Die Gartenlaube (1891)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]

Nr. 35.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Baronin Müller.

Roman von Karl v. Heigel.

(Schluß.)

10.

Das Schloß des Prinzen Rüdiger ist ein Renaissancebau, vornehm und gefällig. Die östliche Stirnseite und zwei Flügelgebäude haben im Erdgeschoß Säulengänge; Blumen, Gesträuche und ein mächtiger Springbrunnen zieren den Vorplatz. An den westlichen Langbau grenzt ein Park. Aus dem dorthinaus gelegenen Arbeitszimmer des Prinzen sieht man über einen alten Lindengang weg ins freie Gelände, hinüber zur blauen Ferne des Gebirgs. Der Prinz stand am Fenster, das der Morgenkühle geöffnet war, als sein Adjutant Falkenberg bei ihm eintrat.

„Ein wundervoller Morgen,“ sagte der junge Fürst, indem er einen letzten Blick ins Grüne warf. „Am liebsten würde ich zu Pferde steigen. Leider ist es dafür zu spät. Um acht Uhr erwarte ich Excellenz Imhof zum Vortrag, zum ersten Vortrag, mein Lieber! ‚Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.’ Ich habe mich bis zwei Uhr früh durch Imhofs Denkschrift durchgearbeitet, und als ich fertig war, da war’s auch mit dem Schlaf vorbei. Um mich zu beruhigen, zu erheitern, griff ich auf gut Glück ein Buch heraus und – rathen Sie, was mir in die Hände fiel?“

Der Adjutant machte ein verlegenes Gesicht. „Hoheit wissen, wenn das Buch kein militärisches war –“

Ein Lächeln überflog das strenge, bräunliche Gesicht des Prinzen. „Da liegt es noch: ‚Goethes Italien’.“

Herr von Falkenberg lächelte auch, aber nur aus Höflichkeit.

„Merken Sie doch für die nächste kleine Tafel Professor Weber vor, er ist ein Goetheforscher. Ich möchte näheres über die schöne Mailänderin erfahren, die in Rom die Neigung des Dichters gewann. Das Wenige, das Goethe selbst darüber sagt, hat mich ergriffen. Ist Ihnen die Stelle bekannt?“

Die eidgenössische Bundesfeier in Schwyz: Die Rede des Bundespräsidenten Welti.
Nach einer Zeichnung von Fritz Bergen.

[582] „Zu meinem Bedauern nein, Hoheit.“

„Der Dichter, von dem Mädchen hingerissen, erfährt, daß sie Braut sei. Wie kommt er nun darüber hinweg? Hören Sie!“ Er las:

„‚… indem ich sie als Braut, als künftige Gattin ansah, erhob sie sich vor meinen Augen aus dem trivialen Mädchenzustande, und indem ich ihr nun eben dieselbe Neigung, aber in einem höhern, uneigennützigen Begriff zuwendete, so war ich, als einer, der ohnehin nicht mehr einem leichtsinnigen Jüngling glich, gar bald gegen sie in dem freundlichsten Behagen.‘ Wie finden Sie das?“

„Wenn man dem Dichter glauben darf –“

„Sie unverbesserlicher, ‚leichtsinniger Jüngling‘ –“ Die Standuhr schlug acht. Der Prinz klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch zurück. „Schon acht,“ rief er. „Auf unsere Posten, lieber Falkenberg! Ja, ja, ‚die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende!‘“ – –

Der Vortrag Seiner Excellenz hatte lange gedauert. Als der Minister seine Schriftstücke langsam und zögernd in die Mappe schob, fuhr sich Rüdiger über die gefurchte Stirn.

„Sie haben noch etwas auf dem Herzen?“ fragte er den Zaudernden.

„Eine persönliche Bitte, Hoheit.“

„Einem vorsichtigen Staatsmanne, einem redlichen Beamten wie Ihnen kann man sie im voraus gewähren.“

„Die Gemahlin des Stadtrichters Vitus Müller bittet heute um gnädiges Gehör.“

„Müller? Stadtrichter Müller? Mir unbekannt.“

„Bisher Amtsrichter in Hohenwart.“ Der Prinz horchte auf. „Seine Gemahlin ist die Mutter meiner zukünftigen Schwiegertochter, der Baronesse Gatterburg.“

„Ah, jetzt weiß ich – will sie nicht in die Residenz?“

„Sie kommt, um für ihren Mann die Nachsicht und Gnade Eurer Hoheit zu erbitten. Es handelt sich um die Unterschlagung amtlicher Gelder.“

Der Prinz fuhr empor. „Unterschlagung amtlicher Gelder? Ich bin für die Dame nicht zu sprechen, Herr von Imhof!“

„Hoheit, ich drückte mich nicht glücklich, nicht einmal genau aus. Allerdings hat sich Richter Müller eines Amtsvergehens schuldig gemacht, doch wie das Schicksal ihm zugleich widrig und hold gewesen, und wie er selbst dann die entscheidende Wendung herbeigeführt, um seine Schuld zu sühnen, das verdient die Theilnahme Eurer Hoheit.“

Der Prinz sah Imhof ungläubig an.

„Nicht weil auch das Glück meines Sohnes von dem Entschlusse Eurer Hoheit abhängt, spreche ich für den Richter,“ fuhr der Minister mit Wärme fort, „sondern weil ich den Unglücklichen trotz seines Vergehens für einen redlichen Mann halte!“

„Ein unredlicher Redlicher! Sie spannen meine Neugier. Ich kann den Fall ja auch von Ihnen hören!“

Imhof bewies sich brav in dieser schwierigen Lage.

„Hoheit!“ entgegnete er, „die Dame hat mich gebeten, ihre Sache selbst führen zu dürfen.“

„Ich bin nicht bestechlich. Wenn der Richter geurtheilt hat, darf der Fürst begnadigen. Frau Müller wendet sich zu früh an mich.“

„Auch ich habe das erwogen und glaube als Eurer Hoheit getreuster Rath den Eingriff in den gewohnten Rechtsgang verantworten zu können. Wird Müller bestraft, so ist er als Beamter unmöglich. Eure Hoheit, der Richter ist vielleicht kein glänzender Verstand, aber eine große sittliche Kraft. Geistreiche Arbeiter haben wir die Fülle, allein in einer Zeit wie die unsrige thun ganze und feste Männer noth. Vitus Müller war vor einer Entdeckung seiner Schuld, vor einer Verurtheilung sicher, er hat sich als sein eigener Ankläger bei mir gestellt aus freiem Antrieb, aus lebendigem Rechtsgefühl! Hoheit, dieser Mann muß dem Staate erhalten bleiben!“

Nach einer Pause sagte der Prinz: „Sei’s denn, ich werde Ihren Schützling empfangen, aber ich verspreche nichts. Sie haben mich nicht überzeugt. – Ist Frau Müller schon in der Residenz?“

„Vorläufig hält sie sich bei meiner Schwägerin auf. In begreiflicher Angst erwartet sie dero gnädigste Entscheidung.“

„Nun, den Eindruck einer furchtsamen, überfein empfindenden Natur hat sie nicht auf mich gemacht.“

„Ihres Mannes Ehre, ihres Kindes Lebensglück stehen auf dem Spiel, das erschüttert auch ein starkes Herz. Ich will nicht sagen, daß sie fein empfindet, wie denn überhaupt an Bildung, Schliff und vornehmer Haltung unendlich viele Frauen sie übertreffen werden. Aber wo es sich um Großes handelt, hat sie ein starkes Empfinden und Thatkraft. Damit werden Wunder verrichtet.“

Die Miene des Prinzen heiterte sich auf. „Gestehen Sie, mein Freund: als Sie sich ein Urtheil über die Frau bildeten, sprachen doch auch Ihre Augen mit?“

In das vertrocknete Gesicht Imhofs kam Gluth und Ausdruck. „Hoheit, die Dame ist Mutter einer Braut, zum zweiten Male Frau, trotzdem gilt sie unbestritten noch für eine Schönheit. Solche Lebenskraft verleihen nur die Götter! – Um mich angemessener auszudrücken,“ setzte er hinzu, über seinen Schwung noch tiefer erröthend, „dieser glückliche Widerstand gegen die Wirkungen der Jahre setzt Herzensgüte und edle Heiterkeit voraus.“

„Oder ein ziemliches Maß Selbstsucht,“ fiel der andere ein. „Wie Sie wissen, ist gerade heute meine Zeit beschränkt. Jetzt erwarte ich meinen Hofstab, mittags bezieht mein Regiment zum ersten Male die Hauptwache und auf Befehl meines Vaters marschiert die Compagnie hier vorüber, dann –“ Er trat an den Schreibtisch, schob den Band Goethe beiseite und überflog ein Blatt mit Aufzeichnungen. „Die Geschäftsträger – die Behörden – anderseits haben Sie recht: Ungewißheit, wenn es sich um Glück und Ehre handelt, ist auch für ein starkes Herz eine Folter. Grausam bin ich nicht. Sei’s denn! Ich erwarte Sie mit Ihrem Schützling um zwölf Uhr.“

Der Minister verneigte sich dankend; der Fürst sah ihn spöttisch an. „Sie haben mich nicht zu Gunsten der Betheiligten gestimmt. Sie verriethen zu viel und zu wenig. Anstatt mich zu überraschen, ließen Sie mir Zeit, zu überlegen.“

„Hoheit, bin ich deshalb zu schelten oder zu loben?“

„Je nachdem. Jedenfalls bitte ich Sie, der Dame schlichtweg Auskunft zu geben, keinen Trost!“

*  *  *

Aus der Mittelthür des fürstlichen Arbeitszimmers trat man in den sogenannten schwarzen Saal. Die Fliesen waren von dunklem Marmor, die Wände mit buntgewebten Teppichen und mit Schnitzwerk bekleidet; die Decke bildete ein Meisterwerk eingelegter Arbeit. Das Holz war dunkel geworden, Färbung und Vergoldung verblaßt, doch wenn Hunderte von Kerzen in den Kronleuchtern brannten, machte der Saal noch immer einen festlichen, warmen Eindruck. Drei Pfeilerbogen führten nach vorn in den heiter gehaltenen Vorraum, sie entsprachen den hochgewölbten Fenstern des letzteren, die nach Osten, auf den Schloßplatz gingen. Am Tage erhielt der schwarze Saal einzig von dorther sein Licht; dann lag er im Halbdunkel, in düsterer Pracht und verdiente seinen Namen.

Die Thürflügel des Arbeitszimmers standen offen. Wenn der Prinz, der dort auf und ab schritt, an diesem Rahmen vorüberkam, konnte er jenseit des schwarzen Saals im Mittelfenster die silbern zerstäubende Wassersäule des Springbrunnens sehen. – Das unerwartete Nachspiel, das sich heute früh an den ersten Vortrag des Ministers geknüpft hatte, beunruhigte den Prinzen nachhaltig. Er war kein weiches Gemüth, dennoch hatte die Vorstellung, das fürstliche Amt mit dem schönsten Vorrechte des Herrschees zu beginnen, auch für ihn ihren Reiz.

Aber muß nicht ein Fürst mit seinem Vorrechte sparsam sein? Und beginnt man klugerweise mit dem, was man sparen soll? Ist es fürstlich, den Unterthan gegen den Ausspruch des Gesetzes in Schutz zu nehmen?

Er hielt inmitten des Zimmers inne und verschränkte die Arme, in Nachsinnen verloren. „Nein,“ sprach er dann plötzlich leise vor sich hin, „Recht geht vor Gnade.“

Ein gedämpfter Tritt im schwarzen Saal ließ den Prinzen aufschauen. Sein Kammerdiener näherte sich. Zwischen beiden bestand Fühlung ohne Worte. Ebenso sachte, wie er gekommen war, begab sich der Diener an seinen Standort zurück, und alsbald erschienen im Eingangssaal, für den Prinzen wie auf einer beleuchteten Bühne, Excellenz Imhof, der Adjutant und eine Dame. Alle drei hielten sekundenlang in der mittleren Pfeilerweite, dann begaben sie sich in den Schatten des schwarzen Saals. Dort [583] blieben die Herren stehen, ihre Begleiterin jedoch, die Baronin, trat aufs neue ins Licht, in das Zimmer des Prinzen. Sie verneigte sich tief. Als sie wieder aufrecht stand, vornehm und schlank in ihrer schlichten schwarzen Kleidung, als sie den Kopf erhob und ihm das blasse Gesicht, die dunklen lodernden Augen zuwandte, da dachte der Prinz nicht im entferntesten mehr an die unverletzliche Allgewalt des Rechts, sondern bot ihr, nicht ohne Verwirrung, mit ritterlicher Artigkeit einen Stuhl an.

