Die Gartenlaube (1893)/Heft 21

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[341]

Nr. 21.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
(7. Fortsetzung.)
11.

Der Pfarrer des Dörfleins Keula – eben derjenige, welcher ruhig zugeschaut hatte, als seine Dorfjugend das von einem Besuche in der Hütte am Galgenfeld zurückkehrende Fräulein von Leyen mit Steinen bewarf – hatte seiner Instruktion nach jeden solchen Besuch alsbald den Herrn Dekan von Sankt Aloysien, den Pater Zindler, wissen lassen und sich dabei innerlich wieder wahrhaft aufgerichtet. Denn daß er den gotteslästerlichen Unfug überhaupt leiden mußte, wozu ihn doch seine Oberen ausdrücklich angewiesen, das war ein Pfahl in seinem Fleische. Es war dieser Pfarrer ein großer derber Mann, ein Bauernsohn aus der Eifel, mit ingrimmig dunkeln Zügen und zur Duldung wenig geeignet. Er war noch nicht lange hier im Amt, und sein Werk war es nicht, daß die Sieche und Ausgestoßene an dem verrufenen Orte in Ruhe gelassen wurde zum Sterben. Er hätte die Stätte gern von ihr gereinigt, und wenn es mit feuriger Lohe gewesen wäre. Aber, wie gesagt, er erhielt die Weisung, um das exkommunizierte Weib sich nicht zu kümmern, jedoch ein Auge darauf zu haben, wer sie jemals heimsuche. Die dicken Lippen finster übereinander schiebend, fügte er sich darein.

Daß die Kranke durch den alten Strieger, den Waldmann, gefristet wurde, wußten die Dörfler sehr wohl; wenn der Pfarrer aber fragte, erhielt er geringe Auskunft. Die dummschlauen Bauern gaben sich den Anschein, als glaubten sie, daß bei der Erhaltung der hilflosen Gelähmten der Böse selber die Hand im Spiele habe. Und wie viel oder wie wenig dem Herrn Pfarrer hiervon glaublich sein mochte – gewiß ist, daß er die Bekanntschaft des alten Waldwarts niemals machte: dafür sorgte der Strieger schon selber. Es blieb demnach von Besuchern in der verrufenen Hütte nur jene unberathene Jugend, das Fräulein von Leyen. Der Pfarrer von Keula, ohne mehr von ihr zu wissen, als daß sie ein schlankes Geschöpf mit stolzgetragenem Kopfe war – so wie er sie von seinem Posten auf dem erhöhten Kirchhof aus nun öfters gesehen hatte – verfolgte sie dafür in seinem Innern mit fressendem Argwohn und heißer Rachgier.

An einem trüben Herbstnachmittage hatte er den Gang, den er vor der Vesper machte, auch wieder wie jetzt meistens auf der Landstraße ausgedehnt, die von Keula an der Herrenmühle vorbei nach der Stadt führte. An einem Punkte, wo sich der Weg fast jäh in die Niederung hinabsenkte, in welcher die Herrenmühle lag, stand unter windgekrümmten und zerzausten Ebereschen eine steinerne Bank. Bis hierher pflegte der Pfarrherr seinen Schritt zu lenken; von hier aus übersah man einen großen Theil der Landstraße zwischen der Herrenmühle und dem Thorthurme von Birkenfeld, und er hatte in letzter Zeit die Gewohnheit angenommen, ganze Viertelstunden lang diese Strecke spähend mit den

Zugang zur „Höhle des Windes“ unter dem Niagarafall.
Nach einem Aquarell von Rudolf Cronau.

[342] Blicken zu bestreichen. Seine Augen waren scharf, und so unterschied er denn auch heute – schon bald nachdem sie das Stadtthor hinter sich hatten – zwei dunkle Gestalten und ihr stetiges Wandern in der Richtung auf die Herrenmühle zu. Er folgte ihnen lebhaft mit den Blicken: es waren zwei Männer seines Standes, wie man nun schon längst unterscheiden konnte. Es war aber, als ob der Pfarrer noch etwas anderes erwartete, und immer und immer wanderte sein Blick wieder nach der dunkeln Höhlung des Thorbogens unter dem Thurme hin, mit einem Ausdruck, als möchte er mit den bloßen gierigen Augen das, was noch kommen sollte, darunter herausholen. Und endlich kam es. Dunkel, schwerfällig, von hier aus kaum kenntlich, von ihm aber doch sofort mit einem Auflodern des Blickes begrüßt. Es war eine geräumige Karosse, gut bespannt mit einem Paar kräftiger, feister Rappen. Auf dem Bocke saßen zwei Männer, der eine von ihnen, der Kutscher, trug eine Art dunkler Livree ohne Abzeichen. Er hatte es offenbar nicht eilig und schien die Rosse eher zurückzuhalten als anzutreiben, weil er die Weisung haben mochte, eine gewisse Entfernung zwischen dem Fuhrwerk und den beiden vorauswandelnden geistlichen Herren nicht zu verringern.

Diese beiden hatten jetzt den Punkt der Landstraße erreicht, wo rechter Hand von ihr über eine breite, mit niedriger Steinbrüstung versehene Ueberbrückung des Mühlgrabens der Fuhrweg zur Herrenmühle abbog: sie üherschritten diese Brücke und hielten auf die schwärzliche Gebäudemasse des Herrensitzes Derer von Leyen zu. Der Pfarrer aber wartete noch immer. Während sein vorwegnehmender Blick jenen beiden auf dem Wege seitab nicht so sehr folgte als daß er ihnen vielmehr gierig vorauseilte, währenddessen also hatte er die Karosse aus den Augen gelassen. Und jetzt suchte er sie vergeblich auf dem offen daliegenden Wege. Wie war das möglich? Nur durch einen Umstand, den er jetzt auch alsobald erkannte. Kurz vor der Brücke standen zu beiden Seiten der Landstraße ein paar Gruppen hoher alter Schwarzpappeln einander gegenüber. Von unten an bebuscht, bildeten sie eine Art Boskett, das gerade hinreichte, das ganze Fuhrwerk dem Blicke auf weitere Entfernung hin zu verbergen. Der Pfarrer ruhte aber nicht, als bis er es trotzdem darunter entdeckt hatte. Pferde und Leute hielten sich da ganz still, das konnte er merken. Und nun hatte er genug gesehen, wandte sich kurz um und stieg wieder gen Keula hinauf, von wo dann alsbald das dünnstimmige Glöckchen zur Vesper läutete.

