verhältnisse an sie herantreten, ganz fremd erscheinen – und neue Freunde werden uns zuweilen so rasch vertraut, daß wir immer wieder verwundert nachsinnen müssen, ob es wirklich erst eine so kurze Spanne Zeit her ist, seit wir sie kennen!“

Thekla Gerold war’s, die diese Behauptungen aufstellte, und sie that dies offenbar viel weniger darum, um demjenigen, der ihr zuhörte und auf den sich ihr ganzer Ausspruch bezog, eine Freude zu bereiten, als um sich selbst ihre Idee klarzulegen – „laut vorzudemonstriren“, wie sie das nannte.

Der ihr gegenübersaß und dem dies Bekenntniß galt, war Reginald von Conventius, der Pfarrer von Sankt Lukas.

Es war ein der Dauer nach kurzes, aber sehr festes, inniges Freundschaftsband, das diese beiden Menschen vereinigte. Als Annie mit Weylands abgereist war, da hörte Reginald durch seinen Vetter Fritz, wie einsam Thekla jetzt sei. Zwei alte, erprobte Freunde ihres verstorbenen Vaters, die sie sehr lieb hatte und die viel um sie gewesen waren, hatte der Tod im letzten Winter abgerufen, ein dritter war von F. fort zu seinen verheiratheten Kindern gezogen, ein vierter bettlägerig krank! diese vier alten Freunde einer schönen, vergangenen Zeit entbehrte sie schwer – Fritz von Conventius mit seiner jungen Frau zeigte sich wohl dann und wann bei Thekla, aber dies lebenslustige Paar war sehr begehrt, seine Zeit immer knapp, und die vielen andern Besucher des Geroldschen Hauses waren alle nur Annies wegen gekommen; sie begnügten sich, Thekla einen Pflichtbesuch abzustatten, und das war alles.

Bücher sind eine gute Gesellschaft, und die „gelehrte Thekla Gerold“ war die letzte, die das jemals unterschätzte – aber nur auf Bücher angewiesen sein, wenn man noch ein Herz hat, vollends ein solches, das durch eine junge, liebreizende Schwester gehörig verwöhnt war, ist doch nur ein einseitiger Genuß, und so fand Fritz denn, als er die kranke Dame wieder einmal

[881]

Das Neujahrsblasen der Berliner Postillone.
Nach einer Zeichnung von Werner Zehme.

[882] besuchte, einen so traurigen Ausdruck in ihren Augen, eine so trübe Stimmung in ihrem Gemüth, daß es ihn in seinem guten Herzen bekümmerte und er sich zu seinem Vetter Reginald darüber aussprach.

„Siehst Du, Regi, sie dauert mich mehr, als ich es sagen kann, und ich gäbe wer weiß was drum, ihr zu helfen. Da sitzt nun das arme Geschöpf und sehnt sich nach der Schwester und hat, außer Lamprechts, die zwar bieder, aber doch nur mit Bildung schwach behaftet sind, keine menschliche Seele, die sich seiner annimmt. Das Mäuschen und ich haben den besten Willen, aber weiß der Kuckuck, ’s will sich gar nicht recht thun! Dabei ist sie wirklich eine bedeutende und herzensgute Person, die Thekla!“

Darauf hatte Reginald ihn mit seinen schönen, ernsten Augen angesehen und gefragt: „Was meinst Du, Fritz – ob ich einmal zu ihr hingehen könnte?“

Der Ulan hatte den Vetter darauf feurig umarmt und gerufen: „Ja – dreimal ja, Du Prachtkerl!“

Und Reginald war hingegangen. –

Von jenem Tage schrieb sich die Freundschaft der beiden. Sie verstanden einander in der That wunderbar, der gläubige Diener Gottes und der Freigeist. Das rein menschliche Element war es, was hier den Sieg behielt – und dann vereinte sie beide ein Gefühl, das stärkste, das jedes von ihnen hatte! Es dauerte nicht lange, da wußte es Thekla, ohne daß Reginald es ihr in klaren Worten gesagt hatte, daß er Annie nach wie vor mehr liebe als alles in der Welt – und er fühlte es heraus, gleichfalls ohne daß sie es ihm eingestand, daß sie ihm ihr Kind am liebsten gegönnt hätte. Das war die Brücke, auf der sie sich trafen, das war der Hintergrund aller ihrer Gespräche: Annie! Thekla las ihm aus Annies Briefen vor, sie berichtete von ihrer Stimmung während des Herbstes und Winters, sie theilte ihm die Beobachtungen mit, die sie während Annies kurzer Brautzeit gemacht hatte – nichts verschwieg sie ihm … und wiederum war Thekla der einzige Mensch, dem Reginald das Geständniß machte, er wisse um die Ursache von Delmonts verstörtem Wesen und um die innere Gewalt, die ihn gezwungen habe, sein Verlöbniß zu lösen, wenn er auch nie den Schleier dieses Geheimnisses lüften dürfe.

Thekla rechnete sich mit ihrem scharfen Geist etwas heraus, was der Wahrheit ziemlich nahe kam; sie hütete sich aber, mit Fragen oder Anspielungen in Conventius zu dringen; dazu war er ihr zu werth, hielt sie ihn zu hoch.

Die Nachricht von Delmonts Tod, die durch alle namhaften Zeitungen ging, hatte selbstverständlich auch ihren Weg nach F. gefunden – aber die beiden Freunde hatten nur die Thatsache erwähnt und alles weitere unberührt gelassen. Auch Annie hatte ihrer Schwester kein Wort von ihrem Empfinden geschrieben, nur den Wunsch ausgesprochen, bald heimzukehren, da sie sich nach Thekla sehne.

Heute war der fünfzehnte August, auf den folgenden Tag erwartete man Annies Heimkehr.

Reginald hatte mit Lamprechts Hilfe Theklas Rollstuhl in den Garten gebracht, und hier saß sie nun mitten im Grünen, von Schmetterlingen umspielt, von Bienen umsummt, und sprach ihre Ansichten über alte und neue Freundschaften aus.

„Unser Verkehr wird mir recht fehlen!“ schloß sie seufzend.

„Mir auch, liebe Freundin!“

„Aber ich sehe nicht ein – bestehen Sie wirklich in allem Ernst darauf, sich nie mehr bei mir sehen zu lassen, sobald Annie hier ist?“

„In allem Ernst – und mit Recht! Mein Erscheinen hätte für Ihre Schwester nur eine Bedeutung, nämlich die, ich wolle mich aufs neue um sie bewerben! Und dazu wäre wahrlich der Zeitpunkt jetzt schlecht gewählt!“

Thekla nickte ihm zu und hielt ihm ihre Hand hin.

„Es ist das Richtige so! Aber Sie haben mich sehr verwöhnt – ich werde schwer ohne Sie fertig werden!“

„Sie bekommen ja den schönsten Ersatz – nein, das nicht! Ersatz im vollsten Sinne des Wortes giebt es ja nicht, darüber sind wir beide einig! Aber es ist ja mehr als das! Ihr Liebstes kehrt Ihnen zurück – und ich – ich darf Ihnen manchmal schreiben – ja? –“

„Gewiß! Und ich werde Ihnen manchmal antworten. Welch ein kläglicher Ersatz – da ist das Wort schon wieder! Nun, wer kommt denn da?“

Durch den Gartensaal eilte es auf leichten Füßen, kam durch die offenstehende Glasthür, die Stufen herab – eine leichte, schlanke Gestalt, den Schleier zurückgeworfen, die Augen voller Thränen.

„Thea! Liebste! Wieder bei Dir!“ –

Reginald war emporgesprungen, peinlichste Ueberraschung in den Mienen. Heute schon! Er griff verwirrt nach seinem Hut, wollte sich unbemerkt zurückziehen –

Da richtete Annie sich auf aus Theklas Armen, bleich und verweint, und hielt ihm die Hand hin.

„Herr von Conventius! Wie danke ich Ihnen Ihre Freundschaft für meine Schwester!“

„Die findet ihren Dank in sich!“ gab er zurück. Er hatte sich rasch gefaßt, streifte die schöne Hand flüchtig mit den Lippen und wandte sich zum Gehen. „Verzeihen Sie mein Hiersein, Fräulein Gerold, Ihre Schwester erwartete Sie erst morgen!“

„Ich hatte zu große Sehnsucht ich hielt den Rasttag in München nicht aus, wie ich mir’s vorgenommen hatte, sondern reiste geradeswegs hierher. Ach – daheim – wieder daheim!“

Sie sah sich in dem sonnigen, grünen Garten um und drückte Theklas Haupt an ihre Brust.

„Mir will scheinen, Du siehst wohler aus, als da ich Dich verließ!“

Thekla blickte auf Conventius.

„Ich habe einen sehr geduldigen guten Freund und Tröster gefunden!“ entgegnete sie; und leiser setzte sie hinzu: „Sieh, nun will er gehen – und nicht mehr wiederkommen. Willst Du ihn nicht bitten, Annie, daß er es dennoch thut?“

Ein leises Erröthen stieg in Annies Gesicht, aber sie wandte sich, ohne zu zögern, zu ihm und sagte: „Ich bitte – kommen Sie wieder!“ – – –

Er kam – zuerst sehr selten nur und als Theklas offizieller Freund – dann häufiger – auch als Annies Freund, ihr Berather und Helfer im Wohlthun. – Aber mit einundzwanzig Jahren kann man nicht nur selbstlos in andern aufgehen – und die Stürme, die um diese gesegnete Zeit daherbrausen, die beugen ein Menschenkind wohl schwer danieder, aber sie knicken und vernichten es nicht ganz. – Und der Thau kommt und der Regen – und dann fängt es an, lind zu wehen, und die Sonne bricht durch! –

Ein wenig stiller, ein wenig ernster, aber unendlich liebreizend und in tiefster Seele dankbar war Annie Gerold in ihrem zweiten bräutlichen Glück.

Und als sie dann das grenzenlose Entzücken Reginalds sah, seine anbetende Liebe, die kein anderes Ziel, keinen weiteren Zweck kannte als ihr Glück … wie sollte sie da nicht aufblühen, schöner und holdseliger denn je? Es kam die Zeit, da war sie wieder das heitere, glückselige Vögelchen früherer Zeiten, verwöhnt, geliebt, bewundert von allen, und doch ihres Vaters Wort zur Wahrheit machend: „Verwöhnt es immerhin! Das schadet dem Kinde nichts! Es braucht viel Liebe, und es giebt ja auch aus seinem reichen, goldenen Herzen unaufhörlich, ohne zu rechnen!“ –

Das Haus Gerold schwamm im Glück, und nur Thekla fand des Streites kein Ende mit Fritz von Conventius, der da behauptete, er freue sich doch am meisten über dies Paar und seines Regi Glück – mehr noch als Thekla! Was wollte sie denn? Auf seines Stammhalters Taufe hatten die beiden sich ja miteinander verlobt – das mußte ihn doch wohl am meisten freuen, ihn, den Gastgeber, Vater, Freund und Vetter, der nun endlich der schönen Annie den lange vorher begehrten Verwandtschaftskuß auf die Lippen drücken durfte! –

Karl Delmont ist nicht vergessen – Annie bewahrt sein Andenken wie seine Bilder in treuem Herzen, und Reginald, der glückliche, dankbare Reginald, bewahrt sein Geheimniß – sein schönes, geliebtes Weib soll es nie erfahren, warum er am Tag der Sonnenwende so nachdenklich gestimmt ist, und wer in dem versteckten Grabe schlummert, auf welches ihr Gatte jedesmal zur Zeit der Sonnenwende einen Kranz niederlegt.




[883]
Eine alte Streitfrage.
Wann beginnt ein neues Jahrhundert?

„ ist so klar wie das Einmaleins!“ oder „darüber kann man so wenig streiten wie über den Satz, daß zweimal zwei vier ist!“ – solche und ähnliche Redewendungen werden wohl gebraucht, wenn bei einem Wortstreite der eine Theil zu verstehen geben will, daß seines Erachtens den von ihm angeführten Beweisen nicht mehr widerredet werden könne. Und diese Redewendungen, ob nun im einzelnen Falle mit Recht oder Unrecht angewandt, beweisen alle einen großen Respekt vor der Mathematik, vor den über jeden Zweifel erhabenen Gesetzen des Einmaleins, und man sollte daher glauben, daß über Dinge, welche dem zwingenden Machtspruche dieses Selbstherrschers unterliegen, ein Meinungsstreit überhaupt ausgeschlossen sei.

Aber weit gefehlt. Nichts, sollte man denken, sei einfacher als die Zeitrechnung, ob sie nun die Erschaffung der Welt, die Gründung der Stadt Rom, die Geburt Christi oder die Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina – also immer ein fest bestimmtes, wenn auch vielleicht willkürliches Datum – zum Ausgangspunkte nimmt. Gerade auf diesem Gebiete jedoch herrscht die größte Unklarheit, und es entstehen Streitfragen, die, bei ihrer verhältnißmäßigen Bedeutungslosigkeit, eine oft geradezu lächerliche Hitze annehmen.

Bei Licht betrachtet ist die Sache freilich nicht gar so wunderbar. Der ins Ohr fallende Laut und die Logik des Einmaleins wollen sich für manchen oft gar nicht zusammenreimen. So selbstverständlich es ist, daß die Jahre 1483 oder 1546 im 15. bez. 16. Jahrhundert liegen, so wenig will das dem einen oder dem andern unmittelbar einleuchten; er hört bei der ersten Zahl die Jahrhundertziffer 14, bei der zweiten 15 und ist daher geneigt, die erste Jahreszahl dem 14., die zweite dem 15. Jahrhundert zuzurechnen. Ist ja doch auch der Sprachgebrauch in dieser Hinsicht ein unsicherer: die Italiener bezeichnen heute noch die Gelehrten und Künstler des 16. Jahrhunderts als die großen Geister des „Cinquecento“ (cinquecento – fünfhundert, die Tausendzahl ist weggelassen).

Aber sei es drum! Die Wende der Jahrzehnte und Jahrhunderte, sollte man meinen, könnte doch unmöglich zu einem Streit führen; braucht man ja doch, um sie festzustellen, nur von 1 bis 10 oder von 1 bis 100 zu zählen. Trotzdem ist gerade darüber zu den verschiedensten Zeiten lebhaft gestritten worden, und zwar haben sehr verständige und brave Menschen für die der Zahlendogmatik gegenüber ketzerische Ansicht sich ereifert.

Zu diesen sehr verständigen und braven Persönlichkeiten gehört z. B. Liselotte oder, respektvoller geredet, die Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans, Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, Gemahlin des Herzogs Philipp von Orleans, des Bruders Ludwigs XIV. Sie war eine Frau von echt deutschem Schrot und Korn, und deutsch führte sie fast durchweg ihren Briefwechsel mit den Verwandten im Deutschen Reiche, namentlich mit der Kurfürstin Sophie von Hannover.

An diese nun schrieb sie am 4. Januar 1699:

„Es ist eine disputte bey Hoff so vom König ahn bis auff die laquayen disputirt wirdt, die disputte ist, ob daß Secullum ahnfengt wen man 1700 schreiben wirdt, oder 1701, monsieur Fagon undt die von seiner parthey sein, sagen, Es fengt ahn wen man 1700 schreiben wirdt, den alßden seyen die hundert jahr zum Endt, die andern aber souteniren, daß die hundert jahr Erst zum Endt seyen wen Man 1701 schreiben wirdt, Ich mögte gern deß herrn Leibnitz Meinung hirüber wißen, wo Man geht undt stehet jetzt hört man nichts alß disputtiren biß auff die porteur de chaisse disputtiren hirüber. Ich, wen Ich die Wahrheit bekenen sol, bin mons. Fagons Meinung, der König mons. le dauphin, printz de Conti, monsieur und gantze hoff seindt vor 1701. Ich mogte E. L. meinung auch woll hirüber wißen, etc.“

Ich habe nun nicht in Erfahrung bringen können, ob und wie die erlauchte Tante der Briefschreiberin oder der große Philosoph Leibniz die Frage beantwortet hat; von letzterem aber setze ich ohne weiteres voraus, daß er in dem Falle der Beantwortung gegen die Fragestellerin entschieden hat.

