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Die Gartenlaube (1891)/Heft 21

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[341]

Nr. 21.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Lea und Rahel.
Roman von Ida Boy-Ed.
(4. Fortsetzung.)


5.

Lüdinghausen war sehr oft, aber immer nur in Gesellschaft bei Römpkers gewesen. Er kannte die landläufige Weisheit sehr wohl, daß man eine Familie in einem Tag zwanglosen Zusammenlebens besser kennenlernt als in hundert Gesellschaften. Eine Frau im Ballkostüm stellt sich dem Auge anders dar als eine Frau im Hauskleid. Er war gekommen, um Lea und die Familie Römpker im Hauskleid zu sehen.

Herr von Römpker war nicht daheim, er war davongeritten, auf seine Felder oder zu Raimar oder zu einem andern Gutsnachbar – niemand wußte, wohin. Aber Ludwig, der den Gast in ein Fremdenzimmer führte, damit er sich vom Wegesstaube befreie, Ludwig meinte, zu Tisch würde der Herr gewiß zurückkommen. Wenn der Herr nicht zum Speisen heimzukehren gedenke, pflege er es zu sagen. Der Herr Landrath möge sich nachher nur gefälligst in das Wohnzimmer begeben, woselbst die gnädige Frau sich aufhalte.

Die Aussicht, mit Frau von Römpker lange im ungestörten Gegenüber sitzen zu sollen, war nicht sehr verlockend, denn bisher war es Lüdinghausen nie gelungen, in ein Gespräch mit ihr zu kommen. Indessen beeilte er sich doch, um sie nicht warten zu lassen.

Er fand im Wohnzimmer, an dem Tischchen in der Fensternische, Frau von Römpker und Fräulein Malchen.

„Mein lieber Herr Landrath, ich bin unaussprechlich unglücklich, daß mein Mann nicht daheim ist,“ sagte die erstere


Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Elfenbesuch bei den Zwergen.
Nach einer Zeichnung von Karl Gehrts.

[342] kläglich. „Nun müssen Sie mit uns vorlieb nehmen. Ach, und wie wird Römpker ärgerlich sein!“

„Ja, Alide sagte noch eben: es ist doch zu schade, daß Römpker aus ist,“ fügte Fräulein Malchen hinzu.

Beide Damen hatten sich erhoben und umstanden ihn. Es fehlte nur noch, daß sie die Hände rangen.

Fräulein Malchen trug an ihrem magern, vorgebeugten Körper ihr bekanntes schwarzes Seidenkleid und in ihren knochigen Händen ihr Strickzeug. Frau von Römpker sah auch gerade so aus wie immer, dasselbe Spitzenhäubchen, dasselbe dunkelfarbige Seidenkleid.

Lüdinghausen bat, sich zu den Damen setzen zu dürfen. Beide fingen gleich ihre Handarbeiten wieder an, aber das befriedigende Gespräch über alle Leiden und Sorgen dieses Lebens konnten sie nicht wohl fortsetzen. Beide dachten angestrengt nach, welches Thema wohl geeignet wäre, um den Herrn Landrath zu unterhalten, der ihnen, besonders Fräulein Malchen, einen unbegrenzten Respekt einflößte. Aber es fiel ihnen nichts ein.

„Die Damen sind Jugendfreundinnen?“ fragte Lüdinghausen endlich.

Sie sahen sich glücklich an.

„Ja,“ antwortete Frau von Römpker, „wir sind zusammen aufgewachsen, und es war ein so lieber Zufall, daß Malchens Bruder gleich nach meiner Heirath hierher versetzt wurde. So brauchten wir uns nicht zu trennen.“

„Alide sagte noch vorhin, was für ein Glück es gewesen sei, daß wir uns nie zu trennen brauchten,“ bemerkte Fräulein Malchen.

Nun riefen sie sich gegenseitig ihre Jngendgeschichte wach. Diese war offenbar so einförmig wie die Stimmen, mit welchen sie vorgetragen wurde.

Draußen brütete Mittagsschwüle und an der Fensterscheibe surrte ein großer, blauer Brummer auf und ab.

Lüdinghausen war kein nervöser Mensch, aber er fing an, unter einer Ungeduld zu leiden, die er bisher nicht an sich gekannt hatte.

Wo doch nur Lea blieb? Oder wenn wenigstens Rahel gekommen wäre! Und diese „wenigstens“ kam denn auch.

Schnell und frisch trat sie herein – ein vollkommener Gegensatz zur Schwüle draußen und zur Trägheit hier innen. Sie hatte ein dunkles Perkalkleid an mit einem Ledergürtel. Man konnte sich unmöglich einfacher kleiden. An ihrem Arm trug sie ein Körbchen. Ueber ihr Gesicht flog helle Röthe und mit einem freudigen Lächeln streckte sie Lüdinghausen die Hand hin.

„Ich habe eben erst erfahren, daß Sie hier sind, und komme, nach Ihrem Wohlergehen zu schauen,“ sagte sie vergnügt. „Daß Sie verschmachtet sein müssen, nehme ich ohne weiteres an, und hier ist Ludwig mit allerlei kühlen Sachen.“

Wie auf das Stichwort erschien Ludwig zwischen den Thürvorhängen mit einem Brett voll Flaschen und Gläser. Eine thauig beschlagene kalte Flasche Rheinwein ist auch für einen wenig materiellen Menschen ein guter Anblick nach einem Ritt durch Sonnenschein und Staub. Lüdinghauseu empfand plötzlich brennenden Durst und dankte Rahel erfreut.

„O, daß ich nicht daran dachte – wie unverzeihlich von mir! Nein, wie das auch passieren konnte!“ klagte Frau von Römpker.

„Und vorhin sagte Alide noch: wir wollen doch gleich dafür sorgen, daß der Herr Landrath etwas Kühles bekommt,“ bemerkte Fräulein Malchen.

Rahel lächelte in sonniger Schelmerei: Fräulein Malchen hob immer hervor, was ihre Alide alles gesagt und gewollt hatte, das kannte man schon. Sie bediente schnell und geräuschlos den Gast.

„Mama,“ begann sie dann, „Löhnert ist wieder da.“

„Aber Kind, wie kannst Du eine solche Geschichte in Gegenwart des Herrn Landrath … Ich begreife nicht! Verzeihen Sie tausendmal, Herr Landrath,“ bat Frau von Römpker. Fräulein Malchen sah ihre Freundin nur an, um durch einen Blick anzudeuten, daß auch sie mißbillige.

„Eine Geschichte, die keinen Aufschub leidet. Sie werden gewiß begreifen und verzeihen, Herr Landrath, daß wir trotz Ihrer Gegenwart die Geschäfte des Tages verhandeln, besonders, da es sich um das Wohl und Wehe einer ganzen Familie handelt,“ sagte Rahel. Und ehe er noch eine Silbe der Höflichkeit antworten konnte, sprach sie weiter, so gleichsam über ihn hin, als sei es nebensächlich, was er sagen würde.

„Meine Meinung ist es, daß wir dem Löhnert keinen Pfennig mehr geben.“

„Aber mein Kind, wie grausam Du bist! Du hast kein Mitgefühl für die Leiden Deiner Nächsten. Wenn Lea das hörte, Lea, die jedesmal ihre ganze Börse leert, wenn man kommt und ihr klagt! Ich bitte Dich, wir können die Löhnerts doch nicht umkommen lassen. Man wird sagen, wir seien hart. Und das erzeugt Feindschaft in diesen schrecklichen Zeiten. Löhnert ist so wie so ein rabiater Mensch. Er kann unser Schloß anzünden, uns nachstellen. O Gott!“

„Alide bemerkte gerade noch vorhin, daß man bei diesen Zeitläuften doppelt gütig sein müsse,“ sagte Fräulein Malchen.

Lüdinghausen sah auf Rahels Gesicht einen harten Zug. War es Ungeduld oder Spott? Es war ein Ausdruck, vor welchem er beinahe erschrak.

„Mir scheint, wir haben für diese Löhnerts soviel gethan, daß wir sie durch dies ‚Thun‘ ins Verderben trieben. Wir haben die Wohlthaten so um sie gehäuft, daß sie darin erstickten und verlernten, sich selbst zu rühren. Wir haben mit ihnen gewissermaßen den Sport des Gutthuns betrieben,“ erwiderte Rahel.

Lüdinghausen fühlte deutlich, daß dieses „wir“ eigentlich „Ihr“ heißen sollte. Er war hoch erstaunt und keineswegs angenehm davon berührt, die „unbedeutende Rahel“ in diesem Ton reden zu hören. Ihr Gebahren erschien ihm als das rechthaberische Auftreten eines Mädchens, welches noch kein Urtheil hat und sich in Dinge mischt, über die mitzusprechen es nicht befugt ist.

„Ist es unbescheiden, daß der Zeuge nach dem Thatbestand fragt?“ sagte er.

„Sie werden ihn schlimm genug finden. Dieser Löhnert war viele Jahre Knecht bei uns, seine Frau Großmagd. Zehn Jahre hatten die Menschen uns treu und bescheiden gedient. Daß wir sie bei ihrer Heirath gut ausstatteten, war selbstverständlich. Daß ihnen eine Käthnerstelle mit sechzig Morgen Land dazu gekauft wurde, war fast zu viel, aber es hätte noch hingehen mögen, wenn diese Großmuth den Leuten nicht zu Kopf gestiegen wäre. Sie glaubten, daß ihre Verdienste um uns doch wohl sehr große gewesen sein müßten. Sie überhoben sich Gleichgestellten gegenüber durch herrisches Gebahren und wirthschafteten, als seien sie reiche Leute mit unerschöpflichen Geldquellen. Dabei fuhren wir fort, ihnen jede Bitte zu gewähren, ihnen aus jeder Verlegenheit zu helfen. Es kamen Kinder, wir standen Gevatter und sorgten für alles. Längst schien ihnen ein Recht der Forderung, was unsererseits nur Güte der Gewährung war. Endlich fing der Mann an, zu trinken und die Frau zu mißhandeln. Ihre Einsicht erwachte nun, doch zu spät. Der Konkurs stand vor der Thür. Wir wollten ein Gewese nicht so untergehen sehen, das wir gegründet. Wir halfen. Es ging von neuem der böse Tanz los. Wir halfen noch einmal. Und nun ist Löhnert zum dritten Mal da und fordert Geld. Zweihundert Thaler. Dabei riecht er nach Schnaps.“

Rahel hatte das alles mit ihrer klaren Stimme und ihrem festen Vortrag gesprochen, wie man von einer Sache spricht, über welche es keine verschiedene Meinung mehr geben kann. Die Mutter begleitete ihre Rede gelegentlich mit zustimmendem Kopfnicken und sagte jetzt weinerlich: „Aber wir können die Leute doch nicht bankerott werden lassen. Ich traute mich aus Angst vor Löhnert dann nicht mehr in den Park.“

„Was dachten Sie denn zu thun?“ fragte Lüdinghausen, der schnell von seiner Meinung zurückkam, daß Rahel kein Urtheil habe. „Sie wird von ihrer bedeutenden Schwester manches gelernt und gewonnen haben,“ dachte er.

„Ich hätte wohl einen festen Plan,“ sagte sie. Aber ihr Gesicht bekam einen versteckten Ausdruck. Was hätte es ihr geholfen, geradeheraus eine Meinung zu sagen. Richtig fiel Frau von Römpker schon ängstlich und eilig ein:

„Nein, wir dürfen nichts thun. Mein Mann ist nicht da; Rahel, so gehe und trage Lea die Sache vor!“

Rahel, immer mit dem merkwürdig verschlossenen Gesicht, ging hinaus, die Treppe hinauf und trat bei der Schwester ein. Diese ward dadurch aus allen möglichen Träumereien aufgeschreckt, denen sie sich gerade vor dem Spiegel hingegeben. Sie hatte sich [343] ihr Haar auf eine besondere Weise geordnet und dachte, wie ein Diadem sich darin ausnehmen würde.

„Ich soll Deine Meinung hören über …“

„Ach was! Mama ist sich gewiß im unklaren, ob sie einen schwarzen oder rothen Seidenflicken auf ihren Teppich nähen soll. Laßt mich doch zufrieden!“ rief Lea.

„Nicht gerade das …“

„Einerlei was. Thut, wie Ihr wollt, mir ist alles recht, oder besser, alles gleichgültig!“

Rahel schwieg ein Weilchen. Dann sagte sie noch:

„Beeile Dich doch mit Deinem Anzug! Lüdinghausen wundert sich gewiß, wo Du so lange bleibst.“

Unten trat Rahel ganz sicher ein, als habe sie den ausführlichsten Bescheid bekommen.

„Ich habe mit Lea gesprochen. Wie werden es also folgendermaßen machen: die Schulden werden bezahlt, aber die Gütergemeinschaft zwischen den Eheleuten wird aufgehoben, das Gewese der Frau zugeschrieben und im Kreisblatt bekannt gemacht, daß der Mann weder das Recht hat, zu kaufen noch zu verkaufen. So ist er völlig abhängig von ihr, hat kein Geld zum Trinken mehr und kann Frau und Kinder nicht abermals ins Elend bringen. Giebt er dann durch Mißhandlung der Seinen oder dergleichen Grund zur Klage, so wendet man sich endlich an die Behörde. Lea ist es so recht,“ schloß das Mädchen.

Das schelmische Lächeln war wieder auf ihren Lippen und Lüdinghausen vergaß den herben Eindruck von vorhin. Wie gut sie wiederzugeben wußte, was Lea ihr gesagt! Und welche verständige Klarheit Lea in solchen Dingen hatte! Das nannte er zugleich barmherzig und gerecht entscheiden. Abermals fühlte er, daß seine Wahl die rechte sei.

Frau von Römpker lächelte Fräulein Malchen zu. Sie war sehr stolz auf ihre kluge und willensstarke Tochter Lea und begriff nur dies eine nicht, wie sie, Alide von Römpker, gerade zu solchem Kinde kam.

„Wenn Lea so entschieden hat, wird Papa gewiß derselben Meinung sein. Glaubst Du, daß wir ohne Bedenken Löhnert diesen Bescheid geben können?“ fragte sie.

„Gewiß! Um so mehr, als ich das Geld gerade liegen habe,“ sagte Rahel munter. Sie fühlte sich sehr glücklich und voll heimlichen Stolzes, hier die ersten guten Früchte ihrer Sparsamkeit zu ernten. Sie konnte ohne Besinnen und Zögern die Existenz einer Frau und mehrerer Kinder retten, während sonst lange Verhandlungen mit dem Papa nothwendig gewesen wären, der vielleicht bei seiner stets knappen Kasse noch obendrein diese Hilfe verweigert hätte.

Frau von Römpker sah ihre Tochter fassungslos an.

„Geld? Du? So viel? Woher?“ fragte sie.

Rahel lachte.