Die beiden Männer in Ordenstracht, welche der Pfarrer beobachtet hatte, waren der hochwürdige Herr Antonius Zindler von St. Aloysius und der Pater Gollermann, der Beichtvater Ihrer Hoheit der Frau Pfalzgräfin. Nicht gerade eilig, doch auch ohne jedes Zögern und Stocken etwa wie das unabwendbare Schicksal selber, verringerten sie die Entfernung zwischen sich und der Herrenmühle, dabei kurze Wechselreden tauschend, und nun hatten sie das vordere Hofthor erreicht und traten in diesen traulich von alten Gebäuden umgebenen stillen Bezirk ein. Kein Mensch hier wie gewöhnlich. Doch: auf einer Holzbank neben der niedrigen steinernen Bogenthür, die zum Flur des Haupthauses führte, saß die greise Wirthschafterin, so recht in der Nachmittagssonne, die ihren alten Gliedern wohlthun mochte, und reinigte läßlich ein Gemüse über einem irdenen Napf in ihrem Schoße. Ihr Gehör war wohl das schärfste nicht mehr, denn sie nahm die Annäherung der Fremden nicht eher wahr, als bis ein breiter Schatten ihr über die Hände fiel, weil die beiden zwischen sie und die Sonne getreten waren. Da fuhr die alte Crescenz auf, halb entsetzt. Sobald sie aber erkannte, wen sie vor sich hatte, war sie voll Eifer und Ehrerbietung, konnte gar nicht rasch genug ihre Gemüseschüssel los werden und suchte knixend des Herrn Dekans, ihres Seelsorgers, Hand zu küssen. Die hochwürdigen Herren wollten den Herrn Oberst sprechen? Zunächst nicht . . . sie heischten eine kleine Rücksprache mit dem Fräulein, Das Fräulein war wohl vom Hause fort, auf einem ihrer Gänge? – Nein, Fräulein Polyxene sei nicht fortgegangen; sie werde wohl oben in ihrem Gemache sitzen oder sonst wo im Hause herum sein.

Der alten Frau, welche die düstern Stiegen mit der eichenen Balustrade so eilig erklomm, wie sie vermochte, folgten die beiden Geistlichen auf dem Fuße. Sie blieben ihr so dicht auf den Fersen, daß, als die Crescenz das Schlafgemach des Fräuleins aufgeklinkt hatte – nachdem sie erst das Speisezimmer geöffnet und völlig leer befunden – die große Nase des Pater Gollermann alsobald auch in das stille Mädchengelaß hineinragte, worauf der Pater die Frau mit den hochwürdigen Händen selber sanft ein weniges beiseite schob und in dem Gemache Fuß faßte. Das Fräulein war nicht hier; allerdings nicht. Aber dennoch gab Pater Gollermann dem Gefährten ein Zeichen mit den Augen, worauf auch dieser eintrat. Es sei ihnen vielleicht gestattet, hier die Ankunft des gnädigen Fräuleins zu erwarten, ließ sich demnächst der Pater Gollermann vernehmen, der schon jetzt die Führung übernommen hatte und an gewinnenden Formen und zugleich einer gewissen sanften Unausweichlichkeit dem Amtsbruder auch in der That überlegen war.

Was hätte die gute einfältige Alte dagegen haben sollen! Wenn die Herrn hier vorliebnehmen wollten, warum nicht! Sie rückte eifrig ein paar Stühle herbei und ging dann eilig, um ihr Fräulein zu suchen.

Nicht länger saßen die beiden Patres still, als bis der trippelnde Schritt auf dem Gange draußen verklungen war. Dann erhoben sich, wie von einem Geiste getrieben, beide zugleich, um nunmehr das Zimmer näher in Augenschein zu nehmen. Man hätte fast sagen können, daß sie es durchschnüffelten, wenn anders gegenüber der Hochwürdigkeit der beiden dieser Ausdruck gestattet gewesen wäre, Sie hatten offenbar vor, das Zimmer, so lange sie darin ungestört waren, einer eiligen aber gründlichen Durchforschung zu unterziehen. Ach, dasjenige, was für sie schon allein eine Haussuchung gelohnt hätte, das verbarg sich nicht einmal vor ihnen! Die Späher anlockend durch seine verrätherische Außenseite, so lag es da auf dem Tische am Fenster, das kostbar unselige Buch von der „Teutschen Theologie“, das Buch, welches Polyxene gestern erst als nun endlich ihr zufallendes unschätzbares Erbtheil von der dem Tode ganz nahen Exkommunizierten erhalten und, bebend in Wehmuth und Ehrfurcht, nach Hause getragen hatte. Zufällig oder vielleicht gerade deshalb, weil der ungefüge braune Band so offen dalag, waren die Augen der beiden Väter anfangs gehalten gewesen, so daß sie ihn nicht gleich gewahrten. Sie waren eben gewohnt, auf dasjenige zu fahnden, was sich vor ihnen verbarg. Dann aber hatte der Pater Gollermann auf dem Tischlein am Fenster das Buch erblickt und war mit einem langen Schritte darauf hingestoßen. Er nahm es auf, nicht hastig, sondern schon mit langsamem Auskosten der Vermuthung, welche ihn gleich beschlichen hatte. Denn der kleine kurze Band mit den eigensinnig sich spreizenden Blättern sah verheißungsvoll aus. Das war nicht das handliche glatte Meß- oder Gebetbuch, welches gedankenlos und bequem zum Gottesdienst hin und wieder zuruchgetragen wird – dieses Buch gehörte schon durch sein Aeußeres in die Einsamkeit der Gemächer, in welchen die Spintisierer sich absonderten. Und nun, da er den Titel erkannte, legte Pater Gollermann langsam die Lippen fest aneinander, was seine Art war, um ein tieferes Aufathmen der Genugthuung nicht hörbar werden zu lassen. Er hatte von diesem Buche vernommen. Allerdings war dasselbe lange vor dem Riß, der durch das Auftreten des abtrünnigen Augustinermönches Lutherus an der Kirche geschehen, von einem unzweifelhaft frommen Manne und guten Katholiken geschrieben worden. Seit aber dieser vom Hochmuthsteufel besessene und von seiner eigenen Gelehrsamkeit trunkene Neuerer, der Doktor Luther, dem alten Werklein sonderbare Ehre angethan, dasselbe mit Hilfe der neuen Kunst des Bücherdruckes der Christenheit frisch zugänglich gemacht und ausdrücklich bekannt hatte, außer auf der Bibel und den Schriften des heiligen Augustinus nirgends so viel für das wahre Heil der Seele Nützliches geschöpft zu haben wie aus diesem Buche – da wurde das Werklein den im Schoße der „alleinseligmachenden“ Kirche Verbliebenen und besonders ihrer Priesterschaft ein Aergerniß. Der Jesuit blickte daher mit kalter Abgunst hinein und seine Augen blieben hart, während er hier und da las.

Indessen war auch der Herr Dekan Zindler aufmerksam geworden. „Ah, Hochwürden, was haben wir da?“ fragte er, rasch herantretend.

„Alles, was wir brauchen,“ hätte der Pater Gollermann mit Fug erwidern können, aber ein Jesuit sagt niemals, nicht einmal einem Ordensbruder, sofort, was er denkt. „Ein Buch,“ erwiderte Gollermann daher, „von welchem uns, das Fräulein hoffentlich wird versichern können, daß es nur durch Zufall hierher gelangt ist und daß sie sich von dessen Benutzung geziemend enthält.“

Er legte dasselbe seinem Begleiter in die gierig ausgestreckten Hände. Herr Dekan Zindler griff die Sache etwas anders an; er schlug das leere Blatt vor dem Titel auf und las den dort eingezeichneten Namen: Anne Rochette von Leyen. Ob Pater Gollermann denselben auch schon gesehen hatte? Jedenfalls blieb er sehr gleichmüthig, da sein Begleiter ihm seine Entdeckung [343] vorwies und die Annahme von dem zufälligen Vorhandensein des Buches in diesem Hause damit hinfällig machte.

„Die ganze Sippschaft hat von jeher zu verderblicher Absonderung von der Kirche geneigt,“ murmelte Dekan Zindler, der bei weitem weniger gemessene der beiden hochwürdigen Herren, mit Ingrimm. „Dies“ – er deutete mit dem starken Zeigefinger auf die zarten Züge jener lange entschwundenen Hand – „dies ist die Mutter der Polyxene gewesen. Sie ist in jungen Jahren an einer zehrenden Krankheit gestorben. Hätte sie länger gelebt, wer weiß, was sie noch für Aergerniß gegeben hätte. Aber wie dünkt Euch“ – ein scharfer Strahl des Argwohns brach dabei aus seinen Augen – „wären wir etwa vergebens gekommen?“

Es gab für die Worte nur eine Deutung: Dekan Zindler fürchtete, das Mädchen könne, in Furcht versetzt durch die Meldung der Alten von diesem Besuche, den Garten hinten gewonnen und die Flucht ergriffen haben. Ach, wie weit entfernt war die Annahme des klugen geistlichen Herrn von der Wahrheit! Allerdings hatte Frau Crescenz ihr Fräulein weit hinten im alten Mühlgarten suchen müssen. An diesen traurigen Ort, vor dem es ihr doch grauste, zog es Polyxene stets von neuem hin. Da stand sie, in kummervolle Gedanken verloren, am Rande des Mühlgrabens. Und immer und immer wieder sträubte sich dann ihr Verstand und alles in ihr gegen die Annahme, Lutz, der kräftige, behende, sei da so elend zu Tode gekommen. Aber was dablieb, unumstößlich, das war die Thatsache ihres Verlustes. Sie hatte ihn doch nicht mehr, den lieben Jungen, an dem ihre ganze Seele gehangen hatte. Ihre Augen hungerten danach, sich einmal wieder auszuruhen auf dem sonnigen Knabengesicht; das Ohr horchte nach seiner hellen tapferen Stimme hin und lauschte zuletzt Trugklängen, im Innern erzeugt, die sie äfften mit dem Tone seines lieben Mundes. Während sie so dastand, wartend, horchend, sie wußte selber nicht auf was, wie das jetzt ihre Gewohnheit war, da erschien unter dem offenen Durchgang der quer vorgebauten Scheuer die alte Crescenz. Sie hatte etwas zu sagen; eifrige Worte schienen ihr schon von weitem auf den Lippen zu zittern. Sie hatte etwas gehört, von Lutz vielleicht! Polyxenen klopfte das Herz bis in den Hals. Und es war eine der vielen bittern Enttäuschungen, die sie jetzt hatte, als sie erfuhr, was die alte Frau zu melden kam. Denn von den geistlichen Herren erwartete sie keine Nachricht, die ihr wirklichen Antheil hätte abgewinnen können – eine solche nämlich, die den Vetter Ludwig betroffen hätte. Was die Herren sonst von ihr wollen könnten, dafür hatte sie, als sie jetzt der Crescenz ins Hans folgte, auch nicht einen Gedanken.

Der Dekan Zindler hatte eben jene Befürchtung angedeutet, das scheue Vöglein möchte entschlüpft sein, da ließ ein Geräusch auf dem Flur die beiden Geistlichen aufhorchen. Nun rückte der eine, der Herr Dekan, sich in seiner Amtstracht zurecht und richtete sich würdevoll in die Höhe. – Sein Begleiter legte das Buch genau wieder auf den Platz, auf dem es gelegen hatte, und stellte sich neben jenen, und so hatte das eben eintretende Fräulein den erbaulichen Anblick, die beiden frommen Männer mit gesammelten Mienen und einem von allem Aeußeren abgekehrten Blick ihrer wartend zu finden.

Ihr eignes reizendes Gesicht wies ein leises Befremden auf. „Hierher hat man die hochwürdigen Herren geführt?“ sagte sie nach ehrfurchtsvollem Gruße, „Das sollte nicht sein. Darf ich bitten, mir in den Saal zu folgen? Und mögen die Herren das Versehen der alten Dienerin verzeihen!“

Charakteristisch für die beiden geistlichen Herren war der kleine Zug, daß sie die Frau Crescenz jetzt mit keinem Worte bei ihrer Herrin entlasteten von dem unverdienten Vorwurf. Sie hatten aber auch anderes zu thun. Erst nachdem der Pater Gollermann sich davon überzeugt hatte, wie Polyxene in voller Unbefangenheit über den Flur voranschritt ohne noch einen einzigen Blick zurück in ihr Schlafgemach, erst da hielt er sich versichert, daß man ihr ruhig folgen könne und nicht befürchten müsse, sie werde jetzt heimlich aus dem Zimmer etwas wegräumen lassen, was sie verbergen wolle. Nun glitt zuguterletzt, mit einer Behendigkeit, die man seinem würdevollen Gange kaum zugetraut hätte, der hochwürdige Herr, der Pater Gollermann, selber noch einmal in das Gemach zurück, ergriff das Buch und ließ es in die Falten seines Amtsrockes gleiten, wo sich irgendwo eine beträchtlich große Tasche befinden mußte. Mit ein paar großen Schritten hatte er dann die anderen rasch wieder eingeholt.




12.

In einfacher Würde hatte Polyxene ihre Gäste in dem Saale mit den Wappen sitzen geheißen und dann sich erboten, den Oheim zu rufen, was aber von den geistlichen Herren einstweilen noch höflich abgelehnt wurde. Es dauerte lange, bis in der Unterhaltung, in welcher besonders Pater Gollermann sich nun mit ihr erging, ihre stolze Ahnungslosigkeit einem anderen Gefühl, einem dumpfen Unbehagen zunächst, zu weichen begann. Nachdem sie sich anfangs im stillen über den Besuch der beiden Geistlichen ein wenig gewundert und leichthin gedacht hatte, was wohl deren Zweck sein möge, konnte sie nicht umhin, nach und nach mit halb ungläubigem Staunen eines solchen inne zu werden. Ihr galt es wirklich und ihr allein! Zuerst hatte sie vermeint, die mancherlei Fragen, welche die beiden Herren ihr stellten, geschähen halb zufällig, dann aber kam es über sie, daß sie doch einen gewissen Zusammenhang in diesen Fragen zu merken glaubte. Und wie leicht hatte sie es den Herren gemacht! Sie hatte diesen Zusammenhang durch kein Ausweichen gehindert; sie hatte immer einfach der Wahrheit gemäß geantwortet. Wenn im Verlaufe der Unterredung ihre ehrlichen Augen mit etwas wie Bangigkeit auf ihre Befrager gerichtet gewesen waren, so war dies, während sie über alles, was ihr mit der siechen Frau Magdalena geschehen war, Red’ und Antwort gab. Nicht als ob sie für sich selber sich geängstigt hätte! Aber sie hegte die Befürchtung, es sei am Ende bei der Geistlichkeit darauf abgesehen, in heiligem Eifer die Ruhe der Sterbenden zu stören und ihr vielleicht die allerletzten Augenblicke quälend zu verdunkeln. Daß ihr selber aus ihren Besuchen in der Hütte am Galgenfeld irgend eine Gefahr sollte erwachsen können, ahnte sie so wenig, daß so viel thörichte Sicherheit den ungestümeren von den beiden Herren, den Herrn Dekan Zindler, endlich verdroß und er etwas scharf sagte: „Des Mitleids gegen die sündige Kreatur seid Ihr mehr eingedenk gewesen, Fräulein, als der Vorschriften unserer Kirche. Das Verbot derselben, mit Exkommunizierten irgend einen Verkehr zu pflegen, bei Gefahr, in denselben Stand zu verfallen – das scheint Ihr vergessen zu haben.“

Doch noch ehe Polyxene hatte antworten können, fiel Pater Gollermann mit milder Stimme ein: „Das Fräulein ist in geistlichen Dingen ohne Hüter und Berather gewesen, ihrer unerfahrenen Jugend zum Schaden –“

„Des geistlichen Beistandes, den ich, ihr von Gott gesetzter Seelsorger, hätte leisten können, hat sie leider nie begehrt.“ Das war wieder der Dekan Zindler, dessen Empfindlichkeit jetzt zu Tage trat darüber, daß die Leyens den Weg zu seiner Kirche, dem stattlichsten Gotteshaus der Residenz, im blühenden Barockstil erbaut, zu weit gefunden und den schlechten Geschmack besessen hatten, seiner berühmten, blühenden Kanzelberedsamkeit die altersschwachen Sermone des Pfarrers Wehrbein am Siechenhofskirchlein vorzuziehen. „Wüßte ich nicht,“ fuhr er jetzt fort, „durch unsern Herrn Amtsbruder an der Siechenhofskapelle, daß das Fräulein zuweilen dort gebeichtet und kommuniziert hat, so müßten wir mit tiefer Bekümmerniß annehmen, nicht nur sträfliche Lauheit, sondern eine völlige wohlbewußte Abkehr von den Gnadenmitteln unserer allerheiligsten Kirche sei hier vorhanden.“

Polyxene erröthete langsam unter diesen Worten, die sie trafen, wie einen stolzen und zugleich gerechten Sinn jeder Tadel treffen wird. Sie lehnte sich nicht von vornherein hochmüthig dagegen auf, denn sie war in ihrem Inneren noch nicht sicher, ob sie ihn nicht verdiene. Eine Ahnung eigentlicher Gefahr gewann sie aber auch jetzt noch nicht.

Und wieder begann nun Pater Gollermann. Seine Weise war im Gegensatz zu der seines Ordensbruders so milde, daß der Hörer dachte, aufathmen zu können. Fühlte aber Polyxene von Leyen jetzt diese Erleichterung, so sollte dieselbe von kurzer Dauer sein. „Ihr seid auf einen Irrweg gerathen, meine Tochter,“ sagte er. „Diejenigen, denen Euer zeitliches wie ewiges Wohl am Herzen liegt, müssen darauf bedacht sein, Euch beizuspringen, ehe es zu spät wird. Daß Ihr durch den Verkehr mit einer Exkommunizierten kirchlichen Strafen und harter Buße verfallen seid, werdet Ihr, wie ich nicht zweifle, in schuldiger Demuth vernehmen –“

Jetzt zum ersten Male gesellte sich dem ungläubigen Staunen, mit dem Polyxene die Worte vernahm, auch ein Zug der Angst. Gerade das Neue und Unbegreifliche dieser Sprache ließ sie erbangen. Kirchliche Strafen! War in dem lauen, nur auf äußerliche Gebräuche gerichteten religiösen Leben an diesem Hofe [344] dergleichen je erhört gewesen? Was aber stürmte nicht seit einiger Zeit alles auf sie ein und zeigte ihr zunächst immer ein unverständliches, dann aber im Verlauf ein drohendes, ja fürchterliches Antlitz, von dem schonungslosen Angriff der Pfalzgräfin auf der Jagd an bis zu Lutzens unselig räthselhaftem Hinwegschwinden!

Das arme Kind saß verstummt da, mit langsam erblassendem Gesicht, während des Paters Gollermann glatte Stimme fortfuhr: „Einer noch größeren Gefahr aber, als sie die pestartige Berührung jenes unter dem Bannfluch dahinlebenden Weibes mit sich bringt, finden wir Euch preisgegeben, aus der Euch zu erretten die Kirche die ihr erlaubten Mittel anwenden muß. Wir wissen, daß Ihr in dem Besitz von Schriften seid, die das Seelenheil derer, so sie lesen, aufs äußerste gefährden. Sprecht offen, liebe Tochter: wie sind solche in Euere Hände gelangt? Und beruhigt die wohlmeinenden Herzen Euerer Freunde mit der Versicherung, daß Ihr den Inhalt derselben entweder nicht kennt oder aber völlig verwerfet!“

Die Rede auch des Paters Gollermann konnte sich – aber immer mit wohlgemessener rhetorischer Abstufung – zu einer gewissen Wärme christlichen Eifers steigern, und das war eben geschehen. Trotzdem sah ihn Polyxene jetzt wieder ruhiger an als zuvor. Was andere einschüchterte oder gefügig machte, das pflegte in ihr vielmehr eine Kraft des Widerstandes zu wecken. „Ihr habt in meinem Schlafgemach das Buch von der ‚Teutschen Theologie‘ gesehen,“ sagte sie jetzt stolz, ein wenig verächtlich sogar. „Dieses nur könnt Ihr meinen, denn andere geistliche Bücher, außer denen, welche wir zum Gottesdienst brauchen, besitze ich nicht.“

„Ein Buch, dessen Platz im Gemach einer der Kirche ergebenen Jungfrau nicht sein sollte,“ erwiderte darauf der Pater Gollermann und wiegte in mildem Bedauern das Haupt. „Ist dasselbe Euer Eigenthum?“

„Der Name meiner Mutter steht darin,“ sagte Polyxene kurz.

„Das Buch ist also seit langer Zeit hier im Hause?“ warf der geistliche Herr hin, indem er das Fräulein dabei mit einem raschen forschenden Blicke streifte. „Aber der Inhalt ist Euch doch wohl fremd geblieben, wenigstens bis vor kurzer Zeit? Hoffen wir, daß der Schaden heilbar ist, den diese allzu leicht mißverstandenen und daher gefährlichen Lehren bei Euch, meine Tochter, haben anrichten können.“

Es widerstrebte Polyxene, selbst diese Männer bei einer falschen Annahme zu lassen. Mochte die Wahrheit nun nützen oder schaden, sie wollte nicht den Schein auf sich laden, als habe sie dieselbe verhehlen wollen. „Ihr irrt, hochwürdiger Herr,“ begann sie daher, „wenn Ihr meint, das Buch sei von meiner Mutter als ein Erbstück auf mich übergegangen. Ich besitze es erst seit ganz kurzer Zeit.“ Und mit einiger Ueberwindung fuhr sie fort, da die beiden schwarzen Herren mit regungslosen Mienen wartend schwiegen: „Die kranke Frau Magdalena, nach welcher Ihr mich gefragt habt, hat dieses Buch von meiner lieben Mutter kurz vor deren Tod erhalten; sie gab mir es erst gestern, da sie ihren Tod stündlich erwartet. Und ich leugne es nicht – einen köstlichen Schatz glaubte ich daran nach Hause zu tragen!“ Ihre Augen strahlten den Herren, die vermieden, diesem Blicke zu begegnen, muthig ins Gesicht, während sie weiter sprach: „Wie hätte ich denken sollen, das, was meine gute fromme Mutter werth gehalten hat, könne von üblem Inhalt sein!“

„So habt Ihr Euch mit diesem Inhalte noch nicht bekannt gemacht?“ fragte Pater Gollermann, der in der Wechselrede immer nur einen beliebigen Theil aus den Worten des andern herausgriff.

„Ob ich in dem Buche gelesen habe, meint Ihr? Ja“ – Polyxene sah bei diesen Worten an ihren beiden Besuchern vorüber traurig ins Leere – „ja, jetzt, wo ich in großem Kummer lebe um meinen armen Vetter, jetzt dachte auch ich in dem alten Buche vielleicht Trost zu finden. Aber seine Lehren scheinen mir zu hoch und schwer. Alles hingeben können soll man da, jede Freude, jedes eigene Streben. Soll ich denn nicht mehr wünschen, hoffen, beten von ganzer Seele, daß mein armer Lutz wiederkehre, weil Gottes Wille mit ihm vielleicht ein andrer ist?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das vermag ich nicht!“

Nichts hätte besser zeigen können, wie einsam und auf sich angewiesen Polyxene von Leyen war mit all ihren Zweifeln und ihrem innern Ringen, als dies kurze aus sich Herausgehen gerade diesen beiden Besuchern gegenüber. Aber es sollte ihr wenig frommen. Auf etwas anderes antworten, als auf das, was eigentlich gesagt worden ist, ist ja immer einer der Vortheile dialektischer Kunst gewesen. So meinte denn Pater Gollermann jetzt: „Wir finden Euch geneigt, liebe Tochter, Euch auf Irrwege zu verlieren, die Euch, wie schon viele zuvor, nur ins Verderben führen können. Ihr müßt angeleitet werden, den Trost in dieser Eurer zeitlichen Betrübniß da zu suchen, wo er für Euch zu finden ist, in eifriger Hingabe an die von der Kirche in ihrer Weisheit vorgeschriebenen Uebungen. Aber ohne Leitung, wie gesagt, würdet Ihr Euch schwer zurecht finden. Entschließt Euch, zu diesem Behuf Aufenthalt zu nehmen an einem Orte, zu dem keine weltliche Störung dringt und an dem geistlicher Beistand Euch im nöthigen Maße stets zur Hand sein wird. Die Frau Aebtissin von St. Ursula, im vormaligen Stande, wie Euch bekannt sein wird, eine Gräfin Degenfeld, ist bereit, Euch im Konvent aufzunehmen und gebührend zu halten . . .“

Selbst er hemmte hier den unausweichlichen Oelstrom seiner Rede, betroffen, was ihm selten begegnete, durch die Art, wie seine letzten Worte von dem Fräulein aufgenommen wurden. Nicht daß sie Befremden, Angst, Widerwillen gezeigt hätte – nichts von dem allem! Sie hob vielmehr nur ganz ruhig, leicht abwehrend, die schlanke Hand, mit einem schattenhaften Lächeln sogar, das eine höfliche Bitte um Entschuldigung dieser Ablehnung bedeutete. „Das kann nicht sein, hochwürdiger Herr,“ sagte sie einfach und arglos. „Wie könnte ich den Oheim, meinen Herrn Vormund mein’ ich, so ganz allein lassen?“

Der Herr Dekan Zindler konnte nicht umhin, hier auf seinem Stuhle zu rücken, den Blick des Paters Gollermann zu suchen um ihn gleichsam mit dem seinigen hinüber zu leiten nach dem Fenster hin und hinaus, wo die Klostergäule hinter dem Gebüsch an der Landstraße eine selbst für ihre Geduld nachgerade harte Probe zu bestehen hatten. Pater Gollermann vermied zwar das Auge seines Amtsbruders, beantwortete aber die stumme Aufforderung desselben durch einen etwas energischeren Schritt.

„Ihr mahnt mit Recht daran, Fräulein, daß hier auch dem Herrn Obersten von Gouda eine Stimme gebührt. Es wird nunmehr Zeit sein, auch Euern Vormund mit unserm Auftrage bekannt zu machen. Darf ich bitten, daß er uns die Ehre seiner Gegenwart schenke?“

„Gewiß; ich gehe, ihn zu rufen,“ sagte Polyxene hastig. Daß der geistliche Herr von einem Auftrage sprach, den er habe und dessen jetzt erst Erwähnung geschah, gab ihr eine beklemmende Empfindung. Wenn sie an ihrem Vormunde nur etwas mehr Halt und Trost gehabt hätte! Aber er lebte fast in einer andern Welt, von welcher aus er nur ungern und gezwungen seiner wirklichen Umgebung ein halbes Ohr lieh. Auch jetzt mußte sie ihn seinen Berechnungen entreißen, und mit geringer Gunst gegen den geistlichen Besuch hörte er, daß dieser die Ursache der Störung sei.

„Was wollen sie schon wieder?“ krähte er heraus, und dann, scharfsinnig genug für einen Bücherwurm: „Ich fürchte, Nichte, sie haben es mit Euch vor! Neulich glaubte ich schon die tastenden Spinnenbeine zu merken, mit denen sie ein Netz um Euch ziehen wollten!“ Damit ging er ihr raschen Schrittes voran nach dem Speisesaal, wo die Herren saßen.

„Mit mir?“ murmelte Polyxene nur, indem sie ihm folgte. Jetzt lag die Ahnung neuen Unheils schon schwer auf ihr.

Und nun traten sie bei den geistlichen Herren ein; die Unterredung begann nach umständlich höflichen Begrüßungen, und bald bemühte sich Polyxene vergebens, trotzdem von ihr die Rede war, den gewundenen Reden des Paters Gollermann zu folgen, der auch jetzt wieder ihrem Oheim gegenüber das Wort führte. Da wurde von Dingen gesprochen, die für sie nur leere Namen waren, von gefährlicher Absonderung von der Kirche, von dem schädlichen Leben und Lehren eines längst verstorbenen holländischen Professors und Bischofs Jansenius, von Quietismus und dergleichen – alles ein unverständlicher Schall für sie. Das ging so eine Weile und hörte sich wie eine anmuthige und gelehrte theologische Erörterung an oder war auch einem kunstreichen Festspiele zu vergleichen, bei welchem der Oberst mit seinem mannigfachen Wissen und in seiner unerschütterlichen Trockenheit sogar einem Pater Gollermann gewachsen war. Mit einem Male aber, man wußte nicht recht wie, war diesem unterhaltsamen und spielenden Kreuzen der Klingen zwischen den beiden Herren ein Ende bereitet; der geistliche Herr mochte es an der Zeit halten, nun zum Ernst zu gelangen. Er erklärte, noch immer freilich in den höflichsten und mäßigsten Ausdrücken, daß Seine bischöflichen Gnaden von Trier ihn mit dem Auftrag belegt hätten, in birkenfeldischen Landen der Ausbreitung der vorgenannten gefährlichen Meinungen zu steuern, mit Mitteln, die er selber für gut halte, und gegen allzu

[345]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Biergarten in Kissingen.
Nach einem Gemälde von Adolf Menzel.

[346] hartnäckig Widerstrebenbe sogar mit Strafen vorzugehen. „Von Strafen,“ sprach er nun weiter, „macht, wie man weiß, die Kirche in ihrer Milde nur im äußersten Falle Gebrauch. Zunächst mahnt, belehrt und bessert sie, wenn sie vermag. Daß Ihr, meine Tochter, durch Euren Verkehr mit einer von der Kirche Ausgestoßenen dem Irrthum schon verfallen seid, konnte mir nach Euren Worten nicht zweifelhaft bleiben. Ich habe das Zeugniß Eurer eignen Lippen, mir und meinem hochwürdigen Amtsbruder hier zum Gehör abgelegt. Die allerheiligste Kirche erachtet es nun an der Zeit, einzuschreiten, um Euer Mündel, sehr werthgeschätzter Herr Oberst, vor weiterem Schaden zu bewahren. Ich habe den Auftrag erhalten, sie der Obhut der Frau Aebtissin von St. Ursula, der hochwürdigen Mutter Dominika, zu übergeben. Dort wird das Fräulein zunächst der Belehrung theilhaftig werden, welche ihr Irrthum erheischt. Auch wird sie dorten am richtigen Orte sein, um durch eifrige Uebungen die Befleckung wieder hinwegzutilgen, mit der sie jetzt behaftet ist. Ich verhehle es Euch nicht, meine Tochter, die Kirche wird Euch Strafen auferlegen müssen. Aber ich zweifle nicht, Ihr werdet das strafende Rohr küssen, sobald Ihr die Milde der Hand merkt, die es führt.“

Er schwieg, und sekundenlang schwiegen auch die übrigen; es war drückend still in dem weiten Gemach. Dann sprach Polyxene, mit der gepreßten Stimme verzehrender Angst: „Ihr wollt mich ins Kloster bringen? Auch gegen meinen Willen – mit Gewalt?“ Sie wandte den Blick hilfesuchend nach dem Obersten von Gouda, flehentlich an seinem gelben unbewegten Gesicht hängend. „Oheim – werdet Ihr das nicht hindern?“

„Schwerlich wird der Herr Oberst es auf sich nehmen wollen, einer von unserem hochwürdigen bischöflichen Oberhirten verfügten Maßregel sich zu widersetzen,“ fiel der Herr Dekan Zindler scharf ein. „Und um so viel weniger, als mein Herr Amtsbruder auch von unserer allerhöchsten Landesfürstin, der Frau Pfalzgräfin Gnaden, mit allen nöthigen Vollmachten versehen ist. Rekurs an die hohe Frau nehmen zu wollen, wäre demnach überflüssig.“

„Nicht sowohl überflüssig, als daß es vielmehr ein ganz unrichtiger Weg wäre, welchen einzuschlagen mir nicht beifallen kann, hochwürdiger Herr.“ Das war der Oberst von Gouda, der sich damit in einem Tone höflicher Belehrung an den Pfarrer wandte. „Die Instanz über mir ist die Obervormundschaftsbehörde, der ich Rechenschaft abzulegen habe. Und es dürften wohl nicht wir, sondern die hochwürdigen Herren selber der dort Rekurs suchende Theil sein, falls ich, wie mir wahrscheinlich ist, meine Zustimmung zu der Entfernung meines Mündels verweigere.“

„Ach – Oheim!“ Das war ein kurzer Ausbruch der Erleichterung von Polyxenens Lippen. So gepreßt war ihre Brust noch immer, daß sie nicht mehr hervorbrachte, während sie sich auf ihrem Sitze nach dem alten Herrn umwandte und ihn, die Hände ineinander faltend, dankbar ansah.

Pater Gollermann nahm die Rede des Obersten mit der ihm eigenen Sanftmuth hin; er neigte sogar wie zustimmend das große Haupt: „Der Eifer, welchen Ihr, Herr Oberst, für Euer Mündel zeigt, steht Euch wohl an,“ sagte et ernsthaft. „Es widerstrebt mit Recht Euerem trefflichen Gemüthe, daß das Fräulein zu einem Schritte, den das Heil ihrer Seele erheischt, genöthigt werde. Aber selbst Euere Skrupel gegen diese heilsame Absonderung werden, denk’ ich, schwinden, sobald das Fräulein dieselbe freiwillig aufsucht.“

Der Oberst sah scharf nach dem Pater hinüber, als wisse er noch nicht, wo jener mit diesem Zuge hinaus wolle. Dann aber ließ er sich vernehmen: „Daß meine Nichte Lust haben sollte, ihren Aufenthalt hier mit dem von Euch genannten zu vertauschen, wird mir schwer glaublich sein. Wäre es der Fall, so bliebe mir nur übrig, sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie gut thun würde, die Sorge für ihr Seelenheil mit der um unser Hauswesen hier zu vereinigen und letzterem mit nichten den Rücken zu kehren.“

Da hatte sich der Pater Gollermann mit einem Male erhoben, und alsbald auch sein Gefährte. Wollten sie sich verabschieden? Der Oberst von Gouda, der jetzt ebenfalls steif und lang aufgerichtet stand, ließ in aller Höflichkeit merken, daß er dies erwarte. Zu ihm trat nun aber der Herr Dekan Zindler, der bisher sich wenig an der Unterredung betheiligt hatte, und es war, als ob er das jetzt wieder gut machen wollte. Mit einer Verbindlichkeit, über die auch dieser gewichtige Herr mit dem starken Doppelkinn verfügen konnte, wenn es einmal noth that, brachte er die Rede auf die verdienstlichen Studien des Herrn Obersten in der Fortifikationskunde und in anderen noch subtileren Wissenschaften. So trocken des Herrn von Gouda Antworten auch waren, irgend etwas entgegnen mußte er doch. Auch erwies sich bald des geistlichen Herrn Unkenntniß der allerersten Grundlinien jener Wissenschaften so groß, daß sich von den Lippen des Obersten, fast ohne daß er es inne wurde, einige Sätze einschneidender Belehrung oder vielmehr Berichtigung lösten. Und merkwürdig war die Bereitwilligkeit, mit welcher Seine Hochwürden dieser Belehrung ihr Ohr lieh. Man hätte sagen können; ein Ohr lieh; das andere hatte er nöthig, um nach der Seite hinzuhorchen, wo Pater Gollermann und das Fräulein in einiger Entfernung von ihm und dem Obersten standen. Denn was dort vorging, war jetzt bei weitem die Hauptsache. Die Worte, die dort ziemlich leise gewechselt wurden, konnte er nicht verstehen, das war aber auch nicht nöthig. Es gab da andere Anzeichen fur einen erwünschten Verlauf, wie zum Beispiel, daß des Fräuleins anfänglich unbefangene Stimme mehr und mehr verstummt war. Als man sie dann wieder hörte und zwar in einem wilden Stöhnen, wie es noch niemals zuvor von den Lippen des Mädchens gekommen war, da war dennoch der Zweck seiner Sonderunterhaltung mit dem Vormund erreicht, und es brauchte ihn nicht mehr zu kümmern, daß dieselbe jäh abbrach.

(Fortsetzung folgt.)




Das Ende des Magisters Tinius.

Von Erich Fließ.


Als Eduard Schulte am Anfang dieses Jahres die Geschichte des „Verbrechers aus Bücherwuth“, des Magisters Tinius, in der „Gartenlaube“ (Nr. 5 und 6) erzählte, da war ihm über die letzten Lebensjahre des unheimlichen Geistlichen nicht mehr bekannt geworden, als daß „Verwandte von ihm, die als Schäfer in der Provinz Brandenburg lebten, ihm eine Zufluchtsstätte boten und daß er bei ihnen gestorben ist“. Und doch bleibt über den Ausgang dieses aus so drastischen Widersprüchen sich zusammensetzenden Lebens noch manches zu berichten, was der Veröffentlichung werth ist. Es mag mir gestattet sein, das Fehlende nachzuholen und gewissermaßen den Epilog zu der Verbrecherlaufbahn des schuldbeladenen Mannes zu schreiben. –

Nach seiner im Jahre 1835 verbüßten zwölfjährigen Zuchthausstrafe hatte Tinius, da er wie selbstverständlich seines Amtes entsetzt worden war und seine Angehörigen sich von ihm losgesagt hatten, keinen festen Wohnsitz. Unstet und flüchtig, wie einstmals Kain nach dem Brudermord, streifte er durch das Land, indem er sich bald in diesem, bald in jenem Dorfe Sachsens oder Thüringens aufhielt. Erst im Jahre 1840 faßte er wieder festen Fuß in einem Dorfe der Provinz Brandenburg, das er bis zu seinem im Herbste 1846 erfolgten Tode nicht wieder verlassen hat.

Ungefähr eine Meile von Königswusterhausen, nicht weit von der Dubrow, liegt das Kirchdorf Graebendorf.

Im Frühjahr 1840 erhielt die von der Welt ziemlich abgeschlossene Ortschaft den ersten Chambregarnisten, den sie bis dahin gesehen. Es war der Magister Tinius, der bei einem weitläufigen Verwandten, dem Maurer Schiepan, Quartier nahm. Er bezog dort ein kleines Kämmerchen und hatte daneben Antheil an der gemeinsamen Wohnstube seiner Wirthsleute, wofür er einen monatlichen Miethzins von zwei Thalern zahlte. Für seine Beköstigung hatte der Magister selbst zu sorgen. Sie kam ihn nicht theuer zu stehen. Pfarrer der Gemeinde Graebendorf war damals mein Großvater, und in seinem Hause war der Magister täglicher Gast. Außerdem wurde er je einmal in der Woche von dem Amtmann des Gutes und von dem Küster im Dorfe zu Tische geladen. Es zeugt gewiß von der liberalen Gesinnung und von der Gastfreiheit dieser drei Männer, daß sie einem Manne, der aus dem Zuchthaus kam, an dessen Händen unzweifelhaft Blut klebte, den Zugaug zu ihrem Hause gestatteten, und daß sie ihn bis zu seinem Lebensende unterhielten.

[347] Aus dem Munde der unmittelbaren nächsten Nachkommen meines Großvaters, von denen zwei, eine Tante und ein Onkel, noch am Leben sind, habe ich alles das vernommen, was ich hier mittheile.

Als der Magister in dem Dörfchen erschien, befand man sich über seine Person und seine grauenhafte Vergangenheit nicht ganz im klaren. Viel Zeitungen gab es damals noch nicht, und die ländliche Bevölkerung von Graebendorf dachte nicht daran, für ihre geistige Nahrung und Bildung die sauer erworbenen Groschen hinzugeben. Erst aus dem Munde des Thäters selber erfuhr sie, welcher Verbrechen man ihn bezichtigt und welche Strafe er dafür erlitten hatte.

Natürlich behauptete er ebenso wie früher während der zehn Jahre dauernden Untersuchung und der nachfolgenden Zuchthausstrafe seine Unschuld. Mittelbar aber hat er öfters seine Schuld eingestanden, ja er konnte sogar hin und wieder mit einer gewissen Prahlerei von seiner dunklen Vergangenheit sprechen. So pflegte er namentlich eine Geschichte aus seiner Gefängnißzeit zu erzählen. In der Zelle unter ihm saß ein Schlächter gefangen, der wegen Mordes, begangen an der eigenen Frau, zum Tode verurtheilt worden war. Mit diesem Manne wollte sich Tinius durch Klopfen verständigt und ihm dann in der Melodie eines Kirchenliedes alles das vorgesungen haben, was er noch nachträglich zu seiner Vertheidigung vorbringen sollte. Der zum Tode Verurtheilte habe hiervon Gebrauch gemacht und so sein Leben gerettet!

Als Tinius seinen Wohnsitz in Graebendorf nahm, zählte er bereits sechsundsiebzig Jahre. Er war von kleiner, schwächlicher Statur, dabei trotz der zehn Jahre Untersuchungshaft und der zwölf Jahre Zuchthaus körperlich wie geistig vollständig gesund.

Das graugesprenkelte, noch ziemlich volle Haar trug er hinten in einen Zopf geflochten, den er aber unter dem Kragen seines langen braunen Rockes verbarg. Nichts als die scharfen, stechenden Augen deutete bei ihm auf den Verbrecher hin.

Tinius war, vielleicht von seiner als Schäferjunge verlebten Jugend her, ein großer Freund der freien Natur, und so streifte er viel im Walde und auf den Feldern umher und sammelte allerlei Kräuter, deren nützliche und schädliche Eigenschaften ihm aufs genaueste bekannt waren. Eine besondere Vorliebe hatte er für giftige Pflanzen, aus denen er allerhand gefährliche Säfte und Präparate herzustellen wußte. Wir erinnern uns dabei, daß Tinius seine Opfer öfters erst durch eine dargebotene mit narkotischen Stoffen vermischte Prise betäubte. Die Mischung hatte er jedenfalls selber ausgeklügelt. Daß er dergleichen Künste verstand, verhehