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Die Gartenlaube (1891)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[565]

Nr. 34.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Baronin Müller.

Roman von Karl v. Heigel.

(7. Fortsetzung.)


Das Reventlow-Beseler-Denkmal in Schleswig.
Nach einer Photographie von Wilh. Dreesen in Flensburg.

9.

Seine Excellenz, Minister Imhof, saß in seinem Empfangszimmer im Kurhaus und schrieb Briefe. Er war zum Ausgang gekleidet. Nur wenige Minuten fehlten zur Mittagsstunde, als ihm der Diener Herrn Richter Vitus Müller meldete. Ach er kommt, um mir für die Anerkennung feierlich zu danken, dachte Imhof. „Ich lasse bitten.“

Vitus, zum Befremden der Excellenz nicht im Dienstkleid, sondern in schwarzer Civiltracht, trat gemessen ein. Nach einigen höflichen Worten hin und her überreichte er dem Minister ein Paket.

Imhof blickte in den offenen Umschlag und sagte: „Geld?“

„Sechstausend Mark.“

„Und was soll ich damit?“ fragte erstaunt der Minister. Dann schlug er sich vor die Stirn. „Mein guter Müller, der Streich sieht Ihnen ähnlich. Sie wollen das Gestohlene ersetzen.“

„So ist es, Excellenz.“

Der Minister lachte. „Mein lieber Stadtrichter und alter Freund, sehr schön, sehr großmüthig, allein es geht nicht!“

„Es muß gehen,“ erwiderte ernst der andere, „denn die Mündelgelder sind von mir entwendet worden.“

Imhof lachte nicht mehr. Er sah dem Räthselhaften besorgt ins Gesicht.

„Erlauben Sie, das ist denn doch eine Auffassung –“

„Wenn ich, um mich deutlich zu machen, das harte Wort gebrauchen muß: nicht der Verunglückte, ich war der Dieb!“

Der Minister saß sekundenlang wie erstarrt, dann aber war er mit einem Satze auf und an der Thür und schloß sie ab.

Vitus Müller legte dem Minister ein offenes Bekenntniß ab, nur eines verschwieg er, den Antheil seiner Frau.

„Eine furchtbare Geschichte!“ flüsterte Imhof und rang die Hände. „Ich glaube Ihnen, daß Sie nicht die Absicht hatten, jemand zu schädigen, daß Sie des sofortigen Ersatzes sicher [566] waren, allein der Paragraph des Gesetzes ist ein eherner Fels, unbiegsam, erbarmungslos!“ Er fuhr sich in die Haare, die sorgfältig gescheitelt und über den kahlen Stellen kunstvoll geordnet waren. „Warum, wird der Staatsanwalt sagen, warum hat der Richter Müller seinem Nachfolger die Anzeige nicht sofort gemacht?“

„Es ist menschlich, daß ich, der Aeltere, der so lange der Vorgesetzte des Herrn Tannhauser war, gerade diesem Manne gegenüber zögerte.“

„Menschlich! menschlich! Ein Wort, womit man alles entschuldigen kann. entschuldigt nichts … Heillos! Bedachten Sie denn, bevor Sie zu diesem Gang sich entschlossen haben, alle Folgen? Sie machen nicht nur sich unglücklich, sondern bringen auch Schmach über die Baronin, Trauer über Ihre Stieftochter; denn vergessen Sie nicht, daß der Verlobte Offizier ist.“

„Wenn Ihr Sohn deshalb sein Wort zurücknimmt, wird er ein tausendmal größeres Unrecht begehen als ich. Was hat der Fall Müller mit der Baronesse Gatterburg zu thun? Ein Wort von Ihnen und Verena wird nicht genannt, nicht vernommen. Ich verwendete das Geld in meinem Nutzen. Hier ist der volle Ersatz. Alles liegt klar.“

„Sie werden dem Gefangniß nicht entgehen können.“

„So kann und wird meine Frau die Scheidung verlangen.“

„Weiß die Baronin um all das?“

„Um nichts!“

Der Minister athmete erleichtert auf, um alsbald aufs neue zu stöhnen.

„Und daß Sie mich, mich mit dem Geständnis, belasten! Verdiene ich das um Sie?“

„Excellenz, Sie haben sich gestern meinen ältesten Freund genannt!“

Die Erwähnung des gestrigen Abends traf den Minister wie ein Schlag. Er warf die Papiere auf dem Schreibtisch zornig durcheinander.

„Wie konnten Sie mit Ihrem Schuldbewußtsein diese Feier annehmen?“

„Excellenz – wie wenn der Himmel Mitleid mit mir gehabt hätte, fügte sich alles so, daß eine Entdeckung meines Vergehens unmöglich war. Daß ich das Geld in irgend welcher Weise ersetzen würde, stand außer Frage. Ich athmete auf, ich war dankbar bewegt. Die Einladung klang so harmlos, die Bürger wollten mir Lebewohl sagen. Einen Händedruck hatte ich mir vielleicht dennoch verdient. Was ich dann während und nach der Feier litt – Ihr Wort: ‚der treue Hüter der Gesetze‘ – o!“

Nach einer Pause ließ Vitus die Hand sinken, die er über die Augen gelegt hatte, und fuhr entschlossen fort: „Recht muß Recht bleiben, hier bin ich. Es werde dem Gesetz wie dem Schuldigen sein Recht: die Sühne!“

„Sie sind ein furchtbarer Mensch!“ rief der andere. „Welche Gedanken wühlen Sie in mir auf! Wenn Sie geschwiegen hätten –“

„Würde mein Gewissen jemals geschwiegen haben?“ erwiderte Vitus schlicht. „Wie sollte ich Recht sprechen ohne den Glauben an dessen Unverletzlichkeit? Hätte ich immer eine Maske tragen, mit der Maske sterben sollen? Excellenz, nicht leicht war mein Kampf, aber daß ich siegte, zeugt für das Recht und die Richter!“

Der Minister sah scheu den Redlichen an, dem eine Thräne über die Wange rann. Auch er wurde von einer tiefen, unwiderstehlichen Rührung ergriffen und hingerissen, er nahm die Rechte des ehemaligen Genossen in beide Hände. „Vitus!“ sagte er, „verzeihen Sie mir! – Sie sind ein ehrlicher Mann.“

„Ein bedauernswerther armer Mann, Excellenz. Schuldig, aber nicht gewissenlos.“

Imhof ging nachsinnend im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Vitus stehen. „Ich muß mit dem Schnellzug in die Hauptstadt. Seine Hoheit erwartet mich morgen früh zum Vortrag. Lassen Sie mir zur Anzeige Zeit bis morgen. Versprechen Sie mir, gegen jedermann von der Sache zu schweigen, bis Nachricht von mir eintrifft.“

„Ich bin meiner Frau Wahrheit schuldig.“

„Gut, sprechen Sie mit der Baronin, aber nur mit ihr! Denken Sie nicht bloß an das Recht, sondern auch an mich. Ich bin Vater, und in dem Punkt – o Gott, ich fühl’s! – nicht standhafter als Sie. Vitus!“ er warf sich dem Bestürzten plötzlich an die Brust, „schweigen Sie bis morgen!“

Die Jugendfreunde hatten sich – wenigstens in diesem Augenblick – gefunden. Schon im nächsten hatte der Minister Fassung und Haltung wieder gewonnen; er klingelte dem Diener und befahl den Wagen. Noch während jener anwesend war, wandte er sich an den Richter:

„Sie machen Besuche? Ich werde mich unterdessen bei den Damen verabschieden. Grüßen Sie den Bürgermeister! Er schoß gestern den Vogel ab. Auf Wiedersehen!“

Vitus verbeugte sich und ging. –

Ida erwartete ihren Gemahl voll Ungeduld. Helmuth war in der Burg, als sein Vater zum Abschied erschien. Der Minister hatte für Mutter und Tochter die gleiche Artigkeit wie immer; er entschuldigte sich, daß er ihnen seinen Sohn für einen Augenblick entführe, und küßte der Hausherrin beim Lebewohl die Hand. Dennoch wurde Ida, nachdem die beiden sich verabschiedet hatten, das Gefühl nicht los, daß etwas nicht in Ordnung sei. Beim Zusammentreffen mit Helmuth hatte Excellenz, freilich kaum merklich, die Stirn gerunzelt; als Ida vom Wiedersehen in der Hauptstadt sprach, hatte er verlegen gelächelt. Sie war in der schweren Zeit empfindlich wie die Armuth geworden.

Endlich kam Vitus heim, nicht gesprächig, aber keineswegs finster; verändert, doch zu seinen Gunsten. Ida verwandte bei Tisch keinen Blick von ihm. Sobald sie allein waren. warf sie sich an seine Brust.

„Vitus,“ sagte sie, „hab’ ich Deine Liebe nicht mehr? Du hast Herrn von Imhof ins Geheimniß gezogen!“

Müller löste sich sanft aus ihrer Umarmung und ergriff ihre Hände. „Es mußte geschehen,“ erwiderte er, „und lieber ihn, als Tannhauser oder einen Fremden.“

„Du erzähltest ihm doch nur vertraulich –“

„Vertraulich? Dem Minister?“

„Aber – er wird schweigen –“

„Wie kann er das! Die Klage geht ihren Weg.“

Ida stieß einen Schrei aus, jetzt verstand sie ihn. War’s möglich? Er selbst, ohne Noth, freiwillig! Sie sah ihn mit entsetzten Augen an; der Wahnsinnige, der Unbegreifliche!

„Höre mich!“ sprach er. „Alle Einwände, die Du machen kannst, wurden von mir erwogen. Die Wahl blieb immer dieselbe: zwischen Wahrheit und Lüge, Sühne und Schuldbewußtsein, Heilung und Krankheit.“

„Zwischen Ehre und Schande!“ flel Ida leidenschafttich ein. „Die Welt wird nicht die Wahrheit, sondern das Schlimmste glauben. Aus der entschuldbaren That des Augenblicks wird ein Verbrechen! Wir bleiben lebenslang gebrandmarkt.“

„Unsere Bekannten mögen mich verdammen, Dich wird man nur tief bedauern. Uebrigens ist die Welt groß. Der Richter Müller verkriecht sich nach verbüßter Strafe in irgend einen Winkel, für die Baronin Gatterburg öffnen sich alle Thüren.“

„Rede keinen Unsinn!“ entgegnete sie weinend. „Ich kann Dir nicht ausdrücken, wie zuwider mir in diesen Tagen alle Titel wurden. Ich bin Deine Frau, Du durftest nicht hinterrücks einer abgeschlossenen Sache eine neue Wendung geben!“

„Eben weil die Sache nicht abgeschlossen war, brachte ich sie zum Austrag.“

„Die Wahrheit würde ein Geheimniß zwischen uns Zweien geblieben sein. Ein gemeinschaftliches Geheimniß ist ein Band mehr!“

„Auch ein unseliges Geheimniß? Als sie mich gestern so lobten, wagte ich nicht, Dich anzusehen. Ida kennt mich besser, dachte ich.“

„Freilich kenn’ ich Dich besser als alle, und eben darum haben sie mir Dich bei weitem nicht genug gelobt. Schau, Vitus, ich weiß ja, wie alles kam und daß wir beide nichts Gemeines wollten, daß nur Deine unverhoffte Versetzung uns das Elend brachte. Wenn wir einen Fehler begangen haben, ist er mit unsern Todesängsten hundertmal gebüßt. Der Himmel war uns gnädig, er führte die Sache zum Guten; nun machst Du sie schlimm. Das ist ein Frevel!“

„Die himmlische Nachsicht ist kein Rechtstitel. Weißt Du nicht, daß zu einer Lüge ungezählte andere gehören? Ein verlogener Richter! Ida, ich will wieder ein rechtschaffener Mann sein!“

Die Baronin trocknete ihre Thränen. „Nun wohl, mir geschieht recht, aber Verena, was kann Verena dafür? Glaube mir, Excellenz will mit Helmuth hoch hinaus. Jetzt hat er einen Vorwand zum Rückzug.“

[567] „Da wird denn doch Helmuth auch mitreden!“

„Er ist Offizier.“

„Also tapfer.“

„O Vitus, wenn ich mir alles ausmale – die Verhandlung, die Strafe, die Zeitungen! Du wirst des Amtes entsetzt – wir erholen uns von diesem Schlag nicht mehr. Und warum das alles? Aus lauter Hochachtung vor der heiligen Justiz! Wenn jeder öffentlich beichten wollte, was er gegen den einen oder andern der ungezählten Paragraphen verbrochen hat, die halbe Welt wäre im Gefängniß!“

„Die Strafbarkeit wächst mit der Einsicht. Wenn ein Richter strauchelt –“

„Aus Liebe zu seiner Frau strauchelt. Ich bat, ich drängte Dich –“

„Laß Dich aus dem Spiel!“

„Um mich weißzuwaschen, willst Du Dich schwärzer machen. Aber ich rede mit! Wenn schon die Geschichte an die große Glocke kommt, sollen sie auch mich ausläuten. Mir ist es nur um Verena leid!“

„Noch einmal: Dich und Verena berührt die Sache nicht. Ihr begebt Euch zu Deinen Verwandten in Wien. Von dort reichst Du den Scheidungsantrag ein.“

Ida horchte auf. „Was sagst Du?“

„Du kannst diese Rechtswohlthat beanspruchen.“

„Das wäre eine Wohlthat! Vitus! Lernt ihr als Richter so schlecht von uns Frauen denken? Scheidung! In meinen Augen bist Du so schuldlos und brav und liebenswerth wie immer. Der Strahlenkranz, den sie gestern um Dein Haupt gelegt haben, ist wohlverdient und ich sehe Dich nie wieder ohne ihn.“ Sie drückte seine Hand an ihr Herz. „Da, da ist der Paragraph, nach dem ich mich richte!“

„Ich will dies Opfer nicht.“

„Opfer? Ich denke, Treue ist meine Pflicht!“

Vitus zog sie fest an sich. „Nein, meine schöne, lebensfrohe Ida soll nicht mit mir theilen. Jetzt fühlst Du Dich stark, denn noch stehen wir im Kampf. Allein nach der Aufregung kommen die grauen Tage. Ich denke nicht gering von den Frauen, doch daß ihr gegen Nadelstiche empfindlicher seid als wir, das weiß ich. An der Seite des Bestraften würdest Du vergehen. Ich finde im schlimmsten Fall Schutz in der Einsamkeit; ich fürchte sie nicht, ich kenne sie. Aber Du!“

„Aber ich, meinst Du, müsse meine Kaffeeschwestern und Klatschbasen um mich und Hinz und Kunz hinter mir her haben. Die Frau Baronin in allen Ecken! – Seit ich weiß, was ein fahriger Sinn für Unheil stiften kann, bin ich damit zu Ende. Vor Nadelstichen ist mir nicht bange, ich steche wieder. Und wenn es uns zu toll wird, gehen wir ein Haus weiter. Selbander ist man nicht einsam.“

Und sie bot ihre Rechte so treuherzig hin und ihr Blick war so warm, daß Vitus einschlug.