„Gespart,“ sagte sie geheimnißvoll und heiter. „Also, ich gehe hinaus zu dem Löhnert.“

„Darf ich mitgehen?“ fragte Lüdinghausen. „Dieser Löhnert – ich kenne ihn wohl – ist ein roher Mensch.“

„Stehen Sie mir immerhin mit Ihrer landräthlichen Würde zur Seite,“ sprach sie, „wenn ich auch gewiß bin, keines Schutzes zu bedürfen.“

Sie ging voran. Auf dem großen Flur, welcher sein Licht durch die beiden Fenster rechts und links vom Portal erhielt, saß auf einem der rings an den Wänden gereihten Rohrstühle ein Mann, der sich unsicher erhob, als Rahel erschien.

Der Mann war groß, trug sich etwas gebückt, hatte ein braunrothes Gesicht, bartlos und voll tiefer Falten. Unter seiner vorgeneigten Stirn schimmerten die Augen in schwimmendem Glanz. Er drehte eine schlechte Mütze in den Fäusten, seine blaue gestrickte Jacke war an den Ellbogen zerrissen. Er sah scheu auf das Fräulein und den neben ihr stehenden Landrath.

Er hatte keine Hilfe für sein Elend mehr erwartet. Er war nur gekommen, weil seine Frau ihn hergetrieben hatte. Die Herrschaft hatte ja schon so viel gegeben, es war undenkbar, daß sie noch mehr that. Und ihm war’s auch ganz egal. Bankerott oder nicht. Käthner oder Tagelöhner – der Schnaps schmeckt so oder so gleich gut.

Daß der Herr Landrath mit dabei stand, war sehr widerwärtig. Der predigte ihm sicherlich noch etwas Moralisches vor. Und Geld gaben sie doch nicht.

„Löhner,“ begann Rahel, „wir wollen Ihnen, Ihrer armen Frau wegen, noch einmal helfen.“

Er schrak zusammen, richtete sich etwas auf und starrte Rahel blöde an. Auf seinem Gesicht begann aber, als er zu verstehen anfing, allerlei zu wetterleuchten: böse Gedanken, Trotz, Wuth über die Abhängigkeit, zu welcher er verdammt sein sollte, die Unfähigkeit, das Gute in dieser Maßregel einzusehen, das Tasten nach einem ihm begreiflichen Grund dafür und endlich das Aufblitzen einer ganz niedrigen, häßlichen Erklärung.

Als Rahel endete: „Also schicken Sie Ihre Frau nur her, damit wir mit ihr alles abmachen,“ brach der Mann in ein Lachen aus.

„Wir sollen noch ’mal aus der Patsche kommen,“ sagte er höhnisch, „das ist ja über Erwarten. Und wegen meiner Frau? Na, wenn der Herr soviel für meine Frau thut, wird der Herr auch wohl seine guten Gründe dafür haben und ich bin am Ende dazumal bloß der Dumme gewesen. Aber jetzt will ich der Kluge sein, und entweder ich krieg’ das Geld oder die Karre kann im Schmutz stecken bleiben.“

Lüdinghausen stand wie auf Kohlen. Er fühlte, daß sein Gesicht sich mit dunkler Röthe bedeckte, weil man in seiner Gegenwart das Zartgefühl eines jungen Mädchens beleidigte. Er wagte nicht, Rahel anzusehen. Aber als er ihre klare, ruhige Stimme hörte, sah er doch in ihr Angesicht und erkannte, daß es völlig unbefangen und verständnißlos rein geblieben war.

„Mir scheint, Sie haben wieder getrunken,“ sagte Rahel und schüttelte den Kopf zu den sinnlosen Reden, die er führte.

„Man wird Sie gar nicht fragen, ob Sie wollen oder nicht,“ rief Lüdinghausen streng. „Ich werde die Sache in die Hand nehmen und nach dem Wunsch der gütigen Damen ordnen. Gehen Sie jetzt und hüten Sie sich, daß man Sie im trunkenen Zustand irgendwo betrifft.“

„Mir hat keiner was zu verbieten – und den Landrath geht es nichts an, wenn ich mal einen kippe,“ knurrte Löhnert und ging mit schlürfenden Schritten der Thür zu. „Und Herr von Römpker muß zahlen. Ja, das muß er. Ja, das muß er!“

Er wiederholte das Wort noch mehrmals, und noch als die Thür von draußen wieder zufiel, hörte man sein murrend schwerfälliges: „Ja – das muß er!“

„Man lernt doch auf dem Lande allerlei kennen, wovon die jungen Damen in der Stadt keine Ahnung haben,“ sagte Rahel und schaute ernst auf die wieder geschlossenen Thür. „So viel von den Rohheiten und Unbarmherzigkeiten des Lebens. Dieser Mann wird nun heimgehen und seine Frau in Gegenwart seiner Kinder schlagen. Und er wird faul auf der Ofenbank sitzen, während seine zarten Kinder graben, Wasser tragen, Kühe melken und alle möglichen anderen Arbeiten thun, welche ihr Wachsthum verhindern und ihnen die Freude der Jugend rauben. Es wird immer so viel von der Kinderarbeit in den Fabriken geredet, warum denn nie von den Kindern auf dem Lande? Aber den kleinen Löhnert, der mein Pathe ist, nehme ich mir ins Schloß, der soll mir nicht verkümmern. Das ist doch meine Pflicht und zum Glück hier mein Recht, für dies eine Kind einzutreten.“

So kam sie, ganz weiblich, von ihrer allgemeinen Bemerkung auf ihren besonderen Einzelfall zurück.

Lüdinghausen fühlte sich von ihrer Rede unbeschreiblich angenehm berührt. Gerade so war seine Mutter gewesen. Das Allgemeine, Große war ihr nicht entgangen, sie hatte sich auf ihre Art und nach dem Maß ihres weiblichen Verständnisses für alle Fragen der Volkswirthschaft interessirt, sich gern und begierig darüber belehren lassen, aber hatte alles in ihrem kleineren Pflichtenkreis zur Nutzanwendung gebracht, ohne sich in Erörterungen einzulassen.

„Wie gut,“ dachte er, „daß mir die Schwester meiner Zukünftigen so sehr zusagt! Das ist nicht gleichgültig – o, gar nicht, denn die Familie meiner Frau ist auch meine Familie.“

Er begann, als Antwort auf Rahels Bemerkung, von seiner Heimath zu sprechen und ihr von all den Maßnahmen zu erzählen, welche seine Eltern in Laufe der Jahre für die Kinder der Bergleute und Tagelöhner getroffen hätten. Er schilderte sehr beredt die Wirksamkeit seiner Mutter, und sein ernstes, kaltes Gesicht bekam dabei einen Schimmer von Wärme, der seine Züge sehr schön machte. — —

Unterdessen fing Lea oben an, sich ein wenig zu beeilen. Ihr war natürlich völlig klar, weshalb Lüdinghausen heute einen [344] Tag so in ihrem engsten Familienkreis verleben wollte. Sie fand das unaussprechlich schwerfällig.

„Es fehlt nur, daß er endlich, wie der Freier im bürgerlichen Lustspiel, in Frack, weißen Handschuhen und den Strauß zwischen den Fingern bei uns vorfährt,“ dachte sie spöttisch, während sie ihr Kleid mit einer Schmucknadel schloß.

Nach einem lange prüfenden Blick fand sie diese Nadel zu groß, nicht einfach und deshalb nicht elegant genug, und während sie eine andere suchte, dachte sie, daß man „ihm“ das Spießbürgerliche schon abgewöhnen könne, daß der schwarze Frack sich mit Orden bedecken werde und daß er selbst in seiner Pedanterie nicht der Mann sei, über den außer ihr irgend ein Mensch zu lächeln wagen werde. Sie dachte es sich doch sehr großartig, an seiner Seite als Herrin in seinem Reich zu walten. Das war eine Lebensstellung voll fürstlicher Hoheit. Aber den Staatsdienst durfte er nicht aufgeben, er würde zweifelsohne sehr rasch steigen.

Und wenn sie dann draußen in der großen, glänzenden Welt Robert Clairon begegnete! Wie sie beide leiden würden in ihrer unglücklichen und nie endenden Liebe! Sie, die gefeierte Gattin des großen Lüdinghausen, war im Herzen gleichgültig gegen allen Glanz und dachte auch dann nur an den armen, einsamen, unvermählt gebliebenen Clairon.

Plötzlich kamen ihre Gedanken von der noch fernen Zeit etwas vernünftiger auf die nächste. Ziel und Ende waren nicht zu erreichen ohne den Weg dahin. Um Lüdinghausens Gattin zu werden, mußte sie sich zunächst mit ihm verloben, vielleicht heute noch und morgen dann schon dem Geliebten begegnen.

Ihr Herz begann so stark zu schlagen, daß es ihr dunkel vor den Augen wurde. Sie kämpfte einen Schwächeanfall nieder, und aus ihren Träumereien verfiel sie jäh in eine kalte Entschlossenheit.

„Das darf nicht sein,“ sagte sie sich. „Lüdinghausen darf nicht zu Wort kommen, so lange Robert noch hier ist. Die nächste Woche beginnen die Regiments- und Brigadeexerzitien – dann geht Robert ins Manöver. Heute will ich ihm schon entschlüpfen. Und morgen und alle Tage soll das Haus voll von Gästen sein.“

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb einige Zeilen an Clairon:

„Unser Schicksal naht sich einer Entscheidung. Stehe mir in diesen schweren Tagen durch Deine Gegenwart bei. Laß mich nicht allein mit L., ich fühle, daß er einen Antrag plant. Und kann, darf ich vernünftigerweise Nein sagen? Hilf mir, mich recht zu entscheiden! Bringe von den Bekannten mit, wen Du auftreiben kannst! Ich erwarte Dich morgen gegen Abend.
Deine Lea.“ 

Sie steckte diesen Brief in ihre Kleidertasche und war dann in zwei Minuten unten. Auf dem Flur fand sie Rahel mit Lüdinghausen in ihrem ernsten Gespräch einträchtig auf- und abgehen.

„Löst Ihr die soziale Frage?“ rief sie lachend.

„Annähernd,“ sagte Rahel.

„Es wäre nicht so übel, sie in Frauenhände zu geben, wenn alle so glücklich und so klug im Zugreifen und Ordnen wären wie Sie und Ihre Schwester,“ erklärte Lüdinghausen.

„Er bemerkt nicht, daß ich mich umgekleidet habe,“ sagte sich Lea, die immer gleich herausfühlte, ob man ein Auge für ihre Erscheinung hatte oder nicht.

„Denn über die Sache ‚Löhnert‘ haben Sie vortrefflich entschieden,“ fuhr er fort.

„Löhnert? Ich? Wieso?“ fragte Lea erstaunt.

„Aber ich bitte Dich – Du weißt doch – Löhnert mit seinen ewigen Geldschwierigkeiten,“ sagte Rahel, in große Verlegenheit gerathend.

„War der wieder einmal hier?“ fragte die Schwester gleichgültig. „Was habt Ihr denn mit ihm gemacht?“

„Das, was Sie befohlen haben,“ rief Lüdinghausen schnell, aber er sah Rahel groß an.

„Ich – befohlen? Ich weiß von nichts.“

Rahel lachte und ward dunkelroth. Lüdinghausen begriff.

„Mein Gott,“ dachte er beunruhigt, „diese Rahel regiert im Namen ihrer Schwester das ganze Haus.“

Zahllose kleine Züge fielen ihm ein, die er sonst wohl beobachtet, aber nicht des Nachdenkens für werth gehalten hatte. Ja, gewiß, Rahel gab immer Lea vor und beherrschte mit ihrem Willen die Eltern sowie das ganze Hauswesen. War das stille Herrschsucht, die sich so hinterlistig klug versteckte? Oder war diese verständig lenkende Hand hier nöthig und war es angeborene Bescheidenheit, daß sie so im Verborgenen waltete?

Während dieser seiner grübelnden Gedanken erzählte Rahel der Schwester den Hergang.

Lea fand die Geschichte sehr nett, besonders komisch aber fand sie es, daß Rahel zweihundert Thaler bereit liegen hatte.

„Sie macht ‚Schmugroschen‘ vom Haushaltungsgeld,“ rief sie und lachte unbändig. „Schmugroschen! Wissen Sie, was das ist, Lüdinghausen? Das thun die Köchinnen auch.“

Lüdinghausen fühlte einen kurzen, heftigen Aerger, der fast einem Schmerz glich – er wußte nicht, gegen welche der Schwestern. Es war ihm peinlich, daß die eine die andere auslachte wegen der nützlichen Sparsamkeit, und es war ihm mehr als peinlich, daß die vermeintliche nützliche Sparsamkeit vielleicht den Charakter dienstbotenartiger Durchsteckereien haben könne.

Rahel schossen Thränen in die Augen. Sie ging schnell und wortlos davon.

„Sie haben Fräulein Rahel gekränkt,“ sagte er mit bebender Stimme.

„O, das thut mir sehr leid,“ erwiderte Lea mit so einfacher und schöner Betonung, daß er ganz entwaffnet war.

„Sie lieben sich sehr?“

„Unaussprechlich. Und Rahel ist so ein Wesen – die könnte in den Tod gehen für mich,“ sagte Lea in ihrer pathetischen Art. Sie hatte nie daran gedacht, wie ergeben und selbstlos Rahel ihr gegenüber immer war; in diesem Augenblicke aber war ihr das ernste Ueberzeugung, welche sich daneben mit dem unbewußten Gefühl verband, daß es einen schönen Eindruck mache, wenn sie so warm von der Schwester spreche.

Lüdinghausen küßte Lea die Hand. Er war ganz stumm. Eine unerklärliche Bewegung hatte sich seiner bemächtigt.

Jetzt kam Herr von Römpker nach Hause. Er war außer sich vor Vergnügen über den Besuch „seines lieben Freundes“ Lüdinghausen. Fast umarmte er ihn. Lüdinghausen hätte blind und taub sein müssen, nicht zu bemerken, wie er in diesem Hause willkommen war. Römpker nahm den Gast mit in seine Stube und that überhaupt, als hätte Lüdinghausen schon ein Recht, sich hier heimisch zu fühlen.

Lea suchte Ludwig auf und stellte ihn in einem dämmerigen Gang des Erdgeschosses, wo er eben einen Arm voll Flaschen aus dem Weinkeller nach der Anrichtkammer trug. Ludwig lächelte sie strahlend an. Er schwärmte für sein Fräulein und fühlte sich ihm bei allem Respekt doch recht vertraulich nahe in seiner Stellung.

„Wollen und können Sie diesen Brief heute noch besorgen?“ fragte Lea und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Tasche, was für Ludwig verständlich genug hieß, daß ein Brief für den Grafen Clairon darin sei.

„In jedem Fall. Und sei es in der Nacht,“ erwiderte Ludwig, die Flaschen enger an seine Weste drückend, als bekräftige er damit das Versprechen.

„Sie sind ein vortrefflicher Mensch, Ludwig,“ sagte sie und lächelte ihn an, so, wie es ihr eine Nothwendigkeit war, jeden anzulächeln, im unbewußten Wunsch, immer zu bezaubern.

Dann ging sie in bester Laune wieder hinauf und war bei Tisch der Mittelpunkt der muntersten Unterhaltung.