„Nach den Andeutungen Herrn von Imhofs,“ begann der Fürst, welcher Ida gegenüber Platz nahm, „nach seinen allerdings sehr unbestimmten Andeutungen ist die Veranlassung, die Sie zu mir führt, eine traurige.“

„Eine traurige, Hoheit; aber ich habe niemals einen Gang freudiger und zuversichtlicher gethan als diesen. Ich vertraue zu der Güte Eurer Hoheit; Hoheit sind der einzige, der meinen Mann trösten, aufrichten und der Welt und mir wiederschenken kann!“

Der Prinz blickte die Sprecherin erstaunt an. „Ich will nur hoffen,“ fiel er ihr dann kalt ins Wort. „daß unsere Auffassungen nicht zu weit auseinandergehen. Nach den Mittheilungen Imhofs machte sich Ihr Gemahl eines Vertrauensbruches schuldig!“

„Hoheit,“ sagte Ida und faltete flehend die Hände. „Wenn mein Mann aus allzu großer Nachsicht gegen mich einen Fehler begangen hat, so wird derselbe durch seine Bravheit, durch das Vorher und Nachher aufgeschluckt wie ein Sandkorn vom Meer. Ich im besondern danke Gott für den einen schwarzen Tag, denn ohne den hätte es in meinem beschränkten Kopf nie getagt, hätte ich nie erkannt, was für einen Schatz ich an meinem Mann habe und wie stolz ich auf ihn sein muß.“

Sie selbst, dachte der Prinz, die Unglückliche! „Eine Frage, Frau Müller: Wandten Sie sich mit Wissen und Willen Ihres Gemahls an mich?“

„Bewahre!“ versetzte sie treuherzig. „Er erhielt meinen aufklärenden Brief so spät, daß er mich nicht mehr zurückhalten konnte. Denn eigensinnig ist auch er wie jeder Mann, er will sich mit Gewalt für mich opfern. – Aber ich dulde es nicht und Eure Hoheit müssen ihm den Kopf zurecht setzen. Darum bin ich hier und darum rede ich. Die Sache ging nämlich folgendermaßen zu …“

Prinz Rüdiger verwandte keinen Blick von der Erzählerin. Imhof hatte recht, das war der Ton der Wahrheit, so reihte sich Ereigniß an Ereigniß, so wurde ihr Gatte schuldig ohne verbrecherische Absicht, so wurde ein begreiflicher Leichtsinn zum Vergehen, ein begreiflicher Leichtsinn!

Während er kein Wort verlor, zuckten ihm die Gedanken wie Blitze durch den Kopf. Was würde er, Prinz Rüdiger, an des Richters Stelle gethan haben, wenn ihn diese Lippen, diese Augen gebeten hätten?

Er athmete mit der Baronin auf, als sie die Wende schilderte, die Befreiung vom Alp, die Bewahrung vor der Schande. Er war gerührt und erschüttert. als sie ihm bekannte, wie sie ihres Mannes freien Entschluß erst nicht begriff, dann für Wahnsinn hielt, endlich doch bewundern mußte.

„Aber so groß das Gefühl ist, das meinen Mann leitet, es darf nicht gehen, wie er will – nach dem strengen Recht. Wenn es darauf ankäme, müßte ich mindestens die doppelte Strafe erhalten. Das werden wieder die Richter nicht wollen. Denn mich schützt meine Einfalt. Im Mund einer Frau ein spaßiges Wort! Und doch ist’s wahr. Wie wurde ich, wie werden Hunderttausende erzogen? Ein bißchen Französisch und Klavier, ein bißchen allerhand. Und dann schau, daß Du unter die Haube kommst, denn das ist die Hauptsache! Was die albernen Menschen eigentlich zusammenhält, vom Staat, vom Recht, vom Handel und Wandel, von der Wirthschaft im Großen und Kleinen hat man mir soviel wie nichts gesagt. Und darum begriff ich auch meinen Mann so lange nicht. Erst das Ich, dachte ich, und dann das Recht. Allein dann wurde es licht in mir, ich sah ihn so gut, so rechtlich, so wahrhaft adelig, und ich fühlte, daß in meinem leeren eitlen Herzen, die echte Liebe Einzug hielt. Und mit dieser Liebe wie mit einem Mantel schütze ich ihn gegen die kalte Welt!“

„Die kalte Welt!“ wiederholte er leise.

„Doch meine Liebe richtet gegen seine unerbittlichen Entschlüsse nichts aus. Da verfiel ich auf Eure Hoheit. Wenn ihm sein Fürst verzeiht, wenn Hoheit ihm mit einem Händedruck sagt: ‚Genug! Du bist ein braver Mann!‘ dann, hoffe ich, muß er gehorchen. Macht soll nicht vor Recht gehen, allein es giebt eine Macht, die göttlich, die gerecht und gütig zugleich ist. Hoheit, ich bitte um Ihren Schutz, Ihre Gnade für den redlichsten und besten Mann!“

Sie glitt vom Stuhl auf die Kniee. Der Prinz sprang auf, ergriff die flehend ausgestreckten Hände und zog sie empor. Hingerissen küßte er ihre Hände und fühlte davon Feuer in seine Adern rinnen. „Alles, alles ist ihm verziehen,“ rief er. „Er soll in meine Dienste treten – ich will –“ Er eilte in fieberischer Erregung an seinen Schreibtisch, um einen Befehl aufs Papier zu werfen, da fiel ein Buch zur Erde. Bevor er es hindern konnte, hatte sich Ida danach gebückt und überreichte es ihm. Es war der Band Goethes. Und das Buch erinnerte ihn an die vergangene Nacht, an die edlen Gedanken und Vorsätze, an die großen Entwürfe, die ihn nicht schlafen ließen. Gott, was will er thun! Gnade für Recht ergehen lassen aus diesem Grunde? Das Vertrauen und die Dankbarkeit einer treuen Seele gewinnen, um sie zu verderben? Die erste fürstliche Handlung soll Trug sein, die erste Gnade in Wahrheit ein Unrecht bedeuten? Er ließ sich in einen Sessel fallen und senkte die Stirn.

Nach einer Weile sagte er mit veränderter rauher Stimme, ohne Ida anzusehen: „Ich verspreche Ihnen die volle Begnadigung Ihres Gatten. Indessen Sie begreifen – ich muß dem Rechte seinen Gang lassen. Erst der Richter, dann ich. Allein wie auch das Gericht die Schuld Ihres Mannes beurtheilen mag, mein Urtheil steht fest.“

„Ach, Hoheit,“ erwiderte Ida traurig, „ich habe umsonst geredet. Recht, Richter, Schuld! Was Schuld ist, dünkt mich, ist auch dem einfachen Geiste klar. Gott helfe mir – um eine so kleine Schuld kränkt man nicht ein großes Herz!“

Der Fürst erhob sich gerührt. Wahr! dachte er. Wer vor der bürgerlichen Tugend, vor der stillen Größe dieses Richters keine Achtung empfindet, dessen Seele ist todt. Und sie ist dieses Redlichen Weib! Er erinnerte sich an die Worte Goethes. Soll er selbst nicht eben soviel Edelmuth und starken Willen besitzen wie der Dichter, soll nicht auch er imstande sein, ihr, die sich also vor seinen Augen erhob, dieselbe Neigung, aber in einem höheren, uneigennützigen Begriff zuzuwenden?

Nicht die Dauer eines Kampfes bestimmt den Werth des Erfolges. Als der Fürst im nächsten Augenblick abermals Idas Hände ergriff und drückte, that er es mit einer anderen, edleren Empfindung als vorher, und auf seinem Antlitz lag der Glanz des schönsten Sieges.

„Sie haben recht,“ sagte er innig. Er ging zu der offenen Thüre und rief den Minister herbei. „Imhof,“ wandte er sich an den Eintretenden, „ich theile Ihre Meinung über den Stadtrichter Müller in jedem Punkte. Aber zunächst will ich ihn für meine Dienste. Indem ich mich mit rechtschaffenen, erprobten Männern umgebe, nütze ich doch auch dem Staat. Hofrath Hasse tritt in den Ruhestand. Berufen Sie in meinem Auftrage Müller auf diesen Vertrauensposten. Heute noch!“ Er sah in das strahlende Gesicht Idas und setzte hinzu. „Sofort!“

Sie wollte dem Fürsten zu Füßen sinken, er duldete es nicht. Unterdessen war es in der Vorhalle lebendig geworden. Ein glitzernder Schwarm Offiziere erfüllte sie, Säbel und Sporen klirrten. Die Fenster wurden geöffnet und die Klänge einer kriegerischen Musik drangen herein. „Die Wache,“ sagte der Prinz und richtete sich unwillkürlich hoch auf. „Unser Lieutenant ist ja schon eingerückt, Imhof. Wann macht er Hochzeit?“

Der Minister warf einen raschen Blick auf Ida. „Wenn die Eltern der Braut damit einverstanden sind, am Geburtstage Eurer Hoheit.“

„Brav. Ich melde mich zum Brautführer, Baronin. Und wann wird sich mein neuer Hofrath bei mir melden?“

„Wenn Hoheit erlauben, noch heute!“ versetzte Ida lächelnd, während ihr die Thränen über die Wangen liefen.

„Um so besser. Zu jeder Stunde willkommen. Sie haben es gehört, lieber Falkenhorst.“

Die Sporen des Adjutanten klirrten zusammen. Man war in den schwarzen Saal getreten.

„Und nun, meine Gnädige,“ verabschiedete sich der Prinz, „Sie wissen, der Dienst – Keinen Dank! Leben Sie wohl!“ Er berührte ihre Fingerspitzen und trat zu seinen Offizieren.

*  *  *
[584]

Am Urner See.
Nach dem Gemälde von J. Schoyerer.

[585] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [586] Um sechs Uhr abends wurde Seiner Hoheit Hofrath Müller gemeldet. Der Prinz erhob sich rasch, ging dem Eintretenden entgegen und reichte ihm die Hand. „Mein lieber Hofrath,“ sagte er lebhaft, während er das offene, ehrliche Gesicht betrachtete, „kein Wort von der Vergangenheit! Hören Sie, nicht jetzt, nicht ein andermal! Minister Imhof ordnet die Sache ohne uns –“ der Mann gefiel ihm und so setzte er mit voller Aufrichtigkeit hinzu: „Wir sind Freunde!“

Die Abendsonne schien durch das Rundfenster ins Treppenhaus. Die Wandgemälde – deutsche Kaiser und Könige – welche die Eingangshalle schmückten, wurden im warmen Lichte lebendig. Eins war ein Nachbild von Dürers Karl dem Großen. Beim Eintritt hatte die innere Erregung das Auge Müllers umflort, jetzt da er in dankbarer, freudiger Bewegung das Schloß verließ, fiel ihm das Gemälde auf. Es erinnerte ihn an seinen König Karl in Hohenwart.

Der höchste Gerichtsbann, die Krone hat ihn freigesprochen! Unwillkürlich nickte er dem Erhabenen mit einem seligen Lächeln zu. „Frei! Aber der Krone, dem Staate doppelt verpflichtet!“

Unweit vom Schlosse hielt der Wagen, der ihn vom Bahnhofe hergebracht hatte. Mutter und Tochter saßen drin. Als Vitus wieder bei ihnen Platz nahm, fragte ihn Ida mit tiefer Bewegung: „Ist jetzt alles gut?“

„Alles!“ erwiderte er, „und Du habest ein Herz so treu wie Gold, sagt der Prinz.“

„Sagt er? – O Vitus, Vitus, was für ein Abend!“

Am Nachmittag des folgenden Tages begegnete Ida dem „Drachen von Hohenwart“. Als die Majorin von der geheimnißvollen Abberufung des Stadtrichters in die Residenz hörte, fand sie in der Nacht keinen Schlaf und am Morgen keine Ruhe. Sie benutzte den ersten Zug, um mit Minna nach der Hauptstadt zu fahren. Sie gönnten sich kaum das Mittagsbrot, streiften ruhelos durch die Straßen und fingen die Gesuchte am Ende glücklich ab. Nach den gegenseitigen Freudenbezeigungen über die Ueberraschung und den merkwürdigen Zufall erzählte Ida die große Neuigkeit. Die Majorin blieb sekundenlang sprachlos, dann lächelte sie giftig.