Verena trat mit einem offenen Brief ins Zimmer. Sie war blaß, ihre Miene verstört.

„Eben war Helmuths Diener da,“ sprach sie. „Helmuth schreibt mir – Was soll ich davon halten? Ich bitte Euch, lest, sagt mir: was bedeutet das?“

Die Gatten schauten sich rasch an, dann nahm Vitus bestürzt das Blatt aus der Hand seiner Tochter und las mit halblauter Stimme:

„Liebe Verena! Papa wünscht oder, um genau zu sein, befiehlt, daß ich meine Koffer packe und mit ihm abreise. Meine Rechnung hat er aus seiner Tasche bezahlt. Sehr nett, aber warum soll ich heute nicht mehr nach der Burg? Bei aller Ehrfurcht vor meinem Vater: traue einer diesen Staatskünstlern! Gestern waren doch Papa Excellenz und Stiefpapa Stadtrichter noch die besten Freunde! Sollten sie Montecchi und Capuletti aufführen? In diesem Fall Dein Romeo!

Wie dem sei, wenn ich nicht schon wüßte, wo mein Glück liegt, diesen Nachmittag würde ich es inne geworden sein. Zum ersten Mal im Leben ein schweres Herz! Aber sei nicht bange! Ich würde Dir zulieb Papa den Frieden und dem Fürsten den Dienst kündigen! Sage Dir das, liebe Seele, wenn auch Du beunruhigt bist. Tausend Grüße und Küsse und bald Neues aus der Hauptstadt von
Deinem Helmuth.“ 

Vitus wandte sich zu Verena und sah das jugendliche Gesicht zum ersten Mal von Schmerz entstellt. Er dachte nicht an die Opfer, die er Mutter und Tochter so manches Mal gebracht hatte, ebenso wenig daran, daß Verena die unschuldige Ursache seiner Leiden sei, er fühlte nur, daß sein Liebling nicht ins Verhängniß mitgerissen werden dürfe. Er las zum zweiten Mal das Schreiben, Wort für Wort, und fand seine gute Meinung von Helmuth bestätigt. Der treuherzige Junge wird den Kampf mit seinem Vater wacker ausfechten, aber man muß ihn dabei unterstützen, indem man Verena aus dem Ungewitter entfernt. In Wien lebt ein Schwager Idas, arm wie Hiob, allein auf das neue Wappen der Gatterburg ebenso stolz wie ein Spanier auf einen tausendjährigen Stammbaum. Verena verzichtet auf die Verbindung mit dem Hause Müller, und der alte Onkel wird ihr Vormund und Anwalt.

Zunächst ist Vitus seiner Stieftochter die Wahrheit schuldig. Doch gegenüber diesen unschuldigen, vertrauensvoll auf ihn gerichteten Augen – wie soll er da beginnen? Der kühle Vortrag, der ihm beim Minister gelang, wird ihm hier unmöglich. Er möchte sich vor ihr vertheidigen, den harten Namen, den das Gesetz für seine Handlung hat, mildern. Und er kann das nicht, ohne seine Beweggründe, sein Innerstes, seine volle Zärtlichkeit für die Seinen aufzudecken. Das war dem schlichten Mann nun vollends nicht gegeben. Mag Ida sprechen! Sie wird weder zu wenig noch zu viel sagen.

Er ließ die beiden Frauen allein. Sie saßen auf dem Sofa und die Richterin erzählte, wie alles gekommen war.

„Armer Vater!“ flüsterte Verena.

Die Mutter drückte ihr dankbar die Hand. „So ist’s recht, mein Kind! Wie schwer Dir auch das Leben in der nächsten Zeit werden mag, denke, daß Papa am meisten leidet. Ein Richter als Verbrecher angeklagt!“ Sie streckte die Arme von sich und faltete und rang die Hände. „Mußte es sein? So frage ich immer und kann nicht in seinem Sinne antworten. Alles ließ sich vermeiden. Aber höre ihn das Ungeheuerliche vertheidigen und sei ihm dann noch gram!“

Die Tochter hob betroffen die Augen zur Mutter empor. „Wie meinst Du, wie hätte sich’s vermeiden lassen?“

„Wenn Papa klugerweise geschwiegen hätte. Der Nachruf des ‚Pfannen-Gide‘ wird um kein Titelchen besser, wenn die Welt erfährt, daß er die leere Kasse gestohlen hat. Das Geld wurde von uns ersetzt, niemand kam zu Schaden und wir drei blieben glücklich.“

Verena, das Haupt vorgeneigt, entgegnete ganz leise: „Papa hielt die Anzeige für seine Pflicht.“

„Pflicht!“ rief Ida. „Mir ein Unglück vom Leibe halten, ist auch meine Pflicht. Wenn ich zwischen einer Pflicht, die mir nützt, und einer andern, die mir schadet, zwischen ‚ja‘ und ‚nein‘ wählen muß, bin ich für ‚ja‘.“

„Aber Mama, Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn es nicht entdeckt wird. Gerade weil Papa aus diesem Gefühl heraus gehandelt hat, wird den Guten das Herz schlagen für den Mann, der nicht heucheln kann.“

Ida wurde ungeduldig. „Du glaubst doch nicht, den Vater vor mir verteidigen und loben zu müssen? Er mag thun, was er will – ich liebe ihn und Liebe verzeiht alles. Ob er recht hat oder nicht, ich stehe zu ihm. Allein Dein Glück, Deine Verlobung steht in Frage.“

Verena schlang den Arm um die Mutter. „Der Brief erschreckt mich nicht mehr. Wenn Helmuth die Wahrheit erfährt, hält er auch zu uns.“

„Wir wollen’s hoffen, doch dann muß er seinen Abschied nehmen.“

„Unmöglich!“ rief Verena, mit einer Gebärde des Schreckens. „Er – am Anfang der Ehren, so stolz auf seinen Beruf, so ganz erfüllt von ihm! Unmöglich!“

„Oder Du mußt uns verleugnen. Onkel Gatterburg in Wien –“

Ein Kuß verschloß Idas Mund. „Nicht weitersprechen, Mama! Jedes Wort davon ist eine Sünde an Dir und mir! Ich verlasse den Vater im Unglück nicht.“

„Dann bleibt für Helmuth nur der Abschied.“

Verena blickte trüb vor sich hin. „Ich würde mir das eine wie das andere nie verzeihen.“

„Aber Du hast nur diese Wahl –“

[568] Das Mädchen warf sich aufschluchzend an die Brust der Mutter. „Ach, ich war so glücklich!“

„Und sollst es wieder werden,“ antwortete Ida gerührt. „Was von Mann und Weib gilt, gilt auch von Verlobten. Du verläßt uns, jedoch mit unserem Willen, unserem Segen.“

Mit einer schlichten Bewegung legte Verena die Hand aufs Herz. „Gott weiß, wie lieb ich den Helmuth habe, aber ich verlasse meine Eltern im Unglück nicht!“

„Ueberlege Dir’s, meine Tochter!“

„Da ist nichts zu überlegen. Ich fühle, was recht ist.“

Ida blickte in den Schoß. „Sei’s denn! Du stellst Helmuth vor eine harte Entscheidung. Indeß – wenn auch er das Rechte fühlt, wird er handeln, wie er schreibt, und lieber auf den bunten Rock als auf seine Braut verzichten.“

Ein Wort schwebte auf Verenas Lippen, doch sie unterdrückte es. Nach einer Pause äußerte sie: „Helmuth ließ mir durch den Diener mittheilen, daß er vor seiner Abreise einen Brief von mir erwarte. Ich werde ihm schreiben.“

„Willst Du mir den Brief zeigen?“

„Dir, ja, aber versprich mir, daß er für Papa ein Geheimniß bleibt!“

„Gut – und was darf ich ihm sagen?“

„Daß ich seine treue und dankbare Tochter bin.“

Die Richterin entfernte sich schweigend; als sie nach einiger Zeit wieder zu Verena zurückkehrte, saß diese an ihrem Schreibtischchen, den Kopf aufgestützt, still und blaß.

„Der Diener ist da. Bist Du fertig?“

Verena nickte und reichte ihr die wenigen Zeilen hin, die sie aufs Papier geworfen hatte. Sie lauteten:

„Lieber Hellmuth! 0 Dein Vater wird Dir alles erklären. Halte ihn nicht für hart und füge Dich seinem Willen! Ich muß Dir entsagen. Helmuth, ich muß! Mit der Zeit wirst Du mir recht geben. Erinnere Dich, daß ich niemals unglücklich sein kann, wenn ich Dich glücklich weiß … Verena.“  

Ida faltete den Bogen und sagte: „An diesen Ausweg hab’ ich nicht gedacht.“

„Es ist kein Ausweg, sondern meine Pflicht.“

„Schon wieder das traurige Wort! Und darüber bricht Dir das Herz.“

Das Mädchen lächelte wehmüthig. „Du hast gebrochene Herzen immer zu den dichterischen Uebertreibungen gezählt – jetzt werden wir ja sehen.“

Während sie den Briefumschlag versiegelte und überschrieb, trat die Mutter ans Fenster und schaute gedankenvoll nach der ferngelegenen Bahnhalle hinüber. Dann nahm sie der Tochter den Brief ab. Sie selbst werde ihn dem Boten geben; so verweint könne sich Verena keinem Fremden zeigen.

Nach wenigen Minnten kam sie zurück; wortlos sank das weinende Kind in ihre Arme.

Als die Richterin mit Verena bei ihrem Gemahl erschien, waren auch ihre Augen feucht, aber erfüllt von Lebensmuth wie immer. „Da!“ sprach sie, „frage nicht, wie sie den Knoten gelöst hat, laß Dir mein Wort genügen, daß wir beisammen bleiben. Das heißt, ich verschwinde vorläufig.“

„Wir begleiten Dich,“ sagte Vitus, der seine Frau an der einen Hand und seinen Liebling an der andern führte.

„Ich muß zum Tapezierer, zum Fuhrherrn, zur Bahn – hab’ ein Dutzend Gänge, bei denen Ihr nur im Wege seid. Ich nehme das ‚Wiesel‘ mit.“ Die vielbeschäftigte Kleine mit der großen Schürze hieß in der Familie das „Wiesel“. „Quält Euch inzwischen nicht mit schwarzen Gedanken, nicht mit dem, was war und sein wird. Politisiert, spielt Schach! Wenn ich um fünf nicht daheim bin, so geht zu Onkel Anton, fliegt aus! Was ich sagen wollte, Vitus: versprich mir, weder heut noch morgen den kranken Tannhauser zu besuchen. Der Bezirksarzt empfiehlt die größte Schonung; auch haben die Raben-Mutter und zwei junge Raben die Pocken. Meide um unsertwillen das Haus! Und nun gebt mir jedes einen Kuß und gehabt Euch wohl. Auf Wiedersehen!“

Sie begab sich in die Küche; das „Wiesel“ – jetzt die Küchenmagd – spülte das Tischgeschirr. „Laß das jetzt und mache Dich zum Ausgehen fertig, Du begleitest mich zur Bahn.“

Ida trat an den Herd, in welchem für das Spülwasser ein Feuerchen brannte. Sie zog einen Brief aus der Tasche, drehte ihn nachdenkich hin und her, betrachtete die Aufschrift – „Herrn Lieutenant von Imhof“ – dann bückte sie sich, und mit einem Ruck flog das Ganze in die Flammen.

*               *
*

Ueber dem sommerreifen Gelände spannte sich ein Himmel von durchsichtigem Blau. Das Geläute der Kirchenglocken gab dem Landschaftsbilde eine Sonntagsstimmung. Aber im Widerspruch mit diesem Frieden wehte ein frischer kräftiger Wind, er wühlte im Land und trieb mit den Spaziergängern allerlei Kurzweil. Die Richterin fühlte ihn als angenehme Kühle und sanften Druck im Nacken, als sie auf der Straße zum Bahnhof dahinschritt, festen und doch leichten Fußes. In kurzem Abstand hinter ihr trieb das „Wiesel“ – jetzt Kammerjungfer – mit einer großen Pappschachtel in der Rechten vor dem Winde. Glockenschläge vom Bahnhof her verkündigten das baldige Nahen des Eilzugs.

Ida sah auf die Uhr über dem Eingang des Bahngebäudes. Jetzt erhält Vitus die Zeilen, die sie vor ihrem Weggang in Hast und Heimlichkeit an ihn geschrieben hat. Zurückgeholt kann sie nicht mehr werden, dazu ist es zu spät, und sie selbst denkt nicht an Umkehr. Sie trat ein und an den Schalter.

In der Nähe des Wartezimmers für hohe und höchste Herrschaften stand ein Schwarm Hohenwarter; sie hatten gehört, daß der Minister mit diesem Zug abzureisen gedenke, und wollten es sich nicht nehmen lassen, durch ihre Anwesenheit dem hohen Besucher ihres Bades eine letzte Ehre zu erweisen, die freilich von diesem nicht in ihrem ganzen Umfang gewürdigt zu werden schien. Denn Excellenz Imhof war mit einem verdrießlichen Gesicht durch ihre Reihen hindurchgeschritten und harrte nun, umgeben von einem Kreis staatlicher und städtischer Würdenträger, schweigend der Zeit zur Abfahrt.

Lieutenant Helmuth stand in trüber Stimmung am Fenster, das auf den Bahnsteig ging. Verena hatte nicht geschrieben. „Näheres mündlich!“ ließ ihm die Baronin durch den Burschen sagen. Helmuth warf einen finsteren Blick aus dem Fenster. Dort stolzierte sein Schütz im Gedränge der Geschäftigen und Müßigen mit gespreizten Beinen, und dessen Braut Kathi schmiegte sich zärtlich an ihn. Wie verliebt sie ihren Bräutigam anblickt! Diese glücklichen kleinen Leute!

Ein langgedehnter Pfiff, ein gelles Läuten nebenan – der Zug fährt in die Halle. Nun geräth die stille Gesellschaft in Bewegung. Der Bahninspektor reißt vor Seiner Excellenz beide Thürflügel auf. Draußen rennen die Reisenden, die Bleibenden, die Beamten wirr durcheinander.