Soviel steht fest: die Jahresrechnung, welche die Geburt Christi zum Ausgangspunkt nimmt, fällt für uns mit dem Kalenderjahre zusammen. Niemand wird die Jahre der christlichen Zeitrechnung vom 24. Dezember bis zu demselben Datum des nächsten Jahres rechnen, sondern vom 1. zum 1. Januar, wie denn ja bei uns die Jahreszahl amtlich mit dem Eintreten des 1. Januar und nicht mit dem des 24. Dezember wechselt. Der Rest des Jahres, welcher zwischen das für unsere Zeitrechnung epochemachende Datum und den 1. Januar fällt – er beträgt ja nur 7 Tage – kommt eben nicht in Betracht; niemand wird diese Woche nach Christi Geburt als erstes Jahr bezeichnen wollen!

Dies zugegeben, folgt weiter von selbst, daß das erste Jahr der christlichen Zeitrechnung mit dem auf Christi Geburtstag folgenden 1. Januar begann, und daß es von diesem 1. Januar bis zum 31. Dezember währte.

Da nun ein Jahrhundert aber hundert volle Jahre hat, so schloß das erste Jahrhundert mit dem 31. Dezember des Jahres 100, und das zweite begann mit dem 1. Januar 101. Wer das erste Jahrhundert schon mit dem Jahre 99 schließen lassen will, der muß entweder demselben nur 99 Jahre zutheilen, was ein Widerspruch in sich selbst ist, oder er muß annehmen, daß dasselbe mit einem Jahr „Null“ begonnen habe.

Mir fällt dabei jenes alte Lehrbuch der Logik ein, auf Grund dessen wir in meiner Jugend Unterricht erhielten. In demselben wurde als Beispiel einer Art von Trugschlüssen der folgende angeführt: „Keine Katze hat 19 Schwänze; eine Katze hat selbstverständlich einen Schwanz mehr als keine Katze, folglich hat eine Katze 20 Schwänze.“ Der ganze Trugschluß ist darauf gebaut, daß das Wort „keine“ als positives Zahlwort verwendet wird, während es doch lediglich die vollständige Verneinung jeglicher Zahl, ja jeglicher Existenz ist. Und ganz dasselbe würde von einem Jahr „Null“ gelten. Ein Jahr „Null“ ist eben durch diese Benennung als überhaupt nicht vorhanden bezeichnet.

Endigte aber das 1. Jahrhundert mit dem 31. Dezember des Jahres 100, so schloß das 2. mit dem 31. Dezember des Jahres 200, und so geht es fort bis zu uns und weiterhin, solange eben unsere Zeitrechnung bestehen wird. Das 19. Jahrhundert heißt das 19., weil es mit dem Ende des Jahres 1900 seinen Abschluß findet, und der Irrthum, daß das 20. Jahrhundert mit dem 1. Januar 1900 beginne, erklärt sich lediglich aus der Klangwirkung, daß von diesem Jahre an die Jahrhundertziffer „8“ aus der Jahreszahl verschwindet und durch die Ziffer „9“ ersetzt wird. Wer dieses Ereigniß feiern will, mag es thun; wir treten aber mit dem 1. Januar 1900 nicht in das erste Jahr des 20. Jahrhunderts – welches ja so bezeichnet wird, weil es mit dem Ablaufe des Jahres 2000 endigt –, sondern in das letzte des 19. Jahrhunderts.

Und ähnlich wie mit der Wende der Jahrhunderte verhält es sich mit derjenigen der Jahrzehnte. In einer großen und sehr angesehenen Berliner Zeitung las ich am 1. Januar dieses jetzt zu Ende gehenden Jahres 1890 an der Spitze des lokalen Theils eine sehr rührende Betrachtung darüber, daß wir mit diesem Tage in das letzte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts eingetreten seien, woran für die geplagte Menschheit des 19. Säculums alle möglichen Ausstellungen bezüglich ihrer Fortschritte und eine ganze Reihe salbungsvoller Mahnungen geknüpft wurden.

Der Verfasser hätte weit besser daran gethan, seine wohlgemeinte Predigt noch ein Jahr lang in der Tiefe seines Tintenfasses schlummern zu lassen und dafür in sich selbst zu gehen, um seine Versäumnisse im der Kenntniß des Einmaleins, wenn auch spät, nachzuholen. Welche junge Dame würde, wenn sie in ihr dreißigstes Lebensjahr eintritt, mit Gelassenheit den Glückwunsch zum Antritt ihres vierten Jahrzehnts hinnehmen!

Doch genug! Ich glaube hinreichend deutlich gewesen zu sein und kann mir keinen schöneren Erfolg denken, als daß jeder Leser dieser Zeilen am Schlusse sagt: „Wozu die vielen Worte, das versteht sich ja alles von selbst!“ Auch ich habe das lange geglaubt, aber die Erfahrung hat mich eines anderen belehrt. –

Schon wollte ich befriedigt über meine Philippika die Feder niederlegen, als mich der durch Liselottes Tagebuch angeregte historische Forschungstrieb doch noch übermannte, daß ich mich zu vergewissern trachtete, wie bezüglich der Wende anderer Jahrhunderte die Menschen sich verhalten haben, und wie nicht bloß die Menge, sondern auch die Güte der Zeugen für die eine oder andere Auffassung sich stellt. Mit dem Ergebnisse kann ich durchaus zufrieden sein.

Was die Menge anbelangt, so war im Jahre 1000 unserer Zeitrechnung ein großer Theil der Christenheit der Ueberzeugung, daß im Laufe desselben der Weltuntergang erfolgen werde, und zwar deswegen, weil mit demselben die tausendjährige Gnadenfrist zu Ende ging, welche, dem vielfach herrschenden Glauben zufolge, der Welt nach der Menschwerdung Christi noch gestellt gewesen war. Das Jahr 1000 galt allen diesen zitternden Gläubigen sonach als der Abschluß des ersten Jahrtausends und seines letzten Jahrhunderts, nicht als das erste Jahr des zweiten Jahrtausends, das ihrer Meinung nach die Welt gar nicht mehr erleben durfte.

Bezüglich der Güte der Zeugen aber steht die Sache noch viel glänzender. Goethe und Schiller haben nicht den 1. Januar 1800, sondern den 1. Januar 1801 als den Wendepunkt zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert betrachtet. In Goethes und Schillers Briefwechsel findet sich die Mittheilung, daß die Jahrhundertwende im Januar 1801 festlich begangen werden sollte, und zwar anläßlich eines Gastspiels Ifflands in Weimar. Ob die Feier wirklich zustande gekommen ist, darüber habe ich nichts finden können, es genügt aber, daß sie für den Januar 1801 und nicht für den des vorangegangenen Jahres geplant worden ist. Ebenso fällt die Abfassung von Schillers Gedicht „Der Antritt des neuen Jahrhunderts“ in den Anfang des Jahres 1801, wahrscheinlich in die ersten Tage des Februar.

Ich könnte also triumphiren und die Andersmeinenden flottweg für „Ketzer“ erklären, „mit denen keine Gemeinschaft zu halten sei“. Aber wir leben in einem menschenfreundlichen Zeitalter, in einer Periode der Kompromisse, und so will auch ich mit der feierlichen Erklärung schließen: Wenn mich zum Sylvesterabend 1899 auf 1900 jemand einlädt, die Wende des Jahrhunderts in fröhlicher Gesellschaft mit ihm zu begehen, so werde ich die Einladung annehmen, mit dem Vorbehalte natürlich, ihn zum Sylvester 1900 auf 1901 für dieselbe Feier meinerseits einzuladen. Ein gewöhnlicher Jahreswechsel mag mit einer Feier abgethan sein, solche bedeutsame Augenblicke aber, wie der Eintritt in das letzte Jahrzehnt eines Jahrhunderts oder gar in ein neues Jahrhundert, mögen immerhin zweimal gefeiert werden. Man geht dann jedenfalls sicher. Aber – recht haben doch diejenigen, welche das 20. Jahrhundert erst am 1. Januar 1901 beginnen lassen.

Heinrich Bauer.




[884]
Finstere Mächte.
Eine Bauerngeschichte von Etmar Weidrod.

(Schluß.)


Der Otterhofbauer war, als Rupert die Hand auf des kranken Kindes Brust gelegt hatte, ein ganz anderer geworden; sein Gesicht strahlte, die aschfahle Blässe war daraus gewichen.

„Armer, getäuschter Narr!“ murmelte der Arzt, der ihn mit verächtlichem Mitleid betrachtete; „es war wahrhaftig Zeit, daß Rupert ihm den Gefallen that, sein Verstand war gerade zu Ende.“

Aber während Jakob erlöst aufjubelte, schien die stumme Gruppe, die Ruperts Eltern und Eva in einer Stubenecke bildeten, ganz andere Gefühle zu hegen.

„Er thut es doch!“ hatte der Moorheidler aufgeschrieen, als Rupert die Hand nach Magnus ausgestreckt hatte, und „er hat es gethan!“ flüsterte er jetzt unaufhörlich mit tonloser Stimme, das Gesicht in den Händen vergrabend. Es schien, als müsse er sich das immer wieder vorsagen, um es glauben zu können.

Eva und Gertrud schwiegen und blickten entsetzt zu Rupert hinüber. Sie hatten gesehen, daß der Arzt leise in Rupert hineingeredet und daß Rupert seinem Drängen nachgegeben hatte, und es war ihnen, als zerrisse ein Schleier vor ihren Augen, als entstünde plötzlich grelle Klarheit um sie her. Der Arzt war es gewesen, dessen Gutachten Rupert vor Gericht gerettet hatte; der mochte wohl wissentlich falsch ausgesagt haben, und jetzt, wo ein Menschenleben durch ferneres Leugnen zu Grunde ging, hatte er ihn leise daran gemahnt, daß er helfen müsse, da er helfen könne. Sie blickten scheu auf Magnus, und da dieser jetzt ruhiger athmete, seit die vom Arzte aufgerissenen Fenster dem niedern Gemache frische Luft zugeführt hatten, so glaubten sie schon die Wirkung der höllischen Macht wahrzunehmen, und es schauderte sie bis ins innerste Mark.

Gefährliche Spielerei –
Nach einem Gemälde von C. Reichert.


Beglückt und beruhigt verließ der Otterhofbauer den Moorheidehof, und Eva folgte ihm, sich scheu zur Thür drückend, damit Rupert ihr Fortgehen nicht bemerke und es ihr erspart bleibe, ihm den Abscheu zu zeigen, den sie jetzt vor ihm hegte; als er es bemerkte und auf sie zustürzte, rief sie laut: „Laß mich!“ und floh davon, eiligst fort über den Hof und die Nothbrücke, als könne sie nicht schnell genug aus dem Bereiche des unheimlichen Hauses kommen. Jenseit der Nothbrücke stand der kleine Leiterwagen, in dem der Otterhofbauer hergekommen war. Sie stieg hinauf und kauerte sich, fröstelnd vor Erregung, auf die Bank. Auf der Landstraße näherten sich schlürfende Schritte. Der alte Gemeindehirt tauchte auf aus dem Dunkel.

„Hat er’s gethan?“ fragte er, als er Eva bemerkte.

„Ja, er hat es gethan!“ erwiderte Eva dumpf und tonlos.

Der Alte lachte heiser vor sich hin.

„Dann braucht das Kind keinen Doktor mehr!“ sagte er. „Jetzt hilft ihm einer, der’s anzufassen weiß am rechten Ende. Recht hat er gehabt, der Otterhofbauer!“

Eva schwieg zu allem, und als jetzt Jakob mit dem kleinen Magnus nachkam, entfernte sich der alte Gemeindehirt. Jakob gab der Eva das Kind, löste das Pferd von dem Brückenpfosten und fuhr davon so schnell als möglich.

Mittlerweile hatte sich der Moorheidler mit Frau, Sohn und Magd an den sauber gedeckten Tisch gesetzt, und auch der Arzt, der sich hungrig und erschöpft fühlte, nahm an der Abendmahlzeit theil.

Rupert war von Evas Abwehr, von ihrem entsetzten Blick und angstvollen Aufschrei wie vor den Kopf getroffen worden; [885] sogleich hatte er sich richtig gedeutet, wie das gemeint war, und nun saß er am Tische und beobachtete mit brennenden Blicken das bleiche, gramvolle Gesicht seines Vaters, seine still mit Thränen kämpfende Mutter. Sein Herz krampfte sich qualvoll zusammen, seine Hand ballte sich zur Faust; er brachte keinen Bissen über die Lippen, trank aber um so mehr Stachelbeerwein. Die Mahlzeit verlief lautlos, auch der Arzt sprach nicht; er hatte einen mühevollen Tag hinter sich.

Endlich lehnte sich der Moorheidler in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände, schluckte mehrere Male Thränen hinunter und sagte dann mit heiserer, unsicherer Stimme, die glanzlosen, aber immer noch sanften Augen auf seinen Sohn gerichtet:

„Ich hab’, so alt ich geworden bin und so viel Feindschaft ich erlitten hab’ im Leben, noch nie einem Menschen den Tod gewünscht – mit Worten nicht und, Gott soll mir’s bezeugen, im tiefsten Herzen auch nicht! Aber jetzt“ – er athmete tief und mühsam und seine Stimme sank – „jetzt, Rupert, wünsche ich, daß der Magnus stirbt!“

Ruperts Gesicht wurde erst purpurroth, dann jählings grau wie Asche.

„Vater, wie meint Ihr das?“ schrie er auf.

„Ich denke, Du verstehst mich wohl!“ sagte der Moorheidler in tieftraurigem Tone und stand vom Tische auf; „nichts für ungut, Herr Doktor, wenn ich gehe ... und schönen Dank auch, daß Sie meinen Rupert vor dem Galgen bewahrt haben; daß mein ältester Sohn solch grauslichen Todes starb, war, dächt’ ich, gerade genug für einen Vater.“

Befremdet und besorgt blickte der Arzt von seinem Teller auf. „Was ist Euch, Moorheidler?“ fragte er; „was redet Ihr da?“

Dann gewahrte er das bleiche Gesicht, den durch nagenden Seelenschmerz ganz veränderten Ausdruck in den Zügen des Moorheidlers.

Furchtbare Katastrophe!
Nach einem Gemälde von C. Reichert.


„Seid Ihr krank?“ rief er aufspringend.

„Das nicht, Herr Doktor,“ sagte der Moorheidler. „Und wenn ich’s wäre, krank zum Sterben, ich ließ mir nicht helfen!“

Er ging bis zur Thür seiner Schlafkammer, die neben der Wohnstube lag; da wandte er sich noch einmal zu seinem Sohne um.

„Ich will nichts gegen Dich sagen, Rupert,“ sprach er gepreßt. „Aber wenn die Krankheit, die für jeden andern zum Tode führen müßt’, weichen muß von dem Kind und ihm nichts anhaben kann, dann ... dann ...“

„Vater, sprecht’s nicht aus!“ rief Rupert entsetzt. Er wollte seines Vaters Hand ergreifen, aber dieser stieß ihn zurück.

„Rühr’ mich nicht an!“ rief er mit bebender Stimme. „Abbitte will ich Dir thun, wenn wir heimkommen vom Gottesacker und den Magnus darauf zurücklassen. Bis dahin rühr’ mich nicht an!“

Er trat in die Kammer und schloß die Thür, ohne sie heftig ins Schloß zu werfen; er drückte sie leise zu. Gertrud war stumm aufgestanden und wollte ihrem Manne in die Kammer folgen, aber Rupert hielt sie zurück.

„Mutter, was haltet Ihr von mir?“ frag er.

Sie bedeckte ihr Gesicht mit ihrer Schürze und Schluchzen schüttelte ihren Körper.

„Mutter!“ stöhnte Rupert, „Mutter, ich bin kein Mörder! Bei meiner Seelen Seligkeit, ich bin kein Mörder! Ich wollte ja nur den Otterhofbauer zur Ruh’ bringen! Ich hab’ es nachher gleich selber bereut, daß ich gethan hatte, was nur Mörder thun, aber daß Ihr, daß mich Eva deshalb zum Mörder macht ...“

„Laß mich!“ sagte Gertrud, sich gewaltsam fassend; „laß mich, Rupert ... ich muß hinein zum Vater. Es ist ja besser, Du hast’s gethan, als daß Du noch weiter geleugnet hättest! So hast Du doch wenigstens das Kind gerettet!“

[886] Rupert sah sie mit einem Blicke voll stummer Verzweiflung an und ließ ihre Hand fahren. Sie ging in die Kammer.

Der Arzt hatte mittlerweile auch begriffen, wie all diese Reden zu deuten waren, und rannte, zornig und halblaut die „verbohrten Bauernschädel“ verwünschend, im Zimmer hin und her.