„Hofrath Seiner Hoheit? Aber Frau Baronin, bedachten Sie auch, was die böse Welt dazu sagen wird?“

„Ich verstehe,“ erwiderte Ida gelassen. „Allein die Welt glaubt nicht alles, was sie sagt, und darum ist die Welt nicht so bös, wie man sie macht. Uebrigens ein für allemal, liebe Majorin – wir werden uns ja hoffentlich noch recht oft sehen – nennen Sie mich nicht immer Frau Baronin! Der Titel meines Mannes ist Hofrath. Wenn Ihnen jedoch die Hofräthin nicht gefällt, so nennen Sie mich gut bürgerlich Frau Müller!“




Die eidgenössische Bundesfeier in Schwyz.

Von Dr. Thiessing.0 Mit Abbildungen von Fritz Bergen.

In den ersten Augusttagen dieses Jahres waren es sechshundert Jahre, daß die Orte Uri, Schwyz und Unterwalden zum Schutze ihrer Unabhängigkeit einen „ewigen“ Bund geschlossen haben. Sechs Jahrhunderte sind mit ihren Stürmen hinweggegangen über diese Vereinigung, die einst bei ihrem Beginn in unscheinbarem Rahmen sich darstellte, und doch ist sie durch keinen Wechsel der Zeit vernichtet worden. Was Wunder, daß die Erben jener That das sechshundertjährige Jubiläum des Bündnisses allenthalben und vor allem in Schwyz feierlich begangen haben, in jenen Alpenthälern, die mit Recht als die Wiege der Eidgenossenschaft gelten. Werfen wir, ehe wir dieses Fest selbst schildern, einen Blick zurück auf die Geschichte jener drei Urkantone.

Erst spät, später als manches der Gemeinwesen, mit denen sie in der Folge die Eidgenossenschaft schlossen, tauchen sie in der Geschichte auf. So wird Uri zum ersten Male erwähnt im 8. Jahrhundert. Im Jahre 853 schenkte dann Ludwig der Deutsche seine Besitzungen in Uri der Fraumünsterabtei in Zürich, das Thal wurde der Reichsvogtei Zürich einverleibt und kam mit dieser am Ende des 11. Jahrhunderts an die Herzöge von Zähringen. Als diese ausstarben, gab Kaiser Friedrich II. das Ländchen Uri dem Grafen Rudolf dem Alten von Habsburg, von dem es König Heinrich, Friedrichs Sohn und Stellvertreter in Deutschland, zurückerwarb. Er gab den Urnern einen Freiheitsbrief, durch den sie reichsfrei wurden, und setzte ihnen einen Landammann aus ihrer Mitte, unter dessen Leitung sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten selber besorgten, als eine Republik unter des Kaisers Schutz.

Das Thal Schwyz, meist von Freien bewohnt, stand unter der erblichen Landgrafengewalt der Habsburger. Die freiheitliebenden Schwyzer Bauern benutzten den Streit zwischen Friedrich II. und dem Papst, um von ihrem Grafen Rudolf dem Schweigsamen von Habsburg-Laufenburg abzufallen, nachdem dieser dem Kaiser untreu geworden war. Sie gelobten dem in Italien weilenden Friedrich Gefolgschaft und erhielten von ihm einen Freiheitsbrief, durch den er sie von Habsburg löste.

Unterwalden war von Freien und Unfreien besiedelt, der größte Theil des Bodens gehörte verschiedenen Klöstern und dem Grafen von Habsburg, der nebenbei auch die Herrschaft über die Thäler Stans und Sarnen ausübte. Wie die Schwyzer, so stellten sich auch die Unterwaldner im Kampfe Friedrichs mit Rom auf des Kaisers Seite, und da sie wie jene die Rache des Landgrafen zu befürchten hatten, so suchten sie Fühlung mit den Nachbarn von Schwyz und Uri. Man that sich zusammen, wie es eben ging, und bald wurden die habsburgischen Amtleute vertrieben, ihre Burgen zerstört (1245 bis 1250). Die Herrlichkeit der freien Bauern am Vierwaldstätter See dauerte aber nicht lange. Friedrich II. starb, und die Hohenstaufen unterlagen in Deutschland wie in Italien. Die Schwyzer und die Unterwaldner mußten sich Habsburg wieder unterwerfen, nur die Urner blieben unangefochten in ihrer Freiheit. Als jedoch bald darauf Rudolf III. von Habsburg die Herrschaft über die Waldstätte übernahm, den Besitz seines Hauses ringsum rasch zu mehren wußte und zudem auch überall schwere Steuern eintreiben ließ, da erstrebten die drei Länder am See, besorgt um ihre Zukunft, neuerdings eine Vereinigung.

In dieser Zeit kam die Nachricht vom Tode des Königs Rudolf, und neue Wirren im Reich standen in Aussicht, zugleich drohte aber auch die Gefahr der gänzlichen Unterjochung durch Rudolfs Sohn, Albrecht von Oesterreich. Jetzt war der ebenso nothwendige als günstige Augenblick gekommen, wo die Waldstätte ein festes Bündniß schließen mußten. Sie thaten es für ewige Zeiten auf der Rütliwiese am Urner See, „incipiente Augusto, anno domini MCCLXXXX primo“, das heißt am 1. August 1291. Die Urkunde über den Bund ist noch vorhanden und wird in Schwyz aufbewahrt. Sie ist lateinisch abgefaßt und trägt die Siegel der drei Landschaften, nicht aber die Namen der Männer, welche die Vereinigung abschlossen. Immerhin kennen wir aus einer andern gleichzeitigen Quelle wenigstens die damaligen Häupter der Urner und Schwyzer; es sind von Uri der Landammann Ritter Arnold, Meier von Silenen, Alt-Landammann Burkhard Schüpfer und Freiherr Werner von Attinghausen, von Schwyz Konrad von Iberg und Rudolf Stauffacher. Diese waren es wohl, welche neben den unbekannten Vertretern von Unterwalden den ewigen Bund in stand gebracht haben.

Dem Andenken jener bewegten, für die Entwicklung der Eidgenossenschaft grundlegenden Zeit galten die Festlichkeiten, die am 1. und 2. August in Schwyz und an den Gestaden des Vierwaldstättersees veranstaltet wurden.

„Mag auch,“ sagte der schweizerische Bundesrath in seiner Botschaft über die Vorbereitung einer solchen Feier, „in der Ordnung unserer inneren politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse heutzutage, wie dies zu allen Zeiten der Fall war. Kampf und Widerstreit walten, so sind doch alle Schweizer einig in der Liebe zu dem freien Vaterlande, welches ihnen glückliches Erbtheil geworden, und segnen alle den Tag, der ihnen dasselbe gegründet hat. Eine [587] Feier dieses Tages ist für jeden Eidgenossen klar und selbstverständlich. Sie ist, wie keine andere in unserem Lande, eine allgemeine nationale Feier, an welcher alle Völkerschaften der Schweiz ohne Unterschied der Sprache und Konfession, alle Glieder der Eidgenossenschaft gleich betheiligt sind. Es war den Eidgenossen noch nie vergönnt, diese Gedenkfeier zu begehen. So oft der säkulare Tag in den letzten Jahrhunderten wiederkehrte, waren widrige Zeitverhältnisse da, welche eine solche gemeinsame Feier unmöglich machten. Das Jahr 1891 aber traf die Eidgenossen in einer Lage an, die es ihnen gestattete, in der Erinnerung an das Jahr 1291 dem Besitz der Unabhängigkeit ein würdiges Bundesfest zu weihen.“

Am Vortag der Feier, an welchem die Ehrengäste – die höchsten schweizerischen Behörden sammt den diplomatischen Vertretern des Auslandes in Bern und den Abordnungen aller Kantone – an welchem Hunderte von andern Theilnehmern eintreffen sollten, da lag die Ahnung eines Regentages über der ganzen Landschaft. Auch nicht ein einziger Sonnenblick fiel in die Thalmulde, in welcher Schwyz eingebettet ist. Gedrückt war daher die Stimmung der Einwohner, welche Art und Unart des Wetters kennen und bange waren um das Gelingen des Festes, auf dessen Vorbereitung sie so manchen Monat verwendet hatten. Gegen Mittag stellte sich der Regen ein, und als am Spätnachmittag die Gäste anlangten, goß es in Strömen; der Regen dauerte ungeschwächt fort, als abends acht Uhr in allen Kirchen des Thales Schwyz der kommende Tag feierlich eingeläutet wurde.

Der Festzug auf dem Marktplatz in Schwyz.

In der Frühe des 1. August verkündeten Geschützsalven den Beginn des Festes. Um halb acht Uhr versammelten sich die Abordnungen der eidgenössischen und kantonalen Behörden im altehrwürdigen, geschmückten Rathhaus, und eine Stunde später bewegte sich der lange Zug der Ehrengäste zum Gottesdienst. Nach alter Sitte waren die Mitglieder der vierundzwanzig Kantonsregierungen von ihren Weibeln begleitet, welche bei solch feierlichen Anlässen weite Mäntel in den Farben des Kantons, Bogenhut und Amtsstab tragen und von den Landleuten und der neugierigen Jugend unendlich mehr bewundert werden als die Landesväter in Frack und Zylinderhut. Nach der Kirche ging der Zug auf den Festplatz, eine weitausgedehnte Wiese an sanft ansteigender Halde, mit einer entzückenden Aussicht auf das Thal gen Brunnen, auf ein Stück See und auf den ernsten Rahmen der Berge. Die Festhalle befand sich auf dem höchsten Punkt; am untern Rand des Platzes erhob sich das stolze Proscenium der Bühne für das Festspiel. Selbst in der an Naturschönheiten überreichen Schweiz giebt es in der Nähe von Ortschaften wenige Stellen, wo einer solchen Feier eine solche Stätte hätte bereitet werden können.

In dieser jetzt vom Regen aufgeweichten Wiese stellte sich der Zug rings um die Rednerbühne auf. In den vordersten Reihen standen die Diplomaten, neben ihnen die Bundesträthe, die an ihren weißen Federbüschen weithin erkennbaren eidgenössischen Obersten mit General Herzog, die Vertreter der höchsten Justizbehörden und der akademischen Unterrichtsanstalten; Reihe an Reihe folgten die übrigen Theilnehmer, im weiten Umkreis das Volk. Vor dieser Menge, angesichts des weiten Geländes, entbot als Vertreter von Kanton und Stadt Schwyz Ständerath Reichlin allen seinen gastlichen Gruß, welcher sofort vom Bundespräsidenten Welti erwidert wurde. Mit treffenden Worten zeichnete Welti die Bedeutung des Festes, die Umwandlung der politischen und socialen Verhältnisse seit den Anfängen des Schweizerbundes bis auf den heutigen Tag, die Anforderungen, die im Lauf der Jahrhunderte an die Schweizer gestellt wurden, und diejenigen, welche ihnen die Neuzeit stellt. „Aus der Vergangenheit,“ schloß er „schöpfen wir die Kraft zum Vollbringen, zur gemeinsamen Lösung der Aufgaben der Gegenwart. Legen wir heute alle, Männer und Jünglinge, Frauen und Töchter, die Hände ineinander zur Gelobung des neuen Bundes und treten wir ernsten Sinnes, aber mit Zuversicht in ein neues Jahrhundert des Schweizerbundes!“

Damit war das Fest eröffnet, es folgte ein kurzes Mittagsmahl in der geräumigen Festhalle, welche 6000 bis 7000 Personen fassen konnte. Gegen ein Uhr füllten sich die 10 000 Sitzplätze auf dem gegen die Festspielbühne abfallenden Wiesenplan; dank [588] der günstigen Lage konnte auch der letzte Zuschauer einen freien Blick auf die Bühne haben und der Rede der Spielenden folgen. Der Regen hatte aufgehört, ja im Hintergrund des Theaters wurde, für Augenblicke vom Sonnenlicht übergoldet, Urirothstock sichtbar.

Der Feuerkreuz auf dem Mythen.
Die Festspielbühne mit dem Urirothstock im Hintergrunde.