Imhof Vater und Sohn sind bereits in der für sie freigehaltenen Abtheilung eines Wagens erster Klasse. Man giebt das zweite, das dritte Zeichen. Da, im letzten Augenblick, wird die schon geschlossene Thür von dem Bahninspektor diensteifrig noch einmal aufgerissen und Excellenz macht große Augen – die Baronin steigt ein.

„Excellenz haben doch nichts dagegen?“ sagt sie mit ihrem freundlichsten Lächeln, „auch ich fahre nach der Residenz.“

Das Gesicht des Lieutenants strahlt. „Ausgezeichnet!“

(Schluß folgt.)




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Alle Rechte vorbehalten.

Mehr Licht!

Wer als Arzt auch bedeutende Menschen in ihrer letzten Stunde beobachtet hat, der glaubt nicht so recht an tiefsinnige, weitausschauende Aussprüche der sterbenden Größen; Stärke und Stimmung dazu fehlen fast überall in jenen Augenblicken, wo Körper und Geist sich trennen. So hat wohl auch Goethe, als er die Worte sprach, welche über diesen Zeilen stehen, nur gefühlt, wie die Schatten des Todes sein lichtgewohntes Auge verdunkelten, und hat deshalb nach mehr Licht nicht im geistigen, sondern im natürlichen Sinne verlangt, nach „dem Urquell des lieblichen Lebens“, wie er die Sonne in einem Briefe an Schiller nennt. Und in diesem Sinn knüpfen wir an seinen letzten Ausspruch im Folgenden nicht etwa eine litterargeschichtliche Abhandlung,

[569]

Siegfrieds Leiche.
Nach dem Gemälde von Th. Pixis.

[570] sondern einige Bemerkungen an über den Einfluß des Lichtes auf die Gesundheit – nicht des Auges, denn darüber giebt es zahlreiche Arbeiten vortrefflicher Art, sondern des Gesammtkörpers.

Der Titel, den wir gewählt haben, drückt in der kürzesten Form diejenige Forderung der Gesundheitspflege aus, welche selbst in Lehrbüchern über diesen Gegenstand kaum berührt wird, trotzdem heutzutage täglich und stündlich dagegen gesündigt wird. Die Hygieine des natürlichen Lichtes ist auffallenderweise kaum angebahnt, vor allem wurde der Weg des Experiments noch nicht so benutzt, wie dies nach anderen Richtungen hin in der Hygieine überall der Fall ist. Und doch ist unter den ursprünglichen Naturbeziehungen des Menschen die zum Licht sicher von nicht geringerem Gewicht und Werth als die zur Luft, zum Wasser, zum Erdboden etc., auf welche sich gerade in letzter Zeit die hygieinische Experimentalforschung vorzugsweise gerichtet hat. Ja man darf behaupten, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, daß das Licht im Vergleich zu den genannten Beziehungen unseres Daseins einen größeren und besonderen Einfluß voraus hat, den auf das höhere Nervensystem, dessen Thätigkeitsäußerungen wir als Geistes- und Seelenleben bezeichnen. Auf Seele und Geist wirkt ja nichts so eingreifend, sowohl fördernd als hemmend, wie Fülle oder Mangel des Lichts.

Von alters her stellte man das Licht unter den das Leben bedingenden und beginnenden Mächten an die Spitze: in der Schöpfungssage der ältesten Völker leitet das „Es werde Licht!“ das Sein der ganzen Welt ein, und heute noch bezeichnet „das Licht der Welt erblicken“ den Anfang des Einzellebens. Aber nicht bloß als erste Grundlage des Schöpfungswerkes galt es den Völkern, es ward bei vielen geradezu zur obersten Gottheit: von den Aegyptern wurde es als Ra verehrt, von den Persern als Ormuzd zum lebengebenden und lebenerhalteuden Gott erhoben, dem als zerstörende, dem Leben feindliche Gewalt Ahriman, die Finsterniß, entgegentrat. Selbst in der christlichen Lehre über das Dasein nach dem Tode spielt das Licht eine Rolle, insofern das Leben im Himmel als ein Leben im Lichte, das in der Hölle als ein solches in der Finsterniß vorgestellt und das erstere als Belohnung, das letztere als Bestrafung aufgefaßt wird.

Spricht man weiter von düsterer nordischer Weltanschauung im Gegensatz zu der heiteren südlicher Völker, so bezeichnet man damit eine Wirkung des Lichtes auf das Wesen ganzer Völker, die als Zusammenfassung seines Einflusses auf die Geistesart des einzelnen betrachtet werden muß. Weiß doch bezüglich der letzteren Wirkung jedermann aus eigener Erfahrung, daß die lichtarme Winterszeit die Seelenstimmung ganz anders gestaltet als die lichtreicheren Jahreszeiten. In dem Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller spielt die Frage nach dem Licht, spielen die vielgeschmähten Bemerkungen über das Wetter eine überaus große Rolle. Lichtmangel drückt und verdüstert das Gemüth, ja verursacht krankhafte Gemüthszustände, wovon der Spleen bei den Bewohnern des nebelreichen England das bekannteste Beispiel ist; Lichtreichthum erhebt und spornt die Geisteskräfte an. „Die Jahreszeit drückt mich, wie Sie, und ich meine oft, mit einem heiteren Sonnenblick müßte es gehen“, schreibt Schiller, dessen schöpferische Kraft wie bei Goethe in der trüben Jahreszeit nachließ, ja zeitweise stille stand. Deshalb besingen auch alle Dichter seit des Sophokles einfach erhabenem „Sonne, du schönstes Licht … Wimper des goldenen Tages“ das Licht in ihren besten Tönen, und Lenaus großartiges Klagelied an die Nacht erscheint als düsteres Vorzeichen seiner späteren geistigen Umnachtung.

Das Licht weckt die gesunden und guten Kräfte der Menschenseele, und deshalb scheuen alle guten Thaten nicht das Licht, nur die schlimmen meiden es. Man spricht daher von Licht- und Nachtseiten der Menschennatur.

Der Mangel des Lichtes übt bei den meisten Menschen einen schädigenden Einfluß auf den Gedankengang und die Gedankenrichtung aus. Wer aufmerksam sich selbst beobachtet, wird sicher gefunden haben, daß die Dunkelheit geeignet ist, das Denken auf falsche Bahnen zu bringen; es wird unklar und vor allem phantastisch, es richtet sich mehr auf düstere Gegenstände als auf erfreuliche. Wie oft erklären sonst ganz ruhige, vernünftige und gesunde Menschen dem Arzte, daß sie in schlafloser Nacht sich Licht anzünden müssen, um der Gedankenjagd zu entrinnen und der Selbstquälerei, in welcher sie alle unangenehmen und schlimmen Erfahrungen, die sie im Laufe vergangener Jahre gemacht haben und die durchs Licht des Tages immer wieder ausgetilgt werden, hervorsuchen und an sich vorüberziehen lassen.

Daß Dunkelheit den Geist grüblerisch und traurig stimmt, ist eine Beobachtung, die auch die Augenärzte häufig machen, wenn sie gezwungen sind, ihre Kranken tage- und wochenlang im künstlich verdunkelten Zimmer zu halten; ja es giebt Naturen, die solche Kuren gar nicht ertragen können und erklären, daß ihnen der Wahnsinn drohe, wenn sie noch länger in der künstlichen Nacht ausharren müßten. Ebenso bekannt ist es, daß in der Militärjustiz der Ausschluß des Lichtes, beim sogenannten Dunkelarrest, als Strafverschärfung betrachtet und – so mittelalterlich und verwerflich er ist – unbegreiflicherweise noch heute benutzt wird.

Bei anderen erregt die Dunkelheit an Stelle solcher „Depressionszustände“ umgekehrt bald schwächere, bald stärkere „Exaltationszustände“, sie verfallen in „wache Phantasien“, wie die landläufige Redeweise es nennt; diese sind übrigens bei den meisten ebenfalls düsterer Art, und wenn sie die heitere Seite der Lebenserfahrungen zur Unterlage haben, so führen sie dieselben in verzerrter Weise, gleichsam als Karikaturen, vor.

Eine bekannte Thatsache ist es ferner, daß Dunkelheit das Schätzungsvermögen bezüglich der Zeit und des Raumes verändert, Minuten dehnen sich scheinbar zu Stunden, die Entfernungen dünken uns größer, die Wege erstrecken sich wie ins Unendliche. Und viele Menschen, die am Tage unerschrocken sind, macht die Nacht furchtsam. Selbst auf ganz bewußtlose Kranke, wie z. B. auf Typhuspatienten, wirkt sie verschlimmernd, sie steigert die vorhandenen Delirien oder ruft diese da hervor, wo sie tagsüber fehlten. Mit einem Worte: das Licht wirkt regelnd und beruhigend auf die geistige Thäkgkeit, die Dunkelheit verkehrt und erregt sie. Auch das einfache Empfindungsvermögen wird verändert, gesteigert, wie die Thatsache beweist, daß Schmerzempfindungen in der Dunkelheit bis zur Unerträglichkeit wachsen.

Es handelt sich bei den angeführten Erscheinungen, deren Zahl sich leicht vermehren ließe, um Einflüsse des Lichtes oder des Lichtmangels auf die Tätigkeiten des zentralen und peripheren, des inneren und äußeren Nervensystems und auf die Gesammtwirkung beider, das Gesammtgefühl. Da aber alle jene Thätigkeiten auf stofflicher Grundlage beruhen, so ist folgende Thatsache, so unbedeutend sie scheinbar ist, von Wichtigkeit. Das Licht hat einen regelnden Einfluß auf den sogenannten Stoffwechsel in den Nerven, vor allem durch Ausscheidung der Zersetzungsprodukte, welche die Dunkelheit zurückhält. In dieser Beziehung wenigstens hat man durch Versuche festgestellt, daß selbst vom Körper getrennte frische Nerventheile im Lichte mehr Kohlensäure aushauchen und mehr Sauerstoff aufnehmen als im Dunkeln, wodurch die vermehrte Ausscheidung ermöglicht wird.

Daß aber alle Abweichungen der Thätigkeit des Nervensystems bei Lichtmangel, also auch während der Nacht, auf das Zurückhalten von Ausscheidungsstoffen und die verminderte Sauerstoffaufnahme zurückzuführen sind, darf nicht behauptet werden, obwohl die Möglichkeit nicht geleugnet werden kann.

So viel vom Allgemeinen! Es erübrigt uns, die gesundheitlichen Forderungen zu betrachten, welche auf Grund der erörterten Erfahrungen in Bezug auf das Licht zu stellen sind. Wir thun das unter dem doppelten Gesichtspunkte der persönlichen und der öffentlichen Hygieine.

Zu den unvermeidlichen Folgen höherer Kulturzustände gehört es, daß die Menschen aus manchen naturgemäßen Bedingungen ihres Daseins heraustreten müssen, und es hieße deshalb eine Unmöglichkeit vertheidigen, wollte man, wie das von Rousseau und seinen Nachfolgern im vorigen Jahrhundert als Lehrsatz aufgestellt wurde, „Rückkehr zum Naturzustande“ verlangen.

In unserem Falle können wir also nicht fordern, daß man hinsichtlich der Belichtung zu den Gewohnheiten der Urvölker zurückkehre, um so weniger, als schon die klimatischen Verhältnisse dagegen sprechen würden. Die primitive Bekleidung der Neger, Australier etc., die dem natürlichen Lichte allerdings die größtmöglichen Flächen darbieten würde, ist natürlich unter uns unmöglich. Selbst die Sonnenlichtbäder des steiermärkischen Gesundheitslehrers Rickli[WS 1], obwohl in einer besondern Kuranstalt geübt, blieben nicht unangefochten. Der neueste Verfechter der Naturheilung, Kneipp in Wörishofen, beschränkte sich deshalb [571] auf das Mögliche, auf das Verbot der Kopfbedeckung und des Handschuhtragens, sowie auf die Forderung des Barfußgehens, und sogar diese beschränke Rückkehr der zwölfhundert Kurgäste zur Natur soll, zumal bei Damen, anstößig und zugleich komisch wirken.

Immerhin müssen wir aber auf einige Auswüchse der Ueberkultur aufmerksam machen, die beseitigt werden könnten, wenn – die Mode nicht wäre.

Vor allem ist zu sagen, daß bei Kindern, die in der raschesten Entwicklung begriffen sind und deshalb unter die günstigsten Bedingungen versetzt werden müßten, durchaus kein Grund vorliegt, ihren Körper durch übermäßige und zu dichte Bekleidung nahezu jeder Einwirkung des Lichtes zu entziehen. Fast nur die Engländer sind so einsichtig, die Kleinen mit freiem Hals und Nacken, mit bloßen Aermchen und Beinchen eines unbeengten Daseins sich freuen zu lassen; wir Deutsche legen ja auf die körperliche Ausbildung und Kräftigung viel weniger Gewicht, dagegen recht unbedacht viel auf die „Schulbildung“. Kaum daß die jungen Weltbürger ordentlich gehen können, so stecken wir sie schon in Beinkleider und ähnliche anmuthige Schalen; in diesen dürfen sie sich dann nach den Regeln der Grammatik in Zimmern oder in recht schattigen Gärten zwischen den Häusern bewegen, sie dürfen sogar schon „spielend“ mancherlei lernen, damit sie bereits etwas „vorgebildet“ im sechsten Lebensjahre mit ungebräunter, bleicher Haut sicher eine Zierde der „höhern“ Schulbänke werden. Um sie dem Sonnenlichte zu entziehen – denn dieses bräunt die Haut, nicht die Sonnenwärme, obwohl man überall von „sonnverbrannter“ statt von „sonnenlichtgebräunter“ Haut spricht – läßt man heutzutage in „besseren Kreisen“ die Kleinen außerdem Sonnenschirme und Handschuhe tragen. Allein wir sollten gerade hier in dem wichtigen Punkt der Kinderpflege Vernunft walten lassen und bis zum Ende der Schulzeit derartige Errungenschaften der Kultur zu Gunsten einer lichtfreundlicheren Körperpflege vermeiden. Bei Erwachsenen läßt sich ja ohnehin unter den gegebenen Verhältnissen wenig zu Gunsten einer solchen ändern, aus Gründen des Anstandes und der Mode am wenigsten bei den Frauen. Die schattigsten, entsetzlichsten Hutformen, Schleier und Handschuhe darf ja kein Mann verbieten. Eine Pflanze würde bei so geringer Beleuchtung unfehlbar krank werden und zu Grunde gehen, der Mensch dagegen besitzt eine so große Anpassungsfähigkeit, daß sogar das spärliche Licht, welches auch noch durch die dichtesten Kleider dringt, dem Bedürfnisse eben noch genügen muß.