Lüdinghausen fühlte sich allen Anwesenden in der That bei diesem Mahle schon sehr nahe. Ihm war, als übersähe er Menschen und Verhältnisse schon klarer, und er beobachtete freier. Er begriff jetzt nicht, daß er Rahels Stellung zwischen den Ihrigen so lange verkannt, und daß er sie überhaupt für eine so nebensächliche Person hatte halten können. Er versuchte, sich in knappen Formeln den Unterschied zwischen den beiden Schwestern festzustellen.

„Leas Augen sagen: ich möchte! diejenigen von Rahel: ich will!“

Er bewies sich, daß es für einen Mann reizvoller sein müsse, viel Wünschen, als viel Willen zu begegnen.

Und auf einmal kam ihm die Erkenntniß, worüber er ein Lächeln des Vergnügens unterdrücken mußte, daß es ihm heute ja sehr wunderlich ergehe: er war ausgezogen, Lea besser kennenzulernen, und gewann Einblicke in Rahels Wesen.

[345]

Maifischmarkt in Düsseldorf.
Nach dem Gemälde von Fr. Schnitzler.

[346] Daneben begleitete ihn der eine Gedanke, daß die Familie heute von ihm mit Recht eine Aussprache erwarte und daß er ohne ein entscheidendes Wort nicht gehen dürfe. Wohl bemerkte er, daß Lea ihm zu entschlüpfen suchte, aber das fand er sehr weiblich.

Lea hatte auf eines nicht gerechnet, auf das Interesse ihres Vaters an dieser Verlobung. Er war wie ein Kind, welchem man ein neues Spielzeug oder ein Vergnügen versprochen hat: er wollte schnell haben, was das Geschick ihm zu verheißen schien. So kam er denn Lüdinghausen auf allen Wegen entgegen. Er sprach sogar von dessen Vater und lud ihn durch den Sohn nach Römpkerhof ein. Und dies Entgegenkommen war so heiter, so glücklich und zugleich so selbstverständlich sicher in dem Bewußtsein, daß er, Römpker, den andern nur dadurch ehre, daß Lüdinghausen in der That davon beglückt wurde.

Nach dem Abendessen, als die beiden Herren noch in Römpkers Zimmer eine Cigarre zusammen rauchten, legte Herr von Römpker mit einem charmanten und nachsichtigen Lächeln dem schwerfälligen Bewerber denn auch das entscheidende Wort in den Mund.

Lüdinghausen fragte, ob er morgen kommen und um Fräulein Leas Hand anhalten dürfe.

Von so steifen Feierlichkeiten war aber Römpker kein Freund, am wenigsten bei einer Angelegenheit, welche sein väterliches Gemüth so bewegte. Er zerdrückte eine Thräne, umarmte den künftigen Schwiegersohn, verglich sich mit Wodan, der Brunhilde lassen mußte, und sang „leb’ wohl, du mein schönes, mein herrliches Kind“. Uebermuth und Rührung überwältigten ihn zugleich. Das alles war Lüdinghausen an einem fünfzigjährigen Mann sehr neu, aber er konnte sich dem liebenswürdigen Eindruck nicht entziehen.

Also von einer steifen Werbung wollte Papa Römpker nichts wissen. Er klingelte, ließ Lea rufen und machte in der Zwischenzeit Pläne, daß man auf morgen abend die nächsten Freunde zu Tische bitten und ihnen die Verlobung mittheilen wolle.

Lea erschien. Sie hatte bei der Mutter und Rahel gesessen, nachdem Fräulein Malchen sich eben mit schwerem Herzen und vielsagenden Seufzern und Händedrücken aus der spannenden Situation losgerissen hatte. Die Arme wurde in die Stadt zurückbefördert, ohne die Entscheidung zu erfahren.

Lea war sehr blaß geworden bei der Botschaft, daß ihr Papa sie bitten lasse. Sie stand zögernd auf der Schwelle. Mit heiserer Stimme fragte sie:

„Du wünschest, Papa?“

„Ich nichts. Aber hier dieser da, unser vortrefflicher Lüdinghausen wünscht viel – nicht mehr wie alles,“ sagte er mit einem Gesicht voll vergnüglicher Schelmerei.

„Mein gnädiges Fräulein,“ begann Lüdinghausen, „ich habe mir die Ehre gegeben, um Ihre Hand bei Ihrem Herrn Vater zu bitten, und ich wage, mich der Hoffnung hinzugeben, daß Sie mich genug achten, mir innig genug gesinnt sind, um mir Ihr Leben anzuvertrauen.“

Auch er war sehr bleich. Trotz der sehr förmlichen Art seines Antrags klang seine Stimme männlich und feierlich, und es durchschauerte Lea bänglich. Dieser Mann, den sie bisher nur als eine Ziffer für ihre Daseinsrechnung betrachtet hatte, flößte ihr urplötzlich so etwas wie Furcht ein.

Es begann in ihren Ohren zu sausen, so stieg ihr alles Blut zum Kopf empor. Sie fühlte einen Schwindelanfall und ihre Gestalt kam ins Wanken. Nur mit übermenschlicher Gewalt faßte sie sich und streckte, vorerst noch wortlos, ihre Hand hin.

Lüdinghausen sah wohl, welche Erschütterung sie durchbebte, und fühlte sich in seinem Innersten davon ergriffen. Er konnte nur die eine, ihm natürliche Auslegung dafür haben, daß Lea, die ihn liebte, von der Gewißheit des Glücks überwältigt sei.

Er küßte ihre Hand, lange, innig und fast voll Ehrfurcht. Alle zarten und feinen Empfindungen seiner Seele vereinigten sich zu einem Gefühl von Dankbarkeit für die, welche sich so bereit zeigte, ihm ihr ganzes Sein hinzugeben.

Herr von Römpker war ganz fassungslos vor Rührung über diese Scene und machte ihr ein Ende, indem er die beiden Stummen nacheinander umarmte. Zärtliche Gebärden hatte er bei jeder Gelegenheit schnell bereit.

Lüdinghausen fühlte, daß er etwas sagen müsse.

„Ich hoffe, theure Lea, daß die Zukunft Ihr Vertrauen rechtfertigen und Sie es nie bereuen lassen wird. Mein Vater wird gleich mir bemüht sein, Sie auf Händen zu tragen. Und ich darf hoffen, daß die äußeren Lebensverhältnisse, welche wir Ihnen bieten dürfen, Ihren Anforderungen ganz genügen können.“

Da streckte Lea ihm beide Hände hin und sagte mit ihrem bezauberndsten Lächeln:

„Ich heirathe nicht den reichen Mann – ich heirathe den bedeutenden.“

Sie hatte sich ganz wiedergefunden.

„Ja, ja,“ rief Herr von Römpker, „sie hat es immer gesagt, sie wolle nur einen Gatten, der alle überragt.“

Lüdinghausen sah Lea ernst und groß an.

„So bin ich Ihnen sehr viel für die Zukunft schuldig,“ sprach er langsam, „denn noch habe ich mir in keiner Weise irgend eine auszeichnende Meinung verdient.“

„Ich glaube an Sie,“ sagte Lea mit besonderem Ausdruck.

Lüdinghausen bekam Herzklopfen und der Wunsch wallte in ihm auf, sie zu küssen.

„Aber nun zu Mama und Rahel!“ rief Herr von Römpker.

Lüdinghausen erschrak und ein großes Unbehagen erfaßte ihn. Vor andern als Bräutigam aufzutreten, das war ein zwangvoller Gedanke. Und gar vor Rahel, die ihn wohl mit ihren klaren Augen darauf ansehen würde, ob auch er als Familienmitglied sich ihrer heimlichen Herrschsucht beugen möchte.

„Darf ich mich verabschieden und diese Begrüßung bis morgen aufsparen?“ fragte er hastig. „Nennen Sie es meinetwegen die Pedanterie eines zu zärtlichen Sohnes, aber ich möchte erst meinen Vater benachrichtigen, erst ihm mein Glück mittheilen, ehe ich, außer mit Ihnen, mit irgend jemand davon spreche.“

Herr von Römpker war in der guten Laune, alles zu verstehen. Von dem Bedürfniß, in solcher entscheidungsvollen Stunde die Gattin und Mutter ans Herz zu ziehen, fühlten weder er noch Lea etwas.

Und so, nachdem er sehr feierlich von Lea Abschied genommen hatte, verließ Erasmus Lüdinghausen Römpkerhof als der Verlobte der ältesten Tochter. Während er durch die Sommernacht heimritt, wunderte er sich immerfort, daß keine völlige Umwälzung mit ihm vorgegangen, daß außer dem ruhigen, feierlichen Ernst, den eine so wichtige Entscheidung immer hervorbringt, kein neues, kein himmelstürmendes Gefühl in seiner Seele war.

Sein Lieben – wenn das Lieben war – und sein Werben hatte so programmgemäß stattgefunden, wie er es für sich immer nur erwartet hatte. Und das gab ihm ein Sicherheitsgefühl sondergleichen.

(Fortsetzung folgt.)




Der Schatz der Cobra.

Von Dr. A. Nagel.

Kaum eine andere Thiergattung spielt in den Sagen und Märchen der Völker eine so große Rolle wie die Schlangen. Von den im zaubrischen Dämmerschein indischer Urwälder erwachsenen anmuthigen Geschichten der indischen Fabelsammlung „Hitopadeça“ bis zu dem treuherzig hausbackenen deutschen Volksmärchen – allenthalben stoßen wir auf die schmiegsamen Gestalten der geheimnißvollen Doppelzüngler. Dem unter glücklichem Gestirn Geborenen zeigt sich wohl, wenn die sommerliche Mittagsschwüle auf den Wipfeln des Forstes lastet, kein Laut die tiefe Stille unterbricht, unter dem knotigen Wurzelgewirr uralter Sträucher hervorlugend, das zierliche Köpfchen des weißen „Haselwurms“, dessen Genuß die Sprache der Thiere verstehen lehrt; oder er darf in den dunkeln Kellern der verfallenen Burg die „Unkenkönigin“ belauschen, wie sie, das köstliche Krönchen von glitzerndem Goldgespinst auf dem Haupte, aus der Mauerspalte sich ringelt, wo sie den reichen Hort hütet.

Es hält nicht schwer, die Ursachen anzugeben, weshalb der Volksglaube den Schlangen gerade allerlei Wunderbares andichtete: ihre geschmeidige, fußlose Gestalt, ihr bald träge dahinschleichendes, bald pfeilschnelles Sichfortbewegen, der kleine Kopf, [347] aus dessen oft mit Giftzähnen bewehrtem Munde die gespaltene Zunge spielt, der berückende Starrblick der glänzenden Augen, die so rasch eintretende Wirkung ihres tödlichen Bisses – das alles mußte diese Kriechthiergattung der im Volksgemüth überall vorhandenen Sucht zur Mythenbildung als außerordentlich dankbaren Gegenstand empfehlen.

Gewiß ist es lohnend, der Entstehung dieser oder jener wunderbaren Schlangensage nachzuspüren. Aber fast noch interessanter ist es offenbar, wenn im Volksmunde lebende Erzählungen betreffs Eigenthümlichkeiten dieser oder jener Schlange, die zwar sehr seltsam klingen, deren Behauptungen aber nicht außerhalb der denkbaren Möglichkeit fallen, von berufener Seite gewissenhaft untersucht und durch eigene sorgfältige Beobachtung als wahr erkannt werden. Eine solche „zu Ehren gebrachte“ Schlangenerzählung, zwar nicht bei uns, sondern auf indischem Boden spielend, bildet den Gegenstand dieser Zeilen.

In einigen für einen größeren Leserkreis berechneten Werken über Zoologie findet man bei der Besprechung der Cobra oder indischen Brillenschlange (Naja tripudians) die beiläufige Bemerkung, daß dieses allgemein mit Recht gefürchtete Reptil bei den abergläubischen Eingeborenen der Gegenstand eines „albernen Märchens“ sei, das da behaupte, es trügen manche Exemplare solcher „Cobras“ einen im Dunkeln leuchtenden Stein mit sich umher, den sie aufs sorgfältigste hüteten und nöthigenfalls mit größtem Muthe vertheidigten, da ihr ganzer Sinn an diesem kostbaren Schatze hänge. Nie sei die Cobra leichter zu erzürnen, niemals vergifte ihr Biß so schnell wie dann, wenn man ihr jenes Kleinod zu rauben trachte.

Das Märchen der „unwissenden“ Eingeborenen wurde als Albernheit verlacht, wie sich’s gebührte, gerade so, wie man bis zu Darwins Untersuchungen über die „fleischverzehrenden Pflanzen“ das „Märchen“ vom Insektenfange der nordamerikanischen Dionaea muscipula (Fliegenklappe, Venusfliegenfalle) gelacht hatte. Seitdem aber der amerikanische Forscher Professor H. Hensoldt auf Ceylon Gelegenheit gehabt hat, solche mineralogisch gesinnte Cobraschlangen in ihrem Thun und Treiben zu belauschen, wird man, so unangenehm dies vielleicht auch sein mag, nicht umhin können, den Hindus und Tamulen Recht zu geben. Der genannte Gelehrte hat seine im Jahre 1876 in der Nähe von Point de Galle gemachten Beobachtungen an Brillenschlangen und seine erste Bekanntschaft mit dem „Najâ- Kallu“ (Schlangenstein) sehr anschaulich in Harpers „Monthly Magazine“ geschildert, dem das Folgende entnommen ist.

Schon auf früheren Reisen in Indien hatte Hensoldt die seltsame Geschichte gehört, die ich eben kurz angedeutet habe, mit dem Zusatze, daß von etwa je zwanzig Schlangen eine die glückliche Besitzerin eines Leuchtsteins sei; er hatte indessen diesen Erzählungen kein Gewicht beigelegt. Zu seinem großen Erstaunen fand er in seinem Wirthe, einem deutschen Pflanzer, einen eifrigen Vertheidiger jener Anschauung: er selber wie auch die übrigen Mitglieder seiner Familie hätten zusammen wenigstens vierzig Cobras mit solchen Steinen beobachtet, und es werde nicht schwer halten, einen solchen aufzutreiben. Befragt, wie denn jenes Mineral beschaffen sei, beschrieb Herr Warkus dasselbe als halbdurchscheinend, von gelblichgrüner Farbe, an Gestalt und Größe etwa einer Erbse gleich, im Dunkeln gebe es ein deutliches Glimmlicht von sich. Der amerikanische Gast erfuhr außerdem noch, daß derartig ausgezeichnete Cobras selten ihre Wohnsitze in den Dschungeln verließen, und daß es immer sehr viel Achtsamkeit erheische, den Stein zu erlangen, da, von der Gefahr eines Bisses abgesehen, das Thier, wenn es sich erschreckt fühle, seinen Schatz ergreife und, ihn im Rachen verbergend, eilends flüchte. Seine singhalesischen und tamulischen Diener hätten ihn sogar versichert, daß eine beranbte Schlange oft vor Kummer über ihren Verlust verende.

Dies alles machte natürlich bei Hensoldt den lebhaften Wunsch rege, selbst eine Kallu-Najâ zu beobachten, sodaß er, um den Eifer der eingeborenen Diener anzuspornen, eine Belohnung von fünf Rupien (etwa 10 Mark) demjenigen von ihnen versprach, der in nächster Zeit eine solche Schlange aufspüre. Ein Kuli, der nur wenige Cents täglich zu verdienen pflegt, betrachtet natürlich die genannte Summe als einen kleinen Schatz. Die eigenen Bemühungen des amerikanischen Naturforschers führten zu keinem günstigen Ergebnisse, da er bei mehr als fünfzig getödteten Cobras sogar die Mägen vergebens nach dem Steine durchsuchte. Nach Ablauf mehrerer Tage endlich wurde ihm des Abends gemeldet, daß ein tamulischer Diener das gesuchte Thier ausfindig gemacht habe. Eiligst folgte unser Forscher der willkommenen Aufforderung, so eilig, daß selbst die getreue Gefährtin jedes Tropenreisenden, die erprobte Flinte, zurückblieb. Wir lassen ihn nun selbst erzählen:

Der Tamule führte mich etwa eine starke Meile quer durch den nördlichen hügeligen Theil der Pflanzung, dann verfolgten wir durch das Dickicht einen schmalen Fußpfad, der uns zu einem von mir schon früher einmal besuchten kleinen Wasserfall leitete. Ganz nahe dem Wasser erhob sich ein ungeheurer Tamarindenbaum, dem wir uns auf etwa fünfzig Schritte näherten, als plötzlich mein Begleiter Halt machte, indem er in geheimnißvoller Weise nach dem Baume hindeutete. Dort, sagte er, liege die Najâ, aber keinen Schritt weiter werde er mit vorgehen, und mit zahllosen Gebärden und Grimassen, die einem Cirkusclown stürmischen Beifall errungen hätten, suchte er mich auf die drohende Gefahr eines solchen Wagnisses aufmerksam zu machen. Da ich indeß von meinem Standorte aus nichts wahrzunehmen vermochte, so näherte ich mich vorsichtig noch weiter bis auf ungefähr ein Dutzend Ellen dem Baume, als ich mit einem Male unwillkürlich wie angewurzelt stehen blieb. War das wirklich das Räthsel der Najâ? Ganz nahe dem Grunde des Stammes bemerkte ich im Grase ein grünliches Licht, anscheinend von einem einzigen Punkte ausstrahlend. Im ersten Augenblick glaubte ich einen sogenannten Glühwurm, das Weibchen der wohlbekannten Lampyris noctiluca, des Johanniswürmchens, vor mir zu sehen, da das Licht dem von jenem Insekte ausgestrahlten sehr ähnlich war; doch bald, nachdem ich den Schein eine Weile fest ins Auge gefaßt hatte. kam ich zu der Ueberzeugung, daß hier etwas anderes vorliegen müsse. Bei den Lampyriden nämlich, wie bei allen „phosphorescirenden“ Insekten, bleibt die Stärke des ausgesandten Lichtes nicht dieselbe, sie nimmt in Zwischenräumen ab bis zum schwachen Glimmen, um dann sich wieder zum hellen Glanze zu steigern – hier aber nahm ich ein sich gleichbleibendes ununterbrochenes Leuchten wahr. Hinzufügen will ich noch, daß die Luft an jenem Abend von Feuerfliegen wimmelte.

Nach einiger Zeit konnte ich auch die Schlange selbst unterscheiden. Sie lag nahe dem Fuße des Baumes, in einen „Teller“ zusammengerollt, ganz ruhig, nur daß sie langsam den Kopf hin und her bewegte. Da mir die Flinte fehlte, so war ich in Verlegenheit, auf welche Weise ich den Stein mir sichern könnte, und ich weiß wirklich nicht, zu welchem verzweifelten und unzweckmäßigen Verfahren ich mich durch meine Begier, das Geheimniß zu lösen, hätte hinreißen lassen, wenn nicht mein Kuli plötzlich Einspruch erhoben hätte. Der gewissenhafte Bursche, von dem Gedanken durchdrungen, daß er eine Art von Verantwortlichkeit für meine Sicherheit trage, war sacht herbeigeschlichen, und, meinen Arm festhaltend, flehte er mich an, doch ja keinen Versuch zu machen, mich des ‚Kallu‘ zu bemächtigen, sein Herr werde ihn sicher zu Tode prügeln lassen, wenn mir etwas zustoße; er sei erbötig, in weniger als zwei Tagen den Stein herbeizuschaffen durch eine besondere List, vorausgesetzt, daß für den Augenblick die Cobra ganz ungestört bleibe. Obgleich ich nicht viel Hoffnung auf sein Versprechen setzte, so erkannte ich doch rasch, daß jeder Versuch in diesem Augenblicke fehlschlagen müßte, und hielt es daher unter solchen Umständen für vernünftiger, mich zurückzuziehen; aber niemals habe ich einen Platz mit solchem Widerstreben verlassen wie den Ort dieses seltsamen Schauspiels. Der Najâ-Kallu hatte mich als ein ungelöstes Geheimniß vollkommen bezaubert – zwei Stunden zum mindesten hatte ich ihn angestarrt.

Auf unserem Rückwege versicherte mich der Tamule, daß, falls die Cobra nicht erschreckt worden sei, sie ganz sicher die nächste Nacht zur nämlichen Stelle zurückkehren werde, und daß er sich ein Verfahren ausgedacht habe, um den Stein innerhalb zweier Tage zu bekommen. Die Schlange zu schießen, sei ein schlechter Plan in Bezug auf den Stein. Ich suchte seinen Eifer anzufachen durch Zusicherung einer Extrabelohnung von fünf Rupien, falls er mir den Kallu verschaffe.

Der schlaue Bursche hielt Wort. Ganz in der Frühe des zweiten Tages nach dem geschilderten Abenteuer rückte er an und überbrachte mir den Cobrastein. Es war ein halbdurchscheinendes, offenbar durch die Thätigkeit des Wassers abgerundetes Mineralgeschiebe [348] von gelblicher Farbe und etwa Erbsengröße, das im Dunkeln, besonders wenn es erwärmt wurde, ein grünliches phosphorescirendes Licht gab. Auf den ersten Blick glaubte ich, daß es aus Baryumsulfat bestehe, dem bekannten ‚Schwerspath‘, von welchem einige, namentlich bei Bologna vorkommende Spielarten (Bologneserstein) die Eigenthümlichkeit besitzen, nach stärkerem Erhitzen über Kohlenfeuer selbstleuchtend zu werden. Bei genauerer Untersuchung fand ich indeß, daß es ein Chlorophan war, eine selten vorkommende Abart des Flußspathes (Fluarcalcium). Ein Stück dieses Minerals, über einer Spiritusflamme erhitzt oder in kochendes Wasser geworfen, leuchtet mit schön grünem Glanze, solange die Wärme anhält. Einige Arten sind so empfindlich, daß schon ein kurzes Erwärmen in der geschlossenen Hand genügt, um sie stundenlang im Dunkel scheinen zu lassen. Der berühmte Berliner Mineraloge Gustav Rose erzählt, daß er auf seiner Reise mit Ehrenberg und Humboldt durch das Altaigebirge gelegentlich im Kiesgeschiebe des Irtisch bei Krasnojarsk Chlorophankiesel entdeckt habe, die mit herrlichem Glanze allnächtlich schimmerten, ohne eine andere Art von Erwärmung als die durch die Sonnenstrahlen des Tages erfahren zu haben.

Die Art, wie der Tamule sich des Najâ-Kallu bemächtigt hatte, war höchst merkwürdig. Lange vor Sonnennntergang schon hatte er den erwähnten Tamarindenbaum bestiegen und seinen Sitz auf einem der Aeste genommen, welche gerade über dem Lieblingsplatze der Schlange sich ausbreiteten. Als die Nacht hereinbrach, und der Kuli die Schlange sammt ihrem leuchtenden Steine wieder auf der alten Stelle gewahrte, leerte er einen mitgebrachten großen Sack voll Asche über denselben aus. Der dichte Aschenregen bedeckte augenblicklich den Kallu mit einer dicken Schicht, während das erschreckte Reptil, nach einer Weile fruchtloser Nachforschung, schließlich in das Dschungel zurückkroch. Der weniger durch Muth als durch Verschlagenheit ausgezeichnete Kuli beeilte sich keineswegs, seinen geschützten Posten zu verlassen, sondern verbrachte die ganze Nacht auf dem Baume und dachte erst an das Hinabklettern, nachdem die Sonne aufgegangen war und er sich versichert hatte, daß das Thier fort und die Luft rein war. Dann durchstöberte er sorglich den Aschenhaufen und fand den Stein. Vor meiner Abreise entdeckte ich selber noch drei weitere Exemplare.

Und nun komme ich zur Erklärung dieses scheinbaren Wunders. Die Cobras sind möglicherweise die einzige Schlangenart, die sich von Insekten nährt. Sie verzehren Ameisen, Heuschrecken, gewisse Käfer etc., scheinen aber eine besondere Vorliebe für „Feuerfliegen“ zu haben, vielleicht weil sie dieselben bei Nacht mit größerer Leichtigkeit erbeuten als andere Kerfe. Oft habe ich stundenlang Cobras belauscht, wie sie im Grase jene Leuchtthiere erhaschten, indem sie sich blitzschnell auf sie stürzten, eine Bewegung, die das Thier sichtlich recht anstrengt. Nun weiß jeder Insektenkenner, daß die fliegenden Lampyriden nur aus Männchen bestehen. Die Weibchen, weit geringer an Zahl, sind größer und können nicht umherschwärmen, da ihre Flügel verkümmert sind. So sitzen sie ruhig im Grase, ein grünes Licht ausstrahlend, welches dasjenige der männlichen Thiere an Stärke weit übertrifft und in regelmäßigen Fristen zu- und abnimmt. Bewacht man eine Zeitlang solchen „Glühwurm“, so beobachtet man ein stetiges Zuströmen von männlichen Insekten dorthin, die in nächster Nähe des Weibchens sich niederlassen.

Nun giebt der Najâ-Kallu, dieser kleine Chlorophankiesel, im Dunkeln ein grünliches Licht, das so leicht mit dem einerweiblichen Lampyride zu verwechseln ist, daß man ohne Mühe mittels desselben die fliegenden Männchen ködern kann. Allmählich sind die Cobras dahin gelangt, aus einer, wie ich glaube sagen zu dürfen, seit Jahrtausenden von ihnen gemachten Erfahrung Nutzen zu ziehen. Häufig kann es sich ereignen, daß eine Cobra einen dieser Leuchtsteine im Geröll ausgetrockneter Bäche antrifft, wo sie keineswegs etwas Seltenes sind, und, durch seinen nächtlichen Schein angezogen, ihn für eine Feuerfliege hält. Jedenfalls würde sie bald darauf aufmerksam werden, daß die Leuchtthiere weit müheloser in der Umgebung eines solchen schimmernden Kiesels zu fangen sind als anderswo, und daraufhin gewohnheitsmäßig jene Stelle wieder besuchen. Mehrere Cobras mögen so zusammentreffen, dann müßte nothwendig alsbald ein Wettbewerb um den nützlichen Stein entstehen, und von diesem Augenblick an bis zu der Erkenntniß, daß der Erfolg in Erbeutung der Nahrung vom Besitze eines derartigen phosphorescirenden Kiesels abhängt, und bis zu der Aneignung desselben mit der Absicht, einer Mitbewerberin zuvorzukommen, ist meiner Meinung nach kein sehr großer Schritt und setzt keine außergewöhnlichen Verstandeskräfte voraus.

Auch scheint mir Grund vorhanden zu der Annahme, daß nicht unumgänglich eine eigene selbstgewonnene Erfahrung nothwendig sei, um irgend ein Cobraexemplar zu dieser Handlungsweise zu veranlassen, sondern daß auch eine ganz junge Schlange instinktmäßig einen gefundenen Chlorophan in der beschriebenen Art anwenden wird. Denn es muß ausdrücklich betont werden, daß unter niederen Thieren ein gewisses durch Vererbung übertragenes Rassengedächtniß besteht, das oft weit stärker als das während der kurzen Lebensdauer des einzelnen Individuums erworbene sich erweist. Auch für weit höher stehende Thiere gilt dies. Was, um ein Beispiel anzuführen, veranlaßt ein blindes junges Kätzchen, zu speien und zu fauchen, seinen Rücken drohend in der bekannten Weise zu krümmen, wenn ihm ein Hund nahe kommt? Es sah niemals einen solchen – dennoch weiß es, daß etwas Gefahrdrohendes sich vor ihm befindet, und wählt das herkömmliche Mittel zur Abwehr.

Soweit der Bericht Hensoldts. Ich habe seine merkwürdigen Beobachtungen unverkürzt hier wieder gegeben, da der Gegenstand es mir werth schien. Ob seine Erklärung der seltsamen Erscheinung – welche ich, im Gegensatz zu der unbewußt von zahllosen niedern Thieren durch Färbung, Leuchtvermögen und anderes ausgeübten Kunst des Täuschens, als willkürliche Mimicry[1] bezeichnen möchte – ob diese überall Anklang finden wird, ist freilich eine andere Frage. Die Nothwendigkeit der Annahme eines Gattungsgedächtnisses steht wohl noch nicht außer allem Zweifel, das Gegentheil, Mittheilung jener Fertigkeit von einem Individuum zum andern, anzunehmen, scheint mir auch etwas gewagt. So muß denn die wissenschaftliche Erklärung bis auf weiteres im Hintergrunde bleiben und der Leser sich an der merkwürdigen Erscheinung selbst genügen lassen.

Aber einen andern Punkt möchte ich noch kurz berühren. Fast in allen Schlangensagen, besonders den deutschen, finden wir eine Art von Gemeinschaft zwischen Schlangen und glänzenden Mineralien, wie ich es eingangs schon angedeutet habe. Vor allem sind es kostbare, mit geheimnißvollen Kräften begabte Steine, als deren Trägerinnen und Wächterinnen die Schlangen auftreten. Besonders hübsch erzählt dies die in der Grimmschen Sammlung mitgetheilte Sage über die Gründung der „Wasserkirche“ in Zürich durch Karl den Großen: eine Schlange, durch den Machtspruch des Kaisers von ihrer Feindin, einer großen Kröte, befreit, bringt jenem aus Dankbarkeit im Munde ihren Schatz, einen funkelnden Edelstein, herbei.

Ist nun, so möchte ich fragen, diese Verbindung von Schlange und Stein im Reiche unserer Sagen und Märchen etwas rein Zufälliges oder liegt etwa eine poetische Verherrlichung des funkelnden starren Auges jener Reptile darin ausgedrückt? Hat man vielleicht früher auch bei einer insektenverzehrenden europäischen Schlange – undenkbar wäre es ja nicht – eine ähnliche Fangmethode beobachtet, wie wir sie oben kennengelernt haben? Oder endlich: liegt jenen Mythen vielleicht eine dunkle Erinnerung an die Cobra selbst zu Grunde, sind jene Erzählungen, ihrem thatsächlichen Kerne nach, etwa schon vor vielen Jahrtausenden mit den nach Westen aufbrechenden arischen Stämmen aus der alten Heimath am Indus und Ganges in Europa eingewandert?

Wie dem auch sei, die Hauptsache bleibt, daß die schönen Beobachtungen des amerikanischen Forschers uns eine neue interessante Stelle in „dem unendlichen Geheimbuche der Natur“ kennen gelehrt haben, die wohl geeignet ist, im Vereine mit so manchen andern überraschenden Entdeckungen der neuesten Zeit die Richtigkeit eines echten Philosophenwortes zu bekräftigen:

„So vorsichtig im Glauben, so vorsichtig im Unglauben.“

[349]

Helmuth von Moltke †.

Stimmungsbild von Hermann Heiberg. 0 Mit Zeichnungen von H. Lüders.

Noch vor wenigen Tagen, am 21. April, war es, da sah ich den Generalfeldmarschall Moltke mittags in einem offenen Wagen an den „Zelten“ vorüberfahren. Er war vom Regen überrascht worden; aber obschon seine Begleiterin einen Schirm aufgespannt hatte, so gab er selbst sich doch der Nässe vom Himmel preis. „Er ist von Eisen und er stirbt nicht,“ murmelte ich unwillkürlich; schon wiederholt war ich Zeuge gewesen, was der greise Marschall – in seinen Jahren – dem Körper bot.

Am 24. April ist der stählerne Mann nach vorangegangener ganz kurzer Schwäche abends gestorben, und eben, während ich die Feder zu einem Erinnerungswort für die „Gartenlaube“ ansetze, sind die großartigen Trauerfeierlichkeiten in Berlin beendigt.

Der Kaiser am Sterbebett Moltkes.

Und nun fluthet das Leben wie immer dahin und nur ein häufigeres Auftauchen von Offizieren in Galauniform deutet auf ein besonderes Ereigniß; alles geht seinen Weg wie sonst; das Neue allein hat ein Recht, besonders in unserer Zeit. Was gestern, was vorgestern war, hat schon den Anspruch auf Beachtung verloren. Berge von Papier werden wohl bedruckt, um die Erinnerung an hervorragende Ereignisse und Personen wach zu erhalten, um den Geschehnissen ein Denkmal zu setzen, aber das Tagesgespräch wendet sich bald mit gleich großer Aufmerksamkeit der Eröffnung einer Kunstausstellung oder einer Gerichtsverhandlung zu wie vordem dem größten Vorgang. So war’s, als Kaiser Wilhelm I. beerdigt, so war’s, als Kaiserin Augusta zur Ruhe bestattet und Kaiser Friedrichs Hülle nach Charlottenburg übergeführt worden war.

Und dennoch ist dieses flüchtige, scheinbar eindruckslose Vorüberrauschen weltbewegender Ereignisse nur eine äußerliche Erscheinung, es deckt ein so rasches Vergessen sich keineswegs mit der Wirklichkeit. Große Menschen sprechen im Grabe weiter!

Am Sonntag beschritt ich nach zwölf Uhr mittags die zu dem sogenannten „Tanzsaal“ hinaufführenden Stufen des Generalstabsgebäudes, um Moltke noch zum letzten Male zu sehen. Das Haus war erfüllt vom Duft der Blumen, aber von jenem, dem sich der scharfzudringliche des Lorbeers hinzugesellt hat und der allezeit etwas Bedrückendes, dem Sterben Verwandtes ausathmet. Es [350] war auch dem Tode hier äußerlich die Stätte bereitet, alles wirkte gemüthbeschwerend und ernste Gedanken weckend: dunkle Vorhänge, schwarzer Flor, aufstrebende Bäume, schweigend und düster, weiße Blumen und mattbrennende Lichter im Halbdunkel. Den Tanzsaal bedeckte ein schwarzer Teppich, schwarzes Tuch und Florbehänge umkleideten die Wände, und inmitten des ernsten, lautlosen Schweigens stand der Sarg, in dem, hell sich abzeichnend, der Todte ruhte. Ein unendlicher Friede lag auf den Zügen; das spärliche weißschimmernde Haar an dem ehrwürdigen Haupt des Verblichenen förderte die Empfindung der Rührung und Andacht, und während ich noch einmal und wiederum im Vorüberschreiten ihn anschaute und auch die Umgebung auf meine Sinne wirken ließ, fiel mir auf, wie scharfgebogen sich die Nase abhob von dem weißleuchtenden Bilde, wie gewaltig das Antlitz des Mannes im Tode war!

Im Treppenhaus des Generalstabsgebäudes.

Entblößten Hauptes, den Schritt gedämpft, folgten die Scharen der Neugierigen; jeder sah dieses stille Gesicht, sah die Lichter um den Todtenschrein flimmern, die weiße Decke, die über dem Verstorbenen ausgebreitet war, daneben das tiefe Schwarz der Wände, die hochaufgerichteten, unbeweglich verharrenden, wie aus Erz gegossenen, wachthabenden Offiziere zu Seiten des gelben Eichensarges und den blüthenreichen Flor der zahllosen Kränze, die zu den Füßen des Verstorbenen niedergelegt waren. – Jeder geht einst, vielleicht bald denselben Weg! Aber keinem wird eine solche Feier bereitet; sie bereitet man nur den auserlesensten Geistern, denen es vergönnt war, Ungewöhnliches zu leisten im Dienste ihrer Mitmenschen, im Dienste des Vaterlandes! Ein ergreifender, unvergeßlicher Anblick, ein schwerwiegendes Glied in der Reihe der großen geschichtlichen Ereignisse, deren Zeuge wir waren seit den letzten Jahren, eines der bedeutendsten durch die Persönlichkeit des Dahingeschiedenen selbst. Denn hier waren gebettet die sterblichen Reste eines Mannes, von dem man sagen konnte: „Er war so groß, einfach und edel, so gottesfürchtig und in seiner Art die übrige Menschheit so gewaltig überragend, daß selbst der Tod nicht wagte, ihm anders zu nahen als im raschen Durchreißen des Lebensfadens.“ Das ist die letzte, größte Gnade, die dem Greise, die jedem werden kann vom Schicksal!

Als ich wieder ins Freie trat, erschien mir’s fast wie eine Entheiligung, daß so wie sonst die Sonne schien, die Menschen vorübereilten, schwatzten, lachten, Wagen und Reiter vorüberrasten und in der Stadt, in den Schaufenstern die Spiegelscheiben blitzten wie sonst, daß die Menge, nur an sich denkend, sich vorüberschob wie immer mit Packeten in den Händen, mit ernsten und heiteren Mienen wie jeden Tag, zu jeder Stunde. –

*               *
*

Breit strahlte die Sonne von der Höhe herab, als unter dem Hauptportal des Generalstabsgebäudes der Sarg des dahingeschiedenen Feldmarschalls erschien, und laut erschollen die Kommandorufe. Nun war auch der letzte Akt gekommen, nachdem oben im Sterbesaal die ergreifenden Worte des Feldprobsts Richter an das Ohr der Versammelten gedrungen waren und in der Brust Kaiser Wilhelms II. solch tiefe Empfindungen wach gerufen hatten, daß sich die Hand des kaiserlichen Herrn eine Weile vor das Antlitz hob, damit er der Thränen besser Herr werde!

Um den Sarg hatten gestanden und zum letzten Mal noch ihrer Verehrung Ausdruck verliehen die Herrscher Deutschlands und ihre Vertreter und die Abgesandten der Fürsten anderer Länder. „Geehrt sollte er werden wie selten ein Lebender von seinen Mitmenschen!“ so hatte es im vorigen Jahre Kaiser Wilhelm II. verkündet und zur That gemacht; nun gaben sie ihm das letzte Geleit in ein Land, in dem der Feldmarschallstab nicht mehr ist als der Handwerkshammer. –

Die Kriegervereine an der Moltkebrücke.

Wieder eines jener unvergleichlich farbenreichen Bilder, wie die jüngst verflossenen Jahre sie wiederholt den Berlinern gebracht haben: blitzende Uniformen und wallende Federbüsche, glänzende Harnische und Pickelhauben, flimmernde Waffen und Kanonen, Menschen und Pferde, Säbel und Gewehre, Epauletten und Schabracken, Gold, Silber, Roth und Grün und Blau, und darüber das strahlende Gold des Himmelsgestirns, alles verschönernd, beleuchtend, in jedem blanken Knopf eine sprühende kleine Sonne weckend.

Nun ein weithallender, schwermüthig dumpfer Trommelwirbel, und ein durch den hellen Tag klingender wehmüthiger Gesang: „Jesus, meine Zuversicht!“ Die Fahnen senken sich und der Zug ordnet sich zum Marsch nach dem Lehrter Bahnhof.

An der Spitze des Zuges, von einem Oberstlieutenant getragen, sieht man den Feldmarschallstab, dann die Orden des Verblichenen, von acht Offizieren gehalten auf seidenen Kissen.

Die Riesenerscheinungen des ersten Garderegiments nehmen Stellung, es rücken langsam, kurzen Schrittes, aufrecht, stramm, ernsten Blickes die übrigen Truppen näher, der Gesang verstummt. – Den Leichenwagen umgeben, Kränze tragend, Generalstabsoffiziere in ihren blitzenden Galauniformen, silbern und scharfroth, mit Schärpen und glänzenden Helmen, die auserwähltesten Männer aus dem großen deutschen Gesammtheer!

Nun schließen sich der Kaiser und der König von Sachsen an: gesenkten Hauptes, tief erschüttert schreitet der erstere einher wie einst unter den Linden, als Kaiser Wilhelm I. durch die schwarze Trauerstraße getragen ward; in ihrer Mitte schreitet der älteste Neffe des Verstorbenen, der Major von Moltke.

Endlos der Zug! Fremde Gestalten, ungewohnte Farben, Männer im Frack mit Ordensbändern, altfränkische Uniformen, Abgeordnete, Deputationen. – Zu beiden Seiten während des Vorbeimarsches an der Siegessäule und weiter bis zum Bahnhof die unbeweglichen, Spalier bildenden Gestalten der Soldaten der [351] Berliner Garnison. Ernst, gemessen, langsam, schwerfällig und schwermüthig, dem Leid Ausdruck verleihend, so ziehen sie dahin hinter dem Sarge, hinter dem schwarzen, von Kränzen erdrückten Leichenwagen. Selbst die Trakehner Rappen, die der Kaiser aus seinem Marstall gesandt, scheinen zu empfinden, um was es sich handelt, und ihre Köpfe neigen und heben sich langsam im Trauerschritt.

Durch die Alsenstraße, über die Moltkebrücke, jenseit deren die Kriegervereine mit ihren Fahnen Aufstellung genommen haben, wendet sich der Zug nach dem Bahnhof, und die Schlünde der Geschütze öffnen sich, und Donnerhall rollt durch die sonnendurchwirkte Luft, als der Zug dort eintrifft. Bald ist alles geschehen. In den königlichen Gemächern des Bahnhofs ist Moltke aufgebahrt. Auch hier ist alles schwarz, düster, dem Todesschmerz angepaßt. Der Sarg ist geschlossen, auf dem Deckel ruhen Marschallstab, Degen und Helm. Nun sieht ihn kein menschlich Angesicht wieder, nun ist er dahingegeben den dunklen Mächten. In der kleinen, engen Kammer ruht Deutschlands einstiger Schlachtengebieter, erloschenen Auges. Und den Sarg umstehen flammende Kerzen, und auch hier halten Soldaten des Königs Wacht, bis der stürmende Eilzug ihn fortträgt unter die stillen, eben ihr Frühlingskleid anlegenden Bäume des Landguts, auf denen so oft sein Auge geruht hat, während er noch weilte unter den Lebenden. – –



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.

(Schluß.)

Der Sommer zog vorüber, der Herbst brach herein. Durch die Lüfte tobte das wilde Heer in schauerlichen Sturmnächten, die rostigen Windfahnen kreischten in ihren Angeln und die Funken der Hüttenschlote stoben nach allen Richtungen auseinander. Die alten Mauern des Herrenhauses aber schirmten gut die einsame Frau und ihr Kind, die sich ihnen anvertraut hatten. In dem riesigen grünen Kachelofen leuchtete die Gluth auf unter der Wuth des Sturmes. Leise knisterte die Nachtlampe und leise athmete das Kind in seinem Bettchen.

Das große Lager aber stand unberührt; Frau Antje konnte nicht schlafen. Sie dachte an ihren Hochzeitstag im vorigen Jahre, da er sie zum ersten Male hatte empfinden lassen, daß sie eine ungeliebte Gattin, eine unbedeutende Frau sei, und sie dachte an alle die trüben schweren Tage, die diese Stunde im Gefolge gehabt hatte. Die letzte Zeit aber erschien ihr doch als die schwerste. Anfänglich, als Leo gegangen war, hatte sie auf ein paar Abschiedszeilen gewartet – es war keine Nachricht gekommen, auch später nicht – nie mehr. Maiberg reiste ab, auch er wußte nichts von Leo.

Hilde hatte schon vorher „Gottessegen“ verlassen, um zu den Eltern zurückzukehren. Der Bräutigam war ihr gefolgt, und vor einigen Tagen hatten sie Hochzeit gehalten. Der Dampfer, der sie nach Rio de Janeiro trug, schwankte wohl schon auf den Wellen des Oceans. Tante Polly war auch zur Vermählung erschienen, die zugleich zur Versöhnungsfeier ward. Ein Kärtchen, welches Hilde noch kurz vor ihrer Trauung gekritzelt hatte, um sich für ein kostbares Hochzeitsgeschenk bei Antje zu bedanken, meldete es, erzählte auch von einem anderen Geschenk, einer – Antje konnte es kaum entziffern – einer ganz entzückenden Statuette aus Erzguß, einen kleinen Amor mit verbundenen Augen darstellend. Aber diese leichtsinnige glückliche Hilde hatte kein Wort geschrieben, wo es herkam, dies Geschenk, aus welcher Stadt, aus welchem Lande. Auch in den ernsten Zeilen des Bräutigams stand nichts von dem Freunde, nur ein herzliches Glück auf! für kommende Zeiten, eine Bitte um treues Gedenken, die Hoffnung auf ein Wiedersehen. – Er wußte wohl auch nichts Bestimmtes, oder wollte es nicht sagen.

Antje war standhaft und tapfer; sie suchte Ruhe in der Arbeit, und sie hatte deren mehr als genug; ein Wunder, wie sie dieselbe bewältigte. An die neue Herrin wurden Ansprüche gemacht seitens der Arbeiter, die man der alten Frau Bergrath nicht zugemuthet hätte – es war eben eine andere Zeit angebrochen, und Antje verstand ihre Zeit. In jeder Weise ward sie billigen Forderungen gerecht, sie hatte aber auch den Muth, Unbescheidenheit zurückzuweisen, und zwar in persönlicher Verhandlung mit den Leuten. Und als ein baumlanger riesiger Arbeiter ihr in respektwidriger Weise eine Drohung zurief – sie stand, etwas höher als die Leute, auf einer Stufe der Treppe in der Halle – wies sie ihn mit wenigen Worten hinaus und seine Entlassung folgte auf dem Fuße.