Das Festspiel begann mit einer sinnbildlichen Darstellung der Besiedlung des Landes der Waldstätte durch Fischer- und Jägerfamilien; dann zogen in prächtigen Bildern an den Zuschauern vorüber die Beschwörung des ewigen Bundes auf dem Rütli, die Siegesfeier nach der Schlacht bei Morgarten im Jahre 1315, die Schlacht bei Murten (1476), die Tagsatzung in Stans von 1481, auf welcher das Versöhnungswerk des Einsiedlers Klaus von der Flüe gelang und ein drohender Zwiespalt zwischen den schweizerischen Landschaften beigelegt wurde; endlich Pestalozzi als Retter und Erzieher der Jugend nach dem Verzweiflungskampf der Nidwaldner gegen die französische Uebermacht vor hundert Jahren. Ein Nachspiel, an dem sämmtliche 720 Personen der vorhergegangenen Akte theilnahmen, schloß die Handlung ab. Zwischen diese wirkungsvollen bunten Scenen waren lebende Bilder eingelegt, welche die Thaten Tells und Winkelrieds zu packender Geltung brachten. Das ganze Werk zeigte eine wohlthuende Frische: eine einfache und edle Sprache, Sorgfalt in der Auswahl des Stoffs, gewandte Anordnung der Gruppen und der Farbentöne, Richtigkeit der Bewegungen bei den schauspielerisch doch nicht geschulten Darstellern – das alles wirkte zusammen, um eine gewinnende Einheit von Sage und Geschichte in der Dichtung und bei deren dramatischer Vorführung einen tiefen Eindruck hervorzurufen.

So gestaltet, haben diese mit Gesang und Instrumentalmusik verbundenen Schauspiele eine Zukunft vor sich; neben ihnen wird der stumme historische Umzug, und wären die Kostüme noch so schön und echt, nur in mehr untergeordneter Weise bestehen können. Was in manchen deutschen Städten schon lange mit Erfolg ausgeübt wurde, was in Worms zur Errichtung eines besonderen Theaters geführt und hier in Schwyz wieder so mächtig gewirkt hat – das Bestreben, ein Volksschauspiel und eine Volksbühne zu schaffen, es wird sich immer mehr Boden erobern. Denn wo in einfacher Sprache, durch volksthümlichen Stil und Stoff zu einer Nation geredet wird, da bleibt ein freudiges Echo, ein inneres Sichheben des Volkes nicht aus. –

Den ersten Gedenktag schloß ein Bankett in der Festhalle, wo bei mehr und mehr sich aufheiterndem Himmel bald auch die volle Feststimmung sich einstellte. Und wer aus dem Jubel drinnen heraustrat in die schweigende Nacht, der sah rings auf den Höhen die Freudenfeuer erglänzen, und vom großen Mythen herab strahlte ihm durch die wallenden Nebel, die den Berg verhüllten, wie von Geisterhand getragen, von Zeit zu Zeit ein riesiges eidgenössisches Kreuz entgegen. Bei solchem Anblick machte den heimischen Festtheilnehmern der Eindruck des Tages leise verklingen in dem Vers des alten „Tellenliedes“:

„Ein edel lant, guot recht als der kern,
Das lit beschlossenen zwüschen berg,
Vil fester dann mit muren.
Da huob der pundt zum ersten an;
Sie hant der sachen wislich tan
In einem lant, heißt Ure.“ – –

Mit prächtigem Sonnenschein brach der 2. August an; tausend und abertausend Augen bewunderten schon in der Frühe das leuchtende Bild der Berglandschaft. Von allen Seiten, von den Berghalden herunter und hervor aus den stillen Thälern, strömte nun in sonntäglichem Putz das Landvolk, um an diesem Ehrenfest der Schweiz auch seinen Theil zu haben. Dankbare, empfängliche Herzen waren es, die sich da zusammenfanden. So hatte die Wiederholung des Festspiels, die morgens neun Uhr begann, einen noch durchschlagenderen Erfolg als die erste Aufführung. Die Sonne und der Beifall belebten aber auch sichtlich die Darsteller, die am vorhergehenden Tag mehrere Regenschauer hatten über sich ergehen lassen müssen.

[589]

Die Rütli-Feier.

[590] Als das Spiel zu Ende war, ergoß sich ein unabsehbarer Menschenstrom hinunter nach Brunnen, das mit der Schwesterstadt Schwyz wetteiferte an Schmuck und freudiger Stimmung. Dampfer und Boote aller Art harrten am Ufer, denn nun begann die Fahrt nach dem jenseitigen Gestade, zur Rütli-Feier.

Als die Ehrengäste den steilen Aufstieg überwunden hatten, der vom Urner See her zu jener denkwürdigen Wiese emporführt, wo einst der Schwur der Eidgenossen stattfand, da hatte sich das Volk schon ringsum an der Halde gelagert. In der Mitte der Wiese stand eine mächtige Schar von Sängern aus den benachbarten Städten, und hier im Angesicht der Berge, die ebenso groß und schweigend vor Jahrhunderten auf die Gründung des Bundes niedergeschaut haben, begann jetzt die Gedenkfeier mit einem gewaltigen Männerchor. Dann bestieg als Vertreter der Bundesbehörden der Präsident des Ständeraths, Dr. Göttisheim, die Rednerbühne. Er pries den deutschen Dichter, welcher die Ideale des Volkes in unvergleichlicher Weise zum Ausdruck gebracht habe; eindringlich mahnende Worte knüpften sich an ein in kräftigen Zügen entworfenes Bild des heutigen allgemeinen Interessenkampfes, der schließlich auch die ältesten Einrichtungen untergraben und die bestgefügte Ordnung erschüttern könne. Ihm antwortete, den Gruß der Urkantone entbietend, der Urner Landammann Dr. Schmid.

„Der Rütlischwur“, eine dramatische, von Direktor Arnold in Musik gesetzte Scene nach Worten aus Schillers „Tell“, fügte als würdiger Abschluß sich an. Bei bedeutungsvollen Stellen ging eine begeisterte Bewegung durch das versammelte Volk, so als in machtvollen Tönen die Worte erklangen:

„Hört, was mir Gott ins Herz giebt, Eidgenossen!
Wir stehen hier statt einer Landsgemeinde
Und können gelten für ein ganzes Volk –“,

so als Stauffacher sang:

„Wisset, Eidgenossen,
Ob uns der See, ob uns die Berge scheiden
Und jedes Volk sich für sich selbst regiert,
So sind wir eines Stammes doch und Bluts,
Und eine Heimath ist’s, aus der wir zogen.“

Ein Stück vom Geist der ersten Eidgenossen war an diesem Tag auf dem Rütli zu spüren; jenes tiefe Gefühl für das Vaterland, das schon beim Festspiel ergrauten Männern Thränen ins Auge gelockt hatte, es waltete auch hier. Und wenn so die Seele des Volks, in ihren Tiefen bewegt, in ihrer lichten Seite sichtbar wird, dann ist der Höhepunkt eines Nationalfestes gekommen. So war es auch dort auf dem Rütli. Was nachher noch sich anschloß, als die Nacht hereinsank in die Thäler: die Beleuchtung der Ufer des Urner Sees und seiner Berge, das war schön und stimmungsvoll, allein an jene weihevollen Stunden des Nachmittags reichte es nicht heran.

Und nun ist der Festjubel verrauscht, die Arbeit ist wieder in ihr Recht getreten. Möge gerade dieses ruhige Wirken des Alltags von der Erinnerung an die Feier gehoben, von dem Gedanken getragen werden, daß die wahre Einheit eines Volkes in dem beruht, was es mit Anstrengung seiner geistigen und materiellen Kräfte leistet für den Fortschritt an innerer Bildung, für den Sieg edler Menschlichkeit in allen seinen Einrichtungen.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Kamerunerin.

Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski.

(Schluß.)

Das Wohnzimmer des Lindenhauses trug ein ganz eigenartiges Gepräge. Es war ein saalartiger, heller Raum. Durch geschickte Anordnung der altmodischen, dunkeln Möbel zerfiel er in zwei selbständige, obschon ungleiche Hälften, von denen jede ihr eigenes, ausdrucksvolles Gesicht hatte. Die linke und größere bildete wohl das Reich der Frauen, denn hier gab es orientalische Sitzplätze und Teppiche; in vergoldetem Ringe schaukelte sich ein buntfarbiger Vogel und daneben stand in einer tiefen Fensternische friedlich ein echt deutsches Nähtischchen.

„Hier hausen wir, Tante Seraphine und ich – drüben regiert Papa,“ erklärte Martina dem Gaste. „Es läuft also keineswegs auf eins hinaus, ob sich der Besucher beim Eintritt nach links oder rechts wendet. Hier wird nur Kaffee oder Thee verabreicht und je nachdem bürgerlich kleinstädtisch oder über Dinge der Kunst Unterhaltung gemacht, während drüben, jenseit des Striches“ – den „Strich“ bildete ein geöffneter, mit Notenblättern bestreuter Flügel – „Weltumsegler und andere Menschenkinder, die für ‚hohe‘ Wissenschaft etwas übrig haben, ungestört mit dem Vater ihre Kreise ziehen dürfen.“

In der That begann „jenseit des Striches“ eine andere Welt. Da hingen statt der Gemälde Landkarten jeder Art und Größe an den Wänden, da gab es einen Schrank mit Büchern, einen zweiten voller Erinnerungsschätze, eingesammelt auf gefahrvollen und mühseligen Wanderungen – schließlich unweit des malerischen alten Kaminofens einen von hochlehnigen Stühlen umgebenen großen Tisch, auf welchem sich alle zu des Professors Arbeiten erforderlichen Dinge um einen mächtigen Globus geschart hatten.

„An diesem Tische empfing ich als Kind den ersten Unterricht,“ sagte Martina, während ihre Hand liebkosend über den abgenutzten, schwarzen Wachstuchbezug glitt. „Vater selbst ertheilte ihn mir. An seiner Hand durchwanderte ich im Geiste die Welt und lernte ihre Wunder kennen und schätzen. – Doch da kommen die Meinen,“ unterbrach sie sich, die Augen zur Thür wendend. „Ich brenne darauf, endlich Ihre Geschichte zu vernehmen, aus welcher hoffentlich auch hervorgehen wird, woher Sie meinen doch zum mindesten ungewöhnlichen Vornamen wissen.“

Nicht lange danach saß die kleine Gesellschaft „diesseit des Striches“ – in gemüthlicher Unterhaltung beisammen.

Der Professor war ein überaus liebenswürdiger, schlichter alter Herr, dem die Jahre sein einstiges lebensfrohes Kindergesicht nur mit einigen Falten durchzogen, aber nicht zu nehmen vermocht hatten. Tante Seraphine, die runde kleine Dame mit dem spiegelglatten Silberscheitel, den apfelfrischen Wangen und den blanken, lustigen Schlehenäuglein kam dem Doktor vor wie das vollendete Bild eines freundlichen Hausgeistes. Er sagte ihr das auch in seiner einfachen Art, der man die Wahrhaftigkeit anmerkte, und versprach der vor Freude ganz jugendlich Erröthenden, wenn, wie er sicher hoffe, demnächst die Familie Ronald in Hermannsthal einen Besuch mache, so werde sie auf einem meisterhaften alten niederländischen Gemälde ihr Ebenbild erblicken!

In diesem Augenblicke, in dem sich der Doktor behaglich zum Erzählen zurechtsetzte, verschwand die Sonne am Horizont, im Scheiden noch eine Fülle von Purpurrosen über das Lindenhaus hinstreuend.




7.0 Wer hätte das gedacht!

Es versetzte ganz Kronfurth in eine unbeschreibliche Aufregung, daß der Hermannsthaler das Innere der Drachenburg urplötzlich, ohne ersichtliche Veranlassung, durchweg auffrischen und verschönern ließ; nicht verständnißlos, so daß nur neue Möbel an Stelle des angestammten behaglichen Hausrathes gesetzt worden wären, sondern mit liebevoller Schonung des Alten. Nur das verschwand, was der Wohnung bisher da und dort einen nüchternen Junggesellenanstrich gegeben hatte.

„Der Herr Doktor Claudius richtet sich ein wie ein Hochzeiter,“ erklärte der Kronfurther Tapezier jedem, der ihn über den wichtigen Gegenstand ausfragte, „und es eilt ihm mit dem Fertigwerden, als sei das erste Aufgebot bereits heraus!“

In der That strebte Claudius mit fieberhaftem Eifer dem ersehnten Ziele zu.

„Ich muß den Kronfurthern mit der vollbrachten That entgegentreten, bevor sie ihre Nasen in mein zur Zeit noch verborgenes Lebensglück gesteckt haben,“ sagte er zu dem getreuen Gerlach, welcher sofort nach seiner Rückkehr von ihm ins Vertrauen gezogen worden war.