Je weniger sich voraussichtlich in Bezug auf die Hygieine der persönlichen Belichtung wird bessern lassen, desto mehr kann geschehen hinsichtlich der öffentlichen Belichtung der Straßen und weiterhin der Wohnungen.

Bei den Straßen kommt in erster Linie die Breite in Betracht.

Meist entspricht diese nicht den Forderungen der Gesundheitspflege, und zwar nicht nur in alten, sondern häufig auch in verhältnißmäßig neuen Städten. Die Straßen sind oft so eng (10, 8, ja 6 Meter breit und darunter), daß nur ein schmaler Streifen des Pflasters in der günstigen Jahreszeit von unmittelbarem Sonnenlicht getroffen werden kann, während es als Grundsatz gelten müßte, wenn nicht Lichtmangel entstehen soll, daß die Straßen breiter sind als die Höhe der höchsten Häuser auf beiden Seiten zusammen mißt. Dagegen ist in vielen Dörfern, instinktmäßig möchte man sagen, jenem Verhältniß Rechnung getragen, da hier die niedere Bauart der Häuser und die Billigkeit von Grund und Boden günstig einwirken. In den Städten aber sind die Straßen sogar bei Neuanlagen im günstigsten Fall kaum breiter als die größten Bauten der einen Seite hoch sind. Infolge dessen liegt fast immer, zumal im Winter, die eine Häuserreihe ganz im Schatten.

Auch die Richtung der Straßen ist in Rücksicht zu ziehen.

Als die günstigste für möglichst gute Belichtung muß man die von Nord nach Süd und die von Ost nach West bezeichnen, während schräger Lauf der Straßen weniger vortheilhaft ist.

In dritter Linie ist die gegenseitige Lage der einzelnen Häuser zu- und nebeneinander von größter Tragweite für das richtige Einfallen des Lichts. Das Vollkommenste in dieser Beziehung wäre, wenn alle Häuser in gehörigen Abständen voneinander auf allen vier Seiten frei liegen würden. Das ist wiederum in Dörfern häufig anzutreffen, wird neuerdings aber auch in den Städten bei sogenannten Villenvierteln durchgeführt. Es sollte jedoch eine derartige Anlage überall angestrebt werden, wo neue Quartiere entstehen; und wo die Erfüllung dieses Ideals nicht möglich ist, da sollte man wenigstens die Häuser nach drei Seiten freihalten. Immerfort aber werden noch ganze Straßenzüge mit unmittelbar aneinander stoßenden, nur durch eine Brandmauer getrennten Häusern gebaut.

Auch die Zahl der aufeinander getürmten Stockwerke ist sehr oft eine zu große: während nur zwei, höchstens drei zugelassen werden sollten, findet man fünf und mehr übereinander, ja in New-York giebt es fünfzehn-, in Chicago gar siebzehnstöckige Häuser! Wie sehr solche Eiffelthürme den Nachbarn das Licht wegnehmen, braucht nicht erst ausgeführt zu werden.

Leichter als den genannten Forderungen hinsichtlich der Belichtung wäre anderen nachzukommen, wenn nicht Gewohnheit und Mode, diese hemmenden Mächte einer richtigen Lebensweise, sich dagegen stemmen würden.

Gewohnheitsgemäß werden die beinahe überall zu kleinen und zu spärlichen Fenster – diese sollten so groß sein, daß alle zusammen dem Bodenraum des betreffenden Zimmers an Fläche gleich- oder doch wenigstens nahekämen – so gründlich verhängt, daß die an sich spärliche Lichtmenge, welche durch sie in unsere Wohnräume eindringen kann, noch erheblich vermindert wird. Vorhänge dicht hinter den Scheiben, meist aus dunklen und dichten Stoffen, allerhand Draperien von oben her setzen dem Sonnenlichte einen dichten Wall entgegen. Weiterhin nehmen dunkle Tapeten und diesen entsprechend dunkel angestrichene Thüren und Vertäfelungen, dunkel gehaltene oder mit düstern Teppichen belegte Fußböden, dunkle Möbel und natürlich dunkle Oefen, zuletzt die sogenannten „eleganten gemalten Decken“ noch einen großen Theil des durch die Fensterhüllen sich durchkämpfenden Lichtes weg. Einem solchen lichtarmen Wohnraum sagt man dann nach, es herrsche in ihm ein „vornehmes Halbdunkel“. Daß vom Standpunkte einer vernünftigen Gesundheitspflege möglichst wenig verhängte Fenster, helle Tapeten, heller, am besten weißer Anstrich der Decken und des Holzwerkes allein gerechtfertigt sind, ergiebt sich aus dem Dargelegten von selbst. In dem „vornehmen“ Halbdunkel gedeiht keine Zimmerpflanze, das wissen die Gärtner, die sie liefern, nur zu wohl; dagegen der Mensch muß der Mode zuliebe seine Gesundheit schädigen. Die Aerzte können erfahrungsgemäß daran nichts ändern, vielleicht gelingt es einem berühmten Wohnungsausstattungsgeschäft oder der Leitung einer Modezeitung, die jetzige Sitte zum Besseren zu wenden. Am schädlichsten wirkt dieses Halbdunkel in den Wohn- und Schlafräumen, besonders in den letzteren; diese sollte man nicht bloß auslüften, sondern auch auslichten, um die schädlichen Ausdünstungsstoffe, die sich hier anhäufen, rasch zu zersetzen. Ganz besonders sollten auch die Betten, so oft es geht, gründlich dem vollen Sonnenlicht ausgesetzt werden.

Die Innenräume des Hauses müssen ferner nach dem Grade ihrer Helligkeit benutzt und für bestimmte Zwecke ausgewählt werden. Vor allem sollen die Schlafräume die hellsten sein, somit nach Süden liegen, oder noch besser von zwei Seiten Licht erhalten, von Süd und Ost oder Süd und West her, je nach der Baurichtung des Hauses; ebenso die Wohnzimmer. Das gebietet schon die Rücksicht auf die Reinlichkeit, da man den Staub doch genau sehen muß, um ihn entfernen zu können. Ebenso soll das Kinder- und Spielzimmer nach Süden oder wenigstens nach West oder Ost liegen und ganz ohne Vorhänge sein. Das sogenannte „gute“ Zimmer mag dann immerhin in Gottes Namen ganz nach Norden gehen und dunkel verhängt sein, das schadet verhältnißmäßig wenig, da es ja meist nur kurz benutzt wird.

Für alle Räume des Hauses jedoch, in denen die Bewohner die größte Zeit ihres Lebens zubringen, also auch für Arbeitsräume, muß der Grundsatz in Geltung bleiben, daß sie möglichst hell sein müssen. Dafür haben die Italiener ein gutes Sprichwort: „Dove non viene il sole, viene il medico,“ deutsch etwa:

„Schließst du Licht und Sonne aus,
Kommt der Doktor dir ins Haus!“

Dr. J. Herm. Baas 
[572]
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Alle Rechte vorbehalten.

Die Fächerausstellung in Karlsruhe.

Von F. Luthmer. Mit Zeichnungen von Franz Hein.

Der lose Zephyr raubte Psychen, die er schlafend fand, einen Kuß. Von Amor, dem zürnenden Gatten, ergriffen und mit dem Tode bedroht, entrang er sich der rächenden Hand, in der er doch einen seiner Flügel beim Ringen zurücklassen mußte. Nun saß Zephyr, klagend ob seiner Wunde, im Rosengebüsch verborgen, und kein Lüftchen regte sich in der weiten Flur, um Psyche, die erschreckt vom Streite bewußtlos in des Gatten Arm gesunken war, zum Leben zurückzurufen. Nathlos blicke Amor um sich – nirgends Wasser, nirgends ein kühlender Lufthauch! Da gedachte er des Zephyrflügels in seiner Hand und bewegte ihn fächelnd gegen die Geliebte: der erste Fächer war geschaffen! –

Diese zierliche Mythe, die sich auf einem alten Fächer spanischer Herkunft fand, gab Frau von Freydorf den Gedanken zu einem sinnigen Gedichte, das wir auf den Speichen eines von ihr gemalten Fächers der Karlsruher Ausstellung sehen. Es wäre nun, offengestanden, dem Verfasser sehr erwünscht, wenn sich die liebenswürdige Leserin mit dieser poetischen Andeutung vom Ursprung des Fächers begnügen wollte. Denn um diesem geschichtlich auf den Grund zu gehen, müßten mir sehr weit ausholen – so weit, bis sich unser Blick in die Dämmerung der Urzeit verliert.

Sicher ist, daß die tropischen Länder die Heimath des Fächers sind, sicher auch, daß sein erstes Vorbild das Palmblatt war. Jene Bilder, welche uns von den Thaten der uralten Herrscher Aegyptens erzählen, nicht minder Relieftafeln von Ninive und Babylon verrathen uns schon den Gebrauch des Fächers. Freilich hat der Pharao das Kühlung bringende Geräth ebensowenig selbst geschwungen wie der indische Rajah unserer Tage. Vielmehr sehen wir den Triumphwagen oder das Prunklager des Herrschers von Dienern umgeben, welche mächtige Fächer an langen Stangen bewegen. Nach den Abbildungen scheinen dies Vorrichtungen gewesen zu sein, die aus großen, nach Art eines Pfauenrades zusammengesteckten Federn gebildet waren; daneben gab es aber wohl auch kleinere Wedel, die nur aus einem Büschel schwanker Reiherfedern in einem kostbaren Griff bestanden. Daß die Frauen von Athen neben Sonnenschirm und Handspiegel den Fächer als unentbehrlichen Toilettegegenstand aufgenommen hatten, lehren uns zahlreiche Vasenbilder, welche uns eine antike Dame mit dem „Skepasma“ so anmuthig spielend darstellen, als wäre sie eine Französin oder Spanierin von heute. Die Palmblattform, durch die Kunst zu jener Ornamentform verschönt, welche man heute „Palmette“ nennt, wiegt dabei allgemein vor. Durch die Zeit der Römerkultur hindurch, wo der Fächer sich auch wohl in die Hände der durch die Bäderanlagen schlendernden Lebemänner der späteren Kaiserzeit verirrte, im frühen und späten Mittelalter bleibt der Fächer ein notwendiges Geräth der weiblichen Toilette; aber immer nur der Fächer mit festem Stiel. Der so naheliegende Schritt zum Klappfächer mit beweglichen Speichen wird nirgends getan. Dem Bedürfniß, das Fächerblatt zu bewegen, dient im späteren Mittelalter eine Anordnung, der wir bei den Fächern der

Venezianerinnen begegnen: das Blatt, meist reich in Seide gestickt oder bemalt, sitzt als kleine Fahne seitwärts an einem Stock, um welchen es sich herumschwingen läßt.

Fächer aus Samoa, China, Tunis.

Daß Venedig für Europa der Ausgangspunkt dieser Form gewesen ist, läßt uns ihren eigentlichen Ursprung im Orient suchen, und thatsächlich liefert uns Indien noch heute Fächer ähnlicher Gestalt, bei denen nur die Fahne, reich aus Federn gebildet, mehr wie die Klinge eines Beils gestaltet ist, während die Kühlung ebenso wie bei den Venezianern durch Drehung erzielt wird. Auch die von indischer Kultur stark beeinflußte Insel Sansibar kennt ähnliche Gebilde.

Erst die Beziehungen zu Ostasien, welche unter Mazarins Herrschaft durch die „Compagnie des Indes“ und andere Handelsgesellschaften eröffnet wurden, brachten neben anderen Erzeugnissen Chinas und Japans auch den Fächer, an welchen wir heute zunächst denken, wenn wir das Wort

[573]

  Altindischer Fächer.

 Japan.   China.
Aus dem heutigen Indien.  

aussprechen: jenes bewegliche Gerüst strahlenförmig verbundener Stäbe, welche entweder nach oben verbreitert selbst die Windfläche bilden oder als dünne Stäbe gestaltet einem Blatt von Seide, Pergament, Papier u. s. w. zur Stütze dienen. Eine solche Vorrichtung mußte natürlich in ganz anderer Weise der Aufgabe des Windmachens entsprechen, als das steife Palmblatt, und dieses daher in kurzer Zeit verdrängen. Einen Rest davon hat indessen die Mode unserer Tage wieder ans Licht gezogen, indem sie als leichten Sommerfächer das natürliche Blatt der Fächerpalme benutzt, welches bei jedem Gebrauch mit frischen Blumen besteckt wird. Auch der Kaminfächer (écran) erinnert noch an sein ursprüngliches Vorbild; weniger zum Fächeln bestimmt, als um beim Plaudern am Kamin das Gesicht gegen die Wärmestrahlen zu schützen, wird er sein Dasein wohl überall da weiter führen, wo es Kamine und – anmuthige Plaudermäulchen giebt.

Kaminfächer (Spät-Rokoko).

Fächer aus China. Centralafrika.  Indien.
Fidji-Inseln.  Sansibar. 

Entsprechend dem Gebrauch im Lande ihrer Herkunft geriethen auch in Frankreich die Faltfächer zuerst in die Hände der Männer; es hat für unsere Vorstellung etwas Komisches, uns die großen Herren vom Hofe Ludwigs des Vierzehnten mit koketter Bewegung den Fächer schwingend zu denken. Doch wurde dieser Mißgriff bald berichtigt und der Fächer blieb von nun an unbestrittener Besitz der Frauenhand. Als solcher trat er natürlich unter die Herrschaft der Mode, und wie die Kleidung und der Schmuck war er verurtheilt, jede Laune dieser Herrscherin mitzumachen. Hier nur ganz kurz die Hauptzüge dieser Wandlungen: Die ersten in Europa erzeugten Fächer entsprachen ganz ihren chinesischen Vorbildern, sie waren klein, ganz aus Elfenbein geschnitten und mit Lack bemalt, zuerst wohl in treuer Anlehnung an asiatische Muster, später in eigenartiger kostbarer Ausführung.

Fächer von G. Schönleber.

Nach und nach [574] vergrößert sich der Umfang und als eigentlich windgebender Theil wird das gefältelte Blatt eingefügt. Aber das Gestell behält noch die ursprüngliche geschlossene Form; seine Verzierung kümmert sich nicht um die einzelnen Speichen und zieht sich als geschlossenes Bild über die ganze untere Fläche des Fächers. Herrliche Werke dieser Art, aus Perlmutter geschnitten und mit verschiedenfarbigem Golde belegt, erzeugte das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts unter der Regentschaft des Herzogs Philipp von Orleans und der Regierung Ludwigs XV. Allmählich aber verlangte die Mode in diesen Verzierungen größere Durchbrechungen, eine luftigere Komposition, und diese Entwickung endete damit, daß man die einzelnen Speichen selbständig behandelte. Hat die Zeit Ludwigs XVI. auch in dieser Form noch äußerst geschmackvolle Erfindungen aufzuweisen, so wird in den Tagen des ersten Kaiserreichs die einzelne Speiche am Ende so dünn, das Fächerblatt schrumpft zugleich so zusammen, daß die Fächer einen entschieden mageren, dünnbeinigen Eindruck machen. Ueberaus reich an schönen, mit höchstem Geschmack durchgeführten Fächern war in Frankreich die Zeit Louis Philipps und des zweiten Kaiserreichs. Die besten Gestelle aus alter Zeit wurden von gewandten Händen nachgebildet, für die Bemalung der Blätter die ersten Künstler herangezogen.

So kommt es, daß noch heute Paris fast die ausschließliche Geburtsstadt aller Fächer ist, die auf künstlerische Form Anspruch machen. Allerdings traten die großen Wiener Fabrikanten nicht ganz ohne Erfolg in den Wettbewerb mit Paris ein, und es giebt in der That einen besonderen Wiener Stil, der sich durch reizvolle Erfindungen verräth. Außerdem erzeugt Oesterreich köstliche Stoffe für die Fächerindustrie, unter anderem Hölzer von überaus feiner Art, und so erlangten die österreichischen Fächer ganz wie die spanischen Heimathrecht auf den größeren europäischen Märkten. Auch Deutschland ist neuerdings, wie wir nachher sehen werden, in gutem Fortschritt begriffen, aber die erste Stelle kommt doch nach wie vor den Erzeugnissen der französischen Kunsthandwerker zu.

Diese letztere, wohl von keinem unbefangenen Sachverständigen geleugnete Thatsache ist vielleicht ein Hauptbeweggrund gewesen, daß der Vorstand des Badischen Kunstgewerbe-Vereins durch eine Fächer-Ausstellung, verbunden mit einem Wettbewerb für deutsche Künstler und Industrielle, unser Vaterland von der Alleinherrschaft der Pariser Industrie unabhängig zu machen suchte. Ob dies schwierige und weitgesteckte Ziel erreicht wird, diese Frage kann heute wohl noch niemand beantworten; daß aber auf dem angedeuteten Wege der erste Schritt mit Glück gethan worden ist, glauben wir mit dem Blick auf die glänzend gelungene „deutsche Fächerausstellung in Karlsruhe“ freudig bestätigen zu können. Wie aus dem Vorausgeschickten hervorgeht, hat diese Ausstellung neben der künstlerischen und kunstgeschichtlichen Seite auch eine volkswirtschaftliche von weittragender Bedeutung, – eine Seite, die unsere volle Aufmerksamkeit und Theilnahme in Anspruch nimmt. Man weiß, daß die tief in unser wirthschaftliches Leben einschneidende Frage der Frauenarbeit eine unermüdliche Beschützerin in der Großherzogin von Baden hat, daß eine Lösung dieser Frage nach der künstlerischen und kunstgewerblichen Richtung eine Hauptaufgabe des von ihr gegründeten Badischen Frauenvereins bildet. Bekannt sind auch die Schwierigkeiten, welche sich diesen Bestrebungen entgegenstellen; der schwerste Einwand, die ganze Frauenarbeitsfrage sei nur aufgeworfen, um den Arbeitslohn der Männer herabzudrücken, wird am leichtesten da widerlegt werden, wo es sich um zarte leichte Arbeiten, um einen gefälligen Geschmack handelt. So wird die Domäne der Putzmacherei, der künstlichen Blumen den Frauenhänden wohl unbestritten bleiben. Und die Fächermalerei, dieses spielende liebliche Kind der Mode, gehört unzweifelhaft auch in diese Reihe. Thatsächlich finden wir an dem Hauptsitz dieser Industrie, in Paris, weibliche Arbeiter nicht nur für Marktware beschäftigt, sondern auch für die vornehm ausgestatteten Erzeugnisse namhafte Künstlerinnen, welche das Bemalen von Fächerblättern als Besonderheit betreiben.

In italienischem Barockstil.

Daß auch unsere deutsche Künstlerschaft sowohl in ihren weiblichen wie in ihren männlichen Vertretern die Ausschmückung des Fächers mit Erfolg versucht hat, das beweisen deutlich die ausgestellten Arbeiten. Daß das Publikum, welches dieses schöne Luxusgeräth kauft und bestellt, sich mehr wie bisher den deutschen Künstlern zuwendet, wird die segensreiche Folge sein, welche die Veranstalter für viele Mühe und Anstrengung entschädigen muß. Ehe wir dem Leser eine kurze Blumenlese aus der Karlsruher Ausstellung vorführen, sollen aber in wenigen Worten die Grundsätze, nach welchen die Verzierung des Fächers vorgenommen wird, berührt werden.

Sehr beliebt bei dieser Kunstübung wie bei den meisten unserer Tage ist das Zurückgreifen auf klassische Muster, und auch hierin hat die Ausstellung dem Bedürfniß Rechnung getragen, indem sie nach vielen Hunderten die Fächer aus dem 18. Jahrhundert vereinigt hat, geschmückt mit jenen Meisterwerken der Kleinmalerei, für welche die Namen der französischen Künstler Watteau, Boucher etc. in Anspruch genommen werden. Dies „Watteau-Genre“ findet auch heute noch seine Verehrer. Jene galanten Spiele im Freien, seien sie im Schäfer- und Schäferinnenkostüm, seien sie von weltlichen oder geistlichen Vertretern der Hofgesellschaft veranstaltet; jene zierlichen Allegorien, in welchen der lose Liebesgott oder der Hirt Paris eine Hauptrolle spielt, begeistern auch noch die heutigen Künstler. Das überaus schöne Blatt, welches Prof. Eugen Klimsch in Frankfurt gemalt hat, bietet neben den Werken von Wittig, Schrödl, Rößler (Wien) ein besonders sprechendes Beispiel für diese Richtung. Weit mehr jedoch als dieses Zurückgreifen auf alte Vorbilder zeigt sich der Einfluß von Japan in der neuzeitlichen Fächermalerei. Es ist gewiß ein berechtigter Gedanke, da in die Schule zu gehen, wo die Faltfächer ihren Ursprung genommen haben; und dank der Hinneigung zu der Kunstweise Japans, welche seit mehr als einem Jahrzehnt unser gesammtes Kunstgewerbe zeigt, fehlt es nicht an vorzüglichen Mustern. Dazu kommt, daß die Eigenthümlichkeit der japanischen Kunst: das zwanglose, anscheinend an keine Kompositionsregeln gebundene Ueberstreuen der Fläche mit einzelnen Darstellungen, sowie die liebevolle naturwahre Wiedergabe der Wirklichkeit unserm modernsten Kunstempfinden allen Vorschub leistet. Und thatsächlich giebt die Karlsruher Ausstellung zu lehrreichen Betrachtungen über die Vermischung dieser beiden geistesverwandten Kunstweisen, oder wenn man lieber will, über die Uebersetzung des Japanismus ins Modern-Europäische vielfach Anlaß.

Wo diese völlig freie Dekorationsweise Beifall findet, kann man für die strengere Art, welche das Speichengerüste des Fächers zum Ausgang nimmt und den Drehpunkt desselben als idealen Mittelpunkt der Komposition betrachtet, wenig Vorliebe erwarten. So haben denn auch nur wenige Künstler sich in dieser Art versucht. Koberstein nimmt mit seinen Motiven aus dem Sommernachtstraum hier wohl die erste Stelle ein. Auch der Flötenspieler von Dannenberg und der schöne Fächer, welchen Max Koch in einer Sauerwaldschen Montierung ausstellt – beides glänzende Zeugnisse für die Berliner Fächerfabrikation – müssen hier an hervorragender Stelle genannt werden. Dem gleichen System, wenn auch in freierer Auffassung, gehört dann auch der Fächer an, welcher von vielen für die Perle der Ausstellung erklärt wird, eine Komposition von Prof. Eyth in Karlsruhe, die „Musik“ darstellend, mit einer prächtigen, von Rothmüller in München ausgeführten Fassung. [575] Es ist leicht erklärlich, daß die oben geschilderte modern japanische Richtung der Fächermalerei nicht nur weitaus die zahlreichsten, sondern auch die merkwürdigsten Beispiele der Ausstellung umfaßt. Legt sie doch dem Maler, dem vielleicht schon die Technik der Aquarellmalerei auf Seide, Pergament oder Schwanenhaut nicht ganz bequem liegt, wenigstens nach der Seite der Erfindung nicht die geringsten Hemmnisse in den Weg. So sehen wir denn auch die seltsamsten, oft überraschenden Motive verwerthet. Namentlich sind es die Künstler, welche Jacques Rosenberg, einer der thätigsten Veranstalter der Ausstellung und selbst wohl der erste Fächersammler Deutschlands, seit mehr als Jahresfrist mit der Anfertigung von Fächerblättern beauftragt hat, die sich ein wenig sorglos über die Zweckbestimmung ihrer Kunstwerke hinweggesetzt haben; ihre Werke bilden eine wundervolle Galerie von Aquarellen unserer ersten Meister, von Schönleber, Baisch, Koppay, Keller, Meckel, Bergmann, Kanoldt, Kallmorgen, Schmutzler, Papperitz, allein man fragt sich manchmal verwundert, warum der Maler diese sonnigen Flußlandschaften, diese Marinen, diese Fiakergruppe gerade in einen fächerförmig ausgeschnittenen Rahmen gesetzt habe. Verständlicher sind uns noch diejenigen Künstler, deren Kompositionen von den mannigfaltigen

Mit Fensterchen versehener Rokokofächer in chinesischem Geschmack.

Seiten des Fächers die eine oder andere, sei es die Kühlung, den Wind, oder auch das Neckische zum Motiv gewählt haben. So erinnert F. A. Kaulbachs reizende Skizze an den Windhauch in seinen verschiedenen Wirkungen; andere Künstler, wie namentlich Dettmann, gestalten Schmetterlinge oder leichte Vogelzüge, die vom Wind getrieben werden. Erfrischend kühl wirkt P. Meyerheims auf eine Eisscholle ausgestreckter Polarbär, oder Ritters jugendliches Mädchen, das seine reizenden Glieder in den Zotten eines Eisbärfells vergräbt.

Neben diesen, einen augenblicklichen Einfall des Künstlers festhaltenden Bildern fesseln uns wieder andere, in deren Inhalt wir uns erst vertiefen müssen. Aus der Reihe derselben sei Lüthis eigenartige „Gartenscene aus der Biedermeierzeit“ und Simms reizende Komposition hervorgehoben: ein Steinbild, ein von Amor mit Rosenketten gefesselter Löwe, bildet den Gegenstand der sehr verschiedenen Kritik zweier Pärchen, eines alten, noch im Rokokokostüm, das entschieden abfällig urtheilt, und einer anmuthig jugendlichen Frauengestalt im Incroyablekostüm, die ihrem Begleiter die Nothwendigkeit dieser Fesselung klar zu machen sucht.

Wenn irgendwo die leichte Vortragsweise der Japaner und ihre liebevolle Naturbeobachtung würdig ist, als Vorbild zu dienen, so ist es bei der Blumenmalerei der Fall, die wir in erdrückender Fülle auf der Karlsruher Ausstellung vertreten finden. Sie tritt uns entgegen bei denjenigen Ausstellern, die wir als die Pioniere einer deutschen Fächerindustrie bezeichnen dürfen, bei den Firmen F. Blos in Karlsruhe und Reichardt u. Co., Sauerwald und Donath in Berlin; besonders zahlreich aber in den Arbeiten der Malerinnen, für deren Zukunft diese Ausstellung zu sorgen hoffentlich berufen ist. Man darf es mit Befriedigung aussprechen, daß eine Fülle von Geschmack, eine Summe tüchtigen, über den Dilettantismus hinausgehenden Könnens sich hier offenbart. Wünschen wir, daß die mit dem Unternehmen verknüpften Absichten sich verwirklichen und daß so manche kunstgeübte Frauenhand, die bisher nur zur eigenen Freude oder zu Hochzeitsgeschenken für Freundinnen den Pinsel führte, künftig in lohnender Berufsarbeit ihre Geschicklichkeit verwerthen könne! –

Es erübrigt noch, derjenigen Fächer kurz zu gedenken, die in das Gebiet der Bijouteriearbeit hinübergreifen und die glanzvollsten Stücke der Ausstellung bilden. Hier ist meist das Fächerblatt vornehm bescheiden aus echter Spitze gebildet, und es ist die Schale, welche den Gegenstand edelster Gold- und Juwelentechnik bildet. In erster Linie steht hier ein Fächer aus „blondem“ Schildpatt mit Goldarabesken, die ganz mit Brillanten besetzt sind, aus der Werkstätte von Hessenberg in Frankfurt. Eine zweite Firma der reichen Mainstadt, A. Schürmann u. Co., hat ähnliche Arbeiten ausgestellt, bei welchen Perlmutter und Emailplättchen zu vornehmster Wirkung herangezogen sind. Auch Elymeyer in Dresden bleibt hinter diesen nicht zurück, ebenso wie auch Paar in Karlsruhe und Heimerdinger in Wiesbaden würdig vertreten sind. Von der Dekoration des Fächers durch Stickerei und Spitzenarbeit liefern die Stickereischule des Frauenvereins Karlsruhe, Claus in Schneeberg und mehrere andere ansprechende Beispiele.

Ueber dreitausend Kunstwerke umfaßt die Ausstellung; sie im einzelnen zu betrachten, ist unmöglich und man muß sich damit begnügen, eine allgemeine Uebersicht zu geben. Aber einem Wunsche sei zum Schluß noch Ausdruck verliehen: es gilt, eine uns großenteils verlorene Gruppe von Kunsterzeugnissen zurückzuerobern und der deutschen Frau ein neues künstlerisches Gebiet für ihre Arbeit zu eröffnen. Möge die Karlsruher Ausstellung das Ihrige beitragen zur Erreichung dieses patriotischen Zieles!




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Die Kamerunerin.

Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski.

(4. Fortsetzung.)

6.0 Vorstadt-Idyll.

In Kronfurth ging während der Abwesenheit von Claudius alles im alten Geleise. Man arbeitete, politisierte, trug Neuigkeiten zu getreuen Freunden und Nachbarn, und wenn es möglich war, so verband wenigstens die weibliche Welt die Arbeit und die Besprechung des neuesten Stadtklatsches miteinander.

Im Hause des Polizeiraths Adler saßen dessen Töchter Dora und Flora stickend am Fenster. Sie verfertigten einen Schreibtischteppich für ihren Vater und waren eben daran, eine Anzahl dickköpfiger junger Möpse auf einer grellgrünen Wiese zu entwerfen; allein das verhinderte sie nicht, den Straßenverkehr scharfäugig zu überwachen und spitzzüngig zu kritisieren, hier und da mit Vorübergehenden Grüße zu wechseln und über die einzelnen boshafte Bemerkungen auszutauschen. Sophie, welche am großen Mitteltische mit Zuschneiden beschäftigt war, betheiligte sich nicht an der Unterhaltung. Obschon seit jenem vielversprechenden, weihnachtlichen Triumphabend, auf den der Hermannsthaler nur noch seine Vielliebchengabe und dann nichts weiteres hatte folgen lassen, ihr Siegesglanz ein bißchen verblichen war – so gelang es den Schwestern dennoch nicht, sie wieder zur Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Sophie hatte Selbstbewußtsein genug gewonnen, um allenthalben zu zeigen, daß sie Individualität und eigene Ansichten besaß. Sie führte bei den häuslichen Schwesterkriegen hinfüro eine anerkannt gute Klinge, welche in jüngster Zeit mehrfach im Dienste der Wahrheit gegen die Verleumdung, im Dienste des Doktor Claudius gegen Kronfurth geschwungen worden war. Eine geheimnißvolle Geschichte von einer Farbigen, einer Kamerunerin, die der Doktor heirathen wolle, war durch den schönen Amadeus, der gehorcht und die Photographie der Schwarzen auf dem Schreibtisch seines Herrn gesehen haben mochte, erst in die Küche von Hermannsthal gelangt und von da natürlich nach Kronfurth. Man sagte sich, daß doch „etwas dran sein“ müsse, und wer noch ein paar Haare dazu übrig hatte, dem sträubten sie sich in ehrbarer Entrüstung. Diese vielbesprochene Geschichte war soeben wieder seitens der beiden Stickerinnen verhandelt worden, als plötzlich Dora den Gegenstand ihrer augenblicklichen Fürsorge, einen halbvollendeten Hundeschwanz, [576] aus den Händen gleiten ließ und sich weit vorneigte. Jemand hatte zum Fenster heraufgegrüßt, die Mädchen dankten holdselig.

„Der Hermannsthaler!“ rief Dora. „Er sieht ja gar nicht anders aus als sonst!“

„Nun, wenn die Schwarze echt ist, so wird sie nicht abfärben,“ meinte Flora. „Sei versichert, das Geschöpf sitzt bereits in Hermannsthal, auf dem neuen weinrothen Sofa, von dessen Ueberzug der Meter zwanzig Mark kostet. Das mag ein recht harmonisches Bild sein, Schwarz und Roth gehen ausgezeichnet zusammen.“

Bis hierher hatte Sophie schweigend ihre Kreidestriche gezogen, ihre festen, sichern Schnitte mit der großen Schneiderschere gethan. Jetzt fuhr sie von der Arbeit empor und erklärte mit bestimmtem Tone: „Laßt nun endlich einmal den Doktor in Ruhe mit Euren thörichten Vermuthungen. Ich freue mich über seine Rückkehr, denn nun wird es sich bald genug zeigen, daß an der ganzen albernen Klatschgeschichte kein wahres Wort ist.“

Damit räumte sie ruhig ihre Arbeit zusammen und verließ das Zimmer. Sie war fest entschlossen, Claudius bei nächster Gelegenheit über den Stadtklatsch aufs genaueste zu unterrichten. Er sollte Feind und Freund kennenlernen, sollte der Verleumdung offen entgegentreten können! – –

Indessen schlenderte Claudius ruhig weiter, nicht ahnend, daß sein Erscheinen die Kriegsfackel in dem polizeiräthlichen Hause entzündet hatte. Seit zwei Tagen war er wieder daheim. Vor ihm hatte der Frühling seinen Einzug in Hermannsthal gehalten, ein Frühling, welcher dem Fabrikherrn farbloser erschien als irgend ein früherer, den er aber – das gestand er sich selbst – schöner als alle vorangegangenen gefunden haben würde, wenn seine Reise nach dem Glück von Erfolg gekrönt gewesen wäre, wenn sie, die Erträumte, als frühlingsfrische Wirklichkeit neben ihm auf den umgrünten Pfaden hingeschritten wäre.

Gerlach hatte das Schlußkapitel des Romans vernommen und gar nicht übel gefunden. „Es ist ungewöhnlicher als das beliebte Ende mit Hochzeitsglockenklang,“ sagte er. „Hoffentlich verdrießt es Sie nicht gar zu sehr, nun bis auf weiteres so nach alter, unromantischer Art mit mir auf der Drachenburg fortwirthschaften zu müssen?“

„Sicherlich nicht, liebster Gerlach. Sie sind ein Lebensgefährte, mit dem sich’s trefflich hausen läßt. Und ich denke auch:

‚Alles kommt
Wie’s uns frommt!‘“

So lagen die Dinge, als eines Morgens in Hermannsthal ein dicker Brief aus der Hauptstadt eintraf, der auf der Rückseite ein breit aufgedrücktes freiherrliches Wappen zeigte. Clandius öffnete ihn nicht ohne innere Antheilnahme, denn er vermuthete sofort, daß der Brief von Lieutenant Grollmann herrühre; es mußten wohl nähere Nachrichten über das Glück des jungen Paares darin enthalten sein, und doch wollte sich im Hintergrund seiner Seele etwas wie Gleichgültigkeit regen. Was konnte man ihm von Berlin, was von irgend einem Orte auf der ganzen weiten Welt für sein eigenes Herz zu sagen haben?

Herr Walter schrieb erstaunlich viel und recht freundschaftlich.

 „Lieber Herr Kamerad!
Was Sie denken werden, wenn Sie diesen Brief empfangen, ist nicht! Die Schwiegermama in spe ließ sich noch nicht breitschlagen, obschon ich’s gleich nach Ihrer Abreise versuchte. Sie will ihre Jüngste und Letzte nicht so schnell hergeben; sie hat eben keinen Schimmer davon, wie kolossal mich das Junggesellenleben anödet und wie riesig ich Else liebe. Sie meint, ich möge im Herbst ’mal wieder nachfragen. Aus dieser Rücksichtslosigkeit ersehe ich aber, daß sie doch noch ’mal meine Schwiegermutter wird und alles andere nur äußerlich ist. Darauf hin wird die Festung ununterbrochen weiterbombardiert, bis sie sich ergiebt oder – fällt. So, das wären meine Angelegenheiten; nun kommen die Ihrigen. Sie meinen, die gingen mich nichts an? Nur langsam, Herr Kamerad! Es handelt sich nämlich um die Geschichte der Kamerunerin. Ich erfuhr die Sache auch erst an jenem letzten Abend in Wiesbaden. Else vertraute sie mir an, da sie sich Ihnen gegenüber einigermaßen schuldig fühlte und meine Ansicht darüber hören wollte. Else hat Ihnen nämlich nicht die ganze Wahrheit gesagt, lieber Doktor, sie hat – ja, ich merke, ich muß Ihnen die Geschichte hübsch von Anfang an erzählen. Also: meine Else hat in Berlin einen Onkel, einen Gelehrten. Dieser Onkel hat einen Freund, so ein Stück Ahasver, der die ganze Welt bereist und in den letzten Jahren mehrere Bücher darüber geschrieben hat, welche in Berlin gedruckt werden. ‚Ahasver‘ besuchte die Hauptstadt schon früher mit möglichster Regelmäßigkeit; gegenwärtig thut er es, um sich mit seinen Verlegern bequemer zanken zu können. Allemal brachte er sein mutterloses Töchterlein mit, und so kam es, daß die kleine Martina mit meiner Else, welche sich einige Jahre hindurch in einer hauptstädtischen Erziehungsanstalt befand und natürlich häufiger Gast beim ‚Onkel Professor‘ war, schon in früher Jugend Freundschaft schloß. Die innigen Beziehungen zwischen den Mädchen lockerten sich auch in späteren Jahren und während längerer Trennungen nicht. Seit Else erwachsen und nach Hirschberg in ihr Elternhaus zurückgekehrt ist, sucht sie es immer einzurichten, daß ihre Anwesenheit in Berlin mit derjenigen Ahasvers zusammenfällt.

So, Herr Kamerad, nun sind Sie über die Vorgeschichte unterrichtet und ich komme zu dem Punkte, wo Ihre Person auf den Schauplatz tritt. Das war Ende vorigen Jahres. Schwarz und Blond hatten sich da auch wieder einmal in Berlin zusammengefunden. Der Zufall wollte, daß eine gewisse Zeitung in die Hände der Mädchen gelangte, daß ein gewisses Inserat von ihnen darin entdeckt wurde und – daß Ahasvers Tochter sich leidenschaftlich darüber empörte! Schwarz und Blond beschließen also, dem Einsender des Inserats ihre Meinung zu sagen. Else sieht in der Sache einen Scherz, Martina nimmt sie ernster. Der Brief, welchen sie nun zusammenbraut, ‚gilt nicht nur dem Einen, er ist im Grunde an den Zeitgeist gerichtet, an diesen schrecklichen Gesellen, welcher die Welt so nüchtern gemacht hat und die Männer lehrte, das weibliche Geschlecht durch eine die Wahrheit entstellende, Verstand und Gefühl irreleitende Brille anzuschauen‘ (wörtliche Ueberlieferung, nach Else!).

Nun waren in einem Papierladen gerade allerlei neue Glückwunschkarten ausgestellt, von denen sich Schwarz und Blond einen kleinen Vorrath mitnehmen wollten; beim Auswählen und Beschauen bemerkte Martina das Bildchen mit der Kamerunerin. Das war etwas für Herrn Freimuth aus Grützburg! Sie gedachte ihm den Rath zu geben, behufs Erfüllung seines Ideals bei Damen dieser Art nachzufragen. Das grell kolorierte Bild sollte, um wie ein dem wirklichen Leben entnommenes Porträt zu erscheinen, photographiert und die Photographie sodann dem Schreiben beigefügt werden. So geschah es. Else übernahm die Beförderung von Hirschberg aus. Ueber Hirschberg ging dann auch der weitere Briefverkehr, welcher übrigens nach Elsens Dafürhalten viel zu früh und zu jäh abgebrochen wurde. Martina blieb aber trotz aller Gegenvorstellungen dabei, sie und Herr Freimuth seien fertig miteinander. ‚Ein weiteres Ausspinnen der Angelegenheit würde dieser ihren Witz und mir eine freundliche Erinnerung rauben,‘ schrieb sie der Freundin in ihrer bestimmten Art. ‚Ich rechne also auf Deine unverbrüchliche Verschwiegenheit gegen jedermann – Deinen Walter ausgenommen, wenn ihm gegenüber eine Ausnahme nöthig werden sollte. Und vergiß es nicht: ein Treubruch wäre gleichzeitig ein Freundschaftsbruch zwischen uns.‘ Abermals wörtliche Ueberlieferung, Herr Kamerad! Sie werden nun begreifen, warum meine Else damals im Kurgarten nicht Farbe bekannte; warum sie heute noch sagt: ‚Ich darf mein Wort nicht brechen, darf Martinas Vertrauen nicht mißbrauchen.‘ Bon, liebes Kind, dachte ich, die Sache geht ganz von alleine. Mir hat niemand ein Schloß vor den Mund gelegt. Ich halte es daher für meine Pflicht: ad 1, Ihnen, lieber Doktor, den wir alle so lieb gewonnen haben, dem ich von wegen meiner schauderhaften Rauhbeinigkeit zu Anfang unserer Bekanntschaft noch einige Genugthuung zu schulden glaube, nach Kräften zu dienen; ad 2, meiner kleinen Else von ihren Gewissensbissen zu helfen; ad 3, auch der guten Martina insgeheim einen Gefallen zu thun, da sie mir unter jene Naturen zu gehören scheint, welche zu ihrem Glücke gezwungen werden müssen.

Sie sehen mir nicht aus, als ob Ihre Bekanntschaft einem braven Mädel zum Schaden gereichen könnte, Doktor, deshalb lege ich Martinas Adresse vertrauensvoll in Ihre Hände.

So, Herr Kamerad! Nun gestatten Sie vielleicht, daß ich den Schreibkrampf gekriegt habe. Ein ganzer Sonntagnachmittag ist hin und dies der umfangreichste Brief meines Lebens. Möchte meine Selbstverleugnung Ihnen und Ihrer alten Drachenburg zum Heile gereichen!
  Ihr
aufrichtiger Kamerad  
 Walter Grollmann.“      

[577]

Windmühlen-Idyll.
Nach einer Zeichnung von R. Püttner.

[578] So lang die Epistel war, Ernst Claudius las sie sogleich zum zweiten Mal, hastig, fieberhaft. Sein Herz pochte fast hörbar; es war so still um ihn her. Ein kleiner, weißer Schmetterling kam zum offenen Fenster herein und setzte sich zutraulich auf den Brief, den er vor sich hingelegt hatte. Er lächelte das Thierchen an, als gehöre es mit in das Glück dieser schweigsamen Nachmittagsstunde. Und als der kleine Gast die leichten Flügel zur Weiterreise ausspannte, da gab er ihm leise den Namen „Martina“ wie eine Botschaft mit auf den Weg.

Martina … Martina … das lautete wie Glockenton! Also hatte die Stimme seines Herzens dennoch nicht getrogen, also war die Erträumte dennoch da und konnte gesucht, gefunden, gewonnen werden!

Geraume Zeit verging, bevor Claudius sich ganz wiederzufinden und sein Thun und Lassen für die nächste Zeit vernünftig zu durchdenken vermochte. Und jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß der Name Martina, so süß und vielbedeutend er ihm auch klang, bei weitem nicht genug besage. Die Adresse – wo war die Adresse? Richtig, da auf der letzten Seite des dritten Briefbogens war sie in eine Ecke gekritzelt! Er las, las laut, weil er seinen Augen nicht traute und das Zeugniß seiner Ohren zu Hilfe nehmen wollte: „Martina Ronald. Kronfurth. Lindenhaus.“

War es möglich? Das Traumbild, dessen Verkörperung er in der weiten Welt draußen gesucht hatte, es war ihm seit Jahren leibhaftig nahe gewesen! Und zu allem hin war sie die Tochter des Mannes, dessen Bücher ihm nun schon über Jahr und Tag liebe Gefährten einsamer Abendstunden gewesen waren. Niemand hatte je mit ihm davon gesprochen, daß der Autor der „Weltwanderungen“ in Kronfurth lebe; allerdings kannte auch niemand seine Vorliebe für Ronalds Schriften, und außerdem stand er selbst den städtischen Dingen so fern, daß es keinem Kronfurther in den Sinn kommen konnte, ihm besondere Einzelheiten mitzutheilen.