„Ich muß jetzt auch fort,“ sagte er endlich, nachdem lange ein drückendes Schweigen im Zimmer geherrscht hatte; „Rupert, gieb Dich zufrieden, Deine Eltern werden nur allzu bald ihre Thorheit einsehen müssen. Das Kind ist ja so schwer krank! Freilich, so lange Leben vorhanden ist, ist auch Hoffnung, es zu erhalten. Aber ich glaube, daß es sterben wird.“

Rupert stand regungslos auf dem Flecke, wo ihn Gertrud verlassen hatte.

„Ja!“ murmelte er zwischen den Zähnen, kaum hörbar, mit krampfhaft geballten Fäusten; „es wird sicher sterben!“

Der Arzt ging. Ueber die öde, weite Moorheide aber pfiff der Sturm und fuhr mit klagenden Tönen in die schwarzen, baufälligen Schornsteine des Moorheidehofes; die Balken der Nothbrücke ächzten, die Laterne daran schaukelte wie ein Irrlicht hin und her und erzeugte seltsame, huschende Schatten, die dem nächtlichen Wanderer den Eintritt in das verfehmte Gehöft wehren zu wollen schienen.

Und wenn Mordgedanken und Mordpläne den, der sie hegt, auch wenn sie noch unausgeführt sind, zum Mörder machen, so war der Moorheidehof jetzt in der That die Wohnstätte eines Mörders.




Es mochten ungefähr acht Tage seit jenem Abend verflossen sein, als der Arzt mit einem seiner Freunde – mit mir selbst, um es kurz zu sagen, denn ich kann meine Person jetzt nicht mehr gut aus dieser Erzählung weglassen – am späten Abend auf der aus den tieferliegenden Ortschaften des Gebirgsthales heraufführenden Landstraße nach Hause fuhr. Es war ein bösartig aussehendes Wetter im Anzuge, drohende gelbe Wolken standen am Himmel, und wir fragten uns, ob wir wohl Dockenförth noch würden erreichen können, da eben erst die Häuser von Wieselbach vor uns lagen. Wir hatten lange Zeit nicht auf das Wetter geachtet, denn wir waren zu vertieft gewesen in unser Gespräch über die traurige Lage des dem Aberglauben zum Opfer gefallenen Rupert. Durch eine wunderbare und verhängnißvolle Fügung hatte sich der kleine Magnus erholt, und zwar war die Besserung noch in derselben Nacht eingetreten, da Ruperts Hand auf seinem Herzen gelegen hatte. Der Arzt, obwohl selbst durch diese Wendung sehr überrascht, schrieb dieselbe einestheils der ungewöhnlich zähen Kraft des kleinen Jungen zu, der auch seinen einstmaligen Sturz in den Ententeich ohne jegliche schlimme Folge überwunden hatte, anderntheils aber dem Umstande, daß der aller seiner Sorgen überhobene Otterhofbauer jetzt erst imstande gewesen war, alle ärztlichen Vorschriften mit kühler Ruhe und gleichmüthiger Pünktlichkeit zu befolgen. Freilich fehlte dafür jetzt Evas bisher unermüdliche Pflege; das Mädchen saß stundenlang ganz allein in ihrem Giebelstübchen, sah blaß und krank aus und sprach kaum ein Wort. Um das Hauswesen kümmerte sie sich nicht mehr. „Habt nur Geduld, es wird ja schon wieder anders werden!“ pflegte sie der Bäuerin zu antworten, wenn diese sie ermahnte, sich aus ihrem Hinbrüten aufzuraffen; „aber laßt mir Zeit, es zu verwinden.“

Die Bäuerin wußte, was sie meinte, und ließ sie gewähren.

„Gut ist’s nur, daß sie ihn nicht geheirathet hat!“ sagte sie zu den Nachbarn. „Sie hätt’ es gethan, jede Stunde, der Rupert hätt’ nur zu kommen brauchen und um sie anzuhalten; aber er ist nicht gekommen. Das wäre jetzt ein schönes Elend!“

Wenn Eva irgend eine Hilfeleistung für Magnus zu verrichten aufgefordert wurde, so that sie es lässig wie jemand, der weiß, daß er etwas Unnützes thut; sie wußte ja, daß der Kleine auch ohne Medizin gesund werden würde! Nur die Nachtwachen übernahm sie gern; sie schlafe ja doch nicht, sagte sie.

Dieselben Spuren tiefen Seelenleidens wie Eva zeigten auch der Moorheidler und Gertrud. Der Moorheidler sah gebrochen und gealtert aus wie an jenem Abend, da Rupert den Leiterwagen des Gendarmen bestiegen hatte; Schmerz und Scham hatten tiefe Furchen in seine Stirn gegraben, und in seiner äußern Erscheinung war er vernachlässigt; er kämmte sein spärliches graues Haar nicht mehr. Bei Tage verhielt er sich still und wortlos, bei Nacht aber stöhnte und seufzte er unaufhörlich. Er klagte nie mit Worten, machte seinem Sohne keinen einzigen Vorwurf und begegnete ihm freundlich und sanft; überzeugt, daß Rupert seinen Bruder unabsichtlich getödtet habe, wollte er ihm das Haus nicht zur Hölle machen – aber er that es doch, ohne es zu wollen! Gertrud ertrug alles in derselben Weise wie ihr Mann; auch sie machte Rupert keine Vorwürfe; aber je entschiedener drüben auf dem Otterhofe die Besserung fortschritt, desto mehr wich sie ihm aus.

Rupert selbst hatte es nur noch ein einziges Mal versucht, seine Eltern mit vielen Bitten und Betheuerungen von seiner Unschuld zu überzeugen. Dann, als dies, angesichts der Besserung in Magnus’ Zustand, erfolglos geblieben, war er mit einem Schlage ein anderer Mensch geworden. Finster, verstört, mit grübelndem, verbissenem Ausdruck, unstätem Blick und ruhelosem Wesen ging er umher. Beständig umschlich er den Otterhof, auf Nachrichten über Magnus lauernd. – Dieselben lauteten nur verhältnißmäßig günstig, das Kind war noch immer sehr schwer krank. Aber todt war es nicht!

So oft der Jakob ihn sah, rief er ihn herein, drückte ihm vor allen Leuten die Hand und that sein Möglichstes, um seine Dankbarkeit an den Tag zu legen. Allerdings war nie mehr davon die Rede, daß er Eva heirathen solle; dazu verabscheute Jakob doch im stillen zu sehr den Mörder seines Neffen, und in tiefster Seele graute ihm vor der Macht der Hölle, die Rupert so augenscheinlich zur Verfügung stand. Beständig versuchte er aber, ihm Geld und werthvolle Geschenke aufzudrängen; er wollte ihn bezahlen für seinen unheimlichen Dienst, wollte sich das Leben seines Lieblings von einem Verbrecher nicht schenken lassen. Aber rauh und finster wies Rupert alles zurück.

Das alles hatten wir auf unserer Fahrt besprochen und bemerkten daher erst spät das herannahende Unwetter. Wir kannten zur Genüge die Gewalt dieser Frühlingsgewitter, und so meinte der Arzt:

„Wir wollen nur bis zum Otterhofe fahren und dort den Sturm abwarten oder da übernachten. Aber in den Otterhof müssen wir noch, denn ich muß mir den Kleinen noch vor der Nacht ansehen; bei aller Achtung vor Teufelskünsten und Mörderhänden will ich mich doch lieber nur auf mich selbst verlassen!“

Er trieb sein Pferd an, und nach zehn Minuten hielt das Wägelchen vor dem geschlossenen Thore des stattlichen Gehöftes; die bellenden Hofhunde verkündeten unsere Ankunft, die Knechte kamen mit Windlaternen, Pferd und Wagen wurden geborgen und der Bauer trat auf die Schwelle des Hauses, um uns willkommen zu heißen. Er war wieder ganz der Alte in seinem Aussehen; Sorgen und Jammer hatten keine Spuren in den scharf ausgeprägten, entschlossenen Zügen zurückgelassen, und auch in seinem Wesen hatte er vollständig die ehemalige überlegene Ruhe wiedergewonnen. Er bat uns, über Nacht bei ihm zu bleiben, und ließ schleunigst das schönste Zimmer des Hauses für uns zurechtmachen. Der Arzt begab sich in die an das geheizte Wohnzimmer anstoßende Kammer, in welcher der kleine Magnus lag.

„Er schläft noch nicht,“ sagte der Bauer. „Er ist unruhig heut’ abend. Aber ganz bei sich ist er und erkennt jeden. Nicht wahr, Magnus, Du kennst den Herrn Doktor?“

„Herr Doktor, mein Hampelmann ist krank!“ sagte schnell der lebhafte, kleine Junge, sich in seinen Kissen aufrichtend. Laut lachte der Bauer und sah uns an, als wollte er fragen, warum wir nicht ebenfalls lachten.

„So?“ sagte der Doktor, Magnus’ Puls fühlend, „hast Du wieder zu stark an seinem Lebensfaden gezupft? Ist er zerrissen?“

„Nein, sein Kopf ist ab,“ sagte Magnus eifrig; „aber tanzen kann er darum doch noch!“

Der Arzt lächelte zerstreut und sagte, dann brauche er wohl nur Leim zu verschreiben; aber Magnus’ Puls gefiel ihm nicht, und er forderte die Arznei, um sie ihm einzugeben.

„Die Arzneiflasche ist heute mittag in die Apotheke nach Dockenförth geschickt worden,“ sagte die Bäuerin; „der Rupert kam vorbei, dem hab’ ich sie mitgegeben und der wollte sie auch wieder zurückbringen. Aber bei dem Wetter wird er sich kaum, auf den Weg machen, er wird wohl abwarten, bis sich’s ausgetobt hat.“

„Das trifft sich schlecht!“ meinte der Arzt. „Es muß unbedingt [887] jemand wachen, um dem Kinde die Medizin auch mitten in der Nacht zu geben, wenn sie der Rupert etwa noch bringen sollte.“

„Ich werde aufbleiben,“ sagte Jakob.

„Aber nur bis zwölf Uhr, Oheim,“ bat Eva, die inzwischen hinzugekommen war. „Ihr habt die beiden letzten Nächte gewacht und auch am Tage kein Stündchen geschlafen. Von zwölf Uhr an laßt mich wachen. Der Christian kann ja hingehen und das Hofthor öffnen, wenn ich in der Nacht klopfen höre; ich werd’ ihn rufen.“

„Meinetwegen,“ sagte Jakob. „Ein Stündchen Schlaf wär’ nicht zu verachten. Aber dann geh’ Du auch gleich zu Bette.“

Bereits um neun Uhr herrschte nächtliche Ruhe auf dem Otterhofe.

Aber weder der Arzt noch ich hatten das für uns hergerichtete Zimmer bezogen. Der Arzt, dem Jakob recht müde vorkam, traute dessen Wachsamkeit nicht und hatte sich zu ihm gesetzt, während ich in der Wohnstube geblieben war und mir durch die Lektüre eines alten Kalenders über die mich allmählich beschleichende Schläfrigkeit hinwegzuhelfen suchte. Gegen Mitternacht kam der Arzt aus der anstoßenden Kammer, deren Thür er offen ließ, zu mir heraus.

„Vater und Sohn schlafen um die Wette,“ sagte er lächelnd. „Wir wollen hier sitzen bleiben und auf den Kleinen acht geben, bis Eva kommt; dann können wir nach Hause fahren. Das Wetter ist vorüber, und die Arznei thut nicht mehr noth heute nacht. Der kleine Racker schläft so friedlich, daß man gar nicht glauben sollte, daß er noch vor acht Tagen dem Tode so gut wie verfallen war!“

Hier verlöschte unsere Lampe.

„Das thut nichts,“ sagte der Arzt, „wir können uns ebensogut im Finstern ein wenig unterhalten, wir brauchen uns ja nicht gerade Gespenstergeschichten zu erzählen. Gleich wird Eva kommen, und bis dahin leuchtet uns das Nachtlicht aus dem Krankenzimmer.“

„Und der Blitz,“ ergänzte ich, als ein greller Feuerschein jäh durch das Zimmer fuhr.

Wir sprachen weiter miteinander, aber leise, um die Schlafenden nebenan nicht zu wecken.

Plötzlich verdunkelte uns ein Schatten den schwachen Schein des Nachtlichtes in Magnus’ Kammer. Wir sahen auf und gewahrten eine große, dunkle Gestalt, die unhörbar hereingekommen war und neben dem Bette des Kindes stand. Es war ein Mann, in einen Mantel gehüllt.

„Still, still!“ flüsterte mir der Arzt zu, als ich aufspringen wollte; „es wird Rupert sein, der die Arznei bringt.“

„Aber wie ist er herein gekommen?“ entgegnete ich leise. „Das Hofthor war ja fest verriegelt und die Hunde haben auch nicht angeschlagen!“

„Sonderbar in der That!“ sagte der Arzt. „Zwar glaubte der Bauer schon vor einer halben Stunde ein Geräusch zu vernehmen, er meinte, die Fallthür des Kellers sei aufgeschlagen worden, es war wie ein dumpfer Krach. Sollte es am Ende doch nicht Rupert, sondern ein Einbrecher sein? Haben Sie Ihre Pistolen bei sich?“

Ich bejahte. Die Erscheinung stand noch immer regungslos wie aus Stein gehauen. Ein besonders heller Blitz beleuchtete sie plötzlich mit seinem fahlen Schein, und wir sahen, daß es in der That Rupert war. Aber wie sah er aus. Seine Züge hatten die Blässe und Starrheit eines Todten, seine blutlosen Lippen waren mit einem verbissenen, grausamen Zuge fest geschlossen und zusammengepreßt, seine Augen funkelten in düsterem, seltsamem Scheine und waren wie durch einen Zauberspruch fest auf Magnus’ Gesichtchen gebannt. Endlich wandte er die Blicke ab und begann sich zu regen. Er holte eine Medizinflasche aus seiner Tasche hervor und hielt sie mit zitternder Hand gegen das Nachtlicht, wie um das Aussehen ihres Inhaltes zu prüfen. Dann schüttelte er sie und hielt sie abermals gegen das Nachtlicht. Endlich stellte er sie auf den Tisch neben Magnus’ Bett. Aber er entfernte sich nicht. Wiederum vertiefte er sich in den Anblick des kleinen Kranken, dessen sanfter Schlaf einen neuen Sieg der jungen, frischen, hart ringenden Lebenskraft über den übermächtigen Gegner Tod bedeutete.

Langsam rückwärts gehend, das Kind immerfort anstarrend, wich Rupert bis zur Thür. In der nächsten Sekunde indessen stand er wieder neben dem Bettchen, steckte die Arzneiflasche zu sich und floh mit raschen, lautlosen Schritten – aber wieder nur bis zur Thür, dann kehrte er abermals zurück, stellte die Flasche wieder hin und versank von neuem in seine ursprüngliche Starrheit.

Endlich hörten wir einen Ton, der wie unterdrücktes Stöhnen klang, und sahen, wie Rupert die Hände fest auf sein Gesicht drückte, dann aber auffuhr, die Medizinflasche ergriff, ein Fenster aufriß und das Glas auf das Pflaster des Hofes hinauswarf, wo es klirrend zerbrach.

Magnus erwachte jählings und sah sich erschrocken um, aber er stieß einen Freudenruf aus, als er Rupert erkannte. Dieser war zur Thür gestürzt, hatte sich indessen auf Magnus’ bittende Rufe verstört nach ihm umgewendet.

„Komm zu mir, Pertel!“ rief Magnus. „Komm schnell zu mir!“

Ein schattenhaftes Lächeln flog über Ruperts Züge. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß Eva aus der ihm gegenüberliegenden Thür leise in die Kammer getreten und, als sie ihn erblickte, wie angewurzelt stehen geblieben war. Er bemerkte auch nicht, daß der Otterhofbauer sich regte und anfing, den bleiernen Schlaf, der ihn befallen hatte, mühsam abzuschütteln. Regungslos stand er da und starrte nur Magnus an.

„Geh’ nicht wieder fort, Pertel!“ fuhr dieser fort zu bitten. „Versteck Dich nicht wieder! Du hast Dich versteckt, nicht wahr? Du hast Dich vor Burkhard versteckt, nicht wahr? Du denkst wohl, er lebe noch und habe Dein Messer noch, um Dich damit todtzustechen? Er ist todt, ganz todt, ich habe gesehen, wie er in der Klausenschlucht in das große Wasser gefallen ist! Du brauchst Dich nicht wieder zu verstecken und kannst auch am Tage zu mir kommen und mit mir spielen.“

„Sei still, Magnus,“ sagte Rupert tonlos, offenbar ohne etwas von dem verstanden zu haben, was Magnus gesagt hatte. „Sprich nicht so viel und schlaf’ wieder ein! Gute Nacht!“

Er wandte sich aufs neue zur Thür.