„Ganz meine Meinung,“ entgegnete der junge Direktor. „Versichern Sie sich nur Ihres ‚Dornröschens‘, alles andere wollen wir dann schon so schnell und heimlich besorgen, daß die große [591] Neuigkeit wie eine Bombe in das neugierige alte Nest hineinplatzen soll!" – –

Die Mertens hatte Migräne, und noch dazu am Vortage der ersten Mittagsgesellschaft in Hermannsthal. Auf morgen hatte ihr Herr seine alten Freunde, die Eberhards und den Direktor feierlich zu Tisch geladen, und dazu jemand ganz Fremdes, die Familie Ronald vom Lindenhaus draußen. Und nun mußte sie unthätig hier auf dem Sofa in ihrem Stübchen sitzen und sich die Stirn mit Essigtüchern kühlen, statt in der Küche nachzusehen. Aber so geht’s, Unglück kommt nicht allein!

Der schöne Amadeus war auf ein paar Minuten heruntergekommen, um nach ihrem Ergehen zu fragen, und saß nun mit gleichfalls umwölkter Miene ihr gegenüber am Tische. Seine Beziehungen zu der Mertens hatten seit Weihnachten eine noch wärmere Art angenommen, seit Weihnachten, wo ihn die Gute mit selbstgestrickten Pulswärmern und Ueberziehschuhen überrascht hatte. „So einer wie Sie, Herr Amadeus, denkt nicht an seine leibliche Wohlfahrt,“ hatte sie gefühlvoll dabei bemerkt – „deshalb braucht so einer einen andern, der ein weibliches und fürsorgliches Auge auf ihn hat!“

Das war sehr richtig, und deshalb trauerte der schöne Amadeus; denn die brave Mertens sollte das Haus verlassen. Allerdings, sie hätte vorsichtiger sein und dasjenige, was er im Vertrauen mit ihr besprach, für sich behalten müssen, statt es ihren Freundinnen in der Stadt auf die Nase zu binden; aber du lieber Himmel, sie hatte es doch gar nicht böse gemeint und nun war’s einmal geschehen! Man muß auch verzeihen können! Der Doktor hätte der Mertens nicht gleich kündigen sollen, als er erfuhr, daß die Geschichte von der Kamerunerin von ihr ausgegangen sei. Seitdem that sie nichts als weinen, bis ihre Augen ganz entzündet und verschwollen waren.

„Das geht nun nicht länger so,“ begann heute der schöne Amadeus. „Es ist nicht zu bestreiten, daß sich der Herr Doktor uns gegenüber – ich sage ‚uns‘, da ich mich gleichfalls einigermaßen schuldig fühle – im Rechte befindet, ebenso wenig aber, daß er bisher allezeit ein überaus nachsichtiger und gütiger Gebieter gewesen ist. So will ich es denn unternehmen, ihm die ganze Sache noch einmal, vom Gefühlsstandpunkt aus, vorzustellen!“

„Das heißt, Sie wollen ein gutes Wort für mich einlegen, Herr Amadeas?“

„Gerade das, meine Liebe. Sie waren mir immer wohlgesinnt, erwiesen mir manchen Freundschaftsdienst, und so wäre ich wirklich froh, bei dieser Gelegenheit meine Dankesschuld in etwas abtragen zu können.“

„O, Herr Amadeus, wie gut Sie sind! … Wenn ich daran denke, daß ich aus diesem schönen, behaglichen Leben fort soll, das drückt mir mein Herz ab! Eine solche Küche mit solchem Prachtherde krieg’ ich mein Lebtag nicht wieder! Ach, und all das andere –!"

„Unsere netten Plauderabende bei Punsch und Kartenlegen zum Beispiel!“

„Erbarmen Sie sich, Herr Amadeus! Daran darf ich schon gar nicht denken!“

„Im Gegentheil! Sie sollen daran denken und sich aufraffen, statt ohne weiteres die Flinte ins Korn zu werfen! Statt zu weinen und sich zu grämen, sollten Sie nach Ihrem Zauberstabe greifen!“

„Nach – was, Herr Amadeus?“

„Nach dem Kochlöffel, wenn Ihnen das besser einleuchtet. Das ist Ihr Zauberstab, dessen Macht Sie morgen zeigen müssen. Sie sollten alles dran wenden, unsern Doktor und seine Gäste durch die glänzendsten Leistungen auf dem Gebiete der Kochkunst in Erstaunen und gute Laune zu versetzen! Dann wäre der Augenblick da, wo meine Fürsprache die rechte Würdigung und vermuthlich auch Erhörung finden könnte!“

Die Mertens hörte auf zu weinen und schleuderte ihre Stirnbinde in eine Ecke. Der Vorschlag des schönen Amadeus schmeichelte ihrem Selbstgefühl und stachelte ihren Ehrgeiz an.

„Was für ein Segen ist es doch, einen so klugen und gebildeten Rathgeber zu besitzen!“ sagte sie mit begeistertem Aufblick zur Zimmerdecke. „Ich werde Ihnen folgen, Herr Amadeus! Ich werde thun, was in meinen Kräften steht, und das übrige dem Himmel und Ihnen überlassen! Was meinen Sie zu einer feinen Hühnerpastete?“

„Dazu darf ich bei meiner Unwissenheit in der Küchenkunst gar nichts meinen, liebe Freundin. Es hieße, mit ungeschickter Hand in Ihre zarten Kombinationen eingreifen!“

„Reichen Sie mir das Kochbuch von der Kommode herüber, Herr Amadeus, wenn Sie so gütig sein wollen,“ sagte sie mit einer gewissen Feierlichkeit als Antwort auf diese feine Schmeichelei. „Ich bin noch etwas schwach auf den Füßen, aber seien Sie ohne Sorge: Philippine Mertens kennt ihre Pflicht! So, ich danke Ihnen. Nun werden wir den Speisezettel zusammenstellen. Nach der Suppe natürlich Forellen mit frischer Butter. Darauf käme dann meine delikate Hühnerpastete. Zum jungen Gemüse –“

Der schöne Amadeus erhob sich. „Ich möchte die Einzelheiten der Speisekarte lieber heute noch nicht hören, sondern mich morgen davon überraschen lassen,“ meinte er artig.

„Wie es Ihnen beliebt. Eins aber könnten Sie mir noch zu Gefallen thun, Herr Amadeus. Ich habe da vorgestern bei meinen Wirthschaftseinkäufen in Kronfurth einen Zucker-Amor im Schaufenster des Konditors gesehen; den könnten Sie mir verschaffen. Ich möchte ihn auf die Torte setzen. Er hält ein durchstochenes Herz in der Hand und paßt für alles.“

„Schön, Fräulein Mertens; soll bestens besorgt werden. Der Einfall ist nicht ohne Poesie, hoffen wir, daß er unserm Doktor das Herz rührt.“ – –

Als die Mittagsgesellschaft recht im Zuge war – der schöne Amadeus trug eben mit Hilfe des in eine Livree gesteckten Gärtnerburschen den vierten Gang auf – machte sich die Mertens einen Augenblick in der Küche los und stellte das Hilfsmädchen an ihren Platz. Sie mußte unbedingt einen verstohlenen Blick in den Speisesaal thun; hatte doch Amadeus eigens zu diesem Zweck die Thür hinter sich ein Ritzchen weit aufgelassen.

„Sehen Sie sich nur unseres Herrn neue Bekanntschaft gut an, Fräulein Mertens,“ hatte er vorhin mit wichtiger Miene gesagt – „der alte Herr ist nämlich ein berühmter Schriftsteller!“

„Ah! So einer, wie Sie einer werden wollen, Herr Amadeus?“

„Ganz richtig, meine Liebe. Auch seine Damen scheinen moralischen Werth zu besitzen. Die ältere bemerkte vorhin, es gehe hier alles so regelrecht zu, wie ihr das in einem unverheiratheten Haushalte noch niemals vorgekommen sei.“

So stand nun die Mertens an der Thürspalte und freute sich über ihre geschmackvolle Festtafel, zu deren Ausschmückung allerdings der freundliche Sommer mit seinem Blüthenreichthum das beste gethan hatte, über die gut aussehenden Speisen, die fröhlichen Gesichter und den sichtlichen Appetit aller Gäste. Die neuen Bekannten des Herrn gefielen auch ihr, besonders das Fräulein im schwarzen Spitzenkleide, mit den blaßrothen Rosen an der Brust. Auch Doktor Claudius hatte heute eine Rosenknospe im Knopfloch; er sah sehr stattlich aus und strahlend von Fröhlichkeit. Die Unterhaltung ging flott und heiter, Eberhards und Herr Gerlach schienen mit der fremden Familie bereits recht gut Freund zu sein.

Nachdem die Mertens ihre größte Neugierde befriedigt hatte, schlüpfte sie wieder in die Küche hinunter. War doch der Augenblick nicht mehr fern, wo man zum Nachtisch gelangen, wo der schöne Amadeus mit Takt und Geschick die Torte auftragen und den Amor mit dem durchstochenen Herzen ins rechte Licht setzen würde! Die Mertens bekam eine Gänsehaut und plötzlich wurde ihr so schwach, daß sie in ihr Stübchen gehen und einen Likör nehmen mußte. Die Karten lagen auf dem Tische; sie griff danach und begann eilig die gewohnte Figur zu legen. Hier! Hier stand es wieder, was sie schon einmal herausgelesen hatte: Veränderung im Hause! Während sie so angelegentlich mit der Enthüllung der Zukunftsräthsel beschäftigt war, trat der schöne Amadeus ins Zimmer.

„Wo stecken Sie denn, Fräulein Mertens? Ist Ihnen nicht gut?“

„Nur ein bißchen schwach, Herr Amadeus.“

„Ach was, jetzt ist keine Zeit zum Schwachsein! Auf, der Doktor will alles vergeben und vergessen sein lassen. Ja, ja, ohne Spaß. Aber es ist besser, Sie versparen sich die Rührung bis später, denn der Anstand erfordert es, daß Sie jetzt mit mir hinaufgehen, zum Gratulieren.“

„Zum – Gratulieren?!“ Die Mertens stand wie von einer Feder emporgeschnellt auf den Füßen.

[592] „Zum Gratulieren,“ wiederholte er feierlich. Die Sache war nämlich so: kurz vor dem Nachtisch hat der Herr Professor Eberhard einen kleinen Trinkspruch gehalten und gesagt, er freue sich, daß sein lieber Freund Claudius endlich doch noch unter die ‚Fröhlichen‘ gegangen sei, und er hoffe, die heutige, so überaus gelungene gesellige Vereinigung werde nicht die letzte im schönen, alten Claudiushause sein. Darauf nickte unser Doktor ihm zu – sie schienen ein bißchen im Einverstädniß – und erhob gleichfalls das Glas. Er meinte, es sei ihm eine große Freude, heute seine nächsten und besten Freunde um sich versammelt und mit der Umgestaltung seines äußeren Lebens einverstanden zu sehen. Ebenso sicher erhoffe er nun auch ihre Billigung hinsichtlich der Umwandlung seines inneren Menschen, welche der anderen vorangegangen sei und ihnen nun, im Vertrauen auf ihre freundschaftliche Antheilnahme, geoffenbart werden solle. Er habe sich nämlich, um nicht in die alte Duckmäuserei zurückzufallen, einen Schutzgeist, eine treue und verständnißvolle Lebensgefährtin ausgewählt. Hier that die Frau Professor Eberhard einen kleinen Schrei, doch der verhallte ziemlich ungehört unter dem allgemeinen Stuhlrutschen. Unser Doktor aber nahm das fremde Fräulein bei der Hand und stellte sie als seine Braut vor. Sie hatte Thränen in den Augen und lächelte dazu und stand ganz still, während die andern um sie herumliefen, durcheinander sprachen und mit ihr anstoßen wollten. Als endlich jedes wieder an seinem Platze saß, kam ich mit der Torte und stellte sie gerade vor das Brautpaar hin. Das Fräulein bemerkte den Amor zuerst. ‚Wie niedlich er ist!‘ sagte sie. ‚Hast Du den kleinen, geflügelten Schelm eigens für heute bestellt, lieber Ernst?‘

‚Nein, gnädiges Fräulein Braut,‘ antwortete ich statt unseres Doktors, der den Amor lächelnd betrachtete – ‚er ist, wenn Sie gütigst gestatten, eine kleine Huldigung von unserer Haushälterin!‘

‚Ja, aber wußte denn die –?‘

‚Nein, gnädiges Fräulein Braut,‘ antwortete ich mit dem gleichen, edlen Anstande – ‚sie wußte nichts, aber sie ahnte etwas. Frauen haben ja in solchen Sachen einen besondern Ahnimus! Und so wollte sie denn in dieser jedermann verständlichen Sprache ihren Glückwunsch darbringen, der aus aufrichtigem, wenn auch tiefbetrübtem Herzen kommt!‘“

„O, Herr Amadeus, wie himmlisch!“ schluchzte die Mertens.

Er lächelte geschmeichelt. Nun, himmlisch wohl gerade nicht, aber ganz gut muß ich gesprochen haben, denn sie lächelten beide. ,Warum betrübt?‘ fragte das Fräulein, sich nach mir umwendend. Dann schien sie sich zu erinnern, unser Doktor mußte ihr die Geschichte erzählt haben.

‚Möchtest Du nicht vergeben, Ernst?‘ fragte sie halblaut. ‚Es sollte heute in Deinem Hause nur fröhliche Herzen geben! Und schließlich –‘ hier sprach sie ganz leise, aber ich erlauschte es doch, freilich ohne den Sinn ihrer Worte zu verstehen – ‚schließlich war ja auch an der Klatschgeschichte nicht alles böswillige Erfindung. Die Kamerunerin hat’s ja doch ausgemacht.‘

Da lachte der Doktor sehr vergnügt. ,Sei es denn,‘ sagte er – und dann, zu mir gewendet: ‚Theilen Sie der Mertens mit, daß alles vergeben und vergessen sein soll.‘

‚Mit Freuden, Herr Doktor!‘ erwiderte ich, verneigte mich wie in meiner Glanzzeit auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, und ging stolz durch die Mitte ab.“

„Ach, Herr Amadeus, Herr Amadeus!“

„Wischen Sie sich das Gesicht ab und gehen Sie grad so wie Sie aussehen mit zum Gratulieren. Verweinte Augen machen sich bei Familienfesten niemals schlecht und gehören nach dem Vorangegangenen noch besonders zu Ihrer Rolle.“

„Verlobung! Verlobung in Hermannsthal! Wer hätte das gedacht!“ sagte die Mertens. Dann gingen sie miteinander hinauf.

*               *
*

„Wer hätte das gedacht!“ sagte auch Frau Edith, als sie im Hermannsthaler Jagdwagen durch den sternenklaren Sommerabend heimfuhren. „Diese Martina – was für ein absonderlicher Name! – ist ja ein recht nettes Mädchen, aber … ja wunderst Du Dich denn wirklich gar nicht ein bißchen, Mann?“

„Nicht ein bißchen. Warum auch? Eine Verlobung ist doch das natürlichste Ding der Welt. Nur Ihr Frauen seid immer erstaunt, wenn Ihr’s nicht ein paar Monate vorher schon ausgetiftelt habt.“

„Unausstehlicher Mann! … Aber höre ’mal, Du bist doch auch der Ansicht, daß diese Geschichte schon lange spielt, nicht erst seit Wochen?“

„Das weiß ich wirklich nicht zu sagen, Mäuschen. Erinnere Dich, wie schnell wir einander fanden. Ein Tanzkränzchen, eine Landpartie und die Sache war fertig.“

„Ach ja, wir hatten damals ebenso schönes Sommerwetter wie heute! Ich trug noch lange Zöpfe und Du warst noch so hübsch schlank!“

Die Erinnerung stimmte Frau Edith ganz weich. „Möchten die Hermannsthaler so glücklich werden, als wir es sind,“ sagte sie, vergewisserte sich, daß der Kutscher sich nicht umblicke, und schnitt jede Gegenäußerung ihres Eheherrn durch einen unhörbaren, aber sehr nachdrücklichen Kuß ab. –

„Wer hätte das gedacht!“ sagte ganz Kronfurth, als mit der Abendpost die Verlobungskarten ankamen. Niemand hatte ja dasjenige, was hier unabänderlich gedruckt stand, auch nur im entferntesten geahnt, und einer lief zum andern, um sich Gewißheit zu holen, da er seinen eigenen Augen nicht traute. Als Sophie Adler die Neuigkeit erfuhr, schlich sie sich sachte davon, in den dunkelnden, einsamen Stadtpark. Dort weinte sie ungesehen und ungehört ihr Herzeleid aus. Nicht, daß sie sich ernstliche Hoffnungen gemacht oder auch nur allzukühne Träume geträumt hätte, aber – „daß es gerade so kommen, und daß es so bald, so plötzlich kommen würde, wer hätte das gedacht!“ –

Des Doktors „Lebensroman“ war mit der Verlobung nicht zu Ende. Das vermeintliche Schlußkapitel bildete vielmehr den Anfang zu einer neuen, ungeahnten Fülle von Lebensglück, zu einer neuen Lebensgeschichte, die auf jedem Blatt vom echten Frieden der Liebe zu erzählen wußte. Walter von Grollmann machte sich des Doktors Beispiel zu nutze, er ließ nicht nach, bis auch er seine Else heimführen durfte, und auf der Rückkehr von der Hochzeitsreise machte er mit seiner Frau wirklich seinem Versprechen gemäß eine Woche Rast in Hermannsthal. Dort fanden die beiden alles in schönster Eintracht; das Band, welches den Doktor mit Gerlach verknüpft hatte, war durch die Heirath nur noch fester geworden. Die „wohlthuendste Harmonie“ aber bestand, wie Amadeus dem Lieutenant versicherte, zwischen ihm und dem Professor Ronald. Und er hatte nicht ganz unrecht. Ronald hörte die Theatererinnerungen und philosophischen Betrachtungen des ehemaligen Komödianten gerne an und verrieth sogar für die Einzelheiten der „Nachteule“ eine wohlwollende Theilnahme. Da Amadeus gut und fließend schrieb, durfte er für den Professor bisweilen Manuskripte abschreiben, woraus ihm sowohl geistig als praktisch ein hübscher Gewinn erwuchs.

„Heute bin ich wieder den ganzen Nachmittag nicht vom Pegasus heruntergekommen,“ pflegt er nach solchem Arbeitstage mit wichtiger Miene zu seiner Vertrauten Mertens zu sagen, mit der er ebenfalls in ungetrübter Harmonie verbleibt. „Ja, ja, meine Liebe, es ist etwas Großes und Schönes, aber keineswegs etwas Leichtes, Mitarbeiter eines bedeutenden Gelehrten zu sein!“ Und dann rückt die gute Mertens, welche eine unklare, aber sehr grauenhafte Vorstellung von besagtem Pegasus besitzt, im Sturmschritt mit einem Imbiß für die erschlafften Lebensgeister ihres Freundes und Gönners heran. – – –

Im Aristoteles-Zimmer, dem Schreibtisch des Doktors gegenüber, hat sich Frau Martina ein anmuthiges Arbeitsplätzchen eingerichtet und über diesem prangt, jetzt unter Glas und Rahmen, das Bild der Kamerunerin. Jedermann weiß, daß dieses kleine Scheusal in irgend einer Beziehung zu des Doktors Herzensgeschichte steht, aber niemand wagt, die Sache zur Sprache zu bringen. Nur die vorlaute Nelly hatte eines Tages danach gefragt, als die Sonne das braune Antlitz durch ihr bewegliches Spiel gerade wie lebendig erscheinen ließ und dadurch die Neugier der Kleinen erweckte. Und der „Onkel Doktor“ hatte ihr folgende bemerkenswerthe, späterhin in Kronfurth von Haus zu Haus gehende Antwort gegeben:

„Mein liebes Kind, das ist eine sehr gute Freundin von mir! Eine höchst achtungswerthe Dame, welcher ich viel – ja eigentlich mein ganzes Lebensglück verdanke!“

Natürlich sind Nelly und die Kronfurther durch diese Antwort nicht klüger geworden. [593]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Der erste Zwist.
Nach dem Gemälde von A. Corelli.




Hermann von Helmholtz.

Zu seinem 70. Geburtstage gewidmet von einem seiner Schüler.

Der „Riese“, ein alterthümliches Haus der westlichen Hauptstraße zu Heidelberg, beherbergte vor dreißig Jahren im ersten Stockwerke das physiologische Institut, im zweiten das physikalische. Von den einfachen, niederen Räumen ging aber der Glanz eines Dreigestirns aus, das die „Ruperto-Carola“ zum Mittelpunkte der naturwissenschaftlichen Bewegung machte. In dem obersten Stockwerke verglichen Bunsen und Kirchhoff die Spektren der Metalle mit demjenigen der Sonne; eine Treppe tiefer setzte Helmholtz aus tönenden Stimmgabeln die Vokalklänge zusammen. Wenn heute die ganze gebildete Welt den Jubilar feiert und wir Deutsche mit gerechtem Stolze „unsern Helmholtz“ beglückwünschen, so ziemt es sich, auch den Weg zu beleuchten, auf welchem der große Mann zur Höhe gelangt ist, und uns seiner Großthaten dankbar zu erinnern.

Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz ist am 31. August 1821 zu Potsdam geboren, wo sein Vater als Gymnasialprofessor wirkte. Seine Mutter war die Tochter eines Artillerieoffizierts Namens Penne, dessen Vater in hannöverischen Diensten stand. Dieser stammte von William Penn, dem berühmten Gründer von Pennsylvanien, ab. In seinem siebzehnten Jahre bezog er die Universität Berlin. Er wünschte, sich der Physik zu widmen; äußere Umstände zwangen ihn, in das Studium der Medizin einzutreten, das ihm durch die liberalen Einrichtungen des Friedrich Wilhelm-Institutes (der Pepinière) zur Erziehung von preußischen Militärärzten erleichtert wurde. Er hat diesen Bildungsgang nicht bereut. In seiner Rede über „das Denken in der Medizin“ preist er als Glück, was er einst als Zwang empfunden. Er sagt: „Nicht allein, daß ich in einer Periode in die Medizin eintrat, wo jemand, der in den physikalischen Betrachtungsweisen auch nur mäßig bewandert war, einen fruchtbaren jungfräulichen Boden zur Beackerung vorfand, sondern ich betrachte auch das medizinische Studium als diejenige Schule, welche mir eindringlicher und überzeugender, als es irgend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat.“

Die medizinische Bildung jener Zeit, in der Helmholtz die Hochschule bezog, beruhte noch wesentlich auf Bücherstudium. Die Mikroskope waren theuer und selten, Forschungen auf Grund eigener Beobachtung daher nicht leicht. Es gelang dem jungen Studenten, sich durch Ersparnisse in den Besitz eines Mikroskopes zu setzen, das zwar nicht besonders gut war, es ihm aber doch ermöglichte, selbstständige Untersuchungen anzustellen. Deren Ergebniß legte er in zwei Schriften aus den Jahren 1842 und 1843 nieder, in seiner Dokorarbeit über die Nervenfortsätze der Ganglienzellen bei den wirbellosen Thieren und in einer anderen über das Wesen der Fäulniß und Gährung. Schon hier zeigte der zweiundzwanzigjährige Forscher jene hohe Beobachtungsgabe, die stets das Wesentliche herausfindet.

Noch im Jahre 1843 wurde Helmholtz Militärarzt bei den rothen Husaren in Potsdam. Aber auch in dieser Stellung blieb er der wissenschaftlichen Seite seines Berufes treu. Die bedeutendste Leistung aus der Zeit seines Potsdamer Aufenthalts ist die kleine Abhandlung „Ueber die Erhaltung der Kraft“ (1847). In derselben führte er den Beweis, daß niemals eine Kraft im All vergeht, sondern nur ihre Aeußerungsweise ändert, derart daß z. B. chemische Anziehung in Wärme oder Elektricität, diese wieder in Bewegung von Massen etc. umgewandelt werden können. Zugleich zeigte er, daß alle Vorgänge in der Natur den Grundgesetzen der Mechanik gehorchen. Hiermit hatte Helmholtz die Naturwissenschaften auf eine helle große Bahn geleitet, die zwar schon andere, namentlich Robert Mayer, gesucht hatten, auf welcher aber er zuerst mit mathematischer Sicherheit voranschritt.

[594] Der junge geniale Forscher kehrte bald (1848) nach Berlin zurück. Als Lehrer der Anatomie an der Kunstakademie und als Assistent am anatomischen Museum ersetzte er dort den einen seiner gleichstrebenden großen Freunde, Brücke, und fand den andern, du Bois-Reymond, noch bei ihrem gemeinsamen Meister Johannes Müller.

