Die Gartenlaube (1891)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

Nr. 17.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.
1.

Daß sich bei den Römpkers auf Römpkerhof etwas Unangenehmes oder gar Unglückliches zugetragen haben müsse, ward allen Nachbarn und Freunden klar, die angefahren kamen, um Herrn von Römpker zu seinem Geburtstag zu beglückwünschen. Man war so sehr gewohnt, in dem gastlichen Hause festgehalten zu werden, daß eine bloße Nichteinladung schon zur auffälligen Thatsache ward.

Die bedrückte Miene der Frau von Römpker wollte nichts besagen; aber daß der Hausherr zerstreut und einsilbig erschien, daß auf seiner Stirn ersichtlich allerlei Gedanken Falten hervorriefen, war eben so selten als bemerkenswerth.

Herr von Römpker sah alle Dinge dieses Lebens aus der Vogelperspektive an: ein Kirchthurm war für ihn eine Stecknadelgröße. Frau von Römpker hingegen betrachtete alles aus der Froschperspektive: ein Gartenzaun schien ihr schon ein unübersteigliches Hinderniß.

Wenn also diese beiden Menschen eine Angelegenheit vom gleichen Gesichtspunkt aus und sorgenvoll ansahen, mußte dieselbe gewiß von außergewöhnlicher Bedeutung sein.

Wagen auf Wagen fuhr in den Gutshof ein, denn die Römpkers hielten muntern Verkehr mit den Gutsbesitzern in der Runde und mit den Angesehenen der unfernen kleinen Stadt. Diese Stadt hatte sogar eine Garnison von einigen Schwadronen Husaren. Mehrere der Offiziere waren verheirathet; dann gab es einen Pastor mit einer liebenswürdigen kleinen Frau, einen Bürgermeister und einen Landrath, ein paar Referendare und Advokaten - kurzum die ganze anscheinend so bunte und verschiedenartige und doch, durch die enge Gleichheit der Lebensinteressen, so einhellige Gesellschaft einer keinen Landstadt.

Alle diese Leute fanden auf Römpkerhof stets freudiges Willkommen und offene Tafel, den ganzen Sommer hindurch. Man verabredete sich, hinauszufahren, wie man sich sonst zu einer Vergnügungspartie nach irgend einem Waldwirthshaus zusammenschließt. Man war mit dem Hausherrn lustig und mit den Töchtern gut Freund, die Hausfrau begrüßte man nebenher. Es war schon immer so lebhaft auf Römpkerhof zugegangen, ehe die erwachsenen Töchter den Vorwand hergaben, daß man ihretwegen ein Haus machen müsse. Kein Mensch in der Gegend konnte sich das Haus anders vorstellen als voll von Gästen, und aus der gastfreundlichen Gewohnheit


Sepp. 0Nach dem Gemälde von Otto Piltz.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

[278] der Familie schien allmählich eine Pflicht geworden, deren einmalige Nichterfüllung alle Welt in Staunen setzte.

Der Geburtstag des Herrn von Römpker – seine Frau hatte die unbegreifliche Taktlosigkeit, zu erzählen, daß es sein fünfzigster sei – fiel in die ersten Tage des Juni. Das weite Gelände rings schimmerte im frischesten Grün, die Wiesen blühten, das Buchenlaub am See leuchtete wie grünliches Gold in der Sonne. Römpkerhof breitete sein Land in der norddeutschen Ebene aus und einer jener lachenden kleinen Seen, welche da oben die Wälder und Felder so anmuthig unterbrechen, gehörte mit zu dem Besitz. Das weiße, vor zwanzig Jahren neu gebaute Schloß war wie ein Würfel, an dessen vier Ecken man je ein Rohr gesetzt hatte. Der „Würfel“ hatte rundum zwei Reihen blanker, hoher Fenster und die „Rohre“ endeten in spitze Thurmdächer von bläulichem Schiefer. Das Ganze hob sich, durch seine angemessenen Größenverhältnisse zu einem Gebäude von wohlgefälligem Ansehen geworden, frei aus den Rasenmatten und Kieswegen des Parkes. Vorn an der Landstraße hatte das Parkgitter zwei mächtige doppelflüglige Thore; von einem zum andern zog sich drinnen in weitem Halbbogen ein Fahr- und Reitweg, der am Schloßportal seinen Höhepunkt und in einem wohlgepflegten Rasen seine Füllung fand. Hinten am Schloß sah man, von einer Veranda aus, den Park sich bis zum See in sanfter Linie senken.

Das sonst von Park und Wald umdrängte Wasser ließ gerade drüben seine gekräuselten Wellen an Wiesen und Getreidefelder spülen, über die hinweg man eine Windmühle und den Kirchthurm der Stadt sah. Dort hinaus malte sich abends der Himmel roth von der untergehenden Sonne und dann standen die Windmühlenflügel und der spitze Thurm schwarz vor goldenem Grund.

Es war ein schöner, vornehmer und reicher Besitz, dies Römpkerhof, und sein Herr hatte die prosaische Kehrseite der Medaille ganz aus dem Gesichtskreis verbannt. Bei dem großen Umbau vor zwanzig Jahren, welchen Römpker mit dem Gelde seines verstorbenen Schwiegervaters unternommen hatte, waren alle Wirthschaftsgebäude hinter die Parkgrenze gerückt worden und schienen ein Gewese für sich zu bilden.

Die ganze Gegend wußte es, daß Herr von Römpker, der Erbe eines schuldenfreien Familiengutes, mit seiner Frau ein großes Vermögen erheirathet hatte welches ihm gestattete, die Mißerfolge seiner Landwirtschaft mit erhabenem Gleichmuth und die Erfolge als angenehme Sportsiege zu betrachten. Denn er war mit einer gewissen Leidenschaft Landwirth und hatte Freude an Versuchen mit neuen Maschinen, Fütterungen, Fruchtfolgen und Kulturen. Er experimentirte sozusagen für die ganze Gegend Probe.

Ferner wußte man, daß der Vater der Frau von Römpker wohl seine Tochter und deren Gatten als Erben eingesetzt, daß aber die Mutter der Frau ihr unabhängiges, kleineres Vermögen den beiden Enkelinnen vermacht hatte. So waren diese je im Besitz einer stattlichen Mitgift und konnten frei nach ihrem Herzen wählen.

Daß sie immer noch nicht gewählt hatten, setzte viele in Erstaunen.

Es hieß zwar, daß Lea einige Bewerber abgewiesen habe, daß aber jemand sich um Rahel beworben, konnten selbst die feinsten Neuigkeitsspürer nicht behaupten.

Herr von Römpker hatte den „Witz“ gemacht, wie er das nannte, seine Mädchen nach den biblischen Schwestern zu taufen.

Den Namen „Lea“ hatte freilich seine Frau selber bei der Erstgeborenen vorgeschlagen, aus einer poetischen Vorliebe für alttestamentliche Vornamen. Lachend hatte der Gatte eingewilligt mit der Bedingung, daß ein etwa in der Zukunft eintreffendes zweites Töchterlein dann Rahel heißen solle. Diese zweite Tochter war schon anderthalb Jahr später geboren worden. –

Einige sehr nahe Freunde des Hauses hatten an dem heutigen Geburtsfest des Vaters die besondere Ueberraschung erwartet, daß Lea ihnen da ihren Verlobten vorstellen werde; diese nahen Freunde glaubten auch zu wissen, wer einzig und allein der Verlobte sein könne.

Aber nichts bestätigte die Erwartung. Fräulein Lea sah stolzer und ablehnender drein als je, ihre Schwester schien unruhig und das Elternpaar geradezu aus der Fassung.

Die schönen Räume des Herrenhauses waren von Menschen angefüllt. Man hatte die für Landbesucher übliche Stunde des Nachmittagskaffees gewählt, um Herrn von Römpker zu beglückwünschen, und war sicher gewesen, nicht fortgelassen zu werden. Der Diener zwar trug Kaffee und Kuchen umher – es war wie sonst, nur vom Abend war nicht die Rede. Aus Neugier und Erwartung zögerten die Besucher ungebührlich mit dem Aufbruch.

Die vor Ungeduld leidende ältere Tochter fühlte in sich den Entschluß keimen, durch eine Unhöflichkeit diese „lieben Freunde“ und zudringlichen Unbescheidenen hinauszuwerfen. Da kam ihr ein Zufall zur Hilfe und gab ihr Gelegenheit, ohne Unart deutlich zu werden.

„Wo ist er denn, wo ist er denn?“ rief eine laute Männerstimme an der Thür. „Mein Alter, wo steckst Du?“

Alle kannten dies donnernde Organ und die geräuschvolle Art des Eintritts. Der große, starkbeleibte Mann mit dem vergnügten Gesicht, welches sogar auch in der Barttracht auffallend den Viktor Emanuel-Bildern glich, war Herrn von Römpkers bester Freund, sein Jugendgespiele und Gutsnachbar und überdies der Landrath des Kreises.

Er umarmte den ihm entgegeneilenden Römpker.

„Fünfzig Jahre! Donnerwetter, so’n halbes Jahrhundert ist keine Kleinigkeit,“ sagte er, dem Geburtstagskind den Rücken klopfend. „Bin neugierig, wie Dir das Alter schmecken wird.“

Herr von Römpker entzog sich den allzu fühlbaren Liebkosungen. Er nahm eine mit Absicht gezierte Pose an, welche aber seine noch jugendliche Gestalt zur besten Geltung brachte, und sprach abwehrend:

„Sehe ich aus wie ein alter Mann, meine Damen? Raimar ist neidisch auf mein Talent zur Jugend.“

Herr von Römpker fiel trotz seiner ergrauenden Haare in der That durch die Frische und Lebendigkeit seines Antlitzes und seiner Bewegungen auf. Seine mittelgroße Gestalt trug einen feinen Kopf mit edlen und liebenswürdigen Zügen. Die Art, wie er frisirt und gekleidet war, der Schnitt seines schmalen Backenhartes verriethen den Lebemann und auch den ein wenig eitlen Menschen.

Der Landrath schüttelte allen Anwesenden kräftig die Hand und sah sich erstaunt um.

„Was ist denn das? Die Damen noch mit dem Hute auf dem Kopf? Wenn es nur Frau Rittmeister wäre, dächte ich, es geschähe nur, um uns Gelegenheit zu geben, dies Berliner Wunderwerk von einem Sommerhut anzustaunen. Aber da auch Frau Pastor …“

Die kleine hübsche Frau des Geistlichen rief lachend:

„Da auch ich meinen vorjährigen noch aufhabe, wollten Sie sagen – schon gut, lieber Herr Landrath. Vorjährige Hüte gehören doch ein wenig zu meinen Pflichten, wie der ‚Berliner‘ zu denjenigen der Frau Baronin.“

„Ja, sind wir denn nicht gebeten, abzulegen?“ fragte der Landrath ganz unbefangen.

Ebenso frei versetzte Lea laut: „Diesmal nicht, Onkel Landrath.“

„Aber warum denn nicht?“ fragte dieser unbeirrt weiter.

Frau von Römpker ängstigte sich schrecklich, Herr von Römpker wurde nur durch Leas strengen Blick abgehalten, mit der ganzen „Wahrheit herauszuplatzen“, wie er seine jeweiligen Vertrauensseligkeiten nannte. Da sagte Rahel mit einem hübschen Lächeln:

„Siehst Du, Onkel Landrath, Papa hat nie für uns Zeit. Und da haben wir uns denn diesen ernsten Lebensabschnitt – denke doch, ein halbes Jahrhundert! – ausgebeten. Wir wollen Papa ganz allein haben, wir wollen ihn tüchtig verziehen und ihm auch nebenbei ein wenig die Leviten lesen über seinen Lebenswandel. Wenn er sich auch noch so jung fühlt – um jung zu bleiben, sollte er wohl fortan ein wenig auf die Zahl seiner Jahre Rücksicht nehmen.“

Dabei strich sie ihm mit der Hand über seine Wangen, als wäre er nicht der Papa, sondern der verzogene jüngere Bruder. Und ihre Worte waren keineswegs bloß leere Aushilfslügen gewesen, wenn sie auch nur sehr entfernt die Wahrheit streiften.

„Ja, ja, mein Alter,“ sagte Raimar, „der Bordeaux! Und der gute Mittagstisch! Und Dein Portwein! Ich kenne das. Die dumme Leber kündigt eines Tages ihre glatte Funkion und dann heißt es: auf nach Karlsbad!“

„Ach was,“ rief Herr von Römpker mit einem etwas erzwungenen Lächeln, „der Medizinalrath hat die Meinen geängstigt. Ehe ich das neue Lebensprogramm von meinen Töchtern annehme und zu befolgen gelobe, muß ich es genau kennen.“

[279] „Meine Herrschaften,“ sprach der Landrath und wandte sich mit seiner starken Stimme an die Anwesenden, als wollte er eine Rede an das Volk halten, „da wir hier hinausgeworfen werden, lade ich Sie insgesammt ein, nach Kohlhütte zu fahren. Es ist mir ein unabweisbares Bedürfniß seit sechsundvierzig Jahren – also seit ich mich erinnern kann – mir an Römpkers Geburtstag meinen Magen zu verderben. Ach, Römpker – die seligen Zeiten, als wir’s noch mit Chokolade und Kuchen thaten! Ehren wir die feierliche Stimmung dieser guten Töchter, die ihren Vater an seinem fünfzigsten Geburtstag Vernunft lehren wollen, wünschen wir ihnen allen Erfolg und lassen wir sie allein!“

Er zählte jetzt erst, wieviele zugegen waren. Der Pastor und seine Frau, der Rittmeister Baron Ehrhausen und Frau, zwei jüngere Offiziere, die Gattin des Bürgermeisters und ein Gutsnachbar mit Tochter.

„Neun Personen – mit mir zehn. Na, meine Christel wird’s schon machen.“

Christel war seine Wirthschafterin auf seinem Gut Kohlhütte, und man sagte, daß sie, die seit seinen Knabenjahren im Hause war, ihn gänzlich tyrannisire.

„Ist denn Clairon nicht hier?“ fragte er plötzlich, den häufigsten Gast des Hauses vermissend.

Wieder ängstigte sich Frau von Römpker und wieder war es Rahel, die gleichmüthig sagte:

„Er ist schon hier gewesen.“

Also auch er ist nicht zum Bleiben aufgefordert worden, dachten die Damen; mit der Verlobung war es also nichts. Lea sowohl wie ihr Vater bemerkten recht gut die Blicke, welche man sich hier verständnißvoll zuwarf.

Raimar in seiner großen Lebhaftigkeit hatte aber noch etwas zu sagen.

„Kinder, Ihr bekommt einen neuen Landrath,“ rief er und sah alle nach der Reihe triumphirend an. Nachdem er sich an dem allgemeinen Erstaunen geweidet hatte, erklärte er:

„Meine Verdienste schrieen gen Himmel. Dreimal hatte ich schon alle Beförderung abgelehnt mit der Bitte, mich als Landrath in diesem Kreise zu lassen, wo ich mein Gut habe, wo ich jedes Kalb und jede Kuh kenne, wo kein Tagelöhner sich untersteht, ans Auswandern zu denken, und kein sozialdemokratisches Wörtchen gehört wird, wo ich gewesen bin wie ein Vater für die Unmündigen und Waisen …“ Er lachte sein gutes, sehr lautes Lachen.