„Ein Roman, ein regelrechter Roman!“ sagte sich Claudius, als er seine bunten Gedanken und Gefühle ein wenig geordnet hatte. „Aber ich bin entschlossen, ihn zu baldigem Ende zu bringen.“

*               *
*

Noch an demselben Nachmittag schlenderte der Doktor, vergnügt wie ein Schulknabe am ersten Ferientage, durch das kleine alte Städtchen. Kronfurth muthete ihn heute freundlicher als jemals an und die außerhalb des südlichen Stadtthors beginnende, von blühenden Hecken eingefaßte Landstraße erschien ihm stimmungsvoll wie ein Gedicht. An dieser Straße, etwa eine Viertelstunde vom Thore entfernt, lag inmitten eines ausgedehnten Gartens das Lindenhaus. Claudius kannte das hübsche, aus rothen Ziegeln aufgeführte Gebäude sehr wohl von früheren Gängen her, allein um seine Bewohner hatte er sich nie bekümmert. Jetzt sagte er sich, daß es eine überaus friedliche und freundliche Heimstätte sein müsse. Die uralten Lindenbäume, welche dem Hause den Namen gegeben hatten, umstanden es gleich treuen Hütern in unregelmäßigen Gruppen, beschatteten es aber nur zum Theil, ohne Licht und Luft abzuschließen. Die Sonne war Hausfreundin bei den Ronalds und von jeher daran gewöhnt, an allen Familienvorgängen bevorzugten Antheil zu nehmen. Sie kümmerte sich um des Professors Manuskripte und bedeckte sie ganz nach Belieben mit ihren goldenen Zeichen – sie guckte in Kochtopf und Wäscheschrank der alten Tante Seraphine und ging vor allem gern, so viel ihre hohe Stellung es gestattete, mit der Tochter des Lindenhauses. Sie liebte jene Menschenkinder, bei denen sich nichts ihrem leuchtenden Tiefblick verschloß, in denen alles wahr und klar war und werth, ans Licht gebracht und von obenher vergoldet zu werden.

Martina Ronald war im Garten beschäftigt und band Rosenbäumchen an den Pfählen fest, ohne eine Ahnung davon, welches anmuthige Bild sie inmitten ihrer stillen Gartenwelt abgab und daß von der Gartenpforte her ein Paar dunkler Männeraugen sehnsüchtig auf sie hinschauten. Claudius sah auf den ersten Blick, daß dieses schlanke brünette Mädchen im einfachen braunen Hauskleide durchaus keine Schönheit, gleichzeitig aber auch, daß sie gerade so die vollkommenste Verkörperung seines Traumbildes war! Alles an ihr: das ruhige Ebenmaß der mittelgroßen Gestalt, das charaktervolle, fast ein wenig strenggeschnittene Antlitz mit seiner reinen Blässe, mit dem frischen lieblichen Munde und den Augen, von denen er aus der Ferne nur zu erkennen vermochte, daß sie groß und dunkel waren – alles das muthete ihn wie etwas längst Gekanntes, längst Geliebtes an. Und er fand es plötzlich lächerlich und unnatürlich, daß er vor ihr wie vor einer Fremden den Hut abnehmen und sie mit „mein Fräulein“ anreden sollte. War es ihm doch, als sei es sein gutes Recht, ohne weiteres den fremden Garten zu betreten, Martinas Hand zu ergreifen und sie fortzuführen – dorthin, wo sie ja schon so lange daheim war, wenn auch nur als Bild seiner Phantasie!

Jetzt – er hatte die Pforte bereits geöffnet – bemerkte ihn das Mädchen und schritt ihm mit einer großen Gartenschere und der zusammengerafften Schürze voll welker Blätter unbefangen entgegen.

„Wollen Sie zu den Bewohnern des Lindenhauses, mein Herr?“

Diese in höflichem Tone, mit wohlklingender Stimme an ihn gerichtete Frage brachte den Doktor wieder zu sich selbst und gab ihm seine weltmännische Gewandtheit zurück.

„Ich bin ein Unbescheidener,“ sagte er lächelnd, „einer, der einen Ueberfall auf dieses stille Heim wagt, obgleich ihm bekannt ist, wie ungern es sich fremden Eindringlingen erschließt."

Nun lächelte auch sie; zwei Grübchen in den Wangen ließen ihr Gesicht plötzlich weich, beinahe kindlich erscheinen.

„Aber Sie sind doch kein Wolf im Schafspelz, das heißt, kein überneugieriger Zeitungsberichterstatter – das ist ein Milderungsgrund,“ entgegnete sie schelmisch und fügte dann, wie um einer Vorstellung vorzubeugen, rasch hinzu: „Herr Doktor Claudius von Hermannsthal, nicht wahr?“

„Kennen Sie mich?“

„Ein wenig, so vom Sehen und Hörensagen,“ antwortete sie einfach. „Es giebt hier der guten Reiter nicht viele; wir hatten oft unsere Freude an Ihrem prächtigen Rappen und wie Sie mit demselben förmlich zusammengewachsen waren beim schnellen Ritt. Zufällig befand sich einmal der Kronfurther Pfarrer beim Vater, als Sie vorüberkamen, und nannte uns Ihren Namen. Später vernahm ich denselben im Zusammenhang mit dem Geschick einer durch Brandunglück verarmten Tagelöhnerfamilie in Grünau, welche ihr Wiederaufkommen lediglich den Unterstützungen aus Hermannsthal zu danken hatte. Dieser letztere Umstand macht es, daß ich Ihnen nicht wie einem Fremden entgegenzutreten vermag, Herr Doktor; auch mein Vater wird sich sehr freuen, Sie kennenzulernen.“

Das klang alles schlicht und aufrichtig. „Ich danke Ihnen, mein Fräulein,“ entgegnete Claudius ebenso – „ich werde Ihre Güte sicherlich nicht mißbrauchen. Erscheint es mir doch als eine hohe Schicksalsgunst, dem Manne, mit dessen Geistesleben ich mich seit langem aus seinen Werken vertraut fühle, meine Bewunderung und Verehrung Auge in Auge aussprechen zu dürfen.“

„Ohne Zweifel wird mein Vater die Echtheit Ihrer Zuneigung ebenso wie ich selbst herausfühlen, Herr Doktor; leider befindet er sich zur Zeit nicht daheim. Wenn Sie aber wiederkehren wollen – –“

Er bückte sich, um eine kleine, zu ihren Füßen blühende Aurikel zu pflücken; die Blume hatte dasselbe tiefe Sammetbraun wie Martinas Augen und sollte ihn zu Haufe darüber vergewissern, daß das Erlebniß dieser letzten Stunde mehr als ein lichter Maientraum gewesen sei. „Ich werde wiederkehren,“ versetzte er.

Martina ließ es mit leicht verwundertem Aufblicke geschehen, daß er ihre Hand ergriff und kräftig drückte.

„Leben Sie wohl!“ sagte sie in ihrer gelassenen freundlichen Art und wandte sich wieder ihren Blumen zu. Er stand noch eine Weile und schaute dem braunen Kleide nach, wie es hier und da zwischen den grünen Sträuchern verschwand und wieder auftauchte – dann wanderte er, seine Aurikel gleich einem Siegeszeichen in der Hand tragend, langsam und gedankenvoll in die Stadt zurück.

Auf den goldenen Sonntag folgte eine schlimme Regenwoche, eine Woche, während welcher Claudius, da sein Direktor in Geschäften abwesend war, reichlich Arbeit hatte. „Ueberlegsames“ Wetter pflegte der schöne Amadeus solche Tage zu nennen, an denen man sich durch die rinnenden Regenfäden wie durch eine Mauer von der ganzen übrigen Welt abgeschieden fühlt, und der Alte bemerkte dabei, daß diese Nässe draußen und diese Trockenheit und Stille in der behaglichen Stube dem Fortschreiten der „Nachteule“ erfahrungsgemäß am förderlichsten seien.

Claudius machte jetzt eine sehr ähnliche Erfahrung. Er fand, es lasse sich köstlich nachdenken und im eigenen Innern „aufräumen“ bei dem verschwiegenen grauen Zwielicht und dem gleichmäßig eintönigen, alle Aufregung beschwichtigenden Regengeplätscher. Er wußte jetzt ganz genau, was er wollte und in welcher [579] Reihenfolge das Nothwendige vor sich zu gehen hatte. Demzufolge wartete er zu seinem zweiten Besuche im Lindenhause die Wiederkehr des guten Wetters ab.

An einem sonnigen Spätnachmittage suchte er das Lindenhaus zum zweiten Male auf und fand Martina, wie er erwartet hatte, im Garten. Sie begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. „Heute treffen Sie es gut, Herr Doktor. Mein Vater ist daheim und wird sich freuen, Sie zu empfangen.“

„Ich werde sofort von Ihrer freundlichen Aufforderung Gebrauch machen, zuvor aber müssen Sie, mein Fräulein, hier in Ihrem grünen Reiche mir noch eine kleine Audienz gewähren!“

Sie blickte überrascht auf. „Wozu das, Herr Doktor?“

Er lächelte. „Ich will mich Ihnen in der Bildersprache des Morgenlandes verständlich machen,“ sagte er – „da Sie diese mir gegenüber schon einmal mit Erfolg angewandt haben. Kennen Sie diese junge Dame?“

Ahnungslos trat Martina einige Schritte vor und erblickte in seiner geöffneten Brieftasche das dunkle Gesicht der Kamerunerin! Claudius bereute sein Thun, als er ihr jähes Erblassen, den erschrockenen, rathlosen Ausdruck ihrer Augen gewahrte, aber schon hatte Martina die Herrschaft über sich selbst zurückgewonnen.

„Jetzt muß ich Sie allerdings um einige Aufklärungen bitten, Herr Doktor,“ sagte sie in ihrem gewohnten, ruhigen Tone – „zunächst wohl darüber, wie Sie in den Besitz dieses Bildes gelangt sind.“

„Unsere Wünsche begegnen sich, mein Fräulein. Vieles zwischen uns bedarf der Aufklärung. Sie müssen mich kennen, bevor ich Ihr Haus betrete, müssen entscheiden, ob Sie den Doktor Claudius noch Ihrer Gastfreundschaft werth erachten, wenn er sich vor Ihnen als ‚Freimuth‘ entpuppt.“

Nun war es heraus! Sie standen einander im Lindenschatten schweigend gegenüber; er in der Erwartung einer viel entscheidenden Antwort, sie gesenkten Blickes, mit heißen Wangen, aber doch mit einem weichen, halb lächelnden Zuge um die Lippen, der ihm Gutes verhieß.

„Soll ‚Freimuth‘ seinen Wanderstab weiter setzen, Fräulein Martina?“

Da schaute sie auf und ließ ihre großen sprechenden Augen sekundenlang fest auf seinem Antlitz ruhen; er ertrug die scharfe, offenbar prüfende Musterung, ohne mit den Wimpern zu zucken.

„Bestanden?“ fragte er dann.

Sie bot ihm die Hand. „Bestanden! Ich denke, ich darf es wagen, Herrn Freimuth aus Grützburg im Lindenhause willkommen zu heißen, auf die Gefahr hin, daß dadurch der erbitterte Kampf: ‚Hie Deutschland, hie Kamerun!‘ aufs neue entbrennt.“

„Das steht nicht zu befürchten. Der Kampf ist entschieden. Freimuth erklärt sich für besiegt, streckt die Waffen und ergiebt sich auf Gnade und Ungnade seiner edlen Gegnerin.“

Sie lachte fröhlich auf. „Diese begnügt sich mit dem Lorbeer des Siegers und giebt, da überdies ihre Feste zur Beherbergung von Kriegsgefangenen wenig geeignet ist, dem hochherzigen Feinde die Freiheit zurück!“

„Welche dieser im Dienste und zur Ehre seiner gnädigen Herrin zu verwenden bestrebt sein wird!“

„Angenommen! … Und nun, da der Friedensschluß vollzogen ist, verlangt es mich danach, die Meinigen an meinem Ruhme theilnehmen zu lassen, indem ich ihnen den überwundenen Gegner zuführe. Vater und Tante Seraphine – sie wissen beide die Geschichte von der Kamerunerin – müssen unbedingt mit anhören, was ich jetzt unverzüglich zu erfahren wünsche: wie nämlich Herr Freimuth aus Grützburg Namen und Adresse der geheimnißvollen Briefstellerin in Erfahrung bringen konnte!“

(Schluß folgt.)




Das Reventlow-Beselerdenkmal in Schleswig.

(Zu dem Bilde S. 565.)

Am 24. Juli dieses Jahres ist in Schleswig ein eigenartiges, schönes Denkmal enthüllt worden. Bewohner von Schleswig-Holstein haben es mit Unterstützung ihres Landtages zum Andenken an jene zwei Männer errichtet, die in den Jahren 1849 bis 1851 als Statthalter die beiden Herzogthümer im Kampfe um ihr Recht treu geleitet haben: Graf Fritz Reventlow und Wilhelm Beseler.

Das Denkmal ist von gebietender Form und ein würdiger Ausdruck des Gedankens, welcher der schleswig-holsteinischen Bewegung zu Grunde lag. Auf einer kleinen Anhöhe steigt es sieben Meter hoch empor, der schwedische Granit, der verwendet wurde, giebt dem ganzen ein wuchtiges Aussehen. Ueber dem dreistufigen Sockel erhebt sich ein reich gehaltenes Mittelstück, das oben einen Wappenschild trägt mit der Inschrift: „1849–51.“ Zu beiden Seiten dieses Wappens treten in anderthalbfacher Lebensgröße die Bronzebüsten der Statthalter hervor, sie zeichnen sich durch eine sprechende Aehnlichkeit und durch packende lebendige Gestaltung aus. Nach vorn ist in das Mittelstück eine Nische eingeschnitten, in welcher die ebenfalls aus Bronze gegossene Figur eines schleswig-holsteinischen Freiheitskämpfers aufgestellt ist. Den wallenden Mantel um die Schultern geschlungen, in der rechten Hand das Schwert, mit der linken auf eine Urkunde gestützt, welche das schleswig-holsteinische Landesrecht von 1460 darstellt – so steht der kraftvolle Krieger da; sein Auge sucht den Himmel, als wolle er von dort sich die Gewißheit holen, daß der gerechten Sache der Sieg nicht fehlen werde. Und glückverheißend schwebt von oben her der deutsche Aar, er trägt die Friedenspalme und das Wappen der Herzogthümer mit der Umschrift: „Up ewig ungedeelt“.