Der alte Herr Kortmer, die jungen Herren des Kontors hatten ihren Ohren nicht getraut, und ersterer bat Frau Antje dringend, ihre einsamen Spaziergänge einzustellen, denn der Entlassene sei ein rachsüchtiger Mensch und zu allem fähig. Aber Antje schüttelte lächelnd den Kopf und ging noch an demselben Abend in die Wohnung des großen frechen Gesellen, um dessen Frau, die ein drei Tage altes Kind hatte, zu benachrichtigen, daß sie ruhig bleiben könnte in dem Quartier, bis sie wieder völlig gesundet sei und ihr Mann eine andere Stelle gefunden habe. Sie hatte dafür zwar keinen Dank erhalten; der Mann, der mit geballter Faust am Tische saß, sprach kein Wort, nur die finsteren Augen redeten an ihm, und das war nichts Gutes. Antje bemerkte es scheinbar gar nicht. Nach drei Tagen aber kam der lange Kerl zu ihr und bat, bleiben zu dürfen; er habe gesehen, sie sei gerecht und barmherzig, und er wolle nie wieder drein reden. Und Antje gewährte ihm eine Probezeit, von der sie seine Wiederanstellung abhängig machen werde.

Der Bau des neuen Hochofens war in Angriff genommen, das Material der Erzgrube vorzüglich; man konnte größere Lieferungen übernehmen als früher, und das Personal ward vermehrt. Antje hatte die Baupläne für Arbeiterwohnungen und für das Krankenhaus auf ihrem Arbeitstische liegen, der Anschlag für das Wohnhaus eines Hüttenarztes war bereits von ihr genehmigt, und sie suchte selbst den Platz dazu aus; es sollte ein Schweizerhaus werden. Im übrigen lebte sie vollständig einsam, die Trauer um ihre Mutter bot hinreichend Grund dafür. Welche Auslegung man der Abwesenheit ihres Gatten gab, wußte sie nicht, wollte es auch nicht wissen. Herr Kortmer sorgte dafür, daß man annehmen mußte, Herr Jussnitz befinde sich auf einer Studienreise in Italien.

Höchstens zu der Pastorfamilie ging Antje, oder die alte Frau Kortmer kam auf ein Plauderstündchen mit ihrem ungeheuren Pompadour, in dem immer eine kleine Näscherei für das Kind steckte; und sie sprachen dann von den Zeiten, als die Eltern Antjes noch lebten. Mitunter erschien auch die Frau Försterin; sie kam zu gern, denn in Antjes Zimmer stand auf einem kleinen Wandbrette die Photographie der „Brockenhexe“, und das eitle junge Weib hatte ein großes Vergnügen daran, das Bild anzuschauen.

In ihren Erholungsstunden las Antje; nie im Leben hatte sie soviel Ruhe dazu gehabt. In ihrem Bücherschrank entdeckte sie wahre Schätze; und sie suchte nicht etwa leichte Lektüre auf, sondern wählte belehrende Abhandlungen und Geschichte, vor allem Kunstgeschichte. Sie hatte in den Unterrichtsstunden bei dem Herrn Pastor früher das alles schon gelesen, jetzt that sie es mit brennendem Eifer, mit erwachtem Verständniß noch einmal. Die trüben Gedanken, die nach dem Zuschlagen des Buches kamen, die Fragen an die Zukunft, auf die keine Antwort war als die eine: – „Geduld!“ – suchte sie bei der Kleinen zu vergessen.

Heimlich aber flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr, die von Hoffnung und kommendem Glücke sprach, ein Ahnen kam ihr, als ob irgendwie die Wolken, die so schwer über ihrem Hause hingen, sich ein wenig, ein ganz klein wenig theilen müßten, um einen – nur einen einzigen Hoffnungsstrahl hindurch zu lassen.

Sie stieg am frühen Morgen die Treppe hinunter in das Eßzimmer, um ihr Frühstück zu nehmen. Ein grauer naßkalter Oktobermorgen blickte durch die Fenster; ihre Tasse stand da so einsam auf dem großen Tische, die winzige Kanne, die das Mädchen herbeitrug, enthielt nur für eine Person den Thee – er wollte der jungen Frau nicht schmecken.

„Heute vor fünf Jahren!“ klang es ihr immerfort durch den Sinn. Heute vor fünf Jahren, da lachte die Sonne hier herein, und überall hingen Kränze und Tannengrün; heute vor fünf Jahren saß da zum letzten Male zwischen den Eltern ein junges blondes Mädchen beim Frühstück. Sie konnte ihren Thee gar nicht trinken, weil jedes der beiden alten Leute eine ihrer Hände erfaßt hatte und eins um das andere sie küßte und streichelte.

[352] Wie schnell die Stunde verging, wie rasch der Augenblick erschien, wo eine in weiße Seide gekleidete Gestalt an seinem Arm durch die Halle schritt, um zur Kirche zu fahren, so stolz, so glücklich! Und wie bald der Augenblick kam, wo sie in den Wagen stieg, fortzuziehen mit ihm –

Die junge Frau schob die Tasse zurück und sagte halblaut zu sich: „Nicht weiter denken, nicht weiter!“ Aber wer kann seine Gedanken bannen?

Sie erhob sich entschlossen, preßte die Hände einen Augenblick gegen die Augen und ging durch das Kontor in ihr Arbeitszimmer. Ein reicher Posttag schien es gewesen zu sein, wohl zwanzig Briefe lagen auf der Platte des Schreibtisches.

Auch eine Kiste stand daneben am Boden, der Deckel bereits gelockert.

Sie las die Briefschaften, suchte Kortmer an seinem Pulte auf und kam dann nach einer längeren Besprechung zurück. Da stieß ihr Fuß, als sie sich eben zum Schreiben niedersetzen wollte, an die Kiste, und sie legte die Feder hin, knieete auf den Boden nieder und begann, auszupacken. – Was war das nur? Immer neue Holzwolle, Heu, Papier – endlich ein fester Körper. Sie versuchte ihn herauszuheben – keine Möglichkeit, er war zu schwer. Sie drückte auf die Klingel und befahl den Hausknecht. Der kräftige Harzerbursche hatte Mühe, einen sorglich mit Seidenpapier umwickelten Gegenstand empor zu heben.

„Das ist Stein oder Eisen, Frau Jussnitz,“ sagte er, stellte das räthselhafte Ding auf den Schreibtisch, wischte sich die feuchte Stirn mit der Schürze ab und ging.

Antje aber zerschnitt die Fäden, welche die Hülle befestigten, und riß das Papier herunter, – dann stand sie mit gefalteten Händen vor einer Gruppe von Metall, sie stumm betrachtend, und allmählich überzog ihr blasses Antlitz eine dunkle Röthe, ein paar schimmernde Tropfen hingen an den langen Wimpern. Wundervoll in der Komposition wie in der Modellirung war die vorwärts schreitende Idealgestalt eines Mannes; er stand auf der Spitze eines Felsens, den er im Lauf erklommen zu haben schien, sein Fuß schwebte bereits über dem Abgrund, im nächsten Augenblick mußte er in die Tiefe stürzen, die sein nach oben gerichteter Blick nicht wahrnahm. Um seinen Leib schlang sich eine Kette, und das andere Ende der Kette schloß sich um eine rührend schöne Frauengestalt; die lehnte in antiker keuscher Gewandung an dem Fels, ihre Hand hielt eine Spindel, das Symbol der Häuslichkeit und Weiblichkeit, der zarte Fuß stemmte sich gegen einen Stein am Boden, ihr Auge aber schaute dem Manne nach. In den Zügen dieses jungen Weibes prägten sich Liebe und Angst wunderbar fein aus.

„O, wohl dem Mann, den solche Ketten binden,
Aus Tod und Elend wird er heimwärts finden.“

war unten am Sockel in geätzter Schrift zu lesen.

Und Antje verstand – sie verstand. Sie lag plötzlich auf den Knieen vor dem Schreibtisch und umfaßte das Kunstwerk in stummem Jubel.

Dann suchte sie mit zitternden Händen nach einem Briefe, nach einem Wort – sie fand nichts; nur der Frachtbrief war da, er nannte als Absender eine berühmte Kunstgießerei in einer westfälischen Stadt.

Und nun suchte sie an der Gruppe und endlich fand sie in dem Fels zu Füßen der Frau zwei kleine Buchstaben, L. J., dasselbe Zeichen, wie es Leo seinen Bildern gab. Da senkte sie den Kopf gegen das kalte Erz und weinte.

An diesem Morgen war Antje für nichts Geschäftliches mehr zu haben; Herr Kortmer besorgte alles mit verwundertem Kopfschütteln. Frau Antje aber saß in ihrem großen Wohnzimmer und schrieb Privatbriefe.

Der alte Herr sagte zu seiner Frau beim Mittagessen: „’S ist doch immer ein Räthsel mit solch einem Weiberkopf, Alte; über ein halbes Jahr lang ist sie ganz vernünftig und sogar äußerst genial in der Arbeit gewesen; heute fällt’s ihr ein, Privatbriefe zu schreiben, zu einer Stunde, wo sie auf dem Platze hätte sein sollen. Und ein Telegramm an Herrn Ferdinand Frey, den sie zum Nachmittagskaffee herbestellt, ist auch schon fort. Holla, Frau Antje, da steckt etwas dahinter!“ –

Das war eine sehr lange Besprechung mit dem Vetter Ferdinand. Zuletzt wurde auch noch Herr Kortmer zugezogen. Er fand zwei junge Menschen mit vor Eifer glühenden Wangen und Augen, die vor Unternehmungslust funkelten.

Ach, und wie sich Herr Kortmer sträubte gegen den ungeheuerlichen Plan! „Eine Kunstgießerei anlegen? Nein unmöglich, ganz unmöglich! Wie sollte man denn konkurriren mit den berühmten Gießereien, zum Beispiel in Frankreich? Ja, da haben sie eben Künstler ersten Ranges, denn das Gießen, meine Herrschaften, das Gießen ist nicht die Hauptsache. Das Erz giebt es an vielen Orten, und die Komposition bekämen wir auch heraus, aber die Entwürfe der zu gießenden Gegenstände, die Idee, die Kunst, meine beste Frau Jussnitz, das Genie – ja, ja, suchen Sie nur, das findet sich nicht so beiläufig am Wege – nein, unmöglich, ganz unmöglich! Oder denken Sie, ein gottbegnadeter Künstler komme daher, sobald Sie nur pfeifen? Herr Gott im Himmel, mit so einer Versuchsgeschichte befaßt sich keiner, der etwas kann; den hält jeder fest, der ihn hat. Lassen Sie das nur, Frau Jussnitz, ich muß durchaus abrathen.“

Der alte Herr nahm aufgeregt eine Prise und schwenkte das rothseidene Taschentuch, und als er mit der sehr umständlichen Geschichte fertig war, sah er zu Frau Antje auf und blickte in ihr lachendes Gesicht. Herr Kortmer vergaß, seine Dose einzustecken, denn er hatte seine junge Herrin seit undenklicher Zeit nicht mehr lachen sehen. Und als er zu Herrn Frey hinüberblickte, lächelte der auch.

Der pflichttreue Beamte kam sich eine Minute lang vor wie verrathen und verkauft.

„Nun,“ sagte die junge Frau, „da wollen wir die Sache so drehen, lieber Kortmer: ich schaffe Ihnen zuerst das Genie, den Künstler, und dann errichten wir mit seiner Hilfe die Gießerei. Also ich hoffe, über vierzehn Tage kann ich Ihnen den besagten Herrn vorstellen. Ich hoffe –“ setzte sie leiser hinzu, „denn ich weiß ja nicht, ob er – –“ Dann hob sie den Kopf; „doch, ich weiß es; also in vierzehn Tagen! Und bitte, lieber Kortmer, sehen Sie sich einmal diese Gruppe an, wie gefällt sie Ihnen?“

Sie zog den alten Herrn vor den Kamin, auf dessen Sims das Kunstwerk stand. Die Lampen, die zu beiden Seiten brannten, beleuchteten hell die reizenden Gestalten, deren Patina wunderbar schön in diesem Lichte erschien.

„Ja, so einen – so einen können Sie lange suchen,“ sagte er endlich.

„Also, Sie geben doch zu, daß die Gruppe schön ist, lieber Kortmer?“

„Ja, soviel ich davon verstehe, sehr schön! Uebrigens, da müßte ich mich doch sehr irren, wenn ich nicht das Ding da abgebildet gesehen hätte. Herr Gott ja, warten Sie doch mal, Frau Jussnitz –“ Und der alte Herr lief, so rasch er konnte, nach dem Kontor und kehrte mit einem Blatt aus einer illustrierten Zeitung wieder.

„Sehen Sie doch, Frau Jussnitz, das muß es ja sein, und da steht auch etwas – ‚München, den 30. August 18… Berechtigtes Aufsehen machte in der Abtheilung der Bronzen und Kunstgüsse das Erstlingswerk eines jungen Künstlers: „Ketten“. – Genial in der Erfindung, geradezu vollendet in der Modellirung ist es eine der reizvollsten Arbeiten der ganzen Ausstellung. Jeden Beschauer wird der Ausdruck des Frauengesichtes sowie die Haltung des Körpers gerührt, ja bezaubert haben. Herr Leo Jussnitz, der Schöpfer dieses Kunstwerkes, soll, wie man sagt‘ – –“

Antje hatte auf einmal dem alten Mann das Blatt entrissen und las weiter: „‚soll, wie man sagt, bereits in früheren Jahren großes Talent für die Bildhauerkunst gezeigt haben; er arbeitete vorübergehend zu Berlin im Atelier des Professor Z., wandte sich aber, trotz der Aufmunterung seines berühmten Lehrers, wieder der Malerei zu, bis er, nach mancherlei Enttäuschungen, seinem ersten Beruf wieder zugeführt wurde.‘“

Antje ließ das Blatt sinken. Sie sah Herrn Kortmer an, der alte Mann schüttelte den Kopf und wandte sich rasch und ging der Thür zu. Da stand er noch einmal still, nahm die Brille ab und wischte daran, sie war ihm trübe geworden von ein paar Thränen.

„Nun also, dann wird’s so kommen!“ sagte er und ging hinaus.

Auch Herr Frey fuhr bald fort, er wollte diese bewegte glückliche Stunde in dem Leben der jungen Frau nicht stören.

Antje schloß bald darauf einen Brief und legte ihn selbst in die Postmappe. Er trug die Adresse der Kunstgießerei in

[353]

Die Ueberführung der Leiche Moltkes nach dem Lehrter Bahnhof.
Nach einer Zeichnung von H. Lüders.

[354] Westfalen. Eingeschlossen war ein kleinerer an Herrn Leo Jussnitz, und darin stand weiter nichts als: „Komm zu uns, zu Antje und“ – der Kleinen hatte sie die Hand geführt – „Leonie!“




Fast zwei Jahre sind verflossen. Ueber den Harzbergen spannt sich ein tiefblauer Sommerhimmel aus, frisch und klar ist hier oben die Luft.

Die Hütte „Gottessegen“ hat sich verändert, neue Gebäude ragen überall aus dem Grün der Bäume hervor, die Arbeiterwohnungen sind zu einem stattlichen Dörfchen herangewachsen. Noch immer muß der Reisende zu Wagen oder zu Fuß diese Abgeschiedenheit aufsuchen, denn die Bahn saust unten durch die Thäler. Aber viele kommen doch durch die herrlichen Wälder hier herauf, „Gottessegen“ ist ein ganz bekannter Punkt geworden in der Welt.

Heute ist vor dem Oberroder Gasthause „Zur grünen Tanne“, in dem es so köstliche Forellen giebt wie nirgends weit und breit, auch ein stattlicher Herr abgestiegen, hat sich besagte schöne Fische auftragen lassen und erkundigt sich nun angelegentlich bei der Wirthin, einer stattlichen Fünfzigerin, nach allen möglichen Dingen hier oben herum. Er hat einen müden Zug im Gesicht; das blonde Haar und der Bart sind schon mit grauen Fäden durchzogen.

„Meinen Sie das große Haus? Das ist die Gießerei; das Herrenhaus sehen Sie, sobald Sie auf den Platz treten; das Musterzimmer befindet sich unter dem Atelier, welches nach dem Garten zu angebaut ist. – Was sagen Sie, mein Herr? Ach so! Die Villa am Berge drüben? Die gehört dem Theilhaber der Firma, Herrn Ferdinand Frey, und in dem Schweizerhäuschen jenseit des Baches wohnen Doktors.“

„So – Doktors? Wie heißen denn die?“

„Maiberg, mein Herr; seit einem halben Jahre sind sie hier. Sie hätten nur gestern kommen müssen, da hätten Sie alle unsere Herrschaften sehen können; der alte Kortmer feierte nämlich sein vierzigjähriges Dienstjubiläum auf der Hütte. Das war ein großes Fest, und sie haben alle mitgetanzt, keine aber mehr als unsere Frau, und zuletzt hat Herr Kortmer ein Hoch auf sie ausgebracht; das war zu schön! – Sie kennen wohl Frau Jussnitz, mein Herr – oder nicht? Dann verstehen Sie auch nicht, wenn ich Ihnen erzähle, wie jung und alt sie gern hat! Ja, das ist eine Frau, unsere Frau!“

Der Fremde bleibt noch ein Weilchen sitzen, bestellt sich ein Zimmer, dann geht er hinauf nach dem Herrenhause und fragt nach Herrn Leo Jussnitz. Er ist im Atelier und man führt ihn dort hin.

Es ist ein schöner Raum, mit künstlerischem Schmuck ausgestattet; aber nicht weichlich, alles deutet auf bewußte Zwecke, es ist ein Arbeitsraum. Der junge Besitzer steht vor dem Thonmodell einer weiblichen Figur, bestimmt für einen Monumentalbrunnen. Er sieht nicht mehr so keck soldatenhaft aus, seine Haltung ist ein wenig gebückt, die Farbe ein wenig bleich – Ueberbleibsel von seinem Siechthum – aber was das Antlitz an Frische verlor, hat es an Tiefe des Ausdrucks gewonnen.

Er mustert den Fremden einen Augenblick verwundert, dann ruft er freundlich: „Herr Gott, Barrenberg, Sie? Wo – wo in aller Welt kommen Sie her?“

„Ich sitze drunten in H…burg und werde doch die Gelegenheit nicht versäumen, einen alten Freund und – na, ich darf es ja sagen, denn es ist keine Schmeichelei – vielgenannten und bestbekannten Künstler wieder zu sehen! Glück zu, Jussnitz, Sie haben es gut getroffen!“

Die beiden Männer schütteln sich die Hände. „Wie geht es Ihnen, Barrenberg?“

„Man lebt halt!“ ist die lachende Antwort. Aber Jussnitz bemerkt das Zucken des Gesichtes dabei. „Ihre Frau Gemahlin ist doch mitgekommen?“ erkundigt er sich.

Barrenberg hat sich schwerfällig in einen Sessel fallen lassen und sieht auf seine bestaubten Stiefel.

„Wenn Sie Irene von Erlach meinen, so fragen Sie Signor Colani nach seiner Gemahlin! Er wohnt mit ihr in Florenz.“

Jussnitz weiß nicht, was er antworten soll; da fliegt die Thür auf und ein kleines Mädchen stürmt herein, den Hut im Nacken, daß die weichen goldschimmernden Haare um das Köpfchen tanzen. Es fällt Jussnitz um den Hals und küßt ihn.

„Papa, Papa! Tante Maiberg mit Fred und Tante Frey sind gekommen, und Fred will immer laufen, und dann kann er nicht und fällt immer hin – es ist zum Todtlachen!“

Jussnitz lächelt, heißt sein Töchterchen dem Fremden die Hand geben und bittet ihn dann, mitzukommen.

Von der Veranda tönen fröhliche Stimmen herüber; auf dem Kiesplatz davor spielt eine farbige Wärterin mit einem dunkellockigen Kinde.

Die Hausfrau hat den Kommenden gleich erkannt; in ihrer stillen wohlthuenden Freundlichkeit geht sie ihm entgegen. Er sieht sie erstaunt an – wie sie aufgeblüht ist in den warmen Strahlen der Glückssonne, die über ihrem Hause aufging! „Welch eine schöne, gute Frau!“ sagt sich Barrenberg, als er in die tiefen schimmernden Augen gesehen hat, und er nimmt Platz neben ihr, nachdem er den andern vorgestellt worden ist.

Er läßt seine Blicke umherwandern. Dort, die kleine Blonde hat er bisher nicht gekannt, das ist Frau Frey. Aber da, jenes schöne schlanke Weib in weißem Kleide, mit den träumerischen dunklen Augen, das ist die kleine Spanierin von damals. Hilde sitzt und wickelt Garn, eine alte Frau hält es ihr. Diese wird ihm als Frau Polly Berger genannt, die zum Besuch bei ihrer Nichte weilt.

Bald ist ein lebhaftes Gespräch in Fluß. Antje berichtet von dem gestrigen Fest; Hilde erzählt von ihrem Aufenthalt in Brasilien. „Ich kann nicht beschreiben,“ schließt sie, „wie selig ich war, als ich wieder deutschen Boden unter meinen Füßen hatte. – Es war ein zu guter Gedanke von Ihnen, Antje, daß Sie Wolf und mich hier als ‚Doktors‘ haben wollten.“

Dabei springt sie auf und läuft die Stufen hinunter, hebt ihren dicken kleinen Fred empor und küßt ihn so ungestüm, daß der Junge schreit. Sie muß sich immer ab und zu auf solche Weise Luft machen, sonst hält sie das Stillsitzen nicht aus. Dann kommt sie athemlos zurück und setzt sich mit leuchtenden Augen auf ihren Platz. „Ein zu guter Gedanke, Antje!“ wiederholt sie nochmals und sieht zu dem Schweizerhäuschen hinauf, das ihre Heimath ist.

„Meine Frau hat immer nur gute Gedanken,“ sagt Leo und drückt Antjes Hand. Sie wird dunkelroth vor Freude und beginnt ein Gespräch mit Barrenberg. Und dessen ängstliches Gesicht beruhigt sich. Ja, Antje konnte es wagen, Hilde hier eine Heimath zu geben, denn Leos Herz gehört ganz seinem Weibe.

„Ich las vor ein paar Wochen in der Zeitung einen langen Artikel über Ihr Anwesen,“ spricht Barrenberg zu der jungen Frau, „ich darf es doch auch einmal durchwandern?“

„Gewiß!“ ruft Jussnitz, „und der Chef selbst wird sich die Ehre geben, Sie zu führen.“

Sie lacht und verspricht es.

„Das nenne ich wirklich ideal, wo technische Leitung und Kunst so Hand in Hand gehen,“ sagt Barrenberg.

Am Abend begleitet Leo den Freund nach dem Wirthshause. Barrenberg hat die Gastfreundschaft Antjes abgelehnt. „Nicht aus Bescheidenheit, Jussnitz,“ erklärt er stockend, „aber – ich bin ja nicht gerade neidisch; Sie verstehen mich gewiß –. Leben Sie wohl, Jussnitz, Sie haben das große Los gezogen. Eine schöne Frau und eine kluge Frau ist die Ihre. Aber ihre Bedeutung liegt nicht darin, daß sie fähig ist, eine solche Stellung auszufüllen, ihre Bedeutung liegt in ihrer Güte, in ihrer echten Weiblichkeit. Die Güte aber, Jussnitz, das ist die Hauptsache! Signora Colani war eine gar nicht unbedeutende Frau, aber – wo war die Herzensgüte bei ihr? Ach –“

Und er drückt noch einmal Leos Hand, dann geht dieser zurück.

Im dunklen Garten kommt ihm langsam eine lichte Gestalt entgegen. Er legt den Arm um sie, beide wandern auf und ab.

Auf einmal bleibt er stehen. „Barrenberg hat recht,“ sagt er und streicht über ihre Wange. „Die Güte ist die Hauptsache – was hätte ich angefangen ohne Deine Güte!“

„Ohne Deine Kette!“ neckt sie leise und schlingt die Arme um seinen Hals.

„Gottlob!“ spricht er, sie küssend, „daß es solche Ketten giebt, Gottlob!“

[355]

Blätter und Blüthen.

Moltkes Ruhestätte. (Mit Abbildung.) Im Parke von Creisau, etwa einen Kilometer vom Herrenhause entfernt, liegt auf einem mit niedrig gehaltenen Fichten dicht bewachsenen Hügel eine kleine Kapelle, ganz überwachsen von den üppigen Ranken der Kletterrose. Moltke hat sie einst erbauen lassen, als ihm – am Weihnachtsabend des Jahres 1868 – der größte Schmerz seines Lebens widerfuhr, die geliebte Lebensgefährtin von seiner Seite gerissen wurde. Wenn man das von einem bläulichen Lichte übergossene Gewölbe betritt, so hat man den Sarg der Gattin zur Linken, rechts davon steht ein zweiter Sarg, der die sterblichen Ueberreste von Moltkes Schwester, zugleich der Stiefmutter seiner Gemahlin, birgt. Zwischen beiden war bisher eine Lücke – jetzt ist sie gefüllt: hier haben sie die Gebeine des großen Feldmarschalls zur letzten Ruhe bestattet.

Die stille Grabkapelle war, als der schlichte Gutsherr von Creisau noch lebte, ein fast tägliches Wallfahrtsziel des einsamen Mannes. Dann legte er wohl einen frisch erblühten Zweig, eine Rose auf den Sarg der Verstorbenen und weilte bei ihr in treuem Gedenken. Jetzt ist er auf ewig an ihrer Seite gebettet, im Tode vereint mit der, die im Leben ihm zu früh entrissen. Ein segnender Christus, eine Nachbildung der Statue von Thorwaldsen, breitet seine Hände über den drei Särgen aus und ein Bibelwort verkündet uns, in welchem Geiste die hier Ruhenden auf Erden gewandelt: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“

Von der Höhe des Hügels fliegt unser Blick hinaus auf das schöne Schlesierland, auf die Schlachtfelder des großen Königs und der Befreiungskriege. Manch edles Soldatenherz ist hier verblutet, manch wackerer Sohn der deutschen Erde ruht hier vom heißen Streite. Ihre Geister aber umschweben raunend die Kapelle, darin der todte Feldherr schläft.

Die Grabkapelle in Creisau.
Nach einer Zeichnung von R. Püttner.


„Der internationale Verein der Freundinnen junger Mädchen“ nennt sich eine Gesellschaft, deren Zweck es ist, die jungen, auf Erwerb ins Ausland gehenden Mädchen mit Rath und That zu unterstützen. Denn nicht nur materielle Schwierigkeiten sind es, welche ihnen drohen, sondern oft schwere sittliche Gefahren, deren Opfer schon viele Ahnungslose geworden sind. Vor dem einen wie vor dem andern will sie der bereits über die meisten großen Städte von Europa verbreitete Verein schützen. Der Centralvorstand befindet sich in Neuchâtel und besteht aus drei Frauen. Ihm zur Seite stehen die Nationalvorstände der verschiedenen Länder, an welche sich das auswandernde junge Mädchen um Empfehlung zu wenden hat. Es erhält darauf hin die Adresse einer „Freundin“ in seinem neuen Bestimmungsort und hat bei der Ankunft dieselbe aufzusuchen.

Es wird ausdrücklich betont, daß der Verein sich mit Stellenvermittlung nicht befaßt; aber das Mädchen hat doch in den schweren Zeiten des Suchens einen Halt, eine Menschenseele, die sich ihrer annimmt, die ihr Herbergen, Lehrerinnenheime oder eine andere billige Unterkunft nachweisen kann. Hat das Mädchen dann eine Stelle, so wird es ihm ein großer Trost sein, an freien Nachmittagen die „Freundin“ aufzusuchen; verläßt es den Ort wieder, so erhält es die Adresse einer andern „Freundin“, die am neuen Bestimmungsort ihm wieder Fürsorge und Wohlwollen zuwenden wird. Selbstverständlich wird dieser Verein erst dann zu einer ebenso starken als wohlthätigen Macht gelangen, wenn er einmal in jeder größeren Stadt zahlreiche Mitglieder aufzuweisen hat. Denn es sind ja nicht nur Lehrerinnen und Erzieherinnen, die auf ihn angewiesen werden sollen, sondern auch alle dienenden Mädchen, welche den Willen haben, sich anständig und gut zu halten. Gerade für die letzteren ist die Erlaubniß, am Sonntag Nachmittag zu kommen, unschätzbar, denn sie bewahrt sie vor dem Wirthshausgehen und vor dem Sinken durch schlechte Gesellschaft. Manche der „Freundinnen“ versammeln an solchen Sonntagen eine Anzahl junger dienender Mädchen unter ihrer Aufsicht, lassen sie spielen, vorlesen, singen und haben alle die Erfahrung gemacht, daß die Mädchen gerne kommen und für freundliche Zusprache dankbar sind. Dies allerdings ist freie Liebesthat, die recht lebhafte Nachahmung seitens der vielen halbbeschäftigten und unbefriedigten Frauen der höheren Stände finden sollte! Verpflichtet sind die „Freundinnen“ nur zu den obengenannten Diensten, zu Rath und Auskunft.

Der deutsche Nationalvorstand giebt den „Rathgeber für junge Mädchen, welche in die Fremde wollen,“ heraus; er enthält nebst einer Anzahl Rathschläge ein Verzeichniß der Herbergen und Vereine in den größeren Städten. Den „Rathgeber“ erhält das junge Mädchen von der „Freundin“ ihres eigenen Ortes, diese schreibt ihren Namen, sowie den ihres Schützlings und die Adressen derer hinein, die ihm auf der Reise und am Bestimmungsort nützlich sein können. Der Nationalvorstand giebt vierteljährliche Mittheilungen über den Fortgang der Sache und das Mitgliederverzeichniß heraus, das deutsche sowohl als das internationale. Beides wird den Mitgliedern unentgeltlich zugestellt, und aus dieser Liste sind die Adressen sämmtlicher „Freundinnen“ zu ersehen, so daß das Mädchen schon an seinem Wohnort in Briefwechsel mit einer derselben treten kann.

Der jährliche Mitgliederbeitrag beträgt nur eine Mark! Einzusenden ist derselbe an eine der Damen des deutschen Nationalvorstandes: Frau Generalsuperintendent Baur in Koblenz, Fräulein Agnes Vollmar in Berlin und Fräulein Schellbach in Naumburg a. d. S. Möchten doch recht viele Frauen und Mädchen in gesicherter und glücklicher Lebensstellung den Entschluß fassen, als „Freundin“ das Los derer zu erleichtern, die mit der Noth des Lebens kämpfen müssen! Es ist nicht viel, was von ihnen verlangt wird, und sie werden sicher in der neuen Fürsorge eine Quelle wirklicher Befriedigung und Freude finden. Unsere Zeit hat auf den verschiedensten Gebieten schon gezeigt, was einmüthiges Zusammenwirken vieler kleiner Einzelkräfte zustandezubringen vermag. –

Auch die Frauenvereine sind bereits eine Macht geworden und haben manche schwierige soziale Frage mit Glück in Angriff genommen. Und eine solche dringende soziale Frage liegt gewiß auch in der schutzlosen Stellung der arbeitenden Mädchen im Ausland. Deshalb betrachten wir die Gründung des „Vereins der Freundinnen“ als eine segenbringende That und empfehlen ihn warm der Beachtung unserer Leserinnen in allen Welttheilen!

Wild-, Wald- und Weidmannsbilder von Guido Hammer. Die Liebe zum Walde ist dem deutschen Volke angeboren, und wer den Wald und sein tausendfältiges, geheimnißvolles, scheues und doch so trautes Leben mit warmen und wahren Worten zu schildern versteht, der hat die Herzen der Leser gewonnen; um wie viel mehr gelingt es aber dem, der den beredten Worten noch treffliche Zeichnungen hinzuzufügen vermag! Diese Kunst besitzt der langjährige Mitarbeiter der „Gartenlaube“ Guido Hammer. Im Jahre 1857, also gerade vor einem Menschenalter, hat er mit seinem illustrierten Artikel „Der Hirsch im Winter“ die Reihe der trefflichen „Wild-, Wald- und Weidmannsbilder“ eröffnet, welche jung und alt mit Spannung verfolgte. Nun bringt er uns gegen 70 dieser Bilder zu einem prachtvoll ausgestatteten Buche vereinigt, das unter dem obengenannten Titel im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig erschienen ist. Wir möchten das Werk nicht nur Jagdfreunden in die Hand geben; es eignet sich vor allem für die reifere heranwachsende Jugend, um in ihr die Liebe zur Natur zu erwecken oder zu stärken. Eltern und Erzieher sollten nimmer vergessen, welche Früchte die Beschäftigung mit der Natur trägt! „Habe ich doch dem Walde mein Allerbestes zu verdanken,“ sagt Guido Hammer selbst in seinem Vorwort zu dem Buche, „denn neben unschuldiger Lust und Freude, welche er mir in reichstem Maße gewährte, hat sein erhebender Einfluß mich auch immerdar wie der Geist eines guten Engels [356] getreulich behütet und beschützt und so zum Charakter, überhaupt zu einem besseren Menschen werden lassen, der dadurch vor vielem Verderblichen bewahrt worden ist, was die Ueberkultur einer Großstadt sonst so leicht über einen Schwachen zu bringen vermag.“

In diesem Sinne haben die Artikel Guido Hammers in der „Gartenlaube“ seit Jahrzehnten gewirkt; in diesem Sinne sei auch das treffliche Buch dem weiten Leserkreise derselben empfohlen.*     

Maifischmarkt in Düsseldorf. (Zu dem Bilde S. 345.) „Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe,“ meint Heinrich Heine. Wer aber auch nicht gleich ihm in der rheinischen Kunststadt das Licht der Welt erblickt hat, wird doch stets gern an die Zeit erinnert werden, die er dort verbracht hat. Freundlich liegt die Stadt am Niederrhein, dessen flache Ufer freilich keine Rebenhügel und keine Burgruinen mehr aufzuweisen haben. Die Stromseite bietet auch kein sonderlich schönes oder überraschendes Bild, wie in Köln oder Mainz, dafür ist Düsseldorf aber im Innern überall hell und gefällig, vielfach auch malerisch, wie z. B. der Alte Markt mit dem Rathhause und dem Reiterdenkmal des Kurfürsten „Jan Willem“, wie das Volk ihn nennt. An modernen Monumentalbauten fehlt es ebenfalls nicht, und einen ganz besonderen Reiz erhält die Stadt durch ihren Hofgarten mit seinen herrlichen Alleen und Anlagen. Handel, Industrie und Verkehr blühen, weithin berühmt sind Düsseldorfs Senfe und Punschextrakte – noch berühmter jedoch seine Maler und ihr „Malkasten“.

Ich weiß es noch wie heute, obwohl schon manches Jahr dazwischen liegt, wie ich neben Meister Kaspar Scheuren, dem unübertroffenen Aquarellisten rheinischer Ansichten, den nun auch bereits der kühle Rasen deckt, zum ersten Male auf den Ananasberg im Hofgarten stieg und dann von ihm in das originelle Künstlerheim des „Malkastens“ eingeführt wurde. Bei einer anderen Gelegenheit – es war im Anfang des Mai – wanderten wir zusammen durch die Straßen, als er plötzlich stehen blieb und auf den belebten Markt vor uns mit den Worten deutete: „Da meint nun so mancher, nur der Fischmarkt auf dem Quai von S. Lucia in Neapel oder die Pescheria in Venedig seien des Malens werth. Nun ja, die köstlichen zerlumpten Kerle und schwarzhaarigen Frauenzimmer fehlen hier und ebenso die vielgestaltigen Meereserzeugnisse, die als ‚Frutti di mare‘ dort feilgeboten werden. Ist trotz alledem aber dieser Blick auf unseren Maifischmarkt es nicht werth, im Bild künstlerisch festgehalten zu werden?“

Der Maler, dem wir das Bild auf S. 345 verdanken, hat das gethan und das geschäftige Drängen und Treiben auf dem Markte mit großer Naturwahrheit wiedergegeben. Ringsum Lärm und Bewegung. Wer Lust hat, kann die ausgiebigsten Dialektstudien machen und dabei wahrnehmen, daß die rheinische Mundart fast in jeder Stadt ihre besondere Klangfarbe und bezeichnenden Unterschiede hat. Mit lauter Stimme preisen Verkäufer und Verkäuferinnen ihre Ware an. Eifrig handeln an den verschiedenen Ständen die „Stützen der Hausfrau“ und untersuchen prüfend die in Körben und auf Tischen zur Schau gelegten Fische. Wirthe und Händler stellen sich ein, und bedächtigen Ganges tragen behäbige Bürgersfrauen ihren Einkauf heim. Aber auch wohlsituirte Herren, Beamte, Kaufleute u. dergl., verschmähen es nicht, dem Maifischmarkte einen Besuch zu machen, um in eigener Person dort einzukaufen. „Denn,“ meint jeder nachher am Stammtisch, „über einen leckeren Maifisch in Gelee mit Salat geht noch lange nichts!“

Wie schon der Name besagt, gehört der Maifisch gleich den Maiglöckchen und dem Waldmeister, der zur Bereitung des köstlichen Maitranks dient, zu den besonderen Gaben, die der „Wonnemond“ spendet. Er gehört zur Familie der Lachse, genauer zur Sippe der Renken, und heißt eigentlich Schnäpel (Coregonus oder Salmo oxyrhynchus). Der Maifisch ist ein Meeresbewohner und hat seine Heimath in der Nord- und Ostsee, von wo er aber alljährlich, „wenn’s Mailüfterl weht“, in die mit dem Meere zusammenhängenden Flußläufe, namentlich Rhein, Elbe und Weser, tritt, um darin aufwärts zu ziehen und dann in der Zeit vom September bis Dezember zu laichen. Die Züge dieser Fische geschehen mit einer gewissen Regelmäßigkeit, ja sie sollen dabei, ähnlich wie die der Kraniche, die Figur eines Dreiecks bilden, jedoch nur langsam vorwärts kommen. Während dieser Wanderung flußaufwärts, auf der sie jedoch im Rhein höchstens bis zur Gegend von Speier gelangen, werden die Maifische nun massenhaft gefangen und verspeist. Man bezahlt, je nach der Reichhaltigkeit des Fanges, gewöhnlich 40 bis 80 Pfennig für das Kilogramm und genießt sie entweder frisch oder auch eingesalzen und geräuchert. Am Rheine speist man sie ausschließlich frisch. Namentlich in den Städten des Niederrheines ist es jedesmal ein besonderes Ereigniß, wenn die ersten Maifische auf den Markt kommen, und die Lokalzeitungen versäumen es nicht, davon gebührend Notiz zu nehmen. In den Wirthschaften veranstaltet man besondere „Maifischessen“, bei denen natürlich auch entsprechend gezecht wird, da der Fisch bekanntlich schwimmen muß, und in den Familien gehört der Maifisch zu den bei groß und klein beliebtesten Schüsseln. F. R.     

Sonne und Schornstein. Es wird vielfach behauptet, daß die Oefen rauchen, wenn die Sonne auf den Schornstein scheint; andere erklären das für ein unsinniges Geschwätz, denn die Sonne scheine oft auf den Schornstein und die Oefen rauchen nicht immer dabei. Wer hat nun recht? Eigentlich niemand; allerdings stehen Sonne, Schornstein und Ofen in gewisser Beziehung zu einander, und unter Umständen können die Oefen rauchen, wenn die Sonne scheint. Dies tritt ein, wenn sich Folgendes ereignet. Scheint die Sonne von der einen Seite auf den Schornstein, so kann die an der erwärmten Wand gelegene Luftsäule erwärmt werden. Die Luft steigt alsdann an dieser Seite in die Höhe, während sie auf der anderen, nicht erwärmten Seite das Bestreben haben wird, niederzufallen. So bildet sich im oberen Theile des Schornsteins ein Luftwirbel, der bei einem schwachen Zuge in den Schornstein tiefer hinabsteigen kann und dann das Rauchen des Ofens verursacht. In der Regel aber rauchen die Oefen aus anderen Gründen, und zumeist sind daran die Menschen schuld und nicht die Sonne! *     

Erfrieren ohne Frost. Die Empfindlichkeit der Pflanzen gegen Frostgrade ist sehr verschieden. In den kältesten Gebieten der Erde, in Jakutsk und Werchojansk in Sibirien, wo die niedrigsten Temperaturen auf der Erde (von –62,0° und –63,2°C.) beobachtet wurden, wachsen noch zahlreiche Kräuter und Sträucher, gedeihen kräftig Birken- und Lärchenbäume, obwohl sie im Winter wochenlang dem Einflusse von Temperaturen ausgesetzt sind, bei denen das Quecksilber gefriert. Andererseits giebt es empfindliche Pflanzen, bei denen der Tod schon eintritt, wenn die Temperatur noch nicht einmal auf 0° gesunken ist. Die Gärtner meinen z. B., daß Tabak, Melonen, der buntblätterige Coleus etc. erfrieren, wenn sie während einer einzigen Nacht einer Temperatur von +2° ausgesetzt werden. Nun ist es klar, daß bei diesen Graden, die noch über dem Gefrierpunkte liegen, das Wasser in den Geweben der Pflanzen nicht gefriert und also diese auch nicht im eigentlichen Sinne erfrieren können. Aber die Blätter solcher Pflanzen sehen am andern Morgen schlaff aus; sie schrumpfen zusammen und werden schwarz, sie welken und fallen ab, kurz sie gleichen ganz den durch Frost getödteten Pflanzen. Und doch sind sie nicht erfroren. Sie sind nur verdorrt. Denn die Abkühlung des Bodens hat bei ihnen die saugende Kraft der Wurzeln gelähmt, und diese waren nicht mehr imstande, den durch die Athmnng der Blätter erzeugten Wasserverlust zu ersetzen. Schützt man die Töpfe solcher Gewächse durch wärmende Sägespäne, Baumwolle etc. und stellt sie in kalten Herbstnächten ins Freie, so ertragen sie selbst Lufttemperaturen von + 0,5°, ohne daß bei ihnen die Erscheinungen des Verdorrens oder des in diesem Falle sogenannten „Erfrierens“ zu Tage treten. *     




Kleiner Briefkasten.

H., Altenessen. Ein Handwerksmeister, welcher nicht regelmäßig wenigstens einen Lohnarbeiter beschäftigt, gehört in die Klasse derjenigen Leute, auf welche durch Beschluß des Bundesrathes die Versicherungspflicht ausgedehnt werden kann, was aber noch nicht geschehen ist. Vorderhand steht ihnen nur das Recht der freiwilligen Selbstversicherung zu, jedoch nur dann, wenn sie das vierzigste Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben und noch nicht invalid sind. Die Vortheile der Uebergangsbestimmungen in § 157 des Gesetzes kommen indessen nur den Versicherungspflichtigen zugute, also kann ein Handwerksmeister, welcher jetzt 71 Jahre alt ist, die letzten Jahre ohne Gehilfen gearbeitet hat und jetzt schon „fast arbeitsunfähig“ ist, Anspruch auf Altersrente nicht erheben.




Inhalt: Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed (4. Fortsetzung). S. 341. – Elfenbesuch bei den Zwergen. Bild. S. 341. – Maifischmarkt in Düsseldorf. Bild. S. 345. – Der Schatz der Cobra. Von Dr. A. Nagel. S. 346. – Helmuth von Moltke †. Stimmungsbild von Hermann Heiberg. S. 349. Mit Abbildungen S. 349, 350 und 353. – Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (Schluß). S. 351. – Die Ueberführung der Leiche Moltkes nach dem Lehrter Bahnhof. Bild. S. 353. – Blätter und Blüthen: Moltkes Ruhestätte. Mit Abbildung. S. 355. – „Der internationale Verein der Freundinnen junger Mädchen“. S. 355. – Wild-, Wald- und Weidmannsbilder von Guido Hammer. S. 355. – Maifischmarkt in Düsseldorf. S. 356. (Zu dem Bilde S. 345.) – Sonne und Schornstein. S. 356. – Erfrieren ohne Frost. S. 356. – Kleiner Briefkasten. S. 356.




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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Unter „Mimicry“ versteht man die Nachahmung bestimmter Thiere durch andere, welche letzteren dadurch, daß sie den ersteren nach Gestalt, Färbung, Zeichnung, Bewegungsweise etc. bis zur Verwechselung gleichen, gewisse Vortheile im Daseinskampf erlangen.