„Nun, und?“

„Nun, und es ging nicht länger. Ich sollte und sollte meine Talente in einem größeren Wirkungskreis glänzen lassen.“

„Sie gehen von uns?“

„Nein, Raimar, das darfst Du nicht.“

„Was sagt Ihre Christel?“

„Wollen Sie Kohlhütte verpachten?“

Er ließ alle fragen und reden und lächelte siegreich über sie hinweg. „Ich habe abgelehnt. Ich trete aus dem Staatsdienst und bleibe der Eure. Nur die Winterwohnung in der Stadt, die von Amtswegen nöthig war, die gebe ich auf.“

An dem echten Freudenausbruch konnte der heitere Junggeselle ermessen, wie sehr beliebt er war. Die Pastorin hatte einen Einfall:

„Allein auf dem Lande im Winter? Nein, lieber Herr Landrat, nun müssen Sie heirathen, denn wie wollen Sie die Zeit hinbringen, die sonst Ihr Amt ausfüllte?“

„Richtig! Suchen wir ihm eine Frau!“ sagte die Baronin Ehrhausen.

„Mich nimmt keine!“ versicherte Raimar.

„Jede,“ sagte Römpker, „denn Du bist noch ein junger Mann. Eben fünfzig. Als ob das ein Alter wäre!“

„Wir wollen gleich mal sehen,“ lachte Raimar, von dem bloßen Gedanken an lieben, werben, heirathen ungemein belustigt. „Lea, willst Du mich?“

Lea hatte theilnahmlos am Fenster gestanden und auf den Park hinausgeblickt. Sie wandte das dunkle Haupt und sagte: „Ich? Nein. Ich würde Dich wenig glücklich machen, Onkel Landrath. Auch entsprichst Du meinem Ideal nicht.“

„Erster Korb. Meine Damen, ich werde Sie über alle Körbe, die ich bekomme, auf dem Laufenden erhalten. Rahel, mein Kind, willst Du mich denn? Oder hast Du auch ein Ideal?“

Rahel stand neben ihm und lachte. Sie schüttelte den Kopf und sprach:

„Wenn Du mich zuerst gefragt hättest, würde ich ‚ja‘ gesagt haben, denn es ist mein erster Heirathsantrag. Aber das nehmen, was Lea übrig läßt – siehst Du, das mag ich nicht. Wie schade, Onkel Landrath! Denn obenein hab’ ich ein Ideal, und dieses bist just Du.“

„Nun höre einer, wie das Mädchen mich aufzieht.“

„Korb zwei,“ zählte die Baronin.

„Wer wird denn Dein Nachfolger?“ fragte Römpker. „Wenn wir nur kein unangenehmes Element in unsere Gesellschaft bekommen. Denn verkehren muß man mit dem Mann doch.“

„Der Nachfolger? Ja, das ist nun das Allerinteressanteste an der ganzen Geschichte. Lüdinghausen kommt hierher.“

Dabei sah er alle herausfordernd an, als wollte er sagen: „Wundert Euch doch über diese Neuigkeit!“ Aber der Eindruck des genannten Namens war keineswegs der erwartete. Nur der Rittmeister sagte:

„Lüdinghausen? Ist das etwa ein Sohn von dem schlesischen Großgrundbesitzer und Bergwerksbesitzer?“

„Allerdings. Ein einziger Sohn, den indessen besondere Neigung in den Staatsdienst trieb, während er doch als ‚Erbprinz‘ auf seines Vaters Besitzungen wie Gott in Frankreich hätte leben können,“ erzählte Raimar.

„Peinlich,“ sagte Herr von Römpker mit einem hochmüthigen Zug im Gesicht, „solche Söhne von reichgewordenen Emporkömmlingen gefallen sich meist in einem gewissen Protzenthum.“

„Ganz im Gegentheil! Der junge Lüdinghausen soll sehr zurückhaltend sein,“ versicherte Raimar, der aus seinem natürlichen Wohlwollen heraus das Gefühl hatte, als habe er väterliche Fürsorge für seinen Amtsnachfolger zu zeigen.

„Zerbrechen wir uns doch nicht den Kopf über diese unbekannte Größe!“ rief die Baronin heiter aus. „Gefällt er uns nicht, machen wir schweigend Front gegen ihn, und das wird er merken und wieder gehen.“

„Aber meine Gnädige, wie unchristlich!“ sagte der Pastor, ihr freundlich drohend.

„Sollen wir Euch unseren Pastor dalassen, Ihr Römpker- Mädels?“ fragte Raimar. „Soll er Euch bei dem Levitenlesen helfen?“

„Nein, nimm ihn nur mit, Onkel Landrath!“

„Also – auf nach Kreta, meine Herrschaften, und schütteln wir endlich den Staub dieses ungastlichen Hauses von den Füßen!“ mahnte Raimar. Er erwies den beiden Töchtern des Hauses ahnungslos einen großen Dienst, indem er die Sachlage in das Scherzhafte verkehrte.

Indessen verging noch eine weitere halbe Stunde, bis die ganze Gesellschaft Abschied genommen und ihre Wagen bestiegen hatte.

Dann endlich war die Familie allein. Man wußte, daß niemand mehr kommen würde.

Rahel ging mit dem Diener durch die Zimmer, stellte die Ordnung wieder her, lud ihm Bretter mit Tassen und Gläsern auf und bürstete dann noch sorgfältig die Krumen von einer Tischdecke auf eine kleine japanische Schaufel.

Lea stand wieder unbeweglich am Fenster und starrte hinaus.

Herr von Römpker saß in der einen Sofaecke, seine Frau in der andern. Er sah seiner jüngeren Tochter zu und staunte ihre stille Geschäftigkeit an. Das schrieb er ihrem „ungeheuren Phlegma“ zu, über welches er oft gutmüthig gespottet hatte, das ihm zur Stunde aber als eine herrliche Eigenschaft erschien. Denn Lea, die so steinern dastand, die verzehrte sich inwendig vor Erregung, darauf wollte er schwören, und er zitterte nur vor dem Augenblick, wo die „Explosion“ stattfinden würde.

Ach ja, sie waren recht verschieden, seine Töchter. Wenn man aus den beiden hätte ein Wesen machen können, wär’s etwas Vollkommenes geworden. Die eine ruhig, so ruhig bis zur Langenweile; die andere interessant, so interessant, daß es schon unheimlich war. Wenigstens sah er seine Töchter so an. Lea war sehr schön. Als er das dachte, fügte er gleich bei sich hinzu, daß Rahel durchaus nicht häßlich zu nennen sei. Im Gegentheil, Lea mit ihren unregelmäßigen Zügen fiel mehr durch ihren Gesichtsausdruck, durch das flammende Auge und die stolze Haltung auf. Auch kleidete sie sich mit großem Geschmack, ebenso einfach als vornehm. Rahel hatte edlere Züge und einen ruhigen Blick. [280] Sie war etwas blonder und ihre Haltung war mehr sicher und still als auffallend stolz.

Herr von Römpker suchte, wie er so dasaß und sich auf dem Armensünderbänkchen fühlte, immerfort Vorzüge an Rahel auf. Bei ihr, so schien’s ihm, würde er Schutz und Halt gegen Lea finden. Er liebte immer die Tochter am meisten, welche ihm zur Stunde die bequemste war.

Die Mutter seufzte. Diese mittelgroße, von ewigen Sorgengedanken jeder Fülle beraubte Gestalt da in der Sofaecke hätte sich ein Uneingeweihter schwerlich als Herrin des reichen Hauses vorgestellt. Ihr mageres Gesicht mochte einst hübsch gewesen sein, heute war es nichtssagend. Die Frau machte den Eindruck, viel zu alt für den Mann neben ihr zu sein. Sie war obenein wie eine Matrone gekleidet, in sehr faltige braune Seide. Ihr Haupt, dessen unergrautes dunkles Haar sie in glatten Puffen trug, krönte ein Häubchen von Spitzen.

„Wer wohl von der Geschichte anfangen wird?“ dachte Herr von Römpker und überlegte, ob sich nicht ein Vorwand finden ließe, der es ihm möglich machte, nach Kohlhütte hinüber zu reiten.

In den schönen Zimmern, die von der Nachmittagssonne durchfluthet waren, herrschte nun völlige Stille, denn auch Rahel hatte sich gesetzt. Sie saß am Fenster und blickte über die Parkwiesen hin zum See.

Die altmodischen Möbel glänzten in ihrem dunklen Mahagoni und ihrem blanken Messingzierat. Sie hatten schon den Großeltern gedient. Es gab auch sogar ein Zimmer voll Rokokosachen. Herr von Römpker hatte die Pietät und den vornehmen Geschmack gehabt, bei seinem Neubau den ererbten Hausrath einer ganzen Folge von Geschlechtern nicht bei Seite zu werfen. Die Töchter hatten dann die hübsche Vermittlung zwischen den neumodischen Wänden und den alten Sachen hergestellt: sie hatten allerlei Dekorationsstücke zusammengetragen: Stoffe aus dem Orient, Phantasiearbeiten aus Seide und Malerei, niedliche, wenn auch unbenutzbare Gerätschaften, Blumen und Palmenwedel. Darüber waren denn alle Wohnräume sehr behaglich geworden. Und Herr von Römpker liebte so sehr die künstlerisch aufgeputzte Behaglichkeit. Er war stolz auf sein Haus.

Die Wohnzimmer, ihrer fünf an der Zahl, zogen sich vom Portal links im Schloß herum, bis parkwärts auf die Veranda. Hieran schloß sich ein mächtiger Speisesaal, und die ganze Seite rechts vom Portal war dem Festsaal des Schlosses gegeben.

So sehr Herr von Römpker in wachsender Nervosität auf ein erstes Wort gewartet hatte, so sehr fuhr er doch erschreckt zusammen, als es endlich fiel.

„Nun?“ fragte Lea und wandte sich langsam herum, die Ihrigen nach der Reihe ansehend. Sie stand da wie eine Königin, welche man erzürnt hat und die Milderungsgründe zu hören erwartet. Ihr sehr enges rothes Sommergewand sah beinahe wie ein Reitkleid dem Schnitt nach aus. Es stand ihr vorzüglich zu dem zarten Teint und dem dunklen Haar. Sie legte die Hände auf ihren Rücken zusammen und wiederholte herrisch:

„Nun?“

„Aber Lea,“ sagte die Schwester. „Was ist das für eine Frage und was soll Papa denn darauf antworten! Laß uns doch in Liebe und Ruhe über alles sprechen!“

Frau von Römpker fing gleich an, still vor sich hinzuweinen. Was sollte man da noch viel sprechen? Die Geschichte war hoffnungslos, das Glück ihrer Kinder dahin, der Wohlstand des Hauses untergraben.

„Dachte ich’s nicht,“ sagte sich Herr von Römpker aufathmend, „Rahel ist die einzig Vernünftige von meinen Weibsleuten im Hause. Sie wird Lea schon klar machen, daß die ganze Geschichte den Aufwand von Erregung nicht werth ist.“

Lea fühlte sich durch die Ermahnung der Schwester etwas besänftigt. Sie beschloß, „in Ruhe“ zu sprechen. „Denn“ sagte sie sich, „wenn ich nicht die Zügel ergreife, ist alles verloren.“ Sie war wie Vater, Mutter und die ganze Dienerschaft der festen Meinung, daß sie, Lea, das Haus beherrsche, daß sie hier den einzigen festen Willen und die einzige Thatkraft zum Handeln habe – so weit in diesem Hause und mit diesen Menschen überhaupt etwas zu wollen war.

„Vielleicht,“ begann Rahel wieder mit ihrer sanften Stimme, „habt Ihr Euch nur mißverstanden, Papa und Du. Es ist uns ja seit heute morgen keine Stunde des Alleinseins vergönnt gewesen. Die schnellen Worte, die Ihr in den Pausen zwischen den Besuchen wechseln konntet, haben gewiß nicht die Kraft gehabt, Papa von der Unumstößlichkeit Deines Willens zu überzeugen.“

Frau von Römpker hörte vor Erstaunen auf, zu weinen. Sie begriff nicht, woher Rahel die Gabe kam, immer so wohlgesetzt und so überlegen zu sprechen. Das mußte schon daher kommen, weil sie, Rahel, nicht soviel Gemüth hatte wie die Mutter. Wer ein so weiches Herz hat, kann nicht gefaßt sein und Frau von Römpker wurde wieder zu Thränen gerührt über ihr eigenes leidfähiges Gemüth.

„Laß das ewige Weinen!“ bat Herr von Römpker verzweifelt.

„Ich glaube nicht,“ sagte Lea, „daß von einem Mißverständniß die Rede sein kann. Als Clairon heute morgen um meine Hand warb in meiner Gegenwart, wie er es vorher mit mir verabredet hatte, schlug Papa ihm diese meine Hand ab. Ich erklärte noch in Roberts Gegenwart, daß ich ihn liebe und seine Bewerbung annehme. Darauf sagte Papa, daß triftige Gründe vorlägen, welche diese Verbindung unmöglich machten, Gründe, welche er aber nur mir allein nennen könne. Ich sagte Robert, daß ich an ihm festhalten werde, einstweilen möge er gehen und weiteres schriftlich von mir erwarten. Und was für ein nichtiger, künstlich hervorgeholter Grund ist es denn, mit dem Papa mir kam? Er könne mein Erbtheil von Großmama nicht auszahlen! Wir hätten auf zu großem Fuße gelebt! Ich müsse einen reichen Mann heirathen!“

Sie lachte fast spöttisch. In ihrer Stimme – es war eine äußerst wohllautende, etwas tiefe Stimme – hatte keinerlei schmerzliche Erregung mitgeklungen, nur Zorn und Ungeduld.

„Warum Du gerade die Laune hast, den Grafen Clairon heirathen zu wollen!“ bemerkte Herr von Römpker.

„Es handelt sich um keine Laune,“ fuhr Lea auf und trat bis an den Sofatisch heran, an dessen anderer Seite ihre Eltern saßen. „Ich will diesen Mann heirathen, weil ich ihn liebe und weil ich ihn sogar ohne Liebe auch aus reinen Verstandesgründen wählen würde.“

„Heirathen muß Lea doch einmal, lieber Papa,“ sagte Rahel bittend, „oder willst Du, daß sie ein altes Mädchen wird? Sie ist doch schon vierundzwanzig Jahre und Clairon paßt wirklich für sie, als wäre er eigens für sie geschaffen.“

„Du denkst doch auch nicht ans Heirathen!“ murmelte Herr von Römpker, der in der That Lea aus ihrem Wunsch einen Vorwurf machte, bloß weil ihm dieser Wunsch durch die Begleitumstände recht unbequem wurde.

„Ich?“ rief Rahel und lachte. „Nein, Papa, mir sind alle Männer so ungeheuer gleichgültig, und es scheint, daß sie das stets bei der ersten Begegnung bemerken, denn die Gleichgültigkeit ist stets auch auf ihrer Seite.“

„Wir sind also wirklich ruinirt?“ fragte Frau von Römpker jammernd.

„Aber keine Spur,“ sprach ihr Gatte ärgerlich. „Die Thatsache ist, daß wir ein bißchen zu viel ausgegeben haben. Ein paar schlechte Jahre kamen dazu. Kurz und gut, ich habe das Geld der beiden Mädels nach und nach aufgenommen und ins Gut gesteckt, ich könnte Lea ihre hunderttausend Mark nicht auszahlen, ohne in große Verlegenheit zu kommen. Clairon ist nicht vermögend. Er muß als Premierlieutenant ein Kapital bei seiner Eheschließung nachweisen. Das ist alles.“

„Nun, das ist nichts,“ sagte Rahel vergnügt. „Wenn Du unser Geld aufgenommen und ins Gut gesteckt hast, so sind doch die Hypotheken da. Eine solche Hypothek auf ein sonst schuldenfreies Gut ist gewiß Kapitalnachweis genug, und es ist ja genügend, wenn Lea und Clairon die Zinsen bekommen. Reicht es nicht – so gieb ihnen meine dazu!“

„Wo hat das Mädchen denn die verwünschte Geschäftskenntniß her?“ dachte Römpker. Ihm wurde recht elend zu Muth. Dies unglückliche Geld war gar nicht als Hypothek eingetragen, sondern einfach verbraucht. Er bereute es ja in diesem Augenblick aufs allerheftigste, aber wieder herbeizaubern konnte er es auch nicht.

Er schwieg. Seine beiden Töchter sahen ihn lange an. Er stützte den Ellbogen auf den Tisch, barg die Stirn in der Hand und starrte schweigend in den Plüsch der Tischdecke.

Sie waren beide so klug, daß sie alles erriethen. Lea kämpfte heiß mit sich, um ein unkindliches Wort zu unterdrücken. Es

[281]

Wolfsjagd in Bessarabien.
Nach einer Zeichnung von Hugo Ungewitter.

[282] gelang ihr. Rahel sprach wieder, ihre Stimme zitterte ein wenig, ihr Auge war feucht. Sie litt, weil ihr Vater sich schämte.

„Nun, lieber Papa,“ fagte sie sehr zärtlich, „ich denke, daß der Werth unserer Lea nicht in ihren hunderttausend Mark Mitgift bestand. Clairon liebt sie um ihrer selbst willen, das weiß ich. So wird er warten, bis sich ein Ausweg gefunden hat. Quäle Dich nicht so sehr!“

Lea aber fragte dagegen:

„Giebt es einen Ausweg? Du denkst doch nicht, daß Clairon und ich warten sollen, bis er Rittmeister ist? Nein, mein gutes Kind, das ist für mich völlig ausgeschlossen. Ich, Lea von Römpker, sollte vier oder fünf Jahre warten in Langen und Bangen? Oder ich sollte mein Lebensziel in einer armen, hungerigen Lieutenantsehe finden? Niemals!“

„Aber Lea,“ rief die Schwester erstaunt, „kennst Du denn das Geld so wenig, daß Du glaubtest, mit den vier- bis fünftausend Mark Zinsen ein elegantes Leben, Sorglosigkeit und Luxus zu finden?“

„Entbehrungen über Entbehrungen hätten Deiner geharrt,“ bestätigte Herr von Römpker eifrig.

„Ach ja,“ seufzte die Mutter, „und das wäre schwer auch für uns gewesen.“

Lea sah die Ihrigen flammend an.

„Luxus? Wohlleben? Wie wenig Ihr mich kennt, wenn Ihr glaubt, daß ich darauf zuerst sehe!“ rief sie aus. „Ich wäre an Clairons Seite mit anständiger Auskömmlichkeit zufrieden gewesen. So muß ich es Euch denn sagen, was ich will, was ich ersehne, was ich haben muß, um glücklich zu sein. Die Erste will ich immer sein in meinem Kreise, wie ich es gewesen bin, seit ich denken kann. Oder ist unser Haus etwa nicht das erste der Gegend, bin ich etwa nicht das gefeiertste Mädchen? Denkt nicht, ich sei eitel! Ich fühle ganz genau, es ist etwas anderes als Eitelkeit. Ich möchte einen festen und hohen Platz haben in der Welt. O, daß ich nicht auf einem Thron geboren bin! Denn zu großen Lebensformen fühle ich mich bestimmt. Der Mann, neben dem ich stehe, soll alle überragen, die um ihn sind. Entweder er soll vornehm sein von Rang und Stand, oder er soll von männlicher Schönheit sein, in Erscheinung und Charakter, oder geistig so bedeutend, daß sich ihm alles beugt. Und ist ihm dies alles nicht eigen, dann soll er wenigstens so reich sein, daß ich durch sein Gold fürstliche Unabhängigkeit habe. Ihr seht es – erst an letzter Stelle nenne ich den Reichthum. Ich ziehe die edleren Eigenschaften vor – wenn ich sie haben kann. Und welche fehlte denn Clairon? Er ist vom ältesten Adel, schön und männlich zugleich. Sein Charakter ist bewundernswerth, sein Wesen nimmt alle ein. Und ich liebe ihn. Und Ihr wollt bezweifeln, daß er der rechte Gatte für mich wäre?“

Sie hatte sich in eine solche Aufregung hineingeredet, daß es ihr heiß in der Brust war und in ihren Augen Thränen funkelten.

„Aber Lea, Du bist doch ein wenig überspannt,“ sagte Rahel. Herrn von Römpker gefiel es, daß Lea den Reichthum erst als letzten, äußersten Heirathsgrund gerechnet hatte. Darin war sie sein Kind. Auch er stellte Schönheit, Seelen- und Familienadel über das Geld. Nur leider – haben mußte man es, denn es floß so verwünscht schnell durch die Finger. Er wollte Lea nun eine Freude machen und bemerkte zu ihrer exaltirten Rede:

„Ja, ja, er ist ein reizender Mensch, Graf Clairon. Wer sollte mir auch als Schwiegersohn willkommener sein! Glaube mir, Lea, ich bin unaussprechlich unglücklich!“

In Wirklichkeit war dies auch die erste schwierige Stunde im Leben des Herrn von Römpker.

„Kannst Du denn keine Hypothek aufnehmen?“ fragte Rahel. „Unser Gut ist ja schuldenfrei, das muß doch leicht zu machen sein!“

Herr von Römpker, der bisher mehr gedrückt als gerade ernstlich unglücklich ausgesehen hatte, veränderte die Farbe. Er wurde wirklich bleich, erschreckend bleich.

„Welche Schande, welche Schande!“ murmelte Frau von Römpker, die nur eine ganz unklare Vorstellung davon hatte, was eine Hypothek sei, und dies Wort immer nur in Verbindung mit bankerott gewordenen Gütern gehört hatte.

„Liebe Mama, das klingt Dir nur schlimm,“ sagte Rahel begütigend.

Wie Herr von Römpker sich beim Beginn der Unterredung an die ruhige Vernunft seiner jüngsten Tochter geklammert hatte, wurde ihm jetzt der Stolz seiner Lea der Hoffnungsstern.

„Lea,“ begann er mit tonloser Stimme, „wenn Du darauf bestehst, kann ich freilich eine Hypothek aufnehmen. Auf Römpkerhof – denke, auf unser freies Familienerbe, darauf noch nie, seit meine Vorfahren es erwarben, ein Heller fremden Geldes gewesen! Diese Schuldenfreiheit war unser Familienstolz seit ungezählten Generationen. Denke an das Aufsehen in der Gegend, ja in der ganzen Provinz! Eine Hypothek aufnehmen und eintragen – das ist ein sehr öffentliches Geschäft, welches nicht zu verheimlichen ist. Man würde das bereden, man würde von Verlegenheiten sprechen, in denen ich sei, mein Ruf und meine Stellung als der unabhängigste Besitzer der Provinz wäre dahin.“

Rahel sah das nicht ein. Ihr erschien diese Furcht als bloße Eitelkeit. Auch konnte sie die „Unabhängigkeit“ nicht so hoch schätzen, welche den Töchtern nicht einmal freie Herzenswahl gestattete. Sollte denn Leas Glück scheitern an der Scheu vor Unbequemlichkeit und an Eitelkeit? Das that ihr schwerzlich weh, für Lea und für den Vater.

Ihr war es, als müsse man für große Ziele auch große Einsätze wagen. Aber sie schwieg, denn sie war es nicht, die den Kampf um Clairons Besitz zu führen hatte. Zitternd wartete sie auf Leas Antwort. Sollte der Hochmuth in dieser ungezügelten Frauenseele alles überwuchern, daß sie den Geliebten aufgab um so äußerlicher Rücksichten willen?

Lea ging auf und ab. Sie ging königlich. Die Schwester sah sie in Bewunderung und Sorge an; sie gestand sich, daß Lea eine von jenen felsenkantigen, aber auch felsenhohen Individualitäten war, die sich nirgends einfügen können, die einen besonderen Platz brauchen für ihre besondere Erscheinungsform.

Und da stand Lea still.

„Ich werde Dir morgen meinen Entschluß sagen, Papa,“ sprach sie finster.

Herr von Römpker athmete auf. Seine Saat mußte guten Boden gefunden haben. Wenn Lea sich erst bedachte, war alles gewonnen. Blinde Leidenschaft hätte gerufen: thue alles, trage alles, aber gieb mir den Mann, den ich liebe!

Er stand auf.

„So haben wir denn heute nichts mehr zu sprechen,“ sagte er wieder mit seinem liebenswürdigen Lächeln.

„Doch noch zwei Worte, Papa!“ rief Rahel, „ich habe auch einen Entschluß gefaßt, kann ihn aber schon heute verkünden. Nämlich, ich habe eben ausgerechnet, daß wir fortan im Hause viel, viel weniger verbrauchen müssen. Siehst Du, Papa – und verzeih, daß ich daran rühre – wenn Du in den zwanzig Jahren seit Großmamas Tod – nicht wahr, sie starb bald nach Großpapa – unsere zweimalhunderttausend Mark so – so – ‚in das Gut gesteckt‘ hast, so sind eben alle Jahre zehntausend Mark mehr verwirthschaftet worden, als hätte sein dürfen. Wenn nun schlechte Jahre kämen – was dann? Wenn die ‚Hypothek‘ vermieden werden soll, ganz unabhängig von Leas Heirath oder Nichtheirath, so müssen wir eben fortan jedes Jahr Geld zurücklegen. Dazu könnten wir zum Beispiel die Hälfte jener Zinsensumme bestimmen, welche Mama aus ihrem Familienfideikommiß bekommt.“

Herr von Römpker war einen Augenblick erstarrt. Lea aber, schnellen Geistes, war den Worten der Schwester verstehend gefolgt und glaubte ihnen das rechte Gewicht geben zu müssen durch ihre Beistimmung.

„Rahel spricht sehr klug und mir aus der Seele.“

„Wie unpoetisch für ein Mädchen, so rechnen zu können!“ rief Herr von Römpker endlich aus.

Rahel erschrak. Eine Thräne glänzte in ihrem Auge. Der Vorwurf der Unweiblichkeit ist jeder Frau der allerschmerzlichste.

„Du weißt, Papa, ich bin in keiner Weise ein Liebling der Grazien,“ versuchte sie zu scherzen, aber ihre Lippen bebten. „Verspotte mich deshalb – aber gieb mir Recht und befolge meinen Rathschlag!“

„Alles, was Ihr wollt,“ rief er verzweifelt, „nun aber laßt mich aus! Das ist ja ein Geburtstag, an dem man’s schon als Strafe empfinden könnte, geboren zu sein. Ich mache einen Ritt. Und Ihr – seid gescheit! Morgen ist auch noch ein Tag und bauscht mir die Geschichte nicht zu einem Fall auf, der einem die ganze Zukunft verleidet!“

Er ging. Und Rahel fürchtete, daß er nach Kohlhütte zur lustigen Gesellschaft reiten würde.

(Fortsetzung folgt.)


[283]
Das Zeitalter der Elektricität.

Wer in unserer rastlosen Zeit Halt macht, um Umschau über die Vorgänge rings um sich her zu halten, dem drängt sich die Wahrnehmung auf, daß unser Zeitalter mehr wirkliche und greifbare Errungenschaften aufzuweisen hat als sonst ein anderes. Die einseitig spekulativen, d. h. lediglich in der Welt der Gedanken weilenden Geister scheinen in den Hintergrund gedrängt und an ihre Stelle sind Männer der That getreten, die muthig Hand an die Lösung der neuzeitlichen Fragen und Bedürfnisse legen. Wir erblicken eine ungeahnte Thätigkeit auf allen Gebieten der Technik, die unserem Zeitalter ihren Stempel aufdrückt und von wesentlichem Einfluß ist auf die Gestaltung des modernen Lebensbildes.

So spielt sich vor den staunenden Augen des gegenwärtigen Geschlechtes ein Vorgang von außerordentlicher Tragweite ab, nämlich die Entwicklung der Elektrotechnik, die sich in einem Zeitabschnitte von kaum 10 Jahren aus den bescheidensten Anfängen heraus ihren Platz auf allen Gebieten des menschlichen Lebens erobert hat, und es scheint umsomehr angezeigt, hierüber eine kurze Rundschau zu halten, als im laufenden Jahre – angeregt durch L. Sonnemann — in Frankfurt a. M. in Gestalt einer internationalen elektrotechnischen Ausstellung die Elektrotechnik eine Galavorstellung geben wird, die in ihren Einzelheiten vieles Wunderbare bringt und eines Blickes hinter die Coulissen wohl verlohnt. —

Es war im Jahre 1881, als sich im Industriepalast zu Paris eine Anzahl Vorkämpfer der Elektrotechnik zu einer Sonderausstellung vereinigte – der ersten auf diesem Gebiete. Dort erglänzte das elektrische Licht in größerer Fülle, und es wurden Wunderdinge davon und insbesondere über die Glühlampen Edisons berichtet, die derselbe damals zuerst nach Europa brachte und an deren Wirkung anfänglich niemand so recht glauben wollte.

Die elektrische Ausstellung in Paris und ihre Erfolge hatten auch in Deutschland die Geister mächtig erregt, und so fand schon im Jahre 1882 im Münchener Glaspalast eine zweite elektrotechnische Ausstellung in kleinerem Maßstabe statt, die unter dem bescheidenen Namen von „elektrotechnischen Versuchen“ im engeren deutschen Vaterlande ebenfalls das größte Aufsehen erregte. Neben der schon in Paris gezeigten elektrischen Beleuchtung, den Telephonübertragungen etc. brachte München den ersten Versuch einer elektrischen Kraftübertragung auf weitere Entfernung.

Unterstützt von den bayerischen Behörden, hatte es der Franzose Deprez übernommen, von dem 54 Kilometer entfernten Miesbach aus auf einer Telegraphenleitung eine Wasserkraft nach dem Münchener Glaspalast zu übertragen, die daselbst zum Betriebe eines kleinen Wasserfalles verwendet wurde. Es war ein Augenblick der höchsten Spannung, als vom Ausstellungsraum aus das telegraphische Zeichen gegeben wurde, daß in Miesbach die Dynamomaschine mit dem Telegraphendraht verbunden werden solle – und eine wahre Begeisterung schwellte die Brust der versammelten Männer, als das Rauschen des keinen Wasserfalls anzeigte, daß der Versuch gelungen sei.

Freilich fehlte es nachher nicht an Bemühungen, diesen Versuch wegen der geringen Nutzwirkung, welche sich ergab – diese betrug in München nur ungefähr ein Viertel der in Miesbach angewendeten Kraft – lächerlich zu machen, aber gleichwohl ist derselbe bahnbrechend geworden für die elektrische Kraftübertragung, und die Ausstellung in Turin im Jahre 1884 hatte bereits große Fortschritte auf diesem Gebiete zu verzeichnen.

Zwischen die obenerwähnten Ausstellungen fiel noch im Jahre 1883 eine elektrische Fachausstellung in Wien, und dann haben verschiedene allgemeine Industrieausstellungen, so besonders diejenige vom Jahre 1889 in Paris, in ihren Abtheilungen für Elektrotechnik gezeigt, welch riesigen Aufschwung die letztere genommen hat.

Ueber die Einrichtungen und Neuerungen, in welchen dieser Aufschwung zu Tage tritt, soll dem Leser in Nachstehendem berichtet werden, und zwar wohl am besten unter Schilderung von Veranstaltungen, wie sie für die diesjährige Frankfurter Ausstellung geplant sind.

In Frankfurt am Main werden unter der technischen Leitung des Ingenieurs Oscar von Miller die neuesten Errungenschaften der Elektrotechnik gleichsam in einem Sammelpunkte vereinigt. Die ganze Ausstellung ist streng in einzelne Gruppen gegliedert, um die Uebersicht der einzelnen Zweige der Elektrotechnik nach Möglichkeit zu erleichtern, eine Einrichtung, welche den einzelnen Ausstellern um so höher angerechnet werden muß, als mancher derselben auf eine wirkungsvolle Gesammtausstellung seiner Leistungen verzichten und seine verschiedenen Fabrikate im Dienste der Gesammtheit in einzelne Abtheilungen zersplittern mußte.