Schon im folgenden Jahre wurde Helmholtz als Professor der Physiologie und allgemeinen Pathologie nach Königsberg berufen. Damals hielt man es in den Kreisen der Pathologen und selbst der Physiologen vielfach gering, Experimente anzustellen, und ließ sich lieber durch gewisse allgemeine, dem Denken jener Zeit nach Art von Dogmen feststehenden Sätzen leiten. Helmholtz war stets ein Feind dieser Methode, der sogenannten deduktiven; er betonte, man müsse vom sicheren Boden der Thatsachen ausgehen, deren Gesetze suchen und so, statt von oben nach unten, durch allmähliche Beobachtung von unten her zu immer allgemeineren Schlußfolgerungen aufsteigen. Wie fruchtbar dieser Grundsatz war, das zeigten seine Königsberger Arbeiten, deren erste 1850 den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln maß und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in den Nerven bestimmte. Ein Augenblick gilt dem Laien als Bezeichnung unmeßbar kurzer Zeit. Helmholtz wies nach, daß die einfachste Muskelzuckung etwa eine Zehntelsekunde dauert, also mehr wie tausendmal länger als der Blitz. Die mittlere Reizleitungsgeschwindigkeit in den motorischen Nerven des Frosches bestimmte er auf 26,4 Meter in einer Sekunde; diese ist also mindestens zehnmal kleiner als die Geschwindigkeit des Schalles in der Luft und entspricht ungefähr derjenigen eines englischen Expreßeisenbahnzuges.

Hermann von Helmholtz.
Nach einer Photographie von Fritz Leyde u. Co., Hofphotographen in Berlin.

Im nächsten Jahre, 1851, überraschte er die wissenschaftliche Welt durch die Erfindung und „Beschreibung eines Augenspiegels zur Untersuchung der Netzhaut im lebenden Auge“, „eines optischen Instrumentes, durch welches es möglich ist, im lebenden Auge die Netzhaut selbst und die Bilder leuchtender Körper, welche auf ihr entworfen werden, genau zu sehen und zu erkennen.“ Hierdurch hat Helmholtz die Augenheilkunde zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben und es ermöglicht, daß vielen Tausenden das Augenlicht erhalten werden konnte. Zu dieser Entdeckung hatte ihn treue geduldige Arbeit geführt, die ihr Werk immer wieder prüft und nicht eher abläßt, als bis sie nichts mehr zu bessern weiß. Seine weiteren eingehenden Untersuchungen über das Wesen der Accommodation (d. i. Anpassung der Augenlinse für geringere Sehweiten) sowie der Farbenempfindungen legten einen gesicherten Grund zur Ophthalmologie. Zehn arbeitsvolle Jahre, von 1856 bis 1866, widmete er seinem „Handbuch der physiologischen Optik“. Er hatte es sich dabei „zur Pflicht gemacht, alle wesentlichen Punkte durch eigene Beobachtungen und Versuche zu prüfen, oder zu begründen“. So ist dieses monumentale Werk dem Physiologen wie dem Augenarzt zur ergiebigsten, unentbehrlichen Quelle geworden.

1855 war Helmholtz als Professor der Anatomie und Physiologie nach Bonn übergesiedelt; drei Jahre später bot man ihm den neuen Lehrstuhl für Physiologie in Heidelberg an. Er folgte dem Rufe und entfaltete dort eine neue Seite seines reichen Geistes: er schuf „die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“. Dieses umfassende Werk ist zu Braunschweig bisher in vier Auflagen erschienen. Es beschäftigt sich vor allem auch mit der Frage, wie das ästhetische Wohlgefallen an gewissen Tonempfindungen entstehe, also mit dem Gesetz der Harmonie in der Musik. Den Grundgedanken seiner Anschauung in dieser Beziehung hat Helmholtz schon in einem Vortrage „Ueber die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonie“ zu Bonn 1857 (Ges. Vorträge Bd. I. S. 103) allgemeinfaßlich dargestellt: Das leibliche Ohr löst die ihm zuströmenden Wellenformen, welche nicht schon ursprünglich, wie die Stimmgabeltöne, einfach sind, in eine Summe von einfachen Wellen auf und empfindet diese einzeln als einfache Töne, mag die Welle ursprünglich so aus der Tonquelle hervorgegangen sein oder sich erst unterwegs zusammengesetzt haben. Die Fähigkeit, diese Aufgabe mit der größten Genauigkeit und Bestimmtheit zu lösen, giebt dem Ohre die mit Hörnerven-Enden ausgestattete geriefte Grundmembran in der sogenannten Ohrschnecke, ein Organ, welches in seinem Bau einer Harfe vergleichbar ist. Wenn ein gemischter Klang das Organ trifft, so gerathen alle diejenigen saitenartigen Membrantheile in Vibration, deren Schwingungszahl übereinstimmt mit den Einzeltönen, aus denen der Klang zusammengesetzt ist, gerade so wie eine Anzahl von Saiten im Klavier (bei gehobener Dämpfung) mitklingt, wenn man einen Vokal hineinsingt. Man hört dann neben dem Grundton dessen Obertöne.

Die Schwingungen von zwei Tönen, deren Höhe nur wenig verschieden ist, verstärken und schwächen sich periodisch; wir hören Schwebungen, Stöße, Knarren, rauhe Dissonanz. Aehnlich, nur schwächer, stören sich benachbarte Obertöne. „Harmonie und Disharmonie scheiden sich dadurch, daß in der ersteren die Töne nebeneinander so gleichmäßig abfließen wie jeder einzelne für sich, während in der Disharmonie Unverträglichkeit stattfindet und die Töne sich gegenseitig in einzelne Stöße zertheilen.“

Helmholtz hat so das verborgene Gesetz aufgedeckt, welches den Wohlklang der harmonischen Tonverbindungen bedingt.

Im Laufe dieser Untersuchungen ergründete er auch die Mechanik der Gehörknöchel (1867 und 1869) und befruchtete die Sprachwissenschaft durch seine Lehre von der Vokalbildung. Er zeigte, daß die Vokalklänge sich von den Klängen der meisten musikalischen Instrumente wesentlich dadurch unterscheiden, daß die Stärke ihrer Obertöne nicht nur von der Ordnungszahl derselben, sondern überwiegend von deren absoluter Tonhöhe abhängt. Die verschiedenen Vokale sind durch verschiedene kräftiger hervortretende Obertöne ausgezeichnet. Der Sprechende ändert die Länge, Weite und Form der Mundhöhle und verstärkt derart die charakterisierenden Obertöne.

Eine Reihe anderer Aufgaben war es noch, an deren Lösung sich Helmholtz in Heidelberg versuchte; er bereicherte besonders die Lehre vom Wesen des menschlichen Erkennens vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus.

Das Jahr 1871 führte ihn auf den Lehrstuhl der Physik an der Universität Berlin und von da an fesselten ihn hauptsächlich Probleme aus den großen Gebieten der Elektricität und der Bewegung von Flüssigkeiten. Dieser letzte Gegenstand hatte [595] ihn schon bei seinen ersten akustischen Forschungen interessiert. Ueber die Bewegungsgesetze der Wirbel hat er bereits im Jahre 1858 theoretische Untersuchungen angestellt und deren Resultate in einigen einfacheren Fällen durch den Versuch bestätigt.

Der Naturforscher Dove hatte nachgewiesen, daß der ewige Wechsel unserer Witterungsverhältnisse auf dem gegenseitigen Verdrängen kühler trockener Polarwinde und warmer feuchter Aequatorialwinde beruht. In einem Vortrage über Wirbelstürme und Gewitter (1875) setzte nun Helmholtz die mechanischen Verhältnisse der Windbewegungen näher auseinander. Später zergliedert er mathematisch die atmosphärischen Bewegungen und kommt zu der Ansicht, daß die wesentlichste Hemmung der Cirkulation der Atmosphäre nicht sowohl in der Reibung an der Erdoberfläche, sondern vielmehr in der Vermischung verschieden bewegter Luftschichten unter Bildung von Wirbeln zu suchen ist. Am Cap d’Antibes hat er noch 1889 Beobachtungen über „die Energie der Wogen und des Windes“ angestellt, woraus sich ergiebt, daß erst bei länger andauerndem Winde dieser nach und nach einen Theil der Energie seiner unteren Schichten an das Wasser abgiebt. Es entstehen dabei Wellensysteme von verschiedener Länge, durch deren Zusammenwirken (wie bei Entstehung der Kombinationstöne) stationäre Wellen von großer Länge und Fortpflanzungsgeschwindigkeit gebildet werden. Dabei kann der Wind so lange neue Energie an die Wasserwellen abgeben, als seine Fortpflanzungsgeschwindigkeit diejenige der Wellen übertrifft.

Die Blitze erklärt er in dem obenerwähnten Vortrage etwa so: Die Erde ist dauernd mit (vermuthlich negativer) Elektricität geladen. Luft und Wasserdampf (nicht Nebel) sind Isolatoren (Nichtleiter) für die Elektricität. Erst wenn die Wassermassen der Wolken, zu herabstürzendem Regen vereinigt, einander so nahe kommen, daß Funkenentladung von Tropfen zu Tropfen möglich wird, bilden sie einen gewaltigen Sammler, in den nunmehr aus dem Erdboden mächtige Funken, die Blitze, überschlagen können. Der Regen folgt für die Erdbewohner dem Blitze, weil er viel mehr Zeit zum Fallen braucht als die Elektricität zur Entladung. Es ist durchaus nicht unglaublich, daß eine Feuersbrunst, oder der Kanonendonner einer Schlacht ein Gewitter herbeiziehen kann. Wenn der Zustand unsicheren Gleichgewichts in der Atmosphäre nur erst vorbereitet ist, kann jeder Umstand, der einen ersten kleinen Theil der feuchtwarmen Luftmasse zum Aufsteigen bringt, wie der Funken im Pulverfasse wirken und die Hauptentladung nach der Stelle dieser ersten Störung hinlenken. Es ist nicht zu hoffen, daß wir das Wetter zu berechnen imstande sein werden. Denn hier können kleine Fehler im Ansatze sehr große Fehler im Endergebnisse bewirken, weil bewegliches Gleichgewicht der Atmosphäre sich einmischt.

Kein Gebiet der Naturbeobachtung ist dem Meister fremd, und „wo er’s packt, da ist’s interessant“. Noch vor kurzer Zeit hat er seinem inneren Auge Aufmerksamkeit gewidmet und gefunden, daß die Netzhaut seines Auges im Dunkeln genug Licht aussendet, um ihn bewegte Gegenstände (seine Arme) bemerken zu lassen. Welch schönes Gleichniß für den Mann, der im Lichte seines Innern die dunkle Außenwelt erkennt!

Es hat diesem reichen Gelehrtenleben nicht an äußerer Auszeichnung gefehlt. Der deutsche Kaiser verlieh dem Forscher im Jahre 1883 den erblichen Adel. Das Deutsche Reich rief im Herbste 1887 eine physikalisch-technische Anstalt für exakte Naturforschung ins Leben, nachdem Dr. Werner von Siemens, der weltbekannte Gelehrte und Elektrotechniker, zu diesem Behufe eine Schenkung von einer halben Million Mark in Kapital oder Grundwerth zu Charlottenburg gemacht hatte. Diese Anstalt besteht aus zwei Abtheilungen, einer rein wissenschaftlichen und einer wissenschaftlich technischen. Die erstere ist eine Arbeitsstätte zur Förderung der Wissenschaft selbst. Hier sollen namentlich solche für den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt nothwendige Arbeiten ausgeführt werden, welche besonders geeigneter Räume, kostbarer Apparate und hervorragender Arbeitskräfte bedürfen. Die zweite Abtheilung soll der Technik stetig wissenschaftliche Methoden und Hilfsmittel zuführen und sie auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Kenntniß erhalten. Zum Präsidenten der Anstalt wurde seitens des Reichs Professar Helmholtz berufen, welchem zugleich die spezielle Leitung der ersten Abtheilung vorbehalten blieb.

Seither hat Helmholtz den Lehrstuhl der Physik und die Leitung des physikalischen Instituts der Universität Berlin abgegeben, und seinen Wohnsitz nach Charlottenburg bei Berlin verlegt, ist jedoch als ordentlicher Professor im Universitätsverbande geblieben und hält Vorlesungen über Kapitel der theoretischen Physik.