Deutscher Geist und deutsche Vaterlandsliebe waren in jenen beiden Männern lebendig, deren Gedächtniß Stein und Erz der Nachwelt überliefern sollen. Graf Reventlow, geboren am 16. Juli 1797 zu Schleswig, und Wilhelm Hartwig Beseler, geboren am 8. März 1806 auf Schloß Marienhausen in Oldenburg, waren schon zu Anfang der vierziger Jahre die Führer der schleswig-holsteinischen Bewegung, welche der offenen Auflehnung gegen die geplante Einverleibung Schleswigs – Holstein sollte eine freiere Stellung behalten dürfen – in den dänischen Staat voranging. Von verschiedener Laufbahn her gelangten sie zu demselben Streben, die Trennung der Herzogthümer nach Kräften zu hindern. Reventlow war erst in Glückstadt und dann in Kiel höherer Gerichtsbeamter, seit 1836 Propst des Klosters Preetz. In dieser letzteren Eigenschaft gehörte er der ständischen Vertretung der Ritterschaft an, und bald war er deren Führer. Beseler, ebenfalls Jurist, hatte sich in Schleswig als Rechtsanwalt niedergelassen und wurde 1844 in die schleswigsche Ständeversammlung gewählt, wo man ihm das Amt des Präsidenten übertrug. Reventlow wie Beseler lebten der Ueberzeugung, daß das Heil von Schleswig-Holstein in der Unlöslichkeit ihrer gegenseitigen Verbindung beruhe, daß also die Abtrennung von Schleswig, wie sie am 8. Juli 1846 von dem dänischen König Christian VIII. in seinem „offenen Brief“ ausgesprochen worden war, mit aller Macht zu hintertreiben sei. Sie erkannten auch, daß den Absichten der dänischen Regierung nur durch Anschluß der Herzogthümer an Deutschland erfolgreich die Spitze geboten werden könne. Als nun nach dem Tode Christians VIII. sein Sohn Friedrich VII. die Einverleibung Schleswigs durchzusetzen suchte, traten Reventlow und Beseler mit dem Prinzen Friedrich von Augustenburg-Noer und drei weiteren Mitgliedern am 24. März 1848 zu einer provisorischen Regierung zusammen und gaben so der Bewegung einen Halt, welche lediglich auf die Vertheidigung der alten Landesrechte gerichtet war.

Die neue Regierung fand nicht nur im eigenen Lande Anerkennung und kriegsbereite Mannschaft, sie erhielt auch von preußischen und anderen Truppen des deutschen Bundes siegreiche Unterstützung in dem Kampf, der sich nun mit Dänemark entspann. Allein die drohende Haltung, die Rußland und England zu Gunsten Dänemarks einnahmen, veranlaßte Preußen zum Abschluß des Waffenstillstandes von Malmö am 26. August 1848. Durch die Abmachungen, die hier getroffen wurden, sahen sich Reventlow und Beseler gezwungen, ihr Amt in die Hände der neugebildeten, „gemeinsamen“ Regierung abzugeben.

Sie traten beide ins Privatleben zurück. Der Waffenstillstand war bloß auf sieben Monate abgeschlossen worden; als diese Frist verstrichen war, ohne daß die angeknüpften Friedensverhandlungen zu einem Ergebniß geführt hätten, begann mit Ende März 1849 der Krieg aufs neue und die zwei unerschrockenen Männer wurden nun von der deutschen Reichsgewalt zu Frankfurt als Statthalter an die Spitze der Verwaltung berufen. In dieser Stellung haben sie trotz mannigfacher Stürme aus Norden und Süden, trotz Anfechtungen aller Art die Regierung des Landes treu und gewissenhaft geführt, zu jeder Zeit die von der Bundesgewalt ausgehenden Vorschriften als die oberste Richtschnur ihres Verhaltens betrachtend.

Als aber am 2. Juli 1850 Preußen ungeachtet seiner Siege einen Frieden mit Dänemark abschloß, der die Herzogthümer sich selbst überließ, als es sich in Olmütz am 29. November 1850 der österreichisch-russischen Forderung unterwarf, daß der von der schleswig-holsteinischen Armee auf eigene Faust fortgesetzte Widerstand mit deutscher Bundesgewalt niedergeworfen werde, als dem Olmützer Vertrag die Drohung auf dem Fuße folgte, daß ein österreichisches Heer zur Herstellung der Ruhe in den Herzogthümern einrücken werde, – da mußten die Statthalter dem Druck weichen und von ihrem Posten zurücktreten.

Beseler, der im Gegensatz zu der Mehrheit der Landesversammlung für Fortsetzung des Kampfes war, legte sein Amt sofort nieder, als er nicht durchdrang. Reventlow aber leerte den bitteren Kelch bis zur Neige; er war es, der am 1. Februar 1851 die Regierung des Landes den preußischen und österreichischen Bevollmächtigten übergab. Bald nachher mußten die früheren Statthalter sammt vielen anderen Leidensgenossen auf Befehl der dänischen Behörden ihre Heimath verlassen. Reventlow ging nach Preußen, wo er sich in der Niederlausitz ankaufte; bis an sein Lebensende, das am 28. April 1877 erfolgte, hielt er sich von der öffentlichen Thätigkeit für die schleswig-holsteinische Frage fern und nur noch einmal, im Jahre 1863, hat er im preußischen Herrenhause, wohin er durch Wilhelm I. berufen worden war, in einer mächtigen Rede seine Stimme für das alte Heimathland erhoben. Beseler fand anfangs in Braunschweig und Heidelberg eine Zufluchtsstäte, später – 1861 – wurde er vom preußischen König zum Kurator der Universität Bonn ernannt. Hier starb [580] er am 2. September 1884 und wurde acht Tage nachher auf dem Friedhof zu Mildstedt bei Husum in heimischer Erde begraben. Er war auch in der Verbannung der „Rechtsanwalt Schleswig-Holsteins“ geblieben und hatte wiederholt die Gelegenheit ergriffen, vor aller Welt auf die Wunde hinzuweisen, die Deutschland sich selber im Norden geschlagen habe. Man darf wohl behaupten, daß seine scharfen, klaren Schriften nicht ohne Einfluß geblieben sind auf den Wechsel in der Anschauung jener einflußreichen Persönlichkeiten, welche bisher in der Erhebung der Herzogthümer nichts anderes als Aufruhr gesehen hatten und nun zu verstehen anfingen, daß dort ein Stück deutsches Volksthum der gesundesten und kräftigsten Art von kurzsichtiger Staatskunst preisgegeben worden sei.

Die äußere Gestaltung der Dinge durch die Unglücksjahre 1850 und 1851 machte scheinbar jeden Erfolg zunichte, den das Wirken der beiden Statthalter hätte haben können. Und doch dankt Schleswig-Holstein ihrer Thätigkeit unendlich viel, sie haben die Zukunft der Herzogthümer gerettet. Diese Zukunft – sie ist unter den wundersamsten Wendungen in den Geschicken Deutschlands, unter bewundernswerthen Großthaten herangekommen und zur Gegenwart geworden, welche wiederklingt in dem einen Worte: „Schleswig-Holstein auf ewig ungetheilt, auf ewig deutsch.“ Mit Recht hat darum die Erinnerung an jene beiden unerschrockenen Führer im schweren Kampfe ihren dankbaren Ausdruck in jenem wirkungsvollen und gebietenden Denkmal gefunden. Dieses Monument wird mithelfen, das Gedächtniß der opferfreudigen Zeit wachzuhalten und künftige Geschlechter zu mahnen, daß sie Männern wie Reventlow und Beseler nacheifern in selbstloser Hingabe an das Vaterland, in treuer Pflichterfüllung. Werner Frölich.     


Blätter und Blüthen.

Das Ehrengeschenk der Stadt London an den deutschen Kaiser. Bei Gelegenheit des Besuchs des deutschen Kaisers in der Guildhall zu London am 10. Juli wurde ihm neben einer Adresse ein Geschenk von außerordentlicher Schönheit und hohem künstlerischen Werthe überreicht, dessen Abbildung wir unseren Lesern vorlegen. Es ist ein in gothischem Stile ausgeführtes Schmuckkästchen, dessen Deckel von einer Figur gekrönt wird, welche den Genius der Stadt London versinnbildlicht. Sie hält in der Rechten den Merkuriusstab, das Zeichen der Welthandelsstadt, und in der Linken einen Schild mit dem Stadtwappen in den entsprechenden Farben.

Das Ehrengeschenk der Stadt London an den deutschen Kaiser.

Die Seiten des Deckels weisen außer dem Stadtwappen Ansichten hervorragender Gebäude der Stadt auf; das alles ist in zarten Farben fein emailliert. Auf dem Rande des Deckels stehen sechs kaiserliche Adler. Die Felder auf der vorderen Langseite des Kästchens selbst enthalten in getriebener Arbeit sinnbildliche Figuren in Gold auf blau emailliertem Hintergrunde: eine schwerttragende Engelsgestalt, zu deren Füßen der überwundene Drache liegt und deren Linke einen Kranz hochhält; gegenüber die „Gerechtigkeit“, welche die kaiserliche Krone über ihr Haupt emporhebt, während zu ihren Füßen Schwert und Wage zu sehen sind und ihre Linke an einem Füllhorn ruht. Zwischen diesen beiden Feldern erblicken wir das kaiserliche Wappen, dessen Krone mit echten Diamanten besetzt ist. Die Felder an der Schmalseite stellen zwei Ereignisse aus der Geschichte dar, welche auf die nahe Verwandtschaft Englands und Deutschlands hinweisen: die Hochzeit der Königin Viktoria mit Prinz Albert und die des verstorbenen Kaisers Friedrich mit der Prinzeß Viktoria. Auf der Rückseite befinden sich im Mittelfelde die Widmung, auf den beiden Seitenfeldern die Versinnbildlichungen des Handels und der Wohlfahrt. – Das Band unter diesen Feldern enthält Namen und Wappen der zum Deutschen Reiche gehörenden Staaten. Unter den Füßen, auf denen der Kasten ruht, blickt zu jeder Seite der Londoner Greif hervor, die Augen sprühen Blitze, denn es sind Diamanten, deren sich diese Wesen als Sehorgan bedienen. Das Ganze steht auf einem eichenen mit blauem Sammet überzogenen Untersatze; ein silbervergoldetes Inschriftband umzieht ihn, das prächtig aus seinem Untergrunde hervorleuchtet. So ist dieses Werk nicht nur von hohem künstlerischen Werthe durch Erfindung und Zeichnung, auch die Farbenvertheilung läßt den bedeutsamen Künstler erkennen. Eine reiche Pracht entfaltet sich in dem Gold, dem Silber, dem Email, den Edelsteinen, und doch ist nirgends Ueberladung zu finden, überall ist ein schönes Maß gewahrt. Die Kassette macht den Erfindern und Verfertigern, Mappin Brothers, alle Ehre. A. S.     

Siegfrieds Leiche. (Zu dem Bilde S. 569.) Wer sollte es nicht kennen, das erschütternde Trauerspiel, welches uns der uralte Sang des Nibelungenliedes überliefert: wie Siegfried, der unüberwindliche Held, erliegen muß der Rache eines tiefgekränkten Weibes, dem Speere eines heimtückischen Feindes, damit dann über seiner Leiche ein wahrer Völkervernichtungskampf sich entfache! Richard Wagner hat aus dieser Quelle den Stoff zu seiner „Götterdämmerung“ geschöpft, zu dem Schlußstein seiner großen Nibelungentrilogie, und seiner Fassung ist auch der Maler gefolgt, welcher unser Bild entworfen hat.

Da wird erzählt, wie Siegfried unerkannt für Gunther Brünhilde überwindet und ihr nach heißem Kampfe den wunderbaren Ring abnimmt, den er selbst ihr einst als Zeichen seiner Treue geschenkt. Sie ziehen mit der gewonnenen Braut hinauf nach dem Sitze der Gibichungen am Rhein, aber mit Entsetzen entdeckt Brünhilde plötzlich das verhängnißvolle Kleinod an Siegfrieds, nicht an Gunthers Hand, und nun ist Rache für solchen Verrath ihr einziges Denken. Wie im alten Heldenliede, so ist es auch hier der grimme Hagen, der sich der schwer gekränkten Frau als Werkzeug bietet. Ist er doch Alberichs Sohn, der Sohn des Zwerges, dem Siegfried einst den Ring geraubt hat. Also doppelten Grund hat er, Siegfried zu hassen. Und nun ziehen sie hinaus zur Jagd, rasten im kühlen wilden Felsenthal, nahe dem Strome. Siegfried, den warnenden Gesang der Rheintöchter nicht achtend, plaudert vergnügt mit Gunther und Hagen; er erzählt ihnen, wie er einst Fafner, den Wurm, erschlug, wie er die Zunge mit des Drachen Blut genetzt und darauf die Sprache der Vögel verstanden habe; er verräth, wie er einst Brünhilde aus ihrem Schlafe in feuriger Liebe geweckt – zwei Raben fliegen auf. „Erräthst Du auch dieser Raben Geraun’?“ ruft Hagen ihm zu, heftig fährt Siegfried empor, den Unglücksboten nachzublicken, da stößt ihm Hagen den tödlichen Speer in den Rücken, der nie besiegte Held bricht sterbend zusammen. Und bald trägt ihn der ernste Zug der Mannen über die mondbeglänzte Anhöhe von dannen, zurück zu der Halle der Gibichungen. In seinem lohenden Scheiterhaufen verschwindet Brünhilde, den Ring des Toten am Finger, herein wälzen sich die Fluthen des Rheins, die Rheintöchter erscheinen. Mit dem Rufe: „Zurück vom Ringe!“ stürzt sich Hagen wie wahnsinnig in die Fluth, die Arme der Nixen ziehen ihn hinab in die Tiefe.




Inhalt: Baronin Müller. Roman von Karl v. Heigel (7. Fortsetzung). S. 565. – Das Reventlow-Beselerdenkmal in Schleswig. Bild. S. 565. – Mehr Licht! Von Dr. J. Herm. Baas. S. 568. – Siegfrieds Leiche. Bild. S. 569. – Die Fächerausstellung in Karlsruhe. Von F. Luthmer. S. 572. Mit Abbildungen S. 572, 573, 574 und 575. – Die Kamerunerin. Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski (4. Fortsetzung). S. 575. – Windmühlen-Idyll. Bild. S. 577. – Das Reventlow-Beselerdenkmal in Schleswig. Von Werner Frölich. S. 579. (Zu dem Bilde S. 565.) – Blätter und Blüthen: Das Ehrengeschenk der Stadt London an den deutschen Kaiser. Mit Abbildung S. 580. – Siegfrieds Leiche. S. 580. (Zu dem Bilde S. 569.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

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