„Rupert, geh’ nicht wieder fort!“ rief Magnus weinerlich. „Versteck Dich nicht! Komm doch zu mir, ich will Dir ganz leise sagen, was ich gesehen habe! Der Vater darf’s nur nicht hören, sonst wird er böse. Aber wenn ich Dir’s erzählt habe, versteckst Du Dich gewiß nicht mehr.“

Jetzt war auch der Otterhofbauer ganz wach geworden und hatte sich erhoben; der Arzt und ich hatten überrascht auf das gelauscht, was der kleine Magnus geplaudert hatte, und waren schnell in die Kammer getreten.

„Bringst Du die Medizin, Rupert?“ fragte schläfrig der Otterhofbauer.

„Ich ... Ja – nein – ich hatte sie wohl,“ sagte Rupert stockend. „Ich habe die Flasche fallen lassen, sie ist entzwei gegangen.“

Ohne weitern Gruß stürmte er hinaus. Draußen hörte man die großen Hunde bellen, und die schweren Riegel des Thores klirren, das dann heftig zugeworfen wurde.

Jetzt bestürmten wir den kleinen Magnus mit Fragen über das, was er Rupert zugerufen hatte. Eva trat dicht an sein Bettchen, nahm ihn in den Arm und fragte mit bebender Stimme:

„Magnus, woher weißt Du, daß Burkhard todt ist? Hast Du’s wirklich gesehen, wie er ins große Wasser gefallen ist?“

Magnus legte seine hageren Aermchen um ihren Hals und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Eine jähe Röthe schoß in Evas bleiches Gesicht, sie begann zu zittern und sagte gepreßt:

„Erzähle es nur laut, ganz laut, Magnus!“

„Nein,“ sagte Magnus, mit einem ängstlichen Blick auf den Otterhofbauer, „der Vater schlägt mich, wenn ich ihm sage, daß ich heimlich in die Klausenschlucht gelaufen bin.“

„Nein, ich schlage Dich nicht!“ rief der Otterhofbauer eifrig und zärtlich. „Der Vater schlägt seinen kleinen, kranken Magnus nicht! Aber sag’, was ist’s mit der Klausenschlucht? – Er wird wohl davon geträumt haben,“ fügte er, zu uns gewendet, hinzu.

„Nein, geträumt habe ich nicht!“ vertheidigte sich Magnus, dem seines Vaters Zärtlichkeit sofort die Zunge löste. „Mein Segelschiffchen ist ja noch dort! Darf mir das der Peter morgen holen? Ich weiß genau, wo es liegt.“

„Alles, was Du nur willst, soll Dir der Peter holen,“ versicherte Jakob, „aber es wird noch lange dauern, bis Du mit [888] dem Schiffchen wieder spielen kannst, mein armer, schwacher Bub’!“

„Nun sag’ ganz laut, was Du mir eben ins Ohr gesagt hast, Magnus,“ wiederholte Eva, das Kind fest in die Arme drückend. „Dann hab’ ich Dich noch zehnmal lieber als bisher! Es ist doch wahr – ganz gewiß wahr?“

„Ich bin in der Klausenschlucht gewesen und habe gesehen, wie Burkhard in den Wasserfall gekürzt ist,“ sagte Magnus so laut er konnte, in dem ehrlichen Bestreben, Evas verzehnfachte Liebe zu verdienen, und ohne von der Tragweite seiner Worte eine Ahnung zu haben, „eine zeitlang sah man noch seinen Stiefel, dann gar nichts mehr.“

„Das hast Du gesehen?“ frug der Otterhofbauer erregt. „Wo warst Du denn?“

„Auf der andern Seite vom Wasserfall; ich war über die Steine gelaufen, ans andere Ufer. Und da liegt auch noch mein Schiffchen in einem hohlen Baum.“

„Ueber die Steine bist Du gelaufen, über die das Wasser stürzt?“ rief der Bauer entsetzt. „Magnus, Magnus, das darfst Du nie wieder thun!“

„Aber der böse, schlechte Burkhard lief ja mit seinem großen Messer, nein, mit Pertels großem Messer hinter mir her!“ rief Magnus kläglich; „und seine Augen sahen ganz roth aus und sein Gesicht war ganz roth und er schnaufte wie unser schwarzer Stier, wenn er wild werden will, und er rannte hinter mir her und rief: ‚Wart’, Range, Dich will ich stumm machen!‘“

Unsere Erregung wuchs mit jedem Worte, welches das Kind sprach; allen war es klar, daß hier Ruperts Unschuld doch noch an den Tag kam. Der Arzt kämpfte mit seiner Begierde, alles zu erfahren, und seinem ärztlichen Gewissen, welches ihn mahnte, den kleinen Magnus nicht von so aufregenden Dingen reden zu lassen; aber die erstere siegte. Der Otterhofbauer war außer sich.

„Hinter Dir lief er mit dem Messer her?“ schrie er. „Der niederträchtige Hund! Was hattest Du ihm denn gethan? Und wo steckte Rupert?“

„Den hatte der Burkhard mit dem großen Hackeklotz vom Baume heruntergeworfen!“ rief Magnus, sich erregt aufrichtend. „Der schlechte Burkhard! Ich hab’ es gerade gesehen, wie ich oben in der Schlucht ankam. Ich war Rupert heimlich nachgelaufen, Vater,“ fügte er reuig und ängstlich hinzu, „um mein Segelschiffchen auf den Wassersturz zu setzen. Aber ich thue es gewiß nie wieder!“


Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Pferdetrieb auf der Pußta.
Nach einem Gemälde von A. Wagner.

[889] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



„Erzähl’ nur weiter,“ drängte Eva leise, „ich mach’ Dir auch ein Sammetkittelchen mit silbernen Knöpfen und ein rothes Tuchwestchen!“

Weit öffnete Magnus seine veilchenblauen Augen, um Eva mit freudiger Ueberraschung anzustarren, einen Augenblick machte ihn die Freude sprachlos; dann erzählte er um so eifriger und weitläufiger.

In überzeugenderer Weise konnte Ruperts Unschuld nicht erwiesen werden, als dies jetzt von Seiten des ahnungslosen Kindes geschah. Magnus war gerade hinzugekommen, als Burkhard den Klotz gegen Ruperts Kopf warf, und hatte gesehen, wie der Getroffene blutend herabgestürzt und regungslos liegen geblieben war; wie dann Burkhard in Ruperts blutigen Kleidungsstücken nach etwas suchte und endlich, als er das Messer fand, dieses ergriff und mit einer halblaut gezischten Verwünschung zum gewaltigen Stoße damit ausholte. Da aber hatte Magnus so fürchterlich geschrieen, daß der ruchlose Mörder zusammenschrak, sich umwandte und beim Erblicken des Kleinen mit dem Rufe. „Wart’, Range, Dich will ich stumm machen“ auf den Zeugen seiner Blutthat losstürzte. In Todesangst rannte Magnus über Stock und Stein, den aus schlüpfrigem Moos, glatten Felsstücken und Steingerölle bestehenden hohen Abhang hinauf, durch das Heidekraut und das Unterholz bis zum brausenden Wasserfall. Aber noch immer hörte er seinen wüthenden Verfolger hinter sich, und so sprang er mit dem Muth der Verzweiflung auf die vom Strudel umschäumten Felsblöcke, das jenseitige Ufer zu erreichen; Burkhard sprang ihm nach, taumelte, glitt aus und stürzte kopfüber in die Tiefe, wo er von den tobenden Fluthen begraben wurde. Der Hut mochte ihm dabei herabgefallen, das Messer ihm entglitten sein.

Der kleine Magnus hatte es nun unternommen, auf dem jenseitigen Ufer herabzuklettern, nachdem er, um beide Hände frei zu haben, sein hölzernes Schiffchen in die tiefe Höhlung eines großen Baumes geborgen hatte – ein für Ruperts Rechtfertigung sehr wichtiger Umstand, da die Auffindung des Schiffchens jeden Zweifel an dem Bericht des Kindes und namentlich die Auffassung, als sei derselbe nur aus einem Fiebertraum entsprungen, zur Unmöglichkeit machte. Nach mühsamem Herabklettern hatte Magnus schließlich unterhalb des Berges den Klausenbach durchwaten müssen. Ueber der Furcht vor der zu erwartenden Strafe hatte er Burkhard sowohl als Rupert völlig vergessen und war noch bis zum Ententeich gelaufen, wo man ihn gefunden hatte. Die folgenden aufregenden Ereignisse hatten es ihm sehr leicht gemacht,

[890] seinen Ungehorsam zu verheimlichen, und er hatte gehofft, derselbe werde nie an den Tag kommen; sein Schiffchen würde man nicht finden, er wußte, daß nie jemand in diesen Theil der Klausenschlucht kam.

„Armer, armer Rupert!“ rief Eva, als das Kind seinen Bericht geschlossen hatte, „auf den Knieen will ich’s ihm abbitten daß ich ihm so schweres Unrecht gethan hab’! Ach, in meinem ganzen Leben kann ich’s nicht abtragen, was ich an ihm verschuldet hab’!“ Und sie brach in ein lautes fassungsloses Schluchzen aus.

Jakob schwieg anfänglich. Dann aber richtete er sich hoch auf und sagte in stolzem Tone:

„Wahr ist’s, daß wir alle dem Rupert Genugthuung schuldig sind, und was ich schuldig bin, das bleib’ ich nicht schuldig, sondern trag’ es ab, wie sich’s gehört. Morgen geh’ ich in den Moorheidehof und red’ mit dem Rupert und mach’ es auch dem Schwager klar, wie er sich jetzt zu verhalten hat.“

„Nun, Eva, und dem Rupert darf ich wohl jetzt wieder Grüße bringen?“ fragte der Arzt in vorwurfsvollem Tone.

„Aber das Kind!“ rief plötzlich Jakob bestürzt. „Jetzt stirbt es am Ende doch noch?“

Er war ganz blaß geworden.

„Der, der ihm Besserung geschenkt hat, wird ihm auch Genesung schenken,“ entgegnete der Arzt sehr ernst, „und da es, wie Ihr wohl jetzt einseht, der Satan nicht war, so wird es wohl ein Anderer gewesen sein. Dem wollen wir getrost das Kind empfehlen!“




Die Kirche war am folgenden Tage – einem Sonntage – übervoll, denn wie ein Lauffeuer hatte sich bereits in der Frühe die neue Kunde von der Aussage des kleinen Magnus verbreitet und überall freudige Aufregung hervorgerufen. Mehrere junge Wieselbacher Burschen waren in die Klausenschlucht geklettert und hatten Magnus’ ganz wohlerhaltenes Schiffchen im Triumphzuge heruntergebracht und vor dem Altar aufgestellt. Die Sonne schien, die Gemeinde war in gehobener, erwartungsvoller Stimmung und der Pfarrer predigte über das Apostelwort: „Wenn Gott für uns ist, wer mag wider uns sein?“ Er spielte dabei immerwährend auf Rupert an als auf einen, wider den sich alles erhoben hatte, aufgestachelt und geblendet durch die finstere Macht des Aberglaubens, und dem Gott dennoch durchgeholfen habe, weil auch das schwächste Werkzeug in seiner Hand allmächtig wird und auch der Mund eines Kindes seiner Gerechtigkeit zu dienen vermag.

Aber der Platz in der Kirche, wo in früheren Zeiten der Moorheidler mit den Seinigen zu sitzen pflegte, und den schon längst Gertrud allein einnahm, war diesmal ganz leer geblieben. In den Moorheidehof war die Freudenbotschaft noch nicht gedrungen, es hatte sie niemand hingebracht, weil Rupert und seine Eltern durch die Hindeutungen des Predigers überrascht werden sollten. Da aber nun daraus nichts geworden war, so stürmten nach dem Gottesdienste die Bauern in hellen Haufen zum Moorheidehofe, der mit seinem düsteren, stillen Aussehen und seiner vereinsamten Lage den Eindruck machte, als habe er keinen Theil an all der freudigen Aufregung in den Dörfern des Gebirgsthales.

Auf dem Hofe kam den Leuten der Moorheidler entgegen und fragte, was es gäbe.

„Wo ist Rupert?“ rief es aus dem Haufen. „Der muß es zuerst hören!“

Der Moorheidler wies mit gleichgültiger, trüber Miene nach den oberen Giebelfenstern hin.

„Er ist oben und wird wohl seine Sachen packen,“ sagte er mit heiserer Stimme. „Er ist die ganze Nacht fortgewesen und erst in der Früh’ heimgekommen. Er sah sonderbar aus und sagte, ich sollt’ mich nach einem Knecht umsehen, er wolle fort, noch heut’ … Mir ist’s recht,“ fügte er mit einem aus tiefstem Herzen kommenden Seufzer hinzu, und er wandte sich still ab, ohne sich weiter um die Leute zu kümmern.

Zu diesen hatte sich inzwischen der Pfarrer gesellt, der jetzt ein paar Burschen, Ruperts ehemalige Freunde, zu ihm hinaufschickte, um ihn zu rufen. Aber sie kamen nach einer Weile unverrichteter Sache wieder zurück, die Thür sei verriegelt, sagten sie, und niemand habe auf ihr Rufen geantwortet. Da sich auch der Moorheidler mittlerweile entfernt hatte und Gertrud nirgends zu sehen war, so blieb den Verkündigern der Freudenbotschaft nichts übrig, als den Rückzug anzutreten.

Ich hatte mich ebenfalls nach dem Moorheidehof begeben wollen, begegnete aber vor dem Dorfe dem Pfarrer, der mir berichtete, daß Ruperts Thür verriegelt sei und alles Rufen seiner Freunde nichts geholfen habe.

„Er ist erst spät in der Nacht nach Hause gekommen und liegt vielleicht noch im tiefsten Schlafe,“ meinte der Pfarrer.

„Dann wäre aber doch seine Thür nicht verriegelt,“ entgegnete ich; „das ist doch nicht Brauch bei den Bauern.“

Der Apotheker war zu uns getreten und hatte gehört, was wir sagten. Er machte eine bedenkliche Miene, hüstelte und sagte in leisem Tone:

„Er wird sich doch kein Leid’s angethan haben, der Rupert? … Mir ist er gestern abend so … so .., na, wie soll ich sagen, so verdächtig vorgekommen wie einer, der verzweifelt finstere Gedanken mit sich herumträgt.“

Sogleich stand mir die nächtliche Scene vor dem Gedächtniß, die ich vor nur wenig Stunden mit dem Arzt erlebt hatte, und es beschlich mich ein beklemmendes Gefühl.

„Gestern abend?“ fragte ich. „Hat er da die Medizin für den Kleinen im Otterhofe bei Ihnen geholt?“

„Ja, es mag so ungefähr sieben Uhr gewesen sein …“

„Sieben Uhr?“ entgegnete ich. „Und es war Mitternacht, als er sie brachte!“

„Er war, wie gesagt, ganz verstört,“ fuhr der Apotheker fort, „und verlangte, außer der Medizin, eine Portion Rattengift. Das geb’ ich sonst nicht gern, aber dem Rupert mocht’ ich’s nicht abschlagen, wegen des dummen Gerüchts, daß er ein Mörder sei; es sollte doch nicht aussehen, als traute ich ihm Uebles zu, wie all die abergläubischen Bauern es bis jetzt gethan haben. Ich gab ihm vergifteten Weizen, aber er sagte, den fräßen am Ende die Hühner, Meerzwiebel wollte er auch nicht und nahm schließlich ein Präparat mit Strychnin, welches ich für Ratten vorräthig halte. Er besah sich’s hin und her und fragte, ob ein Mensch auch daran sterben könne und wie viel dazu gehöre, so daß ich ihn noch eindringlich warnte, recht achtsam damit zu sein. Einem andern hätte ich auf solche Fragen das Gift wieder fortgenommen, aber beim Rupert wär’ es ja Unsinn gewesen, zu glauben, er wolle jemand vergiften. Wer hätte das sein können? An ihn selbst dacht’ ich gar nicht.“

Ich wußte, wer es war! Von diesem Augenbick an verstand ich die ganze, grauenhafte Bedeutung des nächtlichen Besuches Ruperts auf dem Otterhofe! Er hatte den kleinen Magnus, dessen Genesung sein ganzes Lebensglück vernichtete, Schande und Verfehmung über ihn brachte, mittels vergifteter Arznei ermorden wollen! Aber er hatte sich noch einmal der finsteren Macht des Aberglaubens entwunden, all das schwere Unrecht, das ihm geschehen war, hatte sein Herz nicht verhärtet, das Kind hatte, friedlich schlafend, durch seinen bloßen Anblick für seine Rettung gekämpft – und zersplittert lag die Giftflasche auf dem Pflaster des Hofes! –

Alle diese Gedanken und Vorstellungen durchzuckten in wenigen Sekunden meine Seele. Ich ergriff den Pfarrer beim Arme, zog ihn hastig zur Seite und erzählte ihm, was der Arzt und ich in der vergangenen Nacht beobachtet hatten. Leichenblässe überzog das Gesicht des wackeren Mannes bei meinem Berichte. „Er hat das Kind umbringen wollen!“ murmelte er tonlos. „Der Unglückselige!“

Dann ergriff er meine Hand. „Kommen Sie, kommen Sie, lieber Freund!“ rief er in fieberhafter Erregung. „Ich muß zu ihm gehen, muß mit ihm sprechen, muß mich überzeugen, daß er wieder ganz erwacht ist aus seinem Wahnwitz! Mir wird er die Thür öffnen, ich habe ihn ja aufwachsen sehen, habe ihn unterrichtet, und er weiß, wie lieb ich ihn habe!“

Er eilte davon und ich mußte ihm folgen, denn er hatte meine Hand nicht losgelassen.