Wir treten durch den Haupteingang der Ausstellung ein und wenden uns in erster Linie der Quelle zu, von der alle die leuchtenden und anderen Wunder, die wir erblicken werden, ihre Nahrung erhalten. Da ist vor allem das Kesselhaus, das mit 20 mächtigen Kesseln der verschiedenen Systeme mit einer Gesammtheizfläche von 2400 Quadratmetern die große Anzahl von 58 verschiedenen Dampfmotoren zu speisen hat, durch welche eine Kraftmenge von rund 3000 Pferdekräften geliefert wird.

Diese Dampfmotoren befinden sich in der großen Maschinenhalle, woselbst sie hinwiederum zum Antrieb der Dynamomaschinen verwendet werden, die – den elektrischen Strom erzeugend – die gewonnene Kraft mittels Drahtleitungen in alle Theile der Ausstellung versenden und sie den verschiedensten Zwecken dienstbar machen.

Hier in der Maschinenhalle wird denn auch der Schauplatz für den Wettkampf der verschiedenen Systeme elektrischer Krafterzeugung sein. „Gleichstrom“ oder „Wechselstrom“, so lautet die brennende Frage und sie wird ihre friedliche Lösung dadurch finden, daß man, in Rücksicht auf die verschiedenen Vorzüge des einen wie des anderen Systems, dessen Wahl von den örtlichen Verhältnissen und dem Zwecke der zu schaffenden Anlage abhängig macht. Es würde zu weit führen, hier eine ausführliche Erklärung des Gleichstrom- und Wechselstromsystems zu geben. Es sei nur so viel erwähnt, daß ersteres sich da am besten eignet, wo es sich um die Vertheilung des elektrischen Stromes in geringerem Umkreise handelt, während das zweite für Uebertragungen auf weitere Entfernungen als vortheilhafter erkannt wurde. Diesem letzten Umstande ist es zuzuschreiben, daß die lange zurückgesetzten Wechselstrommaschinen in der Frankfurter Ausstellung wieder in stattlicher Anzahl neben den Gleichstrommaschinen einziehen werden. Bei beiden Systemen sind in Hinsicht auf Konstruktion und Nutzwirkung gewaltige Fortschritte gemacht worden. Die Leistungsfähigkeit der Maschinen hat sich verdreifacht – d. h. eine moderne Dynamomaschine von 100 Pferdekräften ist kaum größer als eine 30pferdige, die im Jahre 1882 konstruirt wurde, und während 1882 die 30pferdige Maschine die größte ihresgleichen war, werden in Frankfurt solche mit 600 Pferdekräften vertreten sein. Für die Deptforder elektrische Centralanlage bei London wird jetzt sogar eine Dynamomaschine von 10 000 Pferdekräften gebaut.

Im organischen Zusammenhange mit der Maschinenhalle steht die Halle für „Vertheilungssysteme“. Hier werden, wie in den Straßen unserer Städte, die Leitungskabel der verschiedensten Systeme in offene Gräben verlegt werden, um dem Publikum die Einrichtungen zu zeigen, die gleich den Gas- und Wasserröhren künftig den Untergrund der Städte durchziehen.

An die Maschinenhalle angebaut befinden sich ferner Räume für Akkumulatoren („Sammler“, „Speicherbatterien“), die den elektrischen Strom aufzuspeichern vermögen, um ihn je nach Bedürfniß in beliebiger Menge wieder abgeben zu können, und die sich deshalb am besten mit den Gasometern der Gasanstalten vergleichen lassen. Was in diesen Räumen an Akkumulatoren verschiedener Systeme ausgestellt ist, vermag die gleiche Elektrizitätsmenge wie eine 400pferdige Dynamomaschine zu liefern.

Einen andern, durch seine Eigenschaft merkwürdigen Kraftzufluß aber erhält die Ausstellung durch elektrische Uebertragung entfernt liegender Kräfte. Es werden nämlich nicht bloß zwei Lokomobilen in dem etwa 1800 Meter entfernten Palmengarten ihre Kraft mittels des elektrischen Stromes zur Ausstellung liefern, auch von Offenbach (8 Kilometer von Frankfurt) werden 100 Pferdekräfte in der Ausstellung nutzbar gemacht. Die bedeutsamste Leistung aber wird darin bestehen, daß von Lauffen am Neckar, d. h. aus einer Entfernung von etwa 175 Kilometern, 300 Pferdekräfte übertragen werden sollen.

Das Gelingen dieser Uebertragung ist durch vorangegangene Versuche in seiner technischen Durchführbeit gesichert. – Nachdem nun auch die betheiligten Regierungen ihre Genehmigung für die Ausführung gegeben haben, wird der Mitwelt der Beweis geliefert werden können, daß man, wie dies in anderem Zusammenhange kürzlich in der „Gartenlaube“ (S. 208) auseinandergesetzt [284] wurde, z. B. die in unseren Alpen vorhandenen Wasserkräfte mittels der Elektricität hinab in die Ebene leiten und mit ihnen ganzen Provinzen und Ländern Elektricität liefern kann.

Wenden wir uns nunmehr der Anwendung der Elektricität auf den verschiedenen Gebieten des menschlichen Lebens zu und beginnen wir mit der uns am meisten in die Augen fallenden Verwendung des elektrischen Stromes, mit der Erzeugung des elektrischen Lichtes!

Vielerorts leuchtet uns heutzutage schon der goldene Schimmer des Glühlichtes und der märchenhafte Schein der Bogenlampe entgegen. Je mehr aber die hervorragenden Eigenschaften des elekrischen Lichtes in Hinsicht auf Hygieine und Feuersicherheit bekannt werden, desto mehr findet es Ausbreitung, und wie es heute schon kaum mehr eine größere Stadt giebt, die nicht eine oder mehrere elektrische Centralanlagen besäße, so werden in nicht zu ferner Zeit bald auch kleinere Ortschaften ihr Lichtbedürfniß durch Elektricität befriedigen können.

Um einen Begriff von dem riesigen Verbrauch an elektrischem Licht zu geben, erwähnen wir, daß in einer einzigen Centrale in London an 20 000 Pferdekräfte zur Erzeugung von Elektricität verwendet und daß die Berliner Elektricitätswerke im kommenden Jahre über mehr als 10 000 Pferdekräfte verfügen werden.

Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß die Frankfurter Ausstellung in einem Lichtmeer schwimmen wird, wie es auf verhältnißmäßig so engem Raume wohl kaum jemals gesehen worden ist. Glühlichter bis hinauf zu einer Stärke von 1000 Kerzen Leuchtkraft und Bogenlampen aller Systeme und Größen bis zu einer Stärke von 40 000 Kerzen werden erstrahlen. Ein künstlicher Wasserfall, der seine Fluthen aus einer Höhe von 10 Metern herabstürzen läßt, wird ähnlich den fontaines lumineuses der Pariser und der Wiener Ausstellung feenhafte Beleuchtungsspiele darbieten. Den Gipfel des Felsens, aus dem die Wasserfluten herabstürzen , wird eine romantische Burg bekrönen, vor deren Eingang ein riesiger grimmer Drache Wache hält. Mächtige Dampfwolken, durch elektrische Reflektoren in glühende Farbentöne getaucht, sprühen aus dem Rachen des Ungethüms. Wer aber mit dem Muthe eines Siegfried durchdringt bis zum Innern der Burg, den wird, wenn auch keine Brunhilde, so doch eine trauliche Trinkstube begrüßen.

Daß die Anwendung des elektrischen Lichtes für Theaterzwecke in erschöpfender Weise dargestellt werden wird, ist selbstverständlich. Ein großes Ausstellungstheater nach dem Entwurfe des bekannten Bühnentechnikers der Münchener Hofoper, Karl Lautenschlägers, ausgeführt, wird in größeren Ballets, Pantomimen etc. den ganzen Zauber der modernen Bühnentechnik vorführen. Ein zweites kleineres Theater wird noch besonders die technischen Eigenthümlichkeiten elektrischer Bühnenbeleuchtung veranschaulichen.

Riesige Scheinwerfer, wie sie für Küstenbeleuchtung, militärische Zwecke etc. dienen, werden von einem eigens hierzu errichteten Leuchtthurm aus ihren Schein bis Mainz zum Vater Rhein entsenden.

Im engen Zusammenhang mit der Erzeugung des Lichts steht die Verwendung der elekrischen Kraft für gewerbliche Zwecke jeder Art.

Gleichwie der Bürger von einer Centrale aus sein Haus elektrisch beleuchtet erhalten kann, so kann er auch von dorther nach Bedürfniß elektrische Arbeitskraft beziehen und dieselbe zum Betrieb von Arbeitsmaschinen und zu mannigfachen sonstigen Vornahmen verwenden.

Es liegt hierin die größte Bedeutung der Elektricität, da der Elektromotor ein Betriebsmittel ist, welches, ähnlich wie die Druckluft, durch seine außerordentliche Einfachheit in Konstruktion und Bedienung die längst ersehnten billigen Arbeitskräfte zu liefern und daher den Kleinbetrieb wieder konkurrenzfähig mit dem großen Dampfbetrieb zu machen imstande ist. Die Gefahrlosigkeit des Elektromotors sowie die außerordentlich einfache Ausführbarkeit elektrischer Leitungen erlauben es, ihn überall, wo mit Maschinen gearbeitet wird, anzuwenden. Unsere auf diesem Gebiete außerordentlich ausgebildete Technik hat dafür gesorgt, daß fast jedem Gewerbe und auch dem kleinsten Mann vorzügliche derartige Maschinen zur Verfügung stehen. Der Tischler z. B. kann eine Kreis- und Bandsäge, eine Hobelmaschine etc. einstellen und eine Reihe von Arbeiten leisten, die er sonst gar nicht, oder doch nur mit großem Zeitaufwand und deshalb nicht lohnend hätte ausführen können.

Wie beim Tischler, so verhält es sich auch beim Mechaniker, Blech- und Metallarbeiter, Buchdrucker, Lithographen, Drechsler etc.

Auf Bauplätzen kann der Elektromotor für Hebezwecke, für Schmiede, Steinmetz- und Zimmermannsarbeiten Verwendung finden; in der Landwirtschaft kann er die verschiedenartigsten Hilfsdienste thun: kurz und gut, es giebt kaum ein Feld, auf dem er nicht seine Thätigkeit entfalten könnte.

Außer in den genannten Industrien hat der elektrische Strom auch schon erfolgreiche Anwendung gefunden zur Bleichung des Papierrohstoffes, zur Gerbung des Leders, zum Zusammenschweißen von Metallen etc., und er hat es ferner auch vermocht, gefährliche Betriebe mit den ausreichendsten Sicherheitsmaßregeln zum Besten aller dabei Betheiligten zu versehen. Es sei hier vor allem der Bergbau genannt. Hier findet die Elektricität Verwendung zum Betriebe elektrischer Grubenbahnen, Förderschalen, Bohrmaschinen, für Bergwerkslampen, Signalapparate, welche die Entwicklung schädlicher Gase melden, Instrumente, welche das Steigen und Fallen der Grundwasser anzeigen etc. Ja, vermittelst der Elektricität ist es sogar möglich, die mörderischen Geschosse unserer modernen Schußwaffen auf gefahrlose Weise herzustellen.

Eine ganz hervorragende Bedeutung hat die Elektrotechnik für die Sicherung unseres gesammten Verkehrswesens gewonnen. Zu der Abtheilung für „Eisenbahnwesen“ werden alle jene zahlreichen Alarm- und Signalapparate Platz finden, deren Thätigkeit wir es zu verdanken haben, daß die Gefahren des Eisenbahnbetriebs nur selten zu Unglücksfällen führen. Hier werden auch die elektrischen Beleuchtungswagen aufgestellt sein. welche künftig auf den Knotenpunkten des Eisenbahnverkehrs bereit stehen sollen, um bei vorkommenden Störungen, Unglücksfällen etc. sofort Licht und Hilfe bringen zu können.

Ihre volle Wirkung im Eisenbahnwesen wird die Elektricität freilich erst dann gewinnen, wenn sie sich dasselbe einmal in seinem ganzen Umfange zu eigen gemacht hat. Bisher hat sie hauptsächlich zum Betrieb kürzerer Strecken gedient, besonders in Amerika, wo etwa 200 Städte mit elektrischen Trambahnen versehen sind und Tausende von Kilometern mit solchen elektrischen Straßenbahnen befahren werden. Selbst in kleineren Städten, z. B. in Southington, Connecticut, mit 5400 Einwohnern, ist eine elektrische Bahn eingerichtet worden.

Der Umstand, daß in Amerika immer mehr Pferdebahngesellschaften zur Elektrizität als bewegender Kraft greifen, liefert den besten Beweis, daß letztere den Pferden nicht nur durch raschere Beförderung, sondern auch durch geringere Kosten überlegen ist. Die Frankfurter Ausstellung wird die verschiedenen Systeme elektrischer Bahnen durch fünf im Betrieb befindliche Linien und durch eine Anzahl von Modellen zeigen, auf deren Einzelheiten einzugehen hier zu weit führen würde. Es sei nur soviel erwähnt, daß die verschiedenen Systeme mit sogenannter „oberirdischer“ Zuleitung des elektrischen Stromes, von welchen die „Gartenlaube“ in Nr. 34 des vorigen Jahrgangs ein Beispiel vorgeführt hat, bis jetzt am meisten Verwendung gefunden haben, da sie am billigsten herzustellen sind. Die elektrischen Bahnen mit „unterirdischen“ Zuleitungen erfordern bedeutend höhere Herstellungskosten, doch zeigt z.B. eine in Budapest errichtete derartige Bahnanlage trotzdem zufriedenstellende Ergebnisse.

Als das Ideal der elektrischen Bahnen könnte diejenige mit Akkumulatorenbetrieb bezeichnet werden, bei der durch mitgeführte Akkumulatoren die nöthige Kraft zur Fortbewegung des Wagens geliefert wird und keinerlei Veränderungen des Bahnkörpers nöthig sind. Hier ist indeß vor der Hand noch der Uebelstand zu berücksichtigen, daß sich die Last des Wagens um das sehr beträchtliche Gewicht der Akkumulatoren erhöht und also viele Kraft zur Fortbewegung allein schon des todten Gewichts notwendig ist - ein Uebelstand allerdings, der da, wo billige Wasserkräfte zum Laden der Akkumulatoren verwendet werden können, nicht sehr ins Gewicht fiele.

Unternehmungen, wie die großartige elektrische Untergrundbahn in London, welche sich in einer Länge von sechs Kilometern unterirdisch hinzieht und bei der sich die Baukosten für den Meter auf rund 4000 Mark stellen, sind überhaupt nur unter Anwendung der Elektricität möglich.

In Amerika, wo das Riesenunternehmen der transandinischen Bahngesellschaft einen Schienenweg von San Francisko bis zum Panamakanal führen will, ist es wiederum die Elektricität, welche die maschinellen Arbeiten für einen Tunnelbau in der Höhe von 3000 Metern über dem Meer ermöglicht. Da in dieser Höhe die Verwendung von Dampfmotoren unerschwingliche Kosten [285] verursachen würde und die bewegende Kraft des Wassers in der Nähe nicht zu haben ist, so muß letztere vom Thale zur Höhe geleitet werden. Es geschieht dies auf einfache Art mittels Elektricität, welche die gewonnene Energie auf Elektromotoren überträgt und dadurch die Bohrmaschinen für den Tunnelbau in Bewegung setzt; und zwar sind diese Elektromotoren, welche im Auftrage eines englischen Hauses von einer bedeutenden schweizer Fabrik geliefert wurden, so konstruirt, daß sie, auf kleine Lasten vertheilt, von Maulthieren auf die Höhe hinaufgeschafft werden konnten.