Ein Leben, ernstester Arbeit gewidmet, und darum ein köstliches Leben liegt hinter dem Jubilar. Aber neben strenger Wissenschaft hatten stets auch die Künste und die Naturfreunde Raum in seiner großen Seele. Zumal der Musik ist er ein verständnißvoller und hingebender Freund. Seit er mit seiner geistvollen Gemahlin, der Tochter des berühmten Heidelberger Staatsrechtslehrers Robert von Mohl, sein neues Amthaus in der Wilhelmstraße zu Berlin bezogen hat, versammelt sich dort an den Empfangsabenden ein Kreis von bedeutenden Männern und Frauen; hervorragende Musiker entzücken daselbst oft die auserwählte Zuhörerschaft.

Im Herbste wendet der große Naturforscher als Naturgenießender seine Schritte am liebsten zur großen Alpenwelt im Engadin. So fest und nüchtern sein Geist im Zergliedern der Vorgänge und Gedanken ist, so weitet sich ihm sein Gemüth beim Anblicke der Naturschönheiten. Das hat er selbst bekannt in dem Trinkspruche, welchen er bei der fünften Säkularfeier der Universität Heidelberg zu Ehren der Stadt ausbrachte. Als Naturforscher, sagte er, wolle er die Schönheit der Stadt betrachten, und dann fuhr er fort: „Ist es ein Zufall, daß von diesen grünen Hügeln aus der geistige Blick des Menschen zum ersten Male in die unermeßlichen Welträume gedrungen ist, mit der Einsicht, wie die chemische Natur der Weltkörper zu entziffern ist, ein Unterfangen, welches unmittelbar vorher noch als die abenteuerlichste Unmöglichkeit hätte erscheinen müssen? Ich glaube das Gegentheil. Etwas vom Schauen des Dichters muß auch der Forscher in sich tragen. Freilich ist letzterem wirksame und geduldige Arbeit nöthig, um das Material zu sichten und bereit zu machen. Aber Arbeit allein kann die lichtgebenden Ideen nicht herbeizwingen. Diese springen wie die Minerva aus dem Kopfe des Jupiter, unvermuthet, ungeahnt; wir wissen nicht, von wannen sie kommen. Nur das ist sicher: dem, der das Leben nur zwischen Büchern und Papier kennengelernt hat, und dem, der durch einförmige Arbeit ermüdet und verdrossen ist, dem kommen sie nicht. Die Empfindung von Lebensfülle und Kraft muß da sein, wie sie vor allem das Wandern in der reinen Luft der Höhen giebt. Und wenn der stille Frieden des Waldes den Wanderer von der Unruhe der Welt scheidet, wenn er zu seinen Füßen die reiche üppige Ebene mit ihren Feldern und Dörfern in einem Blicke umfaßt und die sinkende Sonne goldene Fäden über die fernen Berge spinnt, dann regen sich wohl auch sympathisch im dunklen Hintergrund seiner Seele die Keime neuer Ideen, die geeignet sind, Licht und Ordnung in der inneren Welt der Vorstellung aufleuchten zu machen, wo vorher Chaos und Dunkel war.“ – –

Um das Lebenswerk des Jubilars voll zu würdigen, um seinen allgemein menschlichen Seiten und ihren Beziehungen zu seiner wissenschaftlichen Bedeutung gerecht zu werden, dazu müßte man ein ansehnliches Buch schreiben; uns war es nur vergönnt, andeutend einiges Hauptsächliche hervorzuheben. Die Naturforscher beider Hemisphären feiern in diesen Tagen den Gelehrten; eine goldene Medaille ist zu seinen Ehren gestiftet worden, welche alljährlich dem Würdigsten unter den ihm Nachstrebenden verliehen werden soll. Als offizieller Festtag ist von dem Komitee, das sich zur würdigen Begehung desselben gebildet hat, der 2. November festgesetzt worden. Auf diesen Tag sind noch fernere Ehrenbezeigungen dem Gefeierten zugedacht.

Mögen dann alle Freunde echter Geistesbildung, namentlich im deutschen Volke, dem großen Wohlthäter desselben den Lorbeer reichen mit dem innigen Wunsche, daß uns sein Geist noch lange erleuchte in thatkräftigem Leben!

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Blätter und Blüthen.

Am Urner See. (Zu dem Bilde S. 584 und 585.) An den Urner See führt uns der Künstler, zu jener südlichen Abbiegung des Vierwaldstättersees, die ebenso anziehend ist durch das landschaftliche Gemälde, das sie mit ihrem gewaltigen Rahmen steil aufragender Berge bietet, wie durch die geschichtlichen Erinnerungen, die mit diesen Gestaden verbunden sind. Der Urirothstock mit seinem eigenthümlich geformten Horn, der Gitschen und weiterhin der pyramidenartig aufsteigende Bristenstock – sie scharen sich gleich ernsten Wächtern um den Urner See her und vollenden an sonnigen Tagen mit den glitzernden Wellen drunten und dem blauen Himmel darüber ein wunderbares Naturbild voll eigenartiger Schönheit und Kraft. Und zu dem, was die Natur da gestaltet hat, gesellt sich der Reiz vielhundertjähriger Geschichte. Denn hier erhebt sich auf der westlichen Uferseite, nur wenige Minuten vom See entfernt, an steilem Abhang eine kleine Bergwiese, das Rütli, wo am 1. August 1291 die „Waldstätte“ Uri, Schwyz und Unterwalden zum gemeinsamen Schutz gegen die Macht Albrechts von Oesterreich ein „ewiges“ Bündniß geschlossen haben, wo nach der Ueberlieferung in der Nacht vom 7. zum 8. November 1307 die Abgesandten jener drei Städte den Bund erneuerten mit dem Schwur, die Herrschaft der österreichischen Vögte im Lande zu brechen. Und gegenüber – auf dem östlichen Ufer – liegt am Fuße des Axenbergs die „Tellsplatte“, jener schmale Bergvorsprung, auf den sich der gefangene Tell aus dem Schiff des Landvogts Geßler mit kühnem Schwung gerettet haben soll. Eine Kapelle, die „Tellskapelle“ genannt, bezeichnet und schmückt diese Stelle. So ist die Entstehung und die erste erfolgreiche Vertheidigung der aufblühenden Eidgenossenschaft mit den Gestaden des Urner Sees eng verknüpft, und die Schweizer, die in diesen Tagen das Andenken an den 1. August 1291, das sechshundertjährige Jubiläum jener ersten Vereinigung festlich begangen haben – sie mögen mit begreiflichem Stolz hingeblickt haben auf die Schönheit jener historischen Stätte, auf die Zeiten, in denen der einst geschlossene Bund zum Gedeihen seiner Glieder wuchs und fest zusammenhielt. Als ein „ewiger“ ist er gegründet worden, und man muß gestehen, ein wenig verdient er diesen Namen nach einem Zeitraum von sechs Jahrhunderten, der in der Geschichte ein hübsches Stück Weges in der unendlichen Entwicklung des Menschengeschlechts bedeutet. Es sind überhaupt reiche, in ihrem Anlaß weit zurückreichende Gedenktage, welche der August dieses Jahres der Schweiz gebracht hat. Vom 14. bis 17. August hat Bern das Gedächtniß seiner Gründung vor 700 Jahren mit Festspiel und Festzug und anderen feierlichen Veranstaltungen in großartiger Weise begangen. Es ist ein Zeichen von Tüchtigkeit, wenn eine staatliche Gemeinschaft die Erinnerung an bedeutungsvolle Ereignisse aus ihrer geschichtlichen Vergangenheit lebendig zu erhalten weiß, es liegt darin – und wir hoffen, daß das auch hier zutrifft – eine Gewähr für die Zukunft.

Einheitliche Eisenbahnzeit. Nach Beschluß des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen wurde am 1. Juni d. J., vorläufig allerdings nur für den inneren dienstlichen Verkehr bezw. die Dienstfahrpläne, von allen betheiligten Eisenbahnen eine einheitliche Zeit nach dem Stundenzonensystem eingeführt. Der größte Theil dieser Verwaltungen, nämlich die deutschen und österreich-ungarischen Eisenbahnen, hat die Zeit des 15. Meridians östlich von Greenwich – ungefähr Stettiner bezw. Prager Zeit unter der Bezeichnung M. E. Z. (mitteleuropäische Eisenbahn-Zeit), die belgischen und holländischen Bahnen haben die Greenwicher Zeit und die rumänischen Bahnen die Zeit des 30. Meridians östlich von Greenwich angenommen. Diese Zeiten weichen um je eine Stunde voneinander ab, so daß z. B. ein von Brüssel an der deutschen Grenze um 5 Uhr vormittags nach belgischer Eisenbahnzeit eintreffender Zug bei einem Aufenthalte von 15 Minuten nach mitteleuropäischer Eisenbahnzeit um 6 Uhr 15 Minuten vormittags weitergehen würde. Die Stundenzonen fallen aus praktischen Gründen mit den Landesgrenzen zusammen, so daß der Reisende, wenn einmal die einheitliche Zeit allgemein eingeführt sein wird, seine Uhr nur dort um je eine Stunde vor- oder zurückzustellen hätte, wo er durch die Zollabfertigung und den Sprachenunterschied schon so wie so daran gemahnt wird.




Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

P. Fr. in Magdeburg. Eine ganz gute neue Karte des Dachsteingebirges finden Sie in Meyers Reisebüchern, in der neuesten (3.) Auflage von: Deutsche Alpen, II. Theil (Leipzig, Bibliographisches Institut).

Karl in B. 10. Das neueste Bild von Major v. Wißmann ist bei Carl Mittag in Bad Lauterberg a. H. erschienen. Sie können es durch jede Buch- und Kunsthandlung beziehen.

Anfrage. Weiß einer unserer Leser vielleicht etwas von einem „Waldmannschen Stifte“? Es soll in der Rheinpfalz liegen. Wir bitten zutreffenden Falles um eine Mittheilung.




Inhalt: Baronin Müller. Roman von Karl v. Heigel (Schluß). S. 581. – Am Urner See. Bild. S. 584 u. 585. – Die eidgenössische Bundesfeier in Schwyz. Von Dr. Thiessing. S. 586. Mit Abbildungen S. 581, 586, 587, 588, 589 und 590. – Die Kamerunerin. Eine romantische Geschichte von H. von Götzendorf-Grabowski (Schluß). S. 590. – Der erste Zwist. Bild. S. 593. – Hermann von Helmholtz. Zu seinem 70. Geburtstage gewidmet von einem seiner Schüler. S. 593. Mit Bildniß. S. 594. – Blätter und Blüthen: Am Urner See. S. 596. (Zu dem Bilde S. 584 und 585.) – Einheitliche Eisenbahnzeit. S. 596. – Kleiner Briefkasten. S. 596.




In dem unterzeichneten Verlag beginnt soeben neu zu erscheinen:


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Vollständig in 75 Lieferungen à 40 Pfennig, im Umfang von je 3–4 Druckbogen.

Regelmäßig alle 14 Tage erscheint eine Lieferung.

Die 75 Lieferungen bilden 10 Bände mit folgendem

Inhalt: Band 1. Geheimnis der alten Mamsell. Mit Illustrationen von C. Koch. – Band 2. Das Heideprinzeßchen. Mit Illustrationen von E. Wagner. – Band 3. Reichsgräfin Gisela. Mit Illustrationen von I. Kleinmichel. – Band 4. Im Schillingshof. Mit Illustrationen von W. Claudius. – Band 5. Im Hause des Kommerzienrates. Mit Illustrationen von H. Schlitt. – Band 6. Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Mit Illustrationen von C. Zopf. – Band 7. Die zweite Frau. Mit Illustrationen von Alexander Zick. – Band 8. Goldelse.. Mit Illustrationen von Wilhelm Claudius. – Band 9. Das Eulenhaus. Mit Illustrationen von Carl Zopf. – Band 10. Thüringer Erzählungen (Amtmanns Magd. Die zwölf Apostel. Der Blaubart. Schulmeisters Marie). Mit Illustrationen von M. Flashar, E. Herger und A. Mandlick.


Als wir vor vier Jahren, nach dem Tode der gefeierten Dichterin, den Entschluß faßten, Marlitts Romane illustriert in billigen Lieferungen dem weitesten Leserkreis zugänglich zu machen, durften wir einer freundlichen Aufnahme sicher sein. Der thatsächliche Erfolg hat aber unsere Erwartungen bei weitem überboten und den Beweis geliefert, daß die Schöpfungen dieser beliebtesten deutschen Erzählerin heute noch ebenso wie zur Zeit ihres ersten Erscheinens einen unwiderstehlichen Reiz auf das deutsche Lesepublikum ausüben.

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Die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.