In der That öffnete Rupert die Thür, als wir ihn riefen. Ich fühlte mich von einer großen Angst befreit, als ich ihn lebend und offenbar gesund erblickte. Er war auffallend bleich und sah sehr abgehärmt aus, aber es lag nichts Verstörtes mehr in seinen Zügen, nichts Unstätes und Unheimliches mehr in seinen von langer Schlaflosigkeit glanzlosen, matten Augen; sein ganzes Wesen zeigte jetzt Ruhe. Ein kleiner Ranzen lag fertiggepackt auf einem Stuhle, an dem ein knotiger Wanderstab lehnte.

[891] „Rupert, wo willst Du hin?“ fragte der Pfarrer mit stockender, von seiner tiefen Erregung zeugender Stimme, indem er auf den Ranzen deutete.

„Fort!“ entgegnete Rupert kurz und räumte mit matter Bewegung den Ranzen vom Stuhle, damit der Pfarrer sich setzen könne. Auch mir bot er einen Schemel.

„Fort?“ fagte der Pfarrer. „Wohin, Rupert?“

„Das weiß ich noch nicht, Hochwürden,“ erwiderte Rupert in schmerzlich theilnahmlosem Tone, „was liegt mir daran, wie der Ort heißt, wo ich bleiben werde!“

„Und warum willst Du gerade jetzt fort? Gestern dachtest Du noch nicht daran – warum heute?“

„Weil gerade jetzt meine Kraft nicht mehr ausreicht, all das Elend zu ertragen,“ sagte Rupert mit zuckenden Lippen und finster umwölkter Stirn. „Gestern ging’s noch – heute geht’s nicht mehr. Die Welt ist weit, da kann man ja weit weg gehen. Ich will mir einen Ort aussuchen, wo ich bleiben mag, und so lange dort bleiben, bis sie’s auch dort erfahren, daß ich ein Mörder bin ... Dann wandere ich weiter, von Ort zu Ort. Im Grab werden sie mir ja endlich Ruhe lassen!“

„Die Menschen, ja!“ sagte der Pfarrer mit fester Stimme. „Aber das Gericht Gottes, Rupert! Das wird dann erst für Dich beginnen! Wirst Du vor dem bestehen? ..“

Rupert zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand nach dem Herzen, als hätte ihn ein jäher Stich getroffen.

„Herr Pfarrer,“ rief er erschrocken, „halten Sie mich denn auch für einen Mörder, daß Sie so fragen ...“

„Ich nicht, Rupert, denn ich weiß, daß Du keinen Mord verübt hast ... aber ... aber –“ er stockte, und Thränen traten ihm in die Augen, während er die Hände ineinander rang. „Rupert, der Herr sieht und richtet auch die Mordpläne und die Mordgedanken, und wenn er auch den Verzweifelnden nicht verdammt, so lange ihm halber Wahnsinn die Sinne verwirrt, so fordert er doch nachher Rechenschaft, wenn der Geist wieder klar geworden ist! – Was hattest Du vor in vergangener Nacht?“

Aschgrau wurde Ruperts Gesicht, und seine Brust arbeitete keuchend wie die eines Erstickenden.

„Ich habe es ja nicht ausgeführt!“ schrie er laut auf. „Ich konnte es ja nicht thun! Gott wird mir's verzeihen, denn er allein weiß, was ich gelitten habe!“

Er drückte beide Hände auf sein Gesicht und eine tiefe Stille entstand; wir waren alle drei zu erschüttert, um zu sprechen. Endlich fragte der Pfarrer leise:

„Du wolltest Magnus vergiften?“

Rupert ließ die Hände herabsinken und sah den Pfarrer aus hohlen Augen an.

„Woher wissen Sie es, Hochwürden?“

„Ich wußte es nicht ... Ich vermuthete es nur.“

Rupert holte tief Athem und sagte tonlos:

„Ja, ich wollte es ... Aber nun ist’s vorüber! Ich kann ruhig meinen Ranzen schnüren und von dannen ziehen. Mein Gewissen ist frei und ums Herz ist mir’s wieder ganz anders; leicht nicht, aber anders.“

„Du hast’s überwunden, Rupert?“ fragte der Pfarrer, angstvoll in seinen Zügen forschend. „Du kannst aus vollem Herzen dem kleinen Magnus Besserung und Genesung wünschen?“

„Ja, Hochwürden, ja!“ sagte Rupert fest. „Wie ein wüster Traum ist’s mir nur noch, daß ich das Kind hab’ umbringen wollen ... Nun ist’s vorüber.“

„Gott sei gepriesen!“ flüsterte der Pfarrer aus erleichtertem Herzen, Ruperts Hand warm drückend.

„Aber woher wissen Sie’s, Hochwürden?“ drängte dieser, „und wer ... wer weiß es noch außer Ihnen? Es war ja tiefe Nacht und böses Wetter ... Wer hat mich gesehen? Ich hab’ doch im Keller gesteckt, bis es Nacht war!“

In kurzen Worten sagte ich ihm, daß wir ihn beobachtet hätten.

„Nur Sie, Herr, und der Herr Doktor?“ sagte er sichtlich beruhigt.

„Niemand sonst,“ versicherte ich, „und es soll es auch niemand jemals erfahren. Die Giftflasche ist zerbrochen, und damit ist alles gut.“

„Alles gut!“ wiederholte Rupert bitter und traurig.

„Ja, alles gut!“ sagte ich, seine Hand ergreifend; „denn mit dieser Giftflasche, Rupert, wolltet Ihr den vernichten, der Eure Unschuld an Burkhards Tod klar vor allen Leuten an den ag bringen sollte. Von Euch und Burkhard ungesehen, war Magnus in der Klausenschlucht, als Euer Stiefbruder Euch ermorden wollte. Vor seinen Augen ist Burkhard in den Wasserfall gestürzt, und vor seinem Vater, vor Eva, dem Doktor und mir hat er’s bezeugt, daß Ihr unschuldig seid.“

Rupert sah mich starr an, als sei es ihm unmöglich, meine Worten zu fassen.

„Kommt ans Fenster,“ sagte ich, „und schaut hinaus!“

Ich hatte gesehen, daß auf dem Hofe sich wieder ein Menschenhaufen angesammelt hatte, Männer und Frauen, Burschen und Mädchen. Sie umringten den Moorheidler und Gertrud und blickten beständig zu Ruperts Fenstern hinaus. Halb taumelnd, ganz verwirrt trat dieser ans Fenster, und sofort erscholl unten jubelndes Zurufen, Hüte und Tücher wurden geschwenkt und ein Dutzend junger Bursche stürmte die krachende Stiege herauf, um Rupert hinunterzuholen. Dieser wußte noch immer nicht recht, wie ihm geschah, hatte noch nicht begriffen, wodurch dieser Umschwung entstanden war. Ein Stimmengewirr erhob sich, alle wollten ihm erklären und erzählen, was geschehen war. Aber jetzt schob auch der Otterhofbauer seine stolze, sonntäglich angezogene Gestalt in das dürftige Kämmerchen und gebot den übrigen Schweigen. Von ihm erfuhr Rupert ausführlich, was Magnus in jener Nacht, die beinahe seine Todesnacht geworden wäre, in so unzweifelhafter Weise bezeugt hatte.

„Wir alle sind Dir Genugthuung schuldig, Rupert,“ sagte der Bauer, trotz seiner selbstbewußten Haltung nicht ganz ohne Verlegenheit, „und ich thu’ Dir Abbitte, daß ich so Schlechtes von Dir gedacht habe. – Und jetzt komm herunter zu Deinen Eltern!“

Rupert ging mit den andern hinunter. Wir sahen vom Fenster aus, wie der Moorheidler seinen Sohn glückstrahlend ein Mal ums andere in die Arme schloß, wie sich alle herzudrängten, Rupert die Hände zu drücken, wie dessen Züge allmählich sich aufhellten, seine Wangen sich rötheten und das Gefühl wiederkehrenden Glückes offenbar sein Herz zu erfüllen begann. Schnell konnte er sich in die Wandlung nicht finden, dazu war er zu tief und hoffnungslos unglücklich gewesen. Auch dem Moorheidler liefen, trotz seiner Freude, dicke Thränen über die bleichen, hohlen Wangen; auch ihn mochte das Gefühl beherrschen, daß er seinen Sohn lange hatte schuldlos leiden lassen! Gertrud drückte und küßte nur stumm Ruperts Hand; dann ging sie still in ihre Kammer; ihr tiefbewegtes Herz drängte sie, sich allen Zeugen zu entziehen. Rupert dagegen konnte sich seiner jubelnden Kameraden nicht erwehren und mußte sich von ihnen ins Wirthshaus führen lassen, wo ihm bei fröhlichem Zusammensein bald ganz warm ums Herz wurde. Als er zurückkehrte, fand er den Moorheidehof mit Laubkränzen geschmückt, zwischen denen seine in der Sonne leuchtenden kleinen Fenster ganz lustig hervorblinzelten. Aber lieber, tausendmal lieber als alle Kränze war ihm der so lange entbehrte liebevolle Gruß seiner Eltern, die ihm beide mit glücklichen Gesichtern auf der Nothbrücke entgegenkamen.




Noch nie hatte der Pfarrer mit tieferer Empfindung und mit größerer Beredsamkeit eine Traurede gehalten, als an dem Tage, da er Rupert und Eva vor dem Altare als Ehepaar zusammengab.

Es war eine sehr feierliche Trauung! Der Moorheidler, Gertrud und der alte Schachtelmacher fühlten sich ganz stolz inmitten der reichen Verwandtschaft des Otterhofbauers, die in stattlicher Pracht der Gewandung vollzählig erschienen war. Der kleine Magnus, gesund und pausbäckig, trug das Sammetkittelchen mit den Silberknöpfen und das rothe Tuchwestchen, die Eva ihm gemacht hatte; die eine seiner kleinen Fäuste klammerte sich an die schwerseidene Schürze seiner Mutter, die andere hielt einen Blumenstrauß, hinter dem er fast verschwand und zwischen dessen Blumen man die veilchenblauen Augen fröhlich glänzen sah, die sich beinah für immer geschlossen hätten, all das Glück mit sich begrabend, das sich jetzt so ungetrübt und zukunftsfroh entfalten durfte!




[892]
In der Heimath.

Daß ich wieder in dir weile,
Traute Heimath, schafft mir Ruh’.
Fort ist alle bange Eile,
Weiß ich doch: mein Ziel bist du.

Von der Heimath losgerissen,
Ruhlos irrt der Mensch umher,
Scheint er sie auch nicht zu missen,
Ja, sie nicht zu kennen mehr.

Doch wie er zur Mutter fliehet
Als ein längst ergrauter Mann
Und sie weinend an sich ziehet,
Wenn er sie noch finden kann,

So auch sucht er voller Sehnen
Endlich noch die Heimath auf,
Und den letzten Kindesthränen
Läßt er in ihr freien Lauf.

Martin Greif.




Blätter und Blüthen.

Juleber. (Zu dem Bilde S. 877.) Wenn es Weihnacht wird in nordischen Landen, da sind viele Hände geschäftig, den Juleber (oder Julbock, Julbröd, Gumsebröd, Julgalt) zu bereiten. Inmitten von Schinken, Käse, Butter, Bier und Branntwein bleibt er bis St. Kanut auf der Tafel stehen. Hie und da macht ihm die Julkeule (Julklubba) Konkurrenz, die an einem Bande über dem Tisch befestigt ist und mit der man mannigfache Spiele spielt. Am liebsten ißt man Schinken zum Julbröd, denn dies ist ja kein wirklicher Eber mehr, sondern nur ein Gebäck von feinem Mehl, auf dem ein Eber mit zwei Stoßzähnen oder bisweilen auch ein Widder mit zwei Hörnern abgebildet ist.

Einstens war es anders. Da briet zur Julfeier ein wirklicher Eber am Spieß über dem Herdfeuer, und als in späterer Zeit die Eber seltener zu werden begannen in den nordischen Wäldern, da zogen die Mannen der einzelnen Höfe bereits acht Tage vor dem Feste aus, um ein Stück des seltenen Wildes für das Fest zu erbeuten.

Der Brauch des Eberschmauses zur Wintersonnenwende reicht in urgermanische Zeit zurück; findet er sich doch auch bei dem nordwestlichen Zweige der Westgermanen, in Großbritannien. Dort ist vielfach noch heute der festgeschmückte Eberkopf das Hauptgericht des Weihnachtsmahles; mit Myrthen, Rosmarin und Lorbeer geschmückt, wird er aufgetragen, und in Oxford knüpfen sich noch heute Umzüge an den Brauch des Julebers.

Einstens hatte der Eber beim Julschmaus eine hohe Bedeutung. Ueber ihm reichten sich die Männer die Hände und gelobten, Thaten zu vollbringen. Und was einer hier gelobt hatte, das mußte er halten, wenn er nicht für ehrlos gelten wollte. Vor anderthalb Jahrzehnten hat Felix Dahn diesen Zug benutzt, um den Knoten zu schürzen in seinem kleinen nordischen Roman „Sind Götter?“ Aber schon vor mehr denn siebenhundert Jahren besang die Bibel der Altisländer, die Edda, ein verhängnißvolles Gelöbniß beim Juleber.

Helgi, der Sohn Hjövards, war ein großer König und gewaltiger Kriegsheld. Seine Braut war Swawa, eine Walküre, die in der Schlacht die dem Tode Verfallenen kieste und mit ihrem Schild die Helden schützte, denen die Nornen noch längeres Leben im Sonnenschein gewährten. Da saß Helgis Bruder Hedin mit den Seinen am Julabend beim festlichen Eberschmause. Der Becher Bragis ging herum, und sie gelobten über dem Sühneber künftige Großthaten. Alle waren große Helden, und einer überbot den andern in seinem Gelöbniß. Da gab eine Hexe, die dem Hedin grollte, ihm ein, über dem Eber zu geloben, daß er Swawa, seines Bruders Braut, heimführen wolle. Das unbesonnene Wort war gesprochen, und er war gezwungen, sein Wort zu lösen. Er gesteht es seinem Bruder:

„Böseres that ich als Bannbestraftes:
Gelobend erkor ich die Königstochter
Beim Bragitrunke, die Deine Braut ist!“

und dieser, der seinen baldigen Tod in der Schlacht ahnt, zürnt ihm nicht. Helgi wird im Kampfe gegen König Alf tödlich verwundet. Sterbend bittet er Swawa, seines Bruders Braut zu werden. Doch diese hat sich einzig ihm verlobt und stirbt mit ihm.

Von beiden aber geht im Norden die Sage, daß sie zum Lohn für ihre Treue in der Welt der Seligen wiedergeboren seien.
A. T.
In der Genesung. (Zu dem Bilde S. 872 u. 873.) Es war recht krank, das arme Prinzeßchen, und das verwöhnte Fürstenkind, dem sonst die Lebenslust und Lebensfreude aus den hellen Augen leuchtete, ist noch recht hinfällig und schwach und vermag kaum die müden Lider offenzuhalten. Aber besser ist es doch geworden; mit den beruhigendsten Versicherungen ist der Leibarzt gegangen, und nun werden alle Mittel in Bewegung gesetzt, nicht bloß den Körper, sondern auch das Gemüth der Genesenden von den Nachwehen der Krankheit vollends zu befreien. Die treue Gesellschafterin mischt stärkende Tropfen, die jugendliche Kammerzofe lächelt ihre Gebieterin mit ihrem fröhlichsten Lächeln an, damit diese auch gewiß dem Glauben an die Wiederkehr vergnügter Stunden ihr Herz erschließe, und der lustige Hofrath, der gewandteste Vorleser bei den abendlichen Zirkeln des schöngeistigen Höfchens, hat das Neueste und Lustigste mitgebracht, was der Büchermarkt in der Zeit der Krankheit seiner sonst so verständnißinnigen Zuhörerin zu Tage gefördert hat, und er liest es ihr vor mit dem ganzen Aufwand seiner die Lachmuskeln reizenden Mimik. Nun – lange wird es nicht mehr dauern, da verzieht sich ganz sacht der jetzt noch so betrübt geschlossene Mund des Prinzeßchens, ein Schimmer der alten Heiterkeit fliegt über das müde Gesichtchen hin und ein leiser rosiger Schimmer verklärt die bleichen Wangen der Genesenden.
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Meines Fensters Weihnachtsgäste. (Zu dem Bilde S. 869.) Der Winter ist hart, aber in ihm feiern wir das Fest der welterlösenden Liebe! Und der warmherzige Mensch lindert nicht nur nach Kräften das Los seiner Brüder, sondern er erbarmt sich auch der Thierwelt. Vor meinem Fenster ist täglich Freitisch für die benachbarte Vogelwelt. Meine Wohnung in der Vorstadt liegt nahe am Wald, der mir gar edle Gäste sendet. – Wir schreiben den 25. Dezember, da muß doch auch vor meinem Fenster Weihnachten werden! Ich habe mir als Freßgeschirre einige flache Holzkästchen machen lassen, diese bestellen wir jetzt mit ganz besonderen Leckerbissen. Mohn-, Kanarien- und Hanfsamen in das eine, Sonnenblumenkerne und Stückchen Fleisch in das zweite. Das dritte mit geriebenen gelben Rüben, Semmelbrosamen und reichlicher Ausbeute aus dem „Mehlwurmtopfe“ stellen wir vorerst noch zurück.

Jetzt zwei Kästchen hinaus! Hui, wie das anschwirrt! Auserlesene Gesellschaft: „Schilp, schilp, schilp“ – kennst du sie, die Gassenjungen der Vogelwelt? „Rärärärä“, da sind sie, meine Zeisige, die kecken, lustigen Thierchen! – Ein paar ritterliche Herren kommen jetzt angeschossen; es sind Edelfinken, und ihr heller Lockruf weckt Frühlingsahnung in unserer Brust, trotz der winterlichen Landschaft. Der Ruf hat aber jetzt auch das Dompfaffenpaar angezogen, das ja täglich mein Fenster besucht. Diese stattlichen Vögel sitzen im vielgeliebten Hanfsamen und knacken gravitätisch Korn für Korn. Nun entschließen sich auch Stieglitze, heranzukommen, dem Mohn- und Hanfsamen können sie doch nicht widerstehen. Auch das ewig fröhliche Volk der Meisen ist nun da, und darum rasch hinaus mit Kasten Nr. 3! – Brrr! Wie das auffliegt, zankend und schimpfend über die Störung! Der ganze Zaun ist voll Vögel und immer noch kommt Zuzug. Ist das nicht auch ein Christfest?

Allgemeiner Aufruhr da draußen und ein ganz neues Bild! – Das kleine Volk, schon ziemlich gesättigt, ist verscheucht, und drei Amseln, deren tiefer, sanftflötender Gesang schon an sonnigen Februartagen unser Ohr erfreut, beherrschen das ganze Fensterbrett. Nun gesellt sich auch noch eine Drossel dazu, und höchst überflüssiger Weise kommen auch noch Tauben! Die könnten sich eigentlich von ihren Herren Besitzern füttern lassen!

Noch gar viele Gäste besuchen meinen Weihnachtstisch heute, aber mein Liebling fehlt mir schon seit gestern: ein Rothkehlchen! Einsam und traurig kam es täglich an mein Fenster und that so zahm und so vertraulich, und doch wagte es sich nicht in die Stube, wo ich es so gerne versorgt hätte. Was mag das Thierchen wohl abgehalten haben, mit den Seinigen zu ziehen, die jetzt fern im Süden weilen? War es Krankheit, war es zu später Kindersegen? Ach vielleicht, während gestern in warmer Stube der Weihnachtsbaum brannte, sank draußen im Wald der melancholische liebliche Sänger erstarrt zu Boden und leise, leise fällt der weiße Schnee auf sein blutrothes Brüstchen und deckt es langsam zu.
F. A.

Pferdetrieb auf der Pußta. (Zu dem Bilde S. 888 und 889.) Hui! Wie das schnaubt, wiehert, sich bäumt, stampft, schlägt und jagt, tausend Rosse ohne Reiter, ein köstliches Schauspiel nicht nur für den Sportsmann, sondern für jeden Thierfreund und ein herrlicher Stoff für den Pinsel des Künstlers!

Ja, der Magyare ist stolz auf seine Steppe wie auf sein Steppenpferd, und auf letzteres nicht ohne Berechtigung!

Schon vor nahezu einem Jahrtausend, als Arpads wilde Kriegerscharen über die Grenzen Deutschlands stürmten, mußte mancher deutsche Ritter auf schwerem Schlachtrosse im ungewohnten Kampfe gegen die Reiter auf ihren windschnellen asiatischen Steppenpferden Leib und Leben lassen; und noch heute wird diese Schnelligkeit manchem Nachfolger jener Ritter auf unblutigem Kampfplatz gefährlich, wenn er allzu hohe Summen gegen den flüchtigen magyarischen Vollblutrenner eingesetzt hat. Denn hat sich auch die Steppe in einem Jahrtausend nicht geändert, das Steppenpferd erfuhr dank den sportbegeisterten Magnaten so viel veredelnde Pflege, daß es sich heute mit den besten Rennern aller Nationen messen darf.

Gleichwohl ist es nicht die „Windeseile, womit der Csikos auf seinem Rößlein über die Pußta saust“, was das magyarische Pferd, namentlich für den Armeebedarf, so werthvoll macht. Ein Kavallerieregiment auf Pfleglingen berühmter Rennställe, so prächtig der Anblick auf dem Parade-Platz auch wäre, würde in einem Winterfeldzug doch wahrscheinlich schon nach wenigen Wochen zu Fuße marschiren! In solchem Falle aber bewährt sich die Ausdauer, Genügsamkeit und Wetterhärte des magyarischen Pußtapferdes ebenso glänzend wie der magyarische Reiter, welcher meist eher reiten als ordentlich gehen und laufen lernt.

Solche Rosse, solche Reiter zeigt unser Bild, im Hintergrunde aber die allen Pußten gemeinschaftlichen Wahrzeichen: die Cisterne mit der baumlangen Hebestange und die Csarda, die Schenke.

Es ist Abendzeit. Die Pferdehirten (Csikos) haben ihre Schutzbefohlenen zur Tränke getrieben, von der es jetzt zu gemeinsamem Nachtlager in die Nähe besagter Csarda geht. Hier entwickelt sich ein neues, nicht minder anziehendes Schauspiel. Dunkle Nacht senkt sich auf die Erde, und der erst so wild bewegte Schwarm der Rosse lagert unbeweglich auf dem Steppengrase, eine graue Masse, deren Leben sich nur durch halblautes Schnauben verräth. Ringsum herrscht tiefe Stille. Nur die wachsamen Hunde geben bisweilen kurzen, gedämpften Laut wie zur [893] Warnung beutelustiger Wölfe, und aus der Csarda klingt des Zigeuners Fiedel und das „Eljen“ des wein- und tanzfrohen Csikos leise in die weite Pußta, über welche sich der unendliche Himmelsbogen mit seinen Millionen schimmernder Sterne wölbt – ein Bild von unsagbar ergreifender, echter Steppenpoesie!


Das Neujahrsblasen der Berliner Postillone. (Zu dem Bilde S. 881.) Zur Zeit der Jahreswende, wenn überall die Geschäftsleute ausruhen von der Arbeit, die das Weihnachtsfest gebracht hat, schwillt die Thätigkeit der Mannen Stephans zu wahrhaft unheimlicher Höhe an und erfordert zu ihrer Bewältigung die ganze Lust und Liebe und zugleich die selbstlose Pflichttreue aller der Personen, die zu der Postarmee gehören und deren Leistungsfähigkeit wir zu bewundern schon so oft Gelegenheit hatten.

Am lebhaftesten und angestrengtesten geht es in dieser Nacht im Berliner Hauptpostgebäude zu. Wagen auf Wagen rollen in die Höfe ein, und sie liefern immer neue, endlose Berge von Packeten, Briefen und Karten ab, die von Hunderten von Beamten nach den auswärtigen Ortschaften, dann nach den Stadtgegenden Berlins und schließlich nach den einzelnen Postanstalten auseinandergelesen und letzteren sofort wieder durch Eilposten überliefert werden. So geht es Stunde auf Stunde; immer mehr wächst die Arbeit, statt abzunehmen, und scheint kurz vor Mitternacht überhaupt jeder rechtzeitigen Bewältigung zu spotten. Da, hoch vom Rathhausthurm dröhnt der erste der zwölf Schläge, und in demselben Augenblick verkünden Postillone mit lauten Trompetenstößen in jedem Saal, daß das neue Jahr begonnen und die Arbeit für eine kurze Zeit zu ruhen hat.

Die leitenden Beamten halten kurze Ansprachen, Erfrischungen werden herumgereicht, und nun ertönen auch draußen auf dem Posthofe die friedlichen, zu Herzen gehenden Klänge eines von Postillonen geblasenen Chorals, dessen stimmungsvolle Weisen die Vorübergehenden von den Straßen heranlocken.

Nach einer viertelstündigen hochwillkommenen Pause wird die ruhende Arbeit mit fiebernder Hast wieder aufgenommen und derart gefördert, daß sie in ihren wichtigsten Theilen fast immer beendet ist, wenn die Neujahrsschwärmer noch in den Federn liegen und von all dem Herrlichen träumen, was das neue Jahr in seinem Schoße für sie birgt.


Neues Nürnberger Schattentheater. Licht und Schatten sind ein äußerst ausgiebiges Material, um allerlei denkbare Scherze für unsere Kinderwelt daraus zu formen. Von den kuriosen Schattenfiguren, welche Hand und Finger auf die Wand zaubern, führt eine lange Stufenreihe von Verwendungen dieser elementaren Kräfte bis hinauf zu reich ausgestatteten Schattentheatern, die ganze Tragödien und Komödien, Ritter- und Ausstattungsstücke den staunenden Kleinen vorzuführen erlauben. Und was wäre auch mehr geeignet, kindliche Herzen in Entzücken zu versetzen, als wenn so die scharfumrissenen Silhouetten wohlbekannter Typen über den hellen Hintergrund stolzieren und dazu ein phantasievoller „Theaterdirektor“ die schönsten Geschichten erzählt! Wir haben wohl schon da und dort von einem kunstreichen Vater gehört, der in den Stunden seiner Muße – sie müssen indessen schon recht reichlich bemessen sein – seinen Kindern ein solches Schattentheater aufbaute und mit vielgestaltigen „Requisiten“ versah, mit Häusern, Bäumen, Kindern, Greisen, Bürgern, Soldaten u. s. w. u. s. w. Aber sie sind gezählt, die glücklichen Kinder, die eines solchen Vaters sich erfreuen. Da ist nun ein Nürnberger Spielwarenfabrikant, C. Abel-Klinger, auf den Gedanken gekommen, ein solches Theater von möglichst einfachen und leicht im handhabenden Formen auszusinnen und auf fabrikmäßigem Wege in größerer Anzahl herzustellen. Ein hervorragender Künstler, der Direktor des bayerischen Gewerbemuseums, Th. v. Kramer, hat die Entwürfe für die Hintergründe und die Figuren geliefert, und so ist etwas recht Gediegenes zustande gekommen, was doch einem nicht zu kleinen Kreise zugänglich ist. Ueberall, wo das „Neue Nürnberger Schattentheater“ hinkommt, wird es sicher eine unerschöpfliche Quelle der Belustigung bieten, zugleich aber auch eine Anregung in jenem höheren Sinne, wie sie Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ schildert, wenn er sagt: „Diese kindliche Unterhaltung und Beschäftigung (er meint damit

sein Puppentheater) hat auf sehr mannigfaltige Weise bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und gefördert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können.“
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Eine Weihnachtsbescherung für junge Ehemänner.
Nach einem Gemälde von F. Stuck.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.


Schön und jung zu bleiben, das ist ein uralter Wunsch der Menschheit. Die Sage vom Jungbrunnen war in verschiedenem Gewande allen Völkern bekannt, und in allen Herzen erwacht die Sehnsucht nach der entflohenen Jugend, wenn der erste Schneefall unsere Haare bleicht und das erste weiße Haar etwas wie ein fernes Echo des Trappistenspruches: „Bruder, bedenke, daß du sterben mußt!“ in unserer Seele weckt. Die Philosophie tröstet uns, indem sie das Greisenalter, das die Stürme der Leidenschaft nicht kennen soll, verklärt, aber ihre Lehren finden nicht immer Bekenner, die meisten Menschen würden auf Unsterblichkeit ohne Jugend verzichten, um nur das Los des Tithonos nicht zu theilen, dem die Götter auf Flehen der Göttin der Morgenröthe die Unsterblichkeit schenkten, dabei leider aber vergaßen, ihm die werthvollere Gabe der ewigen Jugend mit zu spenden. Tithonos schrumpfte bekanntlich derart zusammen, daß ein mitleidiger Gott ihn in eine Cikade verwandelte. Im Mittelalter suchten die Menschen nach dem Stein der Weisen, der verjüngende Kraft besitzen sollte, später zogen Charlatane wie Cagliostro und Graf von St. Germain Nutzen aus der Sehnsucht der Welkenden – und selbst in unserem aufgeklärten Zeitalter beschäftigt man sich mit Verjüngungskuren.

Die Wissenschaft selbst hat sich engere Schranken gezogen; sie hat längst den Jung- und Schönbrunnen entdeckt, soweit er in der vergänglichen Welt erreichbar ist. Sie spricht von der Hygieine, welche ein frühzeitiges Krank- und Welkwerden verhüten soll. „Lebt naturgemäß, meidet Modethorheiten, glaubt nicht den Geheimmittelkrämern, die euch Giftpomaden anbieten, und ihr werdet lange leben und lange schön bleiben“, das ist ihr Rezept!

Wie viel Artikel in Zeitungen, wie viel Bücher sind schon darüber geschrieben worden! Es scheint beinahe gewagt, die Leser und namentlich die Leserinnen von neuem mit Belehrungen über die Pflege der Haut, der Haare und der Zähne zu belästigen, und doch weiß der Arzt, daß es nöthig ist, denn viele werden krank in dem Bestreben, sich schön zu machen!

Viele gute Bücher werden nicht zu Ende gelesen, weil sie zu trocken, zu pedantisch geschrieben sind. Namentlich die Frauen möchten über solche Fragen nur plaudern, anstatt gründliche Auseinandersetzungen hören zu müssen. Diesen Ton trifft ein italienisches Büchlein „Die Hygieine der Schönheit“ von Paul Mantegazza, das in einer deutschen Uebersetzung erschienen ist (Verlag von Heinrich Matz, Königsberg i. Pr.). Es ist eine anregende Plauderei über die Kunst, die Schönheit zu erhalten, und aus der Plauderei ergeben sich die wichtigsten Regeln von selbst.

Die Rathschläge Mantegazzas sind leicht zu befolgen. Um das frühzeitige Ergrauen der Haare zu verhüten, soll man nur folgendes thun:

„Vermeide alles Uebermaß, das den Organismus schwächt. – Sei immer zufriedenen Herzens. – Bürste und reinige oft den Kopf. – Gieb nie einen Pfennig für Pomade oder kosmetische Mittel aus, die als wirksam gegen das Erbleichen der Haare angepriesen werden. Schneide das Haar häufiger als gewöhnlich, sobald es anfängt grau zu werden.“

„Manche reißen sich,“ fährt er dann fort, „die grauen Haare aus, so lange es nur wenige giebt; doch will Brown-Séquard beobachtet haben, was aber noch weiterer Bestätigung bedarf, daß, sobald ein graues Haar ausgerissen wird, an derselben Stelle gleich drei oder vier andere erscheinen. Das erinnert mich an den Gebrauch einiger Pferdehändler, die, um ihre Pferde mit einem weißen Stern auf der Stirn zu zieren, an einer und derselben Stelle beständig Haare ausreißen.“

Mantegazza bespricht auch ausführlich die Kleidung und widmet u. a. dem Frauenhut folgende Worte:

„Vom Frauenhut ist es überflüssig zu sprechen, denn er ist ein Ding, das nicht vorhanden ist oder dem Bereich der Archäologie angehört. Der Frauenhut der Gegenwart ist eine Ausstellung von künstlichen Blumen oder Pflanzen, von Vögeln oder nachgebildeten Früchten, oder er ist ein falscher Zopf oder ein Netz oder sonst etwas, nur kein Hut.

O, warum nimmt unser heutiges schönes Geschlecht nicht wenigstens jene braven Frauen zum Vorbild, die Ende vorigen Jahrhunderts ihren Kopf in kleine Gärten umwandelten, in denen lebende Pflanzen wuchsen und natürliche Blumen aufbrachen? Es wäre das immer besser, als den Kopf zu einem Museum der Vogelkunde oder zu einer Leichenhalle zu machen. Lesen wir, was die Frau Baronin von Oberkirch unterm 6. Juni 1782 in ihren Memoiren schreibt:

‚Ich mußte mich frisiren lassen und in Staat werfen, um mich nach Versailles zu begeben. Diese Hoftoiletten dauern eine Ewigkeit, und der Weg von Paris nach Versailles ist sehr mühsam, besonders wenn man achtgeben muß, daß die Unterröcke und Faltensäume nicht ruinirt werden. Ich wollte zum ersten Male einen Kopfputz versuchen, der sehr unbequem, aber sehr in Mode war; einige platte und der Form des Kopfes entsprechend gebogene Fläschchen, die etwas Wasser enthielten und in welche sodann natürliche Blumen mit ihren Stengeln hineingesteckt wurden. Das gelang nicht immer, aber wenn es gelang, war es doch etwas Schönes. Der Frühling auf dem Kopfe, inmitten des schneeweißen Puders, das war von bezaubernder Wirkung.‘“

Die Frauen werden die Hygieine der Kleidung nach Mantegazza nicht verwerfen, denn er stellt den Satz auf: „Das Weib mag sich schmücken, der Mann soll sich kleiden.“ Auch die Wollenen werden mit ihm zufrieden sein, denn er führt den Ausspruch Shakespeares an, daß im Flanell eine Art Zauberkraft stecke, und sagt: „Wolle und weiße Farbe, in diesen Worten sind drei Viertel der Hygieine der Kleidung enthalten!“ Ebenso

[894] muß er die Schneider auf seiner Seite haben; denn er lehrt ja: „Mit dem Schneider ist’s wie mit dem Arzt: er darf nur so selten wie möglich gewechselt werden.“

Für Salben, Pomaden, Waschwasser etc. wird man vielleicht in anderen Werken neuere und mitunter bessere Anweisungen finden; bessere Grundsätze der Hygieine der Schönheit aber gewiß nicht, und darum dürfte auch die Vertiefung in das Büchlein, ein Plauderstündchen bei dem Florentiner Professor Mantegazza, für alle, die in Betreff ihrer Schönheit konservativ gesinnt sind, nicht nur unterhaltend, sondern auch nutzbringend sein.

*

J. G. Fischer, der Nestor der schwäbischen Dichter, dessen gemüthreiche und stimmungsvolle Poesien unsern Lesern wohl vertraut sind, hat an seinem späten Lebensabend den Verlust der geliebten Gattin zu beklagen, und seinem Schmerze um die theure Entschlafene giebt er in den folgenden Strophen einen ebenso ergreifenden wie hochpoetischen Ausdruck.

 Der Gattin Tod.
Nun liegst du im Grabe mit ihm vereint,
Deinem Erstling, den du so heiß beweint.
Was ihr redet zusammen - ach wer weiß?
Die Todten flüstern und hören leis.
Nur wir Armen, o Gott, die da oben geh’n,
Wir dürfen kein Wort von euch versteh’n.
Ich gehe dein Lager um und um,
Das verlass’ne – wie still! wie todtenstumm!
O ein Wort nur, du einst’ges Lebensglück!
Doch mein eigenes Wort nur hallt zurück.
Mich fragen die Wände durchs ganze Haus:
Wie gehst du nur selbst noch ein und aus?
Die Blumen vorm Fenster schau’n herein:
Wo mag denn heute die Sonne sein,
Die wir da drinnen so oft geseh’n
Mit den Himmelsaugen vorübergeh’n?
O arme Blumen, die schied so weit,
Daß ich weine und weine die ganze Zeit.
 J. G. Fischer.

Ein Geschichtswerk von Karl Biedermann, das einen Abschnitt der neuen oder neuesten Geschichte behandelt, wird immer willkommen geheißen werden, einmal weil der Verfasser durch seine lange parlamentarische Laufbahn oft in der Mitte der Ereignisse stand und mit hervorragenden Persönlichkeiten in nächste Berührung kam; dann aber auch, weil die Darstellungsweise Karl Biedermanns frei von jeder Manier, durchaus verständlich und volksthümlich ist. Diese Vorzüge hatte schon sein Werk „Dreißig Jahre deutscher Geschichte 1840 bis 1870“ und sie finden sich nicht minder in der „Ergänzung nach rückwärts“, die er jetzt demselben hinzugefügt, in der Schrift „1815 bis 1840. Fünfundzwanzig Jahre deutscher Geschichte“, welche in zwei Bänden vorliegt (Breslau, S. Schottländer).

Wir erfahren zunächst aus dem Werke, wie der Wiener Kongreß über das Schicksal der Völker verfügte. Von besonderem Interesse sind die Verhandlungen über die sächsisch-polnische Frage; die Charakterköpfe der hervorragenden Diplomaten sind ungezwungen in die Schilderung der Vorgänge eingefügt; wir sehen, wie aus verschiedenen Entwürfen heraus sich die deutsche Bundesakte gestaltete. Dann wird eine kurze, aber sehr lebendige Schilderung des Krieges von 1815, der Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance eingeschoben. Wir wenden uns darauf den inneren Vorgängen in Deutschland zu: der Gründung der Burschenschaft, dem Wartburgfest, der Ermordung Kotzebues durch Sand und der rückläufigen Bewegung, welche dem studentischen Aufschwung folgte und ihm ein jähes Ende bereitete.

Die preußische Kamarilla, welche den Sieg über den widerstrebenden Staatskanzler von Hardenberg davontrug, wird in ihren Hauptvertretern und in ihren eifrigsten Schergen geschildert. Es ist eine Zeit, welche noch heutigen Tags bei unbefangener Darstellung die Leser mit Grauen erfüllen muß; denn die Verfolgung der damaligen Jugend war eine unerhörte, und ein so grausames Strafmaß, welches über die bloße Aeußerung von Gesinnungen Todesstrafe und lebenslängliches Gefängniß verhängte, erinnert an die Zeiten der Cäsaren und der französischen Schreckensherrschaft. Und dabei bestand in Deutschland der tiefste Frieden. Den Höhepunkt erreichte die Reaktion mit den Karlsbader Beschlüssen. Inzwischen waren in den deutschen Mittelstaaten und kleinern Staaten nach langen Kämpfen zwischen den Regierungen und den Ständen Verfassungen eingeführt worden; über die Entwicklung und Gestaltung derselben giebt Biedermanns Schrift willkommene Auskunft.

Der zweite Band beginnt mit einer Darstellung der geistigen und litterarischen Bewegung vor, in und nach dem Befreiungskriege und endet mit einem Abschnitte: „Wandlungen in Poesie und Philosophie“; es ist dies ein Gebiet, auf welchem der Kultur-, und Litterarhistoriker Biedermann vorzugsweise zu Hause ist und das er mit geistvollen Lichtblicken erhellt. Die Darstellung der politischen Vorgänge bringt in vier Kapiteln eine Geschichte des Bundestages bis 1824, schildert dann Deutschland unter den Rückwirkungen der Pariser Julirevolution von 1830, die Einflüsse der belgisch-polnischen Revolution, das Hambacher Fest, den preußisch-deutschen Zollverein, den hannoverschen Staatsstreich, die inneren Zustände des österreichischen Kaiserstaates und die Vorgänge auf kirchlichem Gebiet.

Beide Werke, zusammengefaßt unter dem Titel „Geschichte Deutschlands vom Wiener Kongreß bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums“ sind dem Fürsten Bismarck gewidmet.

Frauen-Dank. Gleich nach dem Hinscheiden der Kaiserin Augusta am 7. Januar d. J. war in den Kreisen des „Vaterländischen Frauenvereins“ der Gedanke angeregt worden, den Gefühlen der unvergänglichen Verehrung und Dankbarkeit gegen die edle Frau, die treue Beschützerin aller deutschen Frauenvereine, die eifrige Fördererin aller Werke der Nächstenliebe, einen sichtbaren, dauernden Ausdruck zu geben. Und wie sich erwarten ließ, ist dieser Gedanke auch auf fruchtbaren Boden gefallen. Eine ganze Anzahl Vereine, der „Bayerische Frauenverein“, der „Sächsische Albertverein“, der „Württembergische Wohlthätigkeitsverein“, der „Badische Frauenverein“, der „Hessische Alice-Frauenverein“, das „Patriotische Institut der Frauenvereine im Großherzogthum Sachsen“ und der „Mecklenburgische Marien-Frauenverein“ vereinigten sich mit dem „Preußischen Vaterländischen Frauenverein“ in dem Beschlusse, eine Sammlung zu veranstalten, deren Ergebniß unter dem Namen „Frauen-Dank“ der Kaiserin Auguste Victoria überreicht werden soll. Die Absicht ist, die Erträge der Sammlung mit der von der verewigten Kaiserin Augusta zur Feier ihrer Goldenen Hochzeit im Jahre 1879 begründeten Stiftung „Frauentrost“ zu vereinigen und so dieser hochherzigen Stiftung, deren Bestimmung es ist, die Frauenvereine unter dem Rothen Kreuz in der Ausführung ihrer gemeinnützigen Bestrebungen zu unterstützen, neue Mittel zuzuführen.

An alle Frauen und Jungfrauen unseres Deutschen Vaterlandes ergeht nun der Aufruf, zu diesem nationalen Liebeswerke nach Kräften beizutragen. Und damit nicht die kleinen Scherflein schüchtern zurückzustehen brauchen, damit die Stiftung wirklich aus den breitesten Schichten des Volkes, nicht bloß aus dem Ueberschusse einiger Reichen hervorgehe, ist ausdrücklich die Grenze der Beiträge von 10 Pfennig bis zu 10 Mark festgesetzt worden. Als Sammelstellen dienen die obengenannten Vereine mit ihren Verzweigungen. Für diejenigen aber, welche keine Gelegenheit haben, mit einem solchen sich in Verbindung zu setzen, also insbesondere für unsere deutschen Frauen und Mädchen im Auslande, sei bemerkt, daß das Bankhaus von F. W. Krause u. Komp., Berlin, Leipzigerstraße 45, zur Entgegennahme von Beiträgen gerne bereit ist. Nur müßte darauf geachtet werden, daß Sendungen an dieses eine genaue Bezeichnung ihres Zweckes tragen, damit keine Verwechslungen vorkommen.

Eine geputzte Chinesin. Eine Abendländerin kann mit dem Putz und den Zierathen einer Bewohnerin des Reichs der Mitte nicht wetteifern, besonders wenn die letztere den vermögenderen Klassen angehört. Der Kragen, die Aermel, die Schuhe sind reich gestickt, oft aus Gold- und Silberzwirn; die Seidenstoffe sind mit Medaillons von Schmetterlingen brochirt; das Haar wird sehr sorgfältig geordnet, oft mit wirklichen Blumen oder mit künstlichen aus Gold, Silber, Perlen, Nephrit, Edelsteinen oder mit Verzierungen von Glas geschmückt. Die Hausfrauen und die jungen Damen verfertigen übrigens ihre Kleider selbst, was dadurch sehr erleichtert wird, daß die Mode keine wechselnde ist. Das Schminken ist allgemein Sitte bei jungen Mädchen und Frauen. Bei der schmutzig gelben Hautfarbe der meisten Chinesinnen erscheint das Schminken als ein nothwendiges Uebel. Die von den Dichtern gefeierten Schönheiten haben alle Korallen- oder Pfirsichlippen, mandelförmige Augen, dunkle, hochgeschwungene Augenbrauen. Da muß nun die Schminke nachhelfen, wo die Natur nicht genug gethan hat, um den Anforderungen der Dichter und auch der Volksmeinung an die weibliche Schönheit nachzukommen. Die Kunst des feinen Schminkens ist aber unbekannt; große Kleckse von rother Farbe werden auf dem mittleren Theile der Unterlippe angebracht und auf den obern Augenlidern; die Handteller und die weißen sichelförmigen Theile der Nägel werden auch geschminkt. Im ganzen hat solch eine frisch herausgeputzte Chinesin etwas Puppenhaftes.

Die Hochwasser in den letzten Tagen des November haben allenthalben in Deutschland und Oesterreich große Verheerungen angerichtet, wie wir dies ja an dem Beispiel von Karlsbad auf Seite 865 gezeigt haben. Viel Hab und Gut ist den Fluthen zum Opfer gefallen, Elend und Krankheit bilden das traurige Gefolge der jähen Katastrophe. Da ergehen überall in den öffentlichen Tagesblättern Aufrufe an die menschliche Barmherzigkeit, daß sie helfend eingreife und die äußere Noth lindere, soweit es in ihren Kräften steht. Gern würde auch die „Gartenlaube“ solchen Aufrufen Raum geben, aber bei der langen Zeit, welche sie zum Drucke ihrer großen Auflage bedarf, würde sie zu spät kommen; auch würde die „Gartenlaube“, die im ganzen deutschen Vaterlande und darüber hinaus gleichmäßig verbreitet ist, durch Veröffentlichung einzelner dieser öffentlichen Hilferufe leicht eine Ungerechtigkeit begehen. Sie kann also nur an alle ihre Leser die herzliche und dringende Bitte richten, sie möchten die Augen offen halten, damit sie die Stellen erfahren, wo Gaben für die Ueberschwemmten in Empfang genommen werden, und sie möchten dann auch nicht verfehlen, die mildthätigen Hände zu öffnen und willig und reichlich zu geben.

An der Jahreswende. Wenn der Jahrgang einer Zeitschrift dem Ende entgegengeht, wenn es gilt, die letzten Bogen und die letzte Seite zu füllen, dann pflegen die Herausgeber rückwärts und vorwärts zu blicken auf den Weg, den sie durchmessen haben, und den neuen, welcher vor ihnen liegt.

Sie richten dann auch, altem guten Brauch folgend, einige Worte an ihre Leser, um ihnen für die seitherige Begleitung zu danken und sie freundlich aufzufordern, auch ferner mitzugehen und dem Blatte treu zu bleiben.

Das ist die Zeit der alliährlichen Journal-Ankündigungen und -Anpreisungen, die Zeit, wo es im lieben deutschen Vaterlande Dutzende von illustrierten Familienblättern zu geben scheint, von welchen jedes das beste, jedes das billigste und jedes das verbreitetste ist, die Zeit, wo in pomphaften Reklamen das Alte vom Neuen und das Neue vom Allerneuesten überboten wird.

Die „Gartenlaube“ steht in dieser Hinsicht allen anderen schon zeitlich sehr bedeutend nach. Während die meisten anderen das neue Jahr schon im Herbst beginnen, hält die „Gartenlaube“ noch immer an der altmodischen Gewohnheit fest, das Jahr am 1. Januar beginnen zu lassen!

Da ist es denn nicht zu verwundern, daß, während die „Gartenlaube“ im Herbst ruhig und geräuschlos weiter erscheint, wahre Stürme von Abonnements-Einladungen und Empfehlungen über ihre Leser hinbrausen. Aber so heftig und nachhaltig dieselben auch blasen mögen, sie haben es noch nie vermocht, den Stamm der Gartenlaubeleser ernsthaft zu gefährden.

Immer wieder aufs neue findet sich seit nun fast vier Jahrzehnten die große Gemeinde zusammen in ihrer alten, trauten „Gartenlaube“.

[895] Wir sind nicht eitel genug, dies einzig und allein unseren Leistungen zuzuschreiben. Es muß noch ein anderer Grund vorhanden sein, der dies bewirkt. Aber welcher?

Die Antwort auf diese Frage finden wir beim Durchblättern der zahllosen Briefe, welche im Laufe eines Jahres aus dem weiten Kreise unserer Leser, aus allen Weltgegenden bei uns eintreffen.

Da schreibt uns ein berühmter Maler, welchen wir um eine Zeichnung für unser Blatt baten: „Obwohl gegenwärtig ganz mit einem neuen großen Bild beschäftigt, will ich Ihnen die gewünschte Zeichnung doch liefern, aus alter Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Nach Abbildungen der ‚Gartenlaube‘, welche in meinem elterlichen Hause gehalten wurde, habe ich meine ersten, allerdings bösen Zeichenversuche gemacht, und nun treiben’s meine Jungen im eigenen Hause ebenso etc.“ –

Ein vielgenannter Forscher theilt uns aus einer afrikanischen Station auf eine Anfrage mit: im Begriffe ins Innere zu ziehen, werde er zunächst wohl allerdings kaum zum Schriftstellern kommen, aber, wenn irgend möglich, werde er uns später einen Bericht für die „Gartenlaube“ senden, deren eifriger Leser er lange Jahre hindurch gewesen etc.

Eine andere Berühmtheit, deren Bild und Biographie wir gebracht, schreibt wörtlich:

„Zu meinen lebhaftsten Jugenderinnerungen gehört das Wonnegefühl, das ich empfand, wenn mir an Sonntagnachmittagen oder in Rekonvalescentenzeiten ein dicker Gartenlaubeband aus der vollzähligen Reihe im Bücherkasten überliefert wurde. Die Männer und Frauen, deren Bild und Lebensbeschreibung ich da fand, prägten sich tief meinem Gedächtnisse als die besonders Ausgezeichneten ein. – An demselben Tische und in demselben geliebten Hausblatte, welches sie noch immer regelmäßig liest, hat meine Mutter nun den Namen ihres Jüngsten gefunden, und das Herz wird ihr wohl einen Athemzug lang stillgestanden sein in freudiger stolzer Ueberraschung.

„Die Kinderschuhe habe ich zertreten und manche ehrende Auszeichnung erlebt, aber die Auszeichnung, die mir durch diese Aufnahme in die Galerie der ‚Gartenlaube‘ zu Theil wurde, hat nichts an ihrer Bedeutung verloren. Ich hoffe, daß meine Kinder einst den Band 1890 ganz besonders in ihr Herz schließen werden!“

Auf schlechtem Papier, das die Spuren von Thränen trägt, bringt ein altes Mütterchen der „Gartenlaube“ in den rührendsten Ausdrücken ihren Dank dar, dafür, daß sie ihr von dem verloren geglaubten Sohne wieder Nachricht verschafft hat. Seit Jahrzehnten für die Seinigen verschollen, hatte er bei einem Landsmann im inneren Australien einen alten Gartenlaubeband in die Hände bekommen und dort den sehnenden Ruf der Mutter nach dem Sohne gelesen – und er schrieb wieder!

Damit aber auch der Humor nicht fehle, übersendet ein junges Ehepärchen von der Hochzeitsreise seinen Dank, weil durch die gemeinschaftliche Lektüre eines und desselben Exemplars der „Gartenlaube“ – durch das Anstreichen gewisser bedeutungsvoller Stellen in demselben – ihr lange Zeit sehr schwieriger Verkehr vermittelt, ihr Bund geschlossen worden sei.

Und eine junge Braut macht ihren Gefühlen darüber Luft, daß ihr etwas gar zu scheuer Anbeter endlich im Eifer des Streits über eine Gartenlaubenovelle sein Herz entdeckt habe. – – –

Wir könnten noch viele Seiten füllen mit dem Inhalt derartiger Briefe, verzichten aber darauf. –

Die in den fünfziger Jahren des Jahrhunderts die „Gartenlaube“ als junge Leute lasen, sind heute selbst Fünfziger und mehr; ihre Söhne und Töchter lesen sie heute mit ihnen und werden sie – so Gott will – einst mit ihren Kindern lesen.

Nun wohl: in diesen von einer Generation auf die andere vererbten Beziehungen liegt – so will uns scheinen – der Grund, nach welchem wir frugen, der Zauber, welcher die Hunderttausende deutscher Familien immer wieder in der „Gartenlaube“ vereinigt.

Um solche Beziehungen von einer Familiengeneration zur anderen möglich zu machen, dazu gehört aber allerdings ein treues Festhalten des einmal für recht und gut erkannten Zieles, ein unentwegtes Fortschreiten auf den erprobten Bahnen. Nicht als ob die „Gartenlaube“ sich engherzig verschlösse gegen das Neue; es wäre dies eine Verkennung der Eigenschaften, die sie groß gemacht haben, und eine Verkennung der Aufgaben, welche ihr gestellt sind. Immer war und immer soll sein die „Gartenlaube“ ein Spiegel ihrer Zeit und eine Leiterin ihrer Zeit. Fern aber soll ihr wie immer bleiben alles Unreife und unsaubere, der trübe Schaum, den die gährende Bewegung des Tages absondert und der sich so oft als die eigentliche und wesentliche Frucht dieser Bewegung geben möchte.

Möge es der „Gartenlaube“ beschieden sein, daß, wie bisher der gesunde, wahrhaft bildende Geist ihres Inhalts sich überall die Achtung der Besten gewann, so auch in Zukunft die Reinheit ihrer Ideale allenthalben offene Herzen und wachsende Anerkennung finde. Das ist der Wunsch, mit dem wir diesen Jahrgang schließen, mit dem wir den neuen eröffnen. Was wir an unserem Theile thun können zu seiner Erfüllung, das soll redlich geschehen!

Die Redaktion. 

Am Morgen nach Weihnachten.
Nach einem Gemälde von Paul Wagner.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.




Denksprüche von D. Sanders.


Leichter Sinn und Leichtsinn.

Leichtsinn bleibe dir fern! doch leichten und fröhlichen Sinn stets.
Wahre dir, bis dich der Tod führet zum Hades hinab.


Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Wer, von Vergangenheit belehrt,
Das, was mit Recht die Gegenwart begehrt,
Mit frischem, unverzagtem Muth
Und in der rechten Weise thut,
Den hält dann auch die Zukunft werth.


Lügen.

„Lügen haben kurze Beine“, –
Alleine,
Sind’s nur recht kecke,
So humpeln sie doch eine Strecke.


Genialität.

„Die Brück’ hinüberwandern,
Nicht anders als die andern?
Ei, großen Dank!“
So sprach ein genialer Pudel,
sprang muthig in den tiefen Strudel
Und – ertrank.


Narren.

Ein jeder irrt. Das sind die Narren,
Die in dem Irrthum fortbeharren.


Liebe und Haß.

Lieb’ und Haß sind parteiisch: die Liebe verschleiert das Schlechte,
Aber der grimmige Haß läßt dich das Gute nicht sehn.


Großes Glück.

Es ist ein großes Glück, –
Läßt’s Glück sich von dir finden;
Ein größres –, läßt du dich
Von ihm nicht überwinden.


Wehe dem Krug! (hebräisch).

Wenn der Krug auf den Stein fällt, wehe dem Krug!
Wenn der Stein in den Krug hineinfällt, wehe dem Krug!
Immer, wie’s dem Schicksal einfällt, wehe dem Krug!


Alte Geschichten.

„Wir Menschen sind doch schrecklich geplagt!“
Adam hat es der Eva geklagt.
„Alte Geschichten!“ hat Eva gesagt.




[896]

 Sylvesternacht.

Die Glocken tönen durch die Nacht,
Du lauschest ihrem Klingen;
Das Jahr, das du herangewacht,
Was wird das neue bringen?

Kein Glockenlaut, kein Menschenmund,
Noch der Gestirne Kreisen
Vermag auf Gottes Erdenrund
Die Zukunft dir zu weisen!

Drum frag dich selbst! Das Jahr wird gut,
Gehst du auf rechten Wegen.
In deinem Thun und Lassen ruht
Des neuen Jahres Segen.

 Max Hartung.



Auflösung des Weihnachts-Rösselsprungs auf S. 868:
Auflösung der Domino-Aufgabe auf S. 868:
Auflösung der Weihnachts-Hieroglyphen auf S. 868:

 O du Tannenbaum,
 Aus dem Wintertraum
Trittst du in das helle Licht der Städte!
 An dein schlichtes Kleid,
 Jüngst noch überschneit,
Hängt die Liebe funkelnd Schmuckgeräthe.

 Weihnachtslichterschein,
 Was kann schöner sein,
Als dein Glanz in froher Kinder Augen!
 Was in Winters Leid,
 Sonnenarmer Zeit
Kann zum Trost des Herzens besser taugen!

 Eine Ros’ erblüht
 Aus dem Schnee und glüht,
Wenn der Tannenbaum erstrahlt von Kerzen.
 Lebensfreud’ erwacht
 In der heil’gen Nacht,
Und der Kindheit Glück wird wach im Herzen.

Die Glocken sind verklungen. –
Vom Thurm in Nacht und Schnee
Ruft’s mit Posaunenzungen:
„Ehre sei Gott in der Höh’!
Ein Licht ist aufgegangen
Zu Trost der finstern Welt,
Das wächst und sprengt mit Prangen,
Was sie gefesselt hält!“V. Blüthgen.

Im Talon lagen:

C behält:

D behält:

Der Gang der Partie war: A 6/6, D 6/4,
A 4/3, D 3/5, A 5/6, D 6/2, A 2/4, B 4/5,
C 5/5, D 5/2, A 2/3, D 3/1, A 1/6.
Auflösung der Kombinations-Aufgabe auf S. 868:
Auflösung der Charade auf S. 868:
1. Dorothea, Elisabeth; 2. Reiher, Kranich; 3. Amsel, Nachtigall;
4. Zorndorf, Leuthen; 5. Eberhard, Reinhold;
6. Venedig, Otranto; 7. Nelson, Tegetthoff; 8. Isegrim, Reineke;
9. Oberon, Lohengrin. Der Kanzler von Tirol.
Weh – Muth, Wehmuth.




In dem unterzeichneten Verlag beginnt soeben zu erscheinen:

W. Heimburg’s
Gesammelte Romane und Novellen.

Illustrierte Ausgabe.

manicula Vollständig in 75 Lieferungen à 40 Pfennig manicula
alle 14 Tage eine Lieferung.

In eleganter Ausstattung, mit Illustrationen hervorragender Künstler reich geschmückt, vereinigt die neue Sammel-Ausgabe W. Heimburg’s gemütvolle Erzählungen zu einem wertvollen Hausschatz, welcher auf bequeme Weise in Lieferungen erworben werden kann.

Die „Illustrierte Heimburg“ umfaßt folgende Romane und Novellen der beliebten Verfasserin:

Aus dem Leben meiner alten Freundin. – Lumpenmüllers Lieschen. – Kloster Wendhusen. – Ursula. – Ein armes Mädchen. – Das Fräulein Pathe. – Trudchens Heirat. – Im Banne der Musen. – Die Andere. – Unverstanden. – Herzenskrisen. – Lore von Tollen. – Aus meinen vier Pfählen. – Nachbars Paul. – Am Abgrund. – Unsere Hausglocke. – Unser Männe. – Jascha. – In der Webergasse. – Großmütterchen. – Auf schwankem Boden etc.

Die meisten Buchhandlungen nehmen Bestellungen auf Heimburg’s Schriften entgegen und senden auf Verlangen die erste Lieferung zur Ansicht.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
[897]
An unsere Leser!

Mit dieser Nummer schließt der achtunddreißigste Jahrgang der „Gartenlaube“. Den neuen, den neununddreißigsten, werden wir eröffnen mit dem nunmehr glücklich vollendeten großen Romane

Eine unbedeutende Frau. Von W. Heimburg.

Gleichzeitig erscheint der hochbedeutsame soziale Roman

Truggeister. Von Anton von Perfall.

Aus unserem übrigen Vorrathe von Romanen und Novellen heben wir hervor:

Das Los des Schönen. Von Stefanie Keyser.

Lea und Rahel. Von Ida Boy-Ed.

Eine Beichte. Von Ernst Wichert.

Die Namenlosen. Von Hermine Villinger.

Weil die Amsel pfiff. Von Victor Blüthgen.

Junge Gäste. Von Hans Arnold.

Die Kamerunerin. Von Helene von Maderny.

Nach dreizehn Jahren. Von R. Artaria.

Eine Fortsetzung der beliebten Schilderungen „Das erste Jahr im neuen Haushalt“, welche, in sich abgeschlossen, auch für neu eintretende Abonnenten vollkommen verständlich sein wird.

Auch wollen wir nicht unterlassen, mitzutheilen, daß uns von Marie Bernhard, der Verfasserin des mit so großem Beifall aufgenommenen Romans „Sonnenwende“, für nächstes Jahr ein neues Werk in Aussicht gestellt worden ist.


Wie seither, so wird auch fortan auf gediegene belehrende Aufsätze aus allen Fächern des Wissens ein stetiges Augenmerk gerichtet werden. Wir hoffen, insbesondere für eine Anzahl hochinteressanter Artikel über „Unschuldig Verurtheilte“, „Tragödien und Komödien des Aberglaubens“, über „Weltverbesserer“ und „Erfinderlose“, über Morphinismus, sowie über den Hypnotismus und seine Bedeutung für die Heilkunde, die Gerichtspraxis u. s. f. die Aufmerksamkeit unserer Leser zu gewinnen, Mit den die Gegenwart bewegenden Fragen werden wir enge Fühlung zu behalten auch ferner bemüht sein, bedeutsame Fortschritte in Industrie und Technik sollen durch anschauliche Schilderungen in Wort und Bild unsern Lesern vorgeführt werden, während die altgewohnten Lieblingsgebiete der „Gartenlaube“, die Naturwissenschaften und die Gesundheitspflege, nach wie vor eifriger Berücksichtigung sicher sind. Berufene Männer, alte und neue Mitarbeiter der „Gartenlaube“ – wir nennen J. H. Baas, Anton Bettelheim, Karl Brandt, H. Brugsch-Pascha, Gustav v. Buchwald, V. Chiavacci, H. Cohn (Breslau), Friedrich Dornblüth, Ernst Eckstein, A. E. Ehrlich, C. Falkenhorst, Rudolf v. Gottschall, Ferdinand Groß, Cornelius Gurlitt, Max Haushofer, Friedr. Helbig, Woldemar Kaden, H. E. Kisch, Rudolf Kleinpaul, Wilhelm Laufer, J. Mähly, Adolf und Karl Müller, Ludwig Pfau, Johannes Proelß, G. Ramberg. August Reißmann, W. H. Riehl, Max Taube, A. Ullrich, Carl Vogt, Georg Winter – haben sich uns für diese Zwecke zur Verfügung gestellt.

Die künstlerische Ausstattung der „Gartenlaube“ wird mit dem neuen Jahrgange eine

wesentliche Bereicherung

erfahren. Zu den bisher gebotenen zwei farbigen Kunstbeilagen treten ohne Preiserhöhung noch

12 auserlesene Kunstblätter

Meisterwerke alter und neuer Kunst in tadellosen Nachbildungen auf feinstem Kupferdruckpapier – so daß also künftig jede dritte bis vierte Nummer, jedes Heft und jedes zweite Halbheft eine solche werthvolle Beigabe erhalten wird. Die Abonnenten der „Gartenlaube“ kommen auf diese Weise nach und nach in den Besitz einer prächtigen Sammlung von alten und neuen Kunstwerken für das Haus. Die Blätter werden den Nummern oder Heften lose beigelegt sein, so daß sie am Schlusse des Jahres entweder den Bänden beigebunden oder selbständig aufbewahrt bezw. eingerahmt werden können.

Indem wir sonach auch für den neuen Jahrgang eine freundliche Aufnahme allüberall im deutschen Hause erhoffen, rufen wir unsern Lesern ein fröhliches „Auf Wiedersehn im neuen Jahre!“ zu.

Leipzig, im Dezember 1890. Die Redaktion der „Gartenlaube“. 

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Prosit Neujahr!
Nach einer Zeichnung von M. Ebersberger.