Die Verwendungsarten der Elektricität auf dem festen Lande sind mit den nöthigen Anpassungen auch auf das Marinewesen übertragen worden. Eine besondere, am Maine gelegene Marineausstellung wird in Frankfurt die verschiedenen im Gebrauche befindlichen Signal- und Kommandoapparate, sowie zahlreiche Neuerungen auf diesem Gebiete zeigen. Dort wird man an Modellen und vollständig eingerichteten Schiffskabinen die elekrische Schiffsbeleuchtung studieren können, die unseren Ozeandampfern eine erhöhte Sicherheit gegen die schrecklichste Gefahr einer Seereise, gegen die Feuersgefahr, verleiht. Dort wird ferner die Art und Weise veranschaulicht, wie man die großen unterseeischen Kabel verlegt. Das meiste Interesse aber werden wohl die zwei elektrischen Boote erregen, die den Wasserverkehr mit der Ausstellung vermitteln und von denen das eine für die Beförderung von 100 Personen eingerichtet sein wird. Diese Fahrzeuge, zu deren Vorwärtsbewegung die in Akkumulatoren aufgespeicherte Kraft entfernter Wasserläufe verwendet werden kann, zeichnen sich durch denkbar einfache Betriebsführung und ferner dadurch aus, daß sie ohne den lästigen Rauch der Dampfschiffe durch die Wellen ziehen,


Im italienischen Volkstheater.
Nach dem Gemälde von P. Massani.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München

[286] Sie sind daher die richtigen Boote für Gebirgsseen und für Ströme, deren landschaftlichen Reizen keine Beeinträchtigung durch Dampfwolken erwachsen soll.

Welche Rolle die Elektricität in den Regionen der Luft spielt, wird in der Frankfurter Ausstellung durch einen Fesselballon gezeigt werden, der mit auf elekrolytischem Wege erzeugtem Wasserstoffgas gefüllt ist. Derselbe wird mit einer elektrisch betriebenen Winde auf- und abgelassen; die Insassen der Gondel sind telephonisch mit dem Aufstiegplatze verbunden, und mit Einbrechen der Nacht tritt ein ebenfalls in der Gondel untergebrachter Scheinwerfer in Tätigkeit; auch sind Versuche betreffs der Lenkbarkeit des Ballons mittels Elektricität beabsichtigt.

Daß es elektrisch betriebene Omnibusse und Velocipede giebt, daß man ferner die Elektricität in Amerika zur Erzeugung von kühler Luft in Theater- und Konzertsälen, zum Betriebe von Schuhputz- und Haarschneidevorrichtungen verwendet, ja, daß sie sogar — vermittelst Apparaten, welche die bei Wahlen abgegebenen Stimmen kontrollieren — bei der Politik mitwirkt, wird nach dem Gesagten niemand mehr Wunder nehmen.

Eine weitere Thätigkeit, die große Mengen elektrischer Kraft in Anspruch nehmen wird, ist die Elektrolyse und Elektrometallurgie, d. h. Umsetzung von chemischen Verbindungen und Reindarstellung von Metallen mit Hilfe der Elektricität.

Von den verschiedenen Verfahren für die Gewinnung von Gold, Silber, Kupfer, Aluminium wollen wir besonders das letztere hervorheben, da dieses Metall durch seine außerordentlichen Eigenschaften geeignet zu sein scheint, in unserer Metallindustrie eine theilweise Umwälzung hervorzurufen. Aluminium wird aus der überall verbreiteten Thonerde auf elektrischem Wege gewonnen. Wasserkräfte von beiläufig 6000 Pferdekräften sind heute schon in der Schweiz und in Oesterreich dafür in Verwendung und ermöglichen dessen Herstellung im großen zu einem Preise, der nur noch einen geringen Bruchteil des vor Jahresfrist üblichen ausmacht. Während das reine Aluminium durch seine Leichtigkeit, durch seine Zähigkeit und durch seine Unempfindlichkeit gegen Säuren für mannigfache Zwecke unersetzlich ist, bildet es auch einen werthvollen Zusatz zu anderen Metallen wie Eisen, Bronze und dergleichen, indem es diesen ein festeres, dichteres und widerstandsfähigeres Gefüge verleiht.

Wir haben im vorstehenden diejenigen Fälle erwähnt, in denen der elektrische Strom in größeren Mengen verwendet wird und dadurch staunenswerte Erfolge erzielt.

In geringerer mechanischer Wirkung, aber in um so häufigerer Anwendung sehen wir den elektrischen Strom bei der Telegraphie und Telephonie auftreten. Welch gewaltiger Unterschied auch auf diesem Gebiete zwischen den ersten einfachen Versuchen und der heute erreichten Höhe! Eine Sammlung geschichtlich merkwürdiger Apparate in der Ausstellung wird diese Fortschritte veranschaulichen, die freilich für den Fachmann mehr Interesse haben als für den Laien. Es sei aus dem Gebiete der Telegraphie nur erwähnt, daß es heute mittels verbesserter Apparate möglich ist, auf einer einzigen Leitung mehrere Nachrichten gleichzeitig abzufertigen. — Eine eigenartige Neuerung bilden auch die sogenannten „Börsendrucker“, welche, bei Privatleuten, in Geschäften etc. aufgestellt, die im Haupttelegraphenamt einlaufenden Nachrichten oder Kursberichte bei den verschiedenen Abonnenten gleichzeitig auf einen Streifen Papier drucken.

Die Telephonie, der Telegraphie jüngere Schwester, wird uns in der Ausstellung mit einer Vervollkommnung ihrer Wunderleistungen überraschen. Nachdem ihre Anwendung in Paris bereits die Einrichtung eines „Theatrophons“ gezeitigt hat, in welchem man die in verschiedenen Stadttheilen stattfindenden Opern- und Konzertaufführungen hören kann, werden Uebertragungen vom Frankfurter Opernhaus, vom Wiesbadener Theater etc. in der Ausstellung keinen besonderen Eindruck mehr machen. Ein ander Ding ist es aber, wenn der erstaunte Hörer auf dem Frankfurter Ausstellungsplatz, eine Aufführung der Münchener Hofoper mittels des Telephons zu hören bekommen wird.

Eine Neuerung auf dem Gebiete des Telephons sind die sogenannten lautsprechenden Telephone, die einer Hörerschaft von Hunderten von Menschen ein Musik- ober Gesangsstück, eine Rede, eine Predigt oder dergleichen vermitteln, und zwar ohne daß es notwendig wäre, Hörrohre an die Ohren zu halten. Wenn wir die hierdurch gebotenen Möglichkeiten ausdenken, so kann sehr bald eine Zeit kommen, die z. B. auch den Bewohnern von Xhausen erlaubt, irgend eine Patti der Zukunft im eigenen Neste singen zu hören. Welche Ausdehnung die praktische Verwendung der Telephonie aber für den täglichen Verkehr gewonnen hat, bedarf keiner Erörterung. Telephonautomaten, welche, wie die bekannten Wiege-, Chokolade- oder Cigarrenautomaten, an geeigneten Plätzen aufgestellt werden und durch Einwerfen eines Geldstückes den Anschluß an das Telephonamt und damit an einen beliebigen Abonnenten ermöglichen, werden die Verwendung des Telephons noch bedeutend steigern.

Wie aus dem Obengesagten hervorgeht, bestehen keine technischen Schwierigkeiten mehr, die Rede mittels des Telephons auf beliebig weite Entfernungen fortzuleiten. Nachdem jetzt schon Telephonverbindungen, wie München-Frankfurt, Paris-London, Berlin- Warschau ganz oder theilweise vollendet sind, wird sich auch ähnlich dem Telegraphenweltverkehr ein ausgedehnter Telephonweltverkehr entwickeln, der uns über Länder, Berge und Meere hinweg mündliche Verständigung ermöglicht.

Daß auf dem Gebiete der Medizin die Elekricität durch Beleuchtungsvorrichtungen, durch galvanokaustische Apparate etc. vielfache Dienste leistet, dürfen wir als bekannt voraussetzen. Neu ist hierbei nur, daß in Städten, wo elektrische Centralanlagen sich befinden, auch der Arzt den nötigen elektrischen Strom gleichwie das elektrische Licht von dorther beziehen kann und besonderer eigener Batterien nicht mehr bedarf"

Auf wissenschaftlichem Gebiete hat die Elektrizität schon seit langem die Schaffung wichtiger Präcisions- und Versuchsapparate und mittels derselben die Durchführung wichtiger Forschungen ermöglicht. Es sind auch hier neue Fortschritte zu verzeichnen.

So helfen alle Umstände zusammen, um uns mit der Elektricität, dieser solange rätselhaft gebliebenen Naturkraft, bekannt und vertraut zu machen; einem deutschen Forscher, dem Professor Hertz in Bonn, ist es vorbehalten geblieben, ihr Wesen zu ergründen und nachzuweisen , daß die Elektrizität kein Stoff ist, sondern in Schwingungserscheinungen besteht, wie Licht und Wärme.

Auch die Vermutung, daß die bewegende Kraft unseres Weltalls auf Elektrizität beruhe, gewinnt neue Grundlagen durch die interessanten Versuche von Zenger in Paris. der nachgewiesen hat, daß die Umdrehung der Planeten eine Folge der elektrodynamischen Thätigkeit der Sonne ist.

So schreitet der menschliche Geist rastlos vorwärts von einer Erkenntniß, zur andern! Aber jede neue Erkenntniß bringt auch neue Räthsel und nette Aufgaben! J. H.     




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.

(16. Fortsetzung.)

Maiberg klopfte an Leos Zimmerthür. „Herein!“ schallte es, und er trat über die Schwelle. Auf seinen „guten Abend!“ erhielt er eine etwas ironische Verbeugung. Leo stak in einem Flauschrock und auf dem Tische vor der Lampe stand ein großes Glas, noch zur Hälfte mit heißem Grog gefüllt. In der Ecke lag ein Haufen nasser Kleider, eine Wasserspur zog sich über die weißen Dielen bis zu jenen Kleidern.

„Was ist das?“ fragte Maiberg.

„Wasser, reines Wasser aus dem Bache draußen,“

„Hattest Du Unglück? Bist Du über das Brett hinter dem Wehr gegangen, oder --?“

„Das Unglück hatte ich wohl nicht, aber ein anderes, das mittelbar auch mit jenem Brett in Verbindung steht. Ich hoffe, Du beginnst Deine Vertrauensstellung bei der neuen Herrin von „Gottessegen“ mit einem guten Werke und bestehst darauf, daß jenes verwünschte Brett fortgenommen wird. Betrunkene oder solche, die an Schwindel leiden, können dasselbe unmöglich ohne Gefahr überschreiten. Als künftiger Hüttenäskulap hast Du ja so wie so die Verpflichtung, für das leibliche Wohl Deiner Anvertrauten zu sorgen. Ich irre mich doch nicht, wenn ich annehme, daß Deine endlose Unterredung mit dem Chef des Anwesens heute nachmittag dieser Angelegenheit gegolten hat? Ich wüßte in der That

[287] sonst nicht, was Du Wichtiges mit ihm zu reden gehabt hättest. Die Frau Bergrath ruhen ja nun bereits von ihren Thaten und brauchen Deine Hilfe nicht mehr.“

Maiberg hatte während dieser Reden den Freund, der wie ein gefangener Löwe auf- und abschritt, schweigend mit den Augen verfolgt, mit Augen, die, je heftiger er sprach, desto besorgter blickten.

„Leo,“ sagte er endlich, „willst Du Dich nicht setzen?“

„Es ist sehr gütig von Dir, daß Du mich in diesen Räumen aufforderst, Platz zu nehmen, es stimmt so nett mit Deiner vorhin erwähnten Vertrauensstellung.“

Maiberg überhörte die Anzüglichkeit und rückte einen Stuhl Leo gegenüber, der sich ins Sofa geworfen hatte, und sich selbst niedersetzend, sagte er: „Ich habe mit Dir zu reden, Leo. Bitte, denke, es sei wie früher, wo Du mir noch keine Gehässigkeit, sondern Vertrauen entgegen brachtest.“

„Kommst Du vielleicht im Auftrage meiner Frau?“

„Ja, Leo; und nun sei einmal wieder der logisch denkende, mild urtheilende und gerechte Mensch wie früher.“

„Du hältst mich, wie es scheint, für angehend geistesschwach!“

Maiberg antwortete nicht darauf. Er sagte nur ganz einfach: „Deine Frau läßt Dich ersuchen, Oberrode zu verlassen, da sie sich augenblicklich außer Stande fühlt, diejenigen Entschließungen zu treffen, die Euer leider so schwer getrübtes Verhältniß verlangt. Sie bittet Dich, Du möchtest Dich damit gedulden, bis die erste Trauer um ihre Mutter vorüber sei.“

Leo Jussnitz sah eine Sekunde lang den Sprechenden starr an, dann brach er in ein lautes krampfhaftes Lachen aus.

„Ich möchte Dir rathen, Leo,“ fuhr Maiberg unbeirrt fort, „thue ihr den Willen. So wie Ihr beide seid, Du überreizt, sie von geradezu starrer Entschlossenheit – ist es besser, Ihr geht Euch aus dem Wege. Laßt einige Zeit darüber verstreichen, vielleicht, wer weiß es, kann noch ein Weg sich aufthun zum Bessern.“

Leo war still geworden. „Also deshalb bekam ich auf meine unterthänigste Anfrage um eine gnädige Audienz bei ihr eine so kurz ablehnende Antwort,“ sagte er dann, „sie will mich nicht sehen! Sie hat recht, es ist besser, ich gehe!“

„Allerdings, sie will nicht, Leo.“

Jussnitz erhob sich und begann von neuem seine Wanderung durch das Zimmer. Maiberg blieb sitzen und spielte mit den Fransen der Tischdecke; er mochte des Mannes blasses Gesicht nicht ansehen, der ihm der liebste Jugendfreund gewesen war. Er wußte, daß jetzt irgend ein leidenschaftlicher Auftritt kommen werde; er kannte ja diesen Charakter so genau.

„Vielleicht machst Du einstweilen die schon längst geplante Reise nach Italien, Leo?“ begann er abermals.

„Wie schön Ihr das alles überlegt habt!“ klang es zurück; „warum bringst Du mich nicht gleich auf ein Auswandererschiff, wohin man sonst mißliebige Personen abzuschieben pflegt? Ihr habt auch wohl die Summe schon bestimmt, die es mir ermöglicht, drüben ‚irgend etwas‘ anzufangen – he?“

„Der Vorschlag mit Italien ging von mir aus, Leo,“ sagte Maiberg; „Deine Frau hat keinerlei Bestimmungen über Dich zu treffen versucht.“

Der erregte Mann hielt plötzlich vor dem Freund seine Schritte an; auf seiner Stirn ringelte sich eine kleine blaue Ader, der Athem ging ihm mühsam aus und ein.

„Wolf“, fing er langsam an, sich im Weitersprechen bis zur schreienden Heftigkeit steigernd, „Wolf, was habe ich Dir geschrieben damals? Habe ich zuviel gesagt von dieser Frau? Sie ist kleinlich, sie ist thorhaft, sie ist rachsüchtig, rachsüchtig bis zum äußersten und – die ist die Frau eines Künstlers geworden, die – –“ Und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und lachte.

„Leo!“ mahnte der Freund.

„Schweig!“ rief der gereizte fiebernde Mann, „ich werde es wohl besser wissen als Du! Weißt Du, was sie dazu treibt, sich hier vergraben zu wollen? Das ist allem voran die Eifersucht, die erbärmlichste, kleinlichste Eifersucht! Sie will mich zwingen, in dieser Einsamkeit zu leben, weil hier schwerlich ein weibliches Wesen auftauchen wird, von dem sie in Schatten gestellt zu werden fürchtet. Zweitens – ihr ganz gewöhnlicher Kramersinn; sie denkt Groschen zu sparen wie ihre Mutter. Hier kann man ja mit dem besten Willen keinen Dreier verschwenden. Lehre Du mich etwa die Gesinnungen kennen, die unter diesem Dache wohnen! Und hier habe ich mir die Gefährtin meines Lebens gesucht und gedacht, wenn sie sich selbst hingiebt, was kann’s ihr auf die lumpigen Groschen ankommen! Ich habe an innige, herzliche Gemeinschaft geglaubt, Wolf – ach, es ist zu erbärmlich! Warum war ich auch damals ein so jammervoller Schütze! Mag sie hier bleiben in des Teufels Namen und ihre Geldsäcke wie ein Drache hüten – –. Macht was Ihr wollt – aber laßt mich fort von hier, nur fort!“

Maiberg hatte ihn austoben lassen; auch jetzt unterdrückte er jeden Beschwichtigungsversuch; die Vertheidigung der jungen Frau hatte ja nur Oel in die Flammen gegossen.

„Wenn Du erlaubst, Leo, so begleite ich Dich.“

„Sehr verbunden! Bemühe Dich nicht, Du wirst hier auch schwerlich zu entbehren sein.“

„Ich habe hier nichts mehr zu thun, Leo. Ich würde so wie so morgen früh abgereist sein.“

„Reise, wohin Du willst!“

„Gewiß! – Darf ich noch eine Frage an Dich richten, Leo?“

„Es fragt sich nur, ob ich sie beantworte.“

„Was hast Du Dir eigentlich dabei gedacht, als Du Dich Hildegard von Zweidorf –“

Der Maler blieb stehen und schöpfte tief Athem. „Hilde?“ stieß er hervor, „auch ein Opfer kleinlicher Gesinnungen! Hergeschleppt, in die Kinderstube gepfercht! – Einem Geschöpf, das wie der Adler in die Lüfte steigen möchte, die Flügel zu verschneiden, das ist die Kunst der sogenannten braven, verständigen, tugendhaften Hausfrau. Vielleicht hat sie einen Posten für sie als Buchhalterin im Kontor, oder in der Küche. – Das arme Ding ist ja wehrlos in ihre Macht gegeben, denn sie hat uns belauscht, als ich dem Mädchen, in der Angst, das einzige bald hergeben zu müssen, was noch etwas Sonnenschein um mich verbreitete, ein klein wenig feuriger die Hand küßte, als es just Mode ist. Das – – aber bah! Es ist ja so gleichgültig – ich kann ihr jetzt nicht helfen, jetzt nicht.“

Und plötzlich ringelte sich die blaue Ader wieder blitzschnell auf seiner Stirn.

„Was hast Du für einen Ausdruck in Deinem Gesicht!“ schrie er den Freund an. „Thue mir den einzigen Gefallen und verlaß mich – ich will keinen von Euch mehr sehen, keinen – verstanden? Aber sage meiner Frau, daß ich gern gehe, daß ich mit Vergnügen in eine Trennung willige, daß ich mich von diesem Augenblick an als frei betrachte und nur bedaure, daß ich nicht bei Heller und Pfennig das wiederzuerstatten vermag, was sie ihre Thorheit, mich zu heirathen, gekostet hat! Sie findet vielleicht als zweiten einen Pfennigfuchser, der ihr wieder einbringt, was sie durch den ersten verlor – ich wünsche es ihr von Herzen.“

Er warf den Flausch ab, riß einen Rock vom Nagel, nahm einen Ueberzieher vom Stuhl und den Hut; es war ein breitrandiger Filzhut, der von Nässe triefte.

„Um Gotteswillen, Leo, wo willst Du hin? Mensch, so verliere doch nicht gleich den Kopf!“

Aber Jussnitz zuckte nur die Schultern und schritt aus der Thür.

Maiberg eilte in sein Zimmer, um Pelz und Hut zu holen, er durfte ihn so nicht gehen lassen.

Leo stürmte den Gang entlang; er war bereits auf der obersten Treppenstufe angelangt, da wandte er sich nach kurzem Zögern um und schritt rasch zurück, der Kinderstube zu. Ein kurzes Pochen gegen die Thür, ein Druck auf die Klinke, – und ohne eine Aufforderung zum Eintritt abzuwarten, stand er drinnen.

„Wer ist da?“ fragte Hilde.

„Ich – Leo Jussnitz!“ antwortete eine Stimme, die sie kaum wiedererkannte, so heiser war sie.

Das junge Mädchen sprang empor und stieß einen leisen Schrei aus. „Sie?“

„Allerdings! Ich könnte ja sagen, ich wollte Abschied nehmen von der Kleinen; aber wozu eine Unwahrheit – ich will Ihnen Lebewohl sagen, will Ihnen sagen, wie sehr ich bedaure, daß – will Sie um Verzeihung bitten, Hilde – –“

Sie hatte mit zitternden Händen ein Licht angezündet. Nun sah er ihr verweintes Gesicht und ihre zornig blitzenden Augen. „Ich erinnere mich nicht, Herr Jussnitz, daß ich Ihnen irgend etwas zu vergeben hätte,“ erwiderte sie sehr kühl. „Sie verwechseln vermutlich die Adresse Ihrer Bitte und wollten dieselbe Ihrer Frau Gemahlin vortragen?“

[288] Er sah sie erstaunt an. „Man hat Sie ja trefflich dressirt,“ sagte er dann, „nur müssen Sie nicht denken, daß ich diese hoheitsvolle Zurückweisung ernst nehme.“

„Warum nicht?“

„Weil Ihre Augen mir noch vor ein paar Tagen ganz andere Dinge sagten.“

Eine dunkle Röthe färbte ihr Gesicht, und die kleinen Hände ballten sich; der Stolz, die Beschämung raubten ihr fast die Besinnung. „Meine Augen? Meine Augen haben und hatten Ihnen nie etwas zu sagen!“ rief sie heftig.

„Nichts – gar nichts?“ klang es spöttisch.

Sie athmete rasch, die Thränen perlten über ihre Wangen. Um jeden Preis wollte sie ihm jetzt und für immer die Meinung nehmen, als hege sie ein Interesse für ihn oder habe jemals ein solches für ihn gehegt. „Sie waren mir stets sehr gleichgültig!“ stieß sie hervor.

Er lachte kurz auf und verbeugte sich. „Wozu denn die leidenschaftliche Betheuerung? Alterieren Sie sich nicht!“ sagte er, „ich glaube Ihnen ja, Hilde, wenn Sie es so wollen – mein Wort darauf, ich glaube es Ihnen, bis Sie –“

„Aber es ist so, es ist wirklich so!“ unterbrach sie ihn.

„Ich bin überzeugt davon,“ sprach er sarkastisch, „es liegen ja beinah acht Tage zwischen jenem Abend in Sibyllenburg und heute. Sie erinnern sich allerdings daran nicht mehr. Man hat mich Ihnen als einen furchtbaren Menschen geschildert, dem nichts in der Welt heilig ist; man hat Ihnen etwas von Moral, von Weltordnung und Sitte vorgepredigt und – Sie sind ein gutes folgsames Kind. Es ist recht von Ihnen; ich wünsche Ihnen zur Belohnung für Ihr Einsehen alles Gute und Schöne. Leben Sie wohl!“

„Matt hat gar nichts über Sie gesprochen, man hat mir keinerlei Lehren gegeben!“ rief das Mädchen außer sich, „und wenn Sie denn die Wahrheit erfahren wollen, ich ließ meine Augen mit Bewußtsein lügen, um mich zu rächen an Ihnen. Es war eine Laune, eine Tollheit, wenn Sie wollen, von mir, denn was gehen Sie mich an? Ich liebe einen andern schon lange, schon lange. So, nun wissen Sie es!“

Er hob den Hut auf, der ihm entfallen war. Die Kerze warf flackernde Streiflichter über sein blasses zuckendes Gesicht und über das Mädchen, das, beide Hände vor das Antlitz geschlagen, ihm den Rücken zugewandt hatte, bebend am ganzen Körper.

„Einen andern, Hilde?“ fragte er.

Sie nickte schluchzend.

„Maiberg?“ sagte er und, als sie nicht antwortete, „natürlich Maiberg!“

Er lachte plötzlich laut auf.

„Nun dann – Glück zu, Hilde! Leben Sie wohl! Ich – man erfährt doch zuweilen noch Ueberraschungen. – Also, meinen ergebensten Glückwunsch!“

Das wurde alles unter dem nämlichen lauten Lachen herausgestoßen, das unheimlich wiederklang von den Wänden des Hauses, aus dem heute eine Todte getragen worden war. So lachend verließ er das Zimmer, in dem das erschreckte Weinen des Kindes sich mischte mit dem Schluchzen des jungen Mädchens, und so lachend ging er den Gang hinab und trat auf die Treppe.

Dort kam Maiberg hastig die Stufen herauf. „Ich suchte Dich überall, Leo.“

Das Lachen des Mannes verstummte; er maß den Freund von oben bis unten.

„Bist doch ein verteufelter Kerl, Maiberg,“ rief er, „aber ich gönne Dir Dein Glück, ich habe nie zu den mißgünstigen Leuten gehört; ich bedaure Dich nur um die Qual der Wahl! – Na, leb wohl, bemühe Dich nicht um mich, man könnte Dich hier vermissen, es giebt viele Thränen zu trocknen in schönen Augen.“

Er wollte an dem Freund vorüber schreiten, da schallte ihnen aus dem Hausflur ein Gewirr von Stimmen entgegen; ein kreischendes Weiberorgan übertönte alle diese Laute. In dem halb erleuchteten mächtigen Flur hatte sich ein Häuflein Menschen um ein armseliges Weib versammelt, das, jemehr es zur Ruhe verwiesen wurde, um so lauter schrie.

„Wer ihn aus dem Wasser zog,“ zeterte sie, „der mag ihm auch gleich das Geld für seinen Schnaps dazu schenken, ohne den er mal nicht leben kann!“

Leo blieb mitten auf der Treppe stehen. „Da siehst Du es, Wolf, mein gewöhnliches Pech. Ich falle selbst mit den Unternehmungen herein, für die ich mein Leben einsetze!“

„Herr!“ schrie die Frau, als sie Leo erblickte, „auf den Knieen wollt ich’s Euch danken, hättet Ihr den Menschen ertrinken lassen; es wäre das beste für ihn gewesen und – ich – ich hätte doch noch ein paar menschliche Jahre haben können auf dieser Welt. Lachen Sie nicht,“ fuhr die Frau auf, als Leo wieder kurz auflachte, „Sie alle, die hier stehen, wissen nicht, was es heißt, seit dem achtzehnten Jahre an einen Lüderjahn gekettet zu sein! Sie kennen den Kummer nicht, wenn man einen Menschen verkommen sieht in Laster und Schande, dem man gut ist; Sie wissen nicht, wie es thut, wenn man seine sauer erarbeiteten Groschen hergeben muß, damit sie in schlechter Gesellschaft vertrunken werden; wie es thut, wenn man gute Worte giebt und Schläge dafür kriegt, immer Schläge und Scheltreden, daß man der Fluch eines Menschen sein soll, dem man am liebsten die Hände unter die Füße gebreitet hätte! Sie wissen nicht, wie gräßlich es ist, wenn man einmal bessere Tage gesehen hat und dann tiefer und tiefer versinkt in Schmutz und Elend und seine Kinder nicht retten kann davor!“ Und sie ballte die Fäuste vor dem Gesicht.

„Und wozu,“ fragte Leos Stimme spöttisch, „spielen Sie uns hier diese Scene, Sie liebenswürdigste aller Gattinnen? Machen Sie, daß Sie hinaus kommen! – Ja so,“ unterbrach er sich, „ich vergaß –“

Die Frau schlug dumpfstöhnend das zerrissene Tuch vor ihr Gesicht.

„Ach Herr,“ schluchzte sie, „ich sollte wohl danken, daß Sie Ihr Leben gewagt haben um den elenden Menschen, und ich kann ’s doch nicht. Denken Sie nicht, daß ich ein schlechtes Weib bin; zu gut bin ich gewesen, zu lieb habe ich ihn gehabt. Es taugt nicht, wenn eine aus purer Liebe alles hingehen läßt, auch das, was sie für Unrecht erkennt. Hätte ich ihm von anfang an ins Gewissen geredet, hätte ich ihm gedroht, ich wollte fort von ihm, es stände besser um uns. Aber ich hab’ gemeint, es könnte ihn verdrießen und er sei der Herr, und da hab’ ich nur heimlich für mich geweint, und es wäre doch meine Pflicht gewesen, ihn auf die rechte Bahn zu leiten!“

Die Selbstanklage der armseligen Person klang so wahr, so erschütternd, daß keiner der Anwesenden Gewalt gegen sie gebrauchen mochte.

Maiberg beeilte sich, in die zitternde Hand des Weibes ein paar Geldstücke zu legen. „So, nun gehen Sie aber,“ sagte er, indem er sie der Thür zudrängte, „nachher komme ich und rede weiter mit Ihnen.“

„Gott vergelt’s! Gott vergelt’s!“ rief die Armselige, und an der Hausthür wandte sie sich noch einmal und nickte dankend mit dem wachsgelben kummervollen Antlitz dem jungen Arzte zu. Dann war sie mit Blitzesschnelle in die Nacht verschwunden, als fürchte sie, der Schatz werde ihr wieder abgenommen, verschwunden, um dem armseligen Kerl, den sie liebte, das ersehnte Labsal zu verschaffen.

Antje stand ungesehen von allen auf der Schwelle des kleinen Arbeitszimmers, dessen Eingang durch den Schatten der Treppe verdeckt wurde. Ihre Augen hingen an dem Mann, der sie in dieser Minute verlassen sollte auf immer. Sie hatte den Auftritt mit angehört und verstanden, daß Leo einen Menschen aus dem Wasser gerettet hatte; ihr Herz klopfte bei dem Gedanken, wie leicht er selbst hätte ertrinken können, und es war ihr, als lege sich die That des Mannes wie lindernd auf die Wunde, die er ihr geschlagen.

Er war weitergeschritten in dem Hausflur; die Herrschaften des Trauergeleites, die sich vom Abendessen erhoben hatten, als der Lärm begann, die Dienstmädchen, Hausknecht und Kutscher hatten sich wieder entfernt, nur Maiberg, Jussnitz und ein Herr aus dem Kontor sprachen noch miteinander. Antje sah, wie letzterer Leo einen Brief und eine Depesche überreichte, sie sah, wie er beides gezwungen nachlässig in der Tasche barg, und hörte, wie er sagte: „Meine Adresse werde ich Ihnen in einigen Tagen angeben.“

Nun schritt er neben Maiberg dem Ausgange zu.

Die junge Frau hielt sich an dem Pfosten der Thür, ihre Augen waren unheimlich groß und starr. Man nimmt nicht

[289]

Photographie von Franz Hanfstaengl A.-G. Kunstverlag in München.
Blumenorakel.
Nach dem Gemälde von Herm. Koch.

[290] Abschied voneinander, wenn man sich so trennt, es wäre ja auch nicht zu ertragen. Sie sah, wie sich die Thür aufthat, sie fühlte die kalte Regenluft, die bis zu ihr herüberdrang, sah die Pforte sich wieder schließen, und nun war er fort.

Ihre Füße wollten sie auf einmal nicht mehr tragen; sie taumelte zurück in das kleine Stübchen, und dicht hinter der mit letzter Kraftanstrengung geschlossenen Thür sank sie in die Kniee.

Nun war es vorüber – vorüber!

Sie fühlte nichts als einen dumpfen Schmerz in Brust und Kopf. Wie lange sie so dalag, sie wußte es nicht; sie raffte sich endlich auf und schleppte sich zu dem Schreibtisch hinüber und legte den Kopf auf die tuchbezogene Platte.

Sie dachte, dachte lauter wirres Zeug; daß sie das Weib beneidete, welches jetzt dem Manne ihres Herzens den Betäubungstrank reichen durfte, daß Leo hätte ertrinken können bei dem Rettungswerk und wie sie es hätte ertragen sollen, an seiner Leiche zu stehen, ohne ein versöhnendes Wort gesprochen zu haben. Und sie dachte, daß das arme Weib besser wäre als sie, hatte es doch ausgehalten in Noth und Elend neben dem Manne, dem es Treue gelobt!

Und dann fuhr sie empor. Nein! Und tausendmal nein! Sie konnte nicht anders, sie durfte ihn nicht halten, sie war ja eine Ketteseine Kette, und keine Minute würde ihr vergehen neben ihm, ohne daß sie es hätte fühlen müssen, wie er unglücklich war durch sie, gefesselt, zu Boden gedrückt! Nein, nein! Es war alles zu Ende, mußte zu Ende sein!

Draußen erklangen leise Schritte; vor Antjes Thür machten sie halt. „Frau Jussnitz!“ sagte eine klare Stimme.

Sie rührte sich nicht.

„Ein Wort nur, Frau Jussnitz; bitte! bitte!“

Antje hielt den Athem an und schaute finster nach der Thür. Leise bewegte sich die Klinke – umsonst, sie war verschlossen und zögernd entfernten sich die Schritte wieder.

Sie stützte wieder den müden Kopf in die Hand. Endlich raffte sie sich auf und klingelte dem Stubenmädchen. Dieses trat ein mit der Frage, ob Fräulein von Zweidorf vielleicht hier sei.

„Nein!“

„Lieber Gott, wir suchen sie im ganzen Hause und auf der ganzen Hütte wie eine Stecknadel. Und der Herr ist fort und der Herr Doktor dazu!“

Die junge Frau antwortete nicht. In völliger Ruhe befahl sie dem Mädchen, nach dem Kinde zu sehen, und schritt die Treppe hinunter. Im Hausflur trat ihr Maiberg entgegen.

„Wo kommen Sie her?“ fragte sie.

„Von dem unglücklich geretteten Schnapsbruder,“ erwiderte er mit einem Anflug von Galgenhumor. „Er ist soeben unter meinen Augen gestorben, der Wunsch der Frau also erfüllt. Uebrigens habe ich nie einen derartigen Schmerzensausbruch gesehen wie bei dem armen Geschöpf, als ich ihr sagte, es sei alles vorüber.“

Antje nickte eigenthümlich. „Und wo ist er?“ fragte sie endlich.

Maiberg seufzte.

„Leo wollte auf mich warten vor dem Hause, in welchem der Todte lag; als ich zurückkam, war er fort. Einer der Hüttenarbeiter hatte ihn auf der Chaussee gesehen. Ich will mir nun ein Pferd satteln lassen und ihm nachreiten; ich versprach es ihm.“

Sie sah ihn nicht an. „Und wo ist sie?“ fragte sie nun.

„Wer?“

„Hildegard. Wir suchen sie überall.“ Dann wandte sie sich um und reichte ihrem Vetter die Hand, der hinzugetreten war, um sich zu verabschieden.

„Cousine, wann Du willst, verfüge über mich!“ sagte er.

„Ich danke Dir! Fährst Du nach J. hinunter?“

„Nein, über Oberrode durch die Klippen.“

Sie nickte ihm müde zu. „Komm gut heim, Ferdinand!“

An ihr vorüber eilte Maiberg die Treppe empor, aber das Zimmer Hildegards war leer. – Und die Nacht draußen so finster und stürmisch, und sie so jung, so allein, so unbeschützt! Natürlich, sie war fort, tollköpfig wie immer. Wo wollte sie hin? – –

Er zündete eine Kerze an und suchte nach einem Zettelchen oder irgend etwas, das ihm hätte Aufklärung geben können. Umsonst! Er eilte hinüber in seine Stube; es war ein Eckzimmer. Der Frühjahrssturm klapperte an den Läden, und die Flammensäulen aus den Essen des Werkes leuchteten mit eigenthümlich rothem flackernden Licht herein. Mitten in dem Gemach blieb er stehen und horchte auf das Toben des Windes. Großer Gott, wo war das unbesonnene Kind in dieser unheimlichen Nacht? Er hob den Ueberzieher, den er schon halb von den Schultern gezogen hatte, mit einem einzigen Ruck wieder hinauf; das Pferd mußte bereits vorgeführt sein, auf der Chaussee konnte er sie möglicherweise einholen, sie und – ihn? In höchster Aufregung griff er zu seinem Hut – da regte es sich in dem Winkel am Fenster und eine schlanke Gestalt glitt zu ihm herüber.

„Hilde!“ schrie er auf. In dem zuckenden Flammenschein von draußen sah er das nämliche blasse verzweifelte Gesicht wie vorhin. „Mein Gott – Hilde! Welchen Mißdeutungen setzen Sie sich aus!“ schalt er, als sie schweigend den Kopf senkte.

„Ich fürchtete mich,“ fagte sie leise, „wo sollte ich hin?“

„Und da kommen Sie zu mir?“ – Er hatte den Ueberzieher nun doch abgeworfen und den Hut auf den Tisch geschleudert.

„Zu wem denn sonst?“ fragte sie, als sei es selbstverständlich, daß sie zu ihm flüchte. „Als ich bei Frau Antje pochte, hat sie mir nicht aufgethan.“

Er hatte ihre zitternden Hände gefaßt; eiskalt lagen sie in den seinen. „Zu wem denn sonst?“ wiederholte er leise. Aber als jetzt Schritte auf dem Gange draußen erklangen, zuckte er zusammen und blickte nach der Thür. „Gehen Sie nachher gleich in Ihr Zimmer,“ sagte er flüsternd und ließ sie los.

Sie trat von ihm weg, und ihm den Rücken kehrend, schlug sie die Hände vor das erglühende Gesicht.

„Hilde,“ sprach er mit gedämpfter Stimme weiter, „so vernünftig wird Ihr Tollkopf doch sein, daß Sie sich sagen müssen, man darf Sie hier nicht finden. Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie rasch, jeden Augenblick kann jemand von den Dienstleuten kommen.“

„Mein Gott, was habe ich wieder gethan?“ rief sie, „ach, und wenn Sie alles wüßten! Habe ich denn gar keine Zuflucht mehr? Nichts weiter will ich als fort, nur fort von hier!“

„Ja doch, Sie sollen fort! Nur heute abend geht es nicht mehr, Sie Unverstand!“

„Aber morgen – morgen! Bitte, bitte!“

„Morgen oder übermorgen – jetzt muß ich Jussnitz suchen, kehre jedenfalls noch einmal zurück, und dann – wollen Sie vernünftig sein?“

Sie nickte; sie stand wieder vor ihm, leise weinend.

„Was soll aus Ihnen werden, Hilde, ohne eine treue feste Hand?“ sagte er weich.

„Wenn ich nur anders sein könnte!“ schluchzte sie. Und zum besten Beweis, daß dieses „Anderswerden“ wohl nicht so rasch zu hoffen sei, stürmte sie unbesonnen aus dem Zimmer. Draußen sah sie sich erschreckt nach allen Seiten um wie ein geängstigtes Reh. Gott sei Dank, der Gang war leer! Sie huschte nach ihrer Stube hinüber, schloß geräuschlos die Thür hinter sich und stand hochathmend still. Dann tastete sie sich nach dem Sofa, kauerte sich in eine Ecke und wollte vor Thränen vergehen; aber sie fürchtete sich nicht mehr.

Als sie nach einigen Minuten den Hufschlag eines gäloppirenden Pferdes zwischen dem Tosen des Windes und dem Pochen der Hämmer vernahm, hob sie den Kopf und faltete die Hände.

Gegen Morgen kam Maiberg zurück; er hatte Leo nicht getroffen, weder auf der Bahnstation, noch in den Gasthöfen des benachbarten kleinen Badeortes. Er mußte durch den Wald gegangen sein nach einer andern Bahnstation auf der Südseite des Gebirges.

Todmüde suchte Maiberg sein Lager auf. „Armer thörichter Kerl!“ murmelte er. „Wie kann man so gewaltsam sein Glück verkennen!“

(Fortsetzung folgt.)




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Ein moderner Feuerreiter.

Jahrzehnte sind bereits vergangen, seit ich zum ersten Male mit der Sitte oder dem Aberglauben des Feuerumreitens bekannt wurde. Es geschah nicht am Büchertisch, sondern in einer ernsten Stunde im Angesicht eines in Flammen aufgehenden Bauerngehöftes. Wir jungen Bursche arbeiteten an der Spritze; denn von einer Berufsfeuerwehr war damals auf dem Lande noch keine Rede und auch die freiwillige lag noch sehr im Argen. Ein naher Teich lieferte uns genug Wasser, aber je mehr wir davon ins Feuer sprinten , desto höher schlugen die Flammen aus dem Wohnhause empor, das wir durchaus retten wollten. Da kam aus weiterer Nachbarschaft Herr v. S., ein alter Rittmeister a. D., auf seinem prachtvollen Schimmel herangesprengt und übernahm das Kommando. Er befahl uns, das Spritzen auf das brennende Wohnhaus einzustellen und es aus einen bedrohten Stall zu richten, dessen Dach wir naß halten sollten. Wir waren im stillen mit diesem Kommando nicht einverstanden, aber wir mußten gehorchen.

Da geschah ein Wunder. Der alte Rittmeister ritt um die Brandstätte - viele Bauern versicherten hoch und theuer, er habe es dreimal gethan - und siehe da, wir bemerkten, daß die Flammen in sich zusammensanken und daß durch die Verminderung der Gluth auch die Nachbargebäude weniger bedroht wurden. Denn erst stellte sich der Rittmeister neben dem Schlauchführer auf und ließ bald hier, bald dort in den Feuerherd Wasser geben, worauf er bald des Brandes Herr wurde.

Das Landvolk meiner Heimath hängt noch etwas am Aberglaube, damals war es noch abergläubischer als jetzt; die allen Leute meinten, vieles zu wissen , was man in der Schule nicht lernt. Es dauerte auch nicht lange und der Rittmeister stand im Rufe des „Feuerreiters“ und behielt ihn, obwohl der Pfarrer gegen diesen Unfug eiferte.

Jahre vergingen; der graue Rittmeister wurde zur großen Armee abberufen, aber der Teufel hat ihn gewiß nicht geholt, er ruht still in geweihter Erde. Ich ging in die weite Welt hinaus und lernte jetzt wieder den Feuerreiter kennen - diesmal aus Büchern. Zunächst erinnerte mich an das Ereigniß in den Jugendjahren das schöne Gedicht van Mörike (vergl. „Gartenlaube“ 1888, S. 89), dann habe ich eine Reihe grundgelehrter Abhandlungen über alle möglichen Arten des Feuerbeschwörens und auch über die des Feuerumreitens gelesen. Es waren da alle möglichen natürlichen Erklärungen gegeben, aber auf meinen leibhaftigen Feuerreiter paßten sie alle nicht, so daß ich mich schließlich zu der Annahme gezwungen sah , es werde wohl ein Zufall gewesen, sein, daß die Flammen gerade in jenem Augenblick zusammensanken, als, der alte Rittmeister um das Haus ritt.

Und wieder vergingen Jahre, da brachte mich der Zufall in eine nähere, wenn auch oberflächliche Berührung mit dem Lösch- und Rettungswesen, er spielte mir ein paar Werke darüber in die Hand, er führte mich mit ein paar Fachmännern zusammen, und so kam es, daß ich endlich meinen räthselhaften Feuerretter in einer ganz natürlichen Weise zu erklären vermochte.

Ich war wie viele, wie unzählige andere der festen Meinung gewesen, daß Feuer und Wasser zwei feindliche Elemente seien, zwei geschworene Feinde, die sich stets und unter allen Umständen bekämpfen. Das Wasser erschien mir als das ausgezeichnetste Löschmittel, das niemals schaden könne und das Feuer stets dämpfen müsse. Es war dies ein Irrthum, den ich leicht selbst hätte berichtigen können; denn ich kannte doch eine Reihe von Thatsachen, die mich eines anderen hätten belehren sollen. Ich hatte ja oft in der Dorfschmiede gesehen, daß die Kohlengluth, wenn der Schmied sie mäßig mit Wasser besprengte, um so besser brannte, und ich konnte mir auch den Vorgang erklären. Durch die Kohlengluth wurde das Wasser in seine beiden Bestandteile, Sauerstoff und Wasserstoff, zersetzt, und ich wußte, daß der Sauerstost die eigentliche "Feuerluft" ist, ohne die kein Verbrennen möglich ist, und daß der Wasserstoff ein brennbares Gas ist, welches die stärkste Gluth zu erzeugen vermag. Der Schmied konnte aber das Feuer auslöschen, wenn er soviel Wasser darauf, goß, daß die vorhandene Gluth im Verhältnis nicht mehr stark genug war, jenen Zersetzungsprozeß im Wasser hervorzurufen.

Dieser Vorgang, der sich in der Dorfschmiede im kleinen abspielt, kann bei Feuersbrünsten im großen beobachtet werden. Sind die Flammen besonders mächtig geworden, so genügen oft die verfügbaren Wassermengen nicht, um den Brand zu löschen; im Gegentheil, das Wasser wird zum Theil, indem es mit glühenden Kohlenbecken in Berührung kommt, in seine Bestandtheile zersetzt und erhöht die Gluth.

Schon vor längerer Zeit schrieb ein Mann , der sich viel mit dem Löschwesen beschäftigte: „Hat eine Feuersbrunst schon einen so großen Umfang erreicht, daß es nicht möglich ist, dieselbe mit reichlichem Wasser zu versorgen, so bleibe man mit dem Spritzenwasser aus dem Feuer, sonst wird es zur furchtbaren Amme, die ihren Zögling mit Riesenkräften ausstattet, woran alle physischen Anstrengungen, die Gewalt zu besiegen, fruchtlos scheitern. Hierin liegt der alleinige Grund, daß alljährlich so viele kleine Städte von 300 bis 500 Häusern in Asche verwandelt werben, wenn unter obwaltenden Umständen, die das Feuer begünstigen, dasselbe sich plötzlich mehrt und die geringe Zahl der Wasserspritzen am Orte sodann ganz außer dem Verhältnisse zu der Größe des Feuers steht, um es hinreichend mit Wasser versorgen zu können. Da nun auch noch die Leute, die beim Löschen wirken, von der zwar unrichtigen, aber nichts destoweniger festen Ansicht ausgehen, daß das Wasser in jeder Beziehung und auf jede Weise zum Feuer verwendet, ein Feind desselben sei, der es zerstören und vernichten könne, so spritzen sie fortwährend in die Gluth hinein, bis endlich die letzten Häuser des Ortes flammend zusammen. stürzen und ihrer ebenso angst- als mühevollen Unwissenheit dadurch eine Grenze gesetzt wird. Das ist der Hauptgrund, daß dergleichen keine Städte oft in wenigen Stunden ein Raub der Flammen werden; weil das Feuer durch das unzeitige Wassergeben in eine unbegrenzte Wirkung übergeht, wie dies sonnenklar vor uns liegt.“

Die Vervollkommnung der Löschgeräthe, die militärische Organisation und bessere Ausbildung der Feuerwehren haben heute viele von diesen Uebelständen beseitigt. Die Löschtaktik ist eine andere geworden, und während man früher nur die Nachbarschaft zu retten vermochte, gilt es jetzt, das brennende Gebäude selbst so viel als möglich zu erhalten.

Doch der Zweck dieser Zeilen ist nur der, zu erklären, wie ein Aberglaube in sonderbaren Ereignissen seine Nahrung finden kann. Versetzen wir uns in längst vergangene Jahrhunderte, in die Kindheit des Löschwesens!

Wie oft mußte man damals, wenn der Holzbau in Brand stand und die Retter, mit aller Aufopferung der Hitze Trotz bietend, mit unzulänglichen Mitteln geringfügige Wassermengen in das Flammenmeer schleuderten, die trübe Erfahrung machen, daß die Flammen nicht gelöscht wurden, sondern aus dem feindlichen Elemente selbst neue Nahrung sogen! Die Unzulänglichkeit der Wasserzufuhr hat ja in jenen Zeiten eine besondere Löschtaktik ausgebildet, die darin bestand, daß man der Verbreitung des Feuers durch Zerstörung der Nachbarschaft und Schaffung eines freien Platzes um die Brandstelle Einhalt zu gebieten suchte. Darum bestand auch damals für alle Zimmerleute, Holzhauer etc. die Verpflichtung, mit ihren Aexten zum Feuer zu eilen.

Da man aber dem zu hoher Kraft entfachten Brande waffenlos gegenüber stand, indem Wasser, mit welchem man sonst kleinere Feuer auslöschen konnte, nicht half, so wurden die Geister, die den Grund dieser Erscheinung nicht kannten, verwirrt: man gerieth auf den Wahn, daß in diesem Feuer übernatürliche Kräfte walten , zu deren Beschwörung es abermals übernatürlicher Kräfte, der Zaubermittel bedürfe.

Das Wasser wurde erst dann zum wirklichen Feinde des Feuers bei großen Bränden, als die Feuerspritze mit dem Windkessel und dem Schlauch versorgt und eine bessere Löschtaktik eingeführt wurde, und so schwand der Aberglaube nicht allein unter dem Einfluß der Aufklärung, sondern auch im Angesicht der Riesenfortschritte der Technik, welche die menschliche Hand mit neuen Waffen ausstattete.

Wenn ich aber zu meinem modernen Feuerreiter zurückkehre, so weiß ich jetzt, daß er in der That den Flammen Einhalt gethan hat, indem er uns davon abhielt, sie anzufachen. Wo aber das Wissen fehlt, um einen Vorgang aufzuklären, da stellt sich leicht der Aberglaube ein, und so lebte auch damals in meiner Heimath noch einmal die Sage vom Feuerreiter auf, als der alte Rittmeister auf seinem Schimmel um das Feuer geritten war.

*




Blätter und Blüthen.

Italienisches Volkstheater. (Zu dem Bilde S. 285.) Pulcinella rückt vor mit weitausgespreizten Beinen, lehnt, in der Haltung eines Imperators, den Kopf zurück, weist mit durchbohrendem Zeigefinger auf den Endpunkt seiner schwarzen, krummen Adlernase und spricht, der Pyramiden seines großen Vorbildes gedenkend, mit napoleonischem Pathos: „Drei Jahrtausende schauen von der Spitze dieser meiner Nase auf Euch nieder!“ Bei Pulcinella kommt es durchaus nicht darauf an, was er sagt, sondern wie er's sagt; gelacht wird, auch wenn er gar nichts sagt, und so folgt ein schallendes Gelächter dem „großen historischen Witz“, den vielleicht kein Dutzend der Zuhörer verstanden hat.

Der Witz aber ist eine Wahrheit: diese Nase und der sie auf seiner schwarzen Halbmaske mit Würde trägt, sind beide tatsächlich drei Jahrtausende alt. Schon bei den „alten“ Oskern in Unteritalien stand sie und der durch sie ausgezeichnete dummköpfige, gefräßig lüsterne, grotesk-komische Maccus derblustigen Atellanischen Posse in hohen Ehren; noch die vornehmen römischen Kaiser haben als Kinder an den drolliggroben Späßen des Maccus und Pappus und Bucco ihre helle Freude gehabt. Später freilich hatten die Reuter mit dem vielen Blute sich den Magen verdorben. sie hörten mit einem Male aus zu lachen. Lange dauerte es, ehe der italienischen Welt die Freude an der Schönheit und die Lust und die Erlaubniß zum Lachen wiederkehrte. Lorenzo de' Medici fing an, unter ihm kamen sie wieder aus ihren Löchern hervor, verstaubt anfangs und schüchtern, jene altatellanischen Figuren. Ihre Namen änderten sie und modernisirten den Schnitt ihrer Gewänder, aber das alte „böse Maul“ , die dialektgewandte Zunge war ihnen geblieben und sie blieben nun auch und wurden in den späteren trüben Zeiten der Gedankenunterdrückung die Träger der Gedanken des Landes und des Volkes, das durch sie sprach, in ihnen sich selbst verspottete und verhöhnte und sich selbst beglückwünschte und auspfiff oder, harmloser, über sich selbst lachte.

Als sie alle noch beisammen waren, da war es eine stattliche Schar, welche die Halbinsel durchzog: lustig klingen ihre meist verschollenen Namen an unser Ohr. Pantaleone, Arlechino, Coviello, Doctor Graziano, Scaramuccio, Tartaglia, Ardighiello, Sandrone, Beltrame, Brighella, Trufaldino u. a. m. Nur vier, die letzten vier von dem lustigen Regiment, [292] sind übrig geblieben: der mailändische Meneghin, der turinesische Gianduja, der florentinische Stentorello und der neapolitanische Pulcinella. –

Fünf Soldi! Eine halbe Lira! Dafür zwei Stunden lang lachen, und dann in lustiger Gesellschaft in dieser oder jener Taberna, Trattoria, Cantina oder Osteria mit einem strohumflochtenen Fiaschetto kosen zu können, das ist wohlfeil genug. Das Haus – wir sind in Florenz, auf der Via de’ Cecchi, im Teatro Nazionale, das auf der klassischen Stätte des Theaterchens der „Quarconia“ in den vierziger Jahren errichtet ward – das Haus ist gefüllt, daß kein Apfel zur Erde kann, meist von Leuten aus dem Arbeiterstand; sie lachen aus schwarzen Augen und lachen italienisch und bezeigen lebhafter ihren Beifall als das Publikum jenseits der Alpen. „Eingekeilt“ sitzen sie, wie man auf den schrecklichen Bildern an manchem Dorfeingange in Italien die armen Seelen im Fegefeuer sitzen sieht, und dort wie hier fehlt es an dem tröstlichen Pfäfflein nicht, das die Leiden seiner Schäfchen ebenso freimüthig theilt wie die Freuden derselben und, wenn die Späße da unten gar zu weltlich werden, immer die Ausflucht einer kräftigen Prise bereit hat. W. K. 

„Thiere der Heimath“ von Adolf und Karl Müller. Die Brüder Müller haben sich durch ihre zuverlässigen, naturwahren Schilderungen unserer Thierwelt unter den Lesern der „Gartenlaube“ längst schon eine eigene Gemeinde herangebildet, die mit wahrer Freude sich der Führung dieser tüchtigen Zoologen überläßt, um mehr und mehr in die Kenntniß des Thierlebens einzudringen. Das von ihnen herausgegebene Werk „Thiere der Heimath“ erscheint nun in zweiter Auflage in zwei großen Quartbänden (Kassel, Theodor Fischer), deren erster vollendet vorliegt und wohl geeignet erscheint, die volle Theilnahme aller Kreise zu erwecken. Der Inhalt des ersten Bandes zerfällt in einen „allgemeinen Theil“, in welchem das Ehe- und Familienleben der Vögel nebst ihrem Gesange, ihre Nestbaukunst, der Zug der europäischen Vögel, das Seelenleben der Säugethiere und Vögel und der Winterschlaf der höheren Thierwelt auf Grund des genauesten, ernstlichsten Studiums und mit der sichersten Beherrschung des Stoffes dargestellt wird. Die Sprache ist gemeinverständlich, die Textabbildungen und Chromolithographien nach Originalen von C. F. Deiker, Adolf Müller und G. Mützel thun das Ihrige, eine vollkommen klare und lebendige Anschauung zu erzielen.

Der Jäger wie der Forscher, der Lehrer wie der Naturfreund werden aber mit noch gesteigertem Interesse bei dem folgenden „besonderen Theile“, „Wesen und Wandel der Säugethiere“, verweilen, dessen Abbildungen die Thiere in lebensvoller Stellung und mit scharfer Ausprägung ihrer charakteristischen Eigenthümlichkeiten dem Auge vorführen. Raubthiere, Hufthiere, Insektenfresser, Nager und Handflatterer sind in fesselnden Einzelbildern behandelt, und namentlich die Artikel über die Familie der Hunde, mit eingehender Schilderung der Rassen der hohen Jagd und der Hunde für die Niederjagd, werden auch dem erfahrensten Weidmanne neue Gesichtspunkte eröffnen.

Möge nun der II. Band dieses „Prachtwerkes“ bald folgen und das Ganze bei dem deutschen Volke die allgemeine Beachtung finden, welche es verdient! A. 

Wolfsjagd in Bessarabien. (Zu dem Bilde S. 281.) Fast die Hälfte der südrussischen Provinz Bessarabien ist Weideland, und ein im Verhältniß zu der Bevölkerungszahl nicht unbedeutender Bestand an Vieh, insbesondere an Schafen, macht den Hauptreichthum der Bewohner aus. Aber ein mörderischer Feind bedroht die Herden, der Wolf; in großer Zahl haust dieses Raubthier im Lande und trotz der Erbitterung, mit welcher die tatarischen Hirten ihren Erbfeind verfolgen, richtet er dennoch jahraus jahrein großen Schaden an.

Unser Bild schildert uns eine Wolfsjagd in Bessarabien. Von Zeit zu Zeit thun sich zwanzig und mehr von den verwitterten Söhnen der Steppe zusammen, um eine Razzia zu halten. Sie locken die Wölfe erst durch ausgelegte Köder in größerer Zahl zusammen und treiben sie dann in die das Land meilenweit bedeckenden Rohrdickichte. Hier ist der Reiter auf seinem zähen ausdauernden Steppenroß gegenüber dem Wolfe stark im Vortheil. Was hilft es dem Räuber, daß er Haken schlägt oder durch allerlei andere Listen dem Verfolger zu entrinnen sucht! Der bleibt ihm dicht auf den Fersen, bis er den passenden Augenblick erspäht. Nun holt er aus – und mit unfehlbarer Sicherheit saust dem Wolfe der Lasso über den Schädel, die Schlinge zieht sich um den Hals zusammen, in rasendem Galopp stürmt der Reiter weiter, sein Opfer hinter sich herschleifend, bis der letzte Lebensfunke aus ihm entwichen ist.

Dann packt der glückliche Jäger seine Beute auf das schäumende und selbst vor dem todten Gegner noch sich ängstigende Roß, und weiter geht die wilde Hetzjagd. Am Abend aber, wenn die beutebeladene Schar zurückkehrt in das heimische Dorf, da empfängt sie lauter Jubel. Ein Fest wird gefeiert, ein Siegesfest über den Erbfeind, und bis in die Nacht hinein tönt die Geige des Zigeuners über die weite Heide.

Das erste Frachtstück. Die Lokomotiveisenbahn von Nürnberg nach Fürth, welche, als die erste in Deutschland, am 7. Dezember 1835 eröffnet wurde, diente zunächst nur dem Personenverkehr. Erst später machte man auch einen Versuch mit der Güterbeförderung, und die erste Sendung waren – bezeichnend genug für das Bayerland – ein paar wohlgefüllte Fäßlein Bier. Am 11. Juli 1836 nämlich wurde dem Bierbrauer Lederer gestattet, mit dem ersten nach Fürth gehenden Wagen besagte zwei Fäßchen an den Wirth zur Eisenbahn gegen eine Vergütung von je 6 Kreuzer unter der Bedingung zu senden, daß die Fäßchen von dem Wirth bei Ankunft des Wagens sogleich abgeholt würden. Der Direktorialkommissar Dr. Löhner sollte dafür Sorge tragen, „daß dieser kleine Anfang der Güterbeförderung in gehöriger Ordnung vor sich gehe, um solchen vielleicht späterhin ins Große ausdehnen zu können“.

Wir alle wissen, in welch ungeahnter Weise sich mit dem immermehr zunehmenden Durst nach fremdem „Stoff“ der Bierversand aus diesem kleinen Anfang heraus seitdem erweitert hat; die uns überall begegnenden weißgrauen Wagen mit den bekannten Firmen der Großbrauer und Aktienbrauereien geben Zeugniß davon. Der Gesammtbierversand deutscher Bahnen, der bayerischen voran, betrug im Jahre 1887 nicht weniger als 816 558 Tonnen, d. h. etwa 1360 vollbelastete Eisenbahnzüge. Der Löwenantheil kommt hiervon auf den inneren deutschen Verkehr: 744 455 Tonnen blieben „unter uns“; der Rest entfällt auf den Auslandsverkehr.




Kleiner Briefkasten.

J. g. F. ……, Wien I, Schottengasse. Leider können wir die Unterschrift Ihres Briefes nicht deutlich genug lesen, um Ihnen brieflich zu antworten. So müssen wir Ihnen auf diesem Wege mittheilen, daß Sie uns zu großem Danke verpflichten werden, wenn Sie Ihre Anklagen mit bestimmten unzweifelhaften Beweisen belegen. So lange Sie das aber nicht thun, Ihre Beschuldigungen gegen andere vielmehr in so allgemeinen Formen halten, wie dies in Ihrem Briefe geschieht, so lange setzen Sie nur sich selbst dem Verdachte aus, ungerechtfertigte Denunziationen auszusprechen, für welche wir kein Ohr haben.

P. Sch. Portage, Wisc. Besten Dank für Ihre freundliche Sendung, die wir aber für die „Gartenlaube“ nicht verwenden können.



Inhalt: [Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht dargestellt.]



Im Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig beginnt soeben ein hervorragendes neues Hausbuch zu erscheinen, nämlich:
Das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung.
Von C. Falkenhorst.
Vollständig in 10 Heften à 50 Pfennig. Alle 14 Tage ein Heft im Umfang von 3–4 Bogen gr. 8°.


Die Frauen für die Gesundheitspflege innerhalb des Hauses zu gewinnen, ist die Aufgabe, welche das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung in erster Linie erfüllen soll. Was die Hausfrau als Vorsteherin der Küche, was sie als Mutter und Erzieherin, was sie als Krankenpflegerin und Stütze bejahrter Lieben in gesundheitlicher Beziehung innerhalb des Hauses zu thun hat, das wird in dem Buche genau angegeben.

Der Verfasser ist bestrebt, seine Rathschläge möglichst praktisch zu gestalten und sucht zu zeigen, wie man mit den geringsten Mitteln doch den Anforderungen einer gesundheitsmäßigen Lebensweise im Hause genügen kann.

Das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung umfaßt 10 Hefte mit folgendem Inhalt:

1. Unsere unsichtbaren Feinde. – 2. Luft und Licht in der Wohnung. – 3. Küche und Gesundheit. – 4. Die Kinderstube. – 5. Das Bad im Hause. – 6. Das Bett und das Schlafzimmer. – 7. Die Heizung. – 8. Die Wohnung als Erholungsstätte. – 9. Die Hausapotheke. – 10. Das Krankenzimmer.

Durch die Erscheinungsweise in 10 Heften zum Preise von nur 50 Pfennig, von denen alle 14 Tage ein Heft ausgegeben wird, ist auch der Hausfrau mit nur bescheidenem Wirthschaftsgeld Gelegenheit geboten, sich auf bequeme und billige Weise in den Besitz des nützlichen und werthvollen Werkes zu setzen.

Die meisten Buchhandlungen nehmen Bestellungen auf das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung entgegen und senden auf Verlangen das erste Heft zur Ansicht. Zur Subskription ladet ein:

Die Verlagsbuchhandlung Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.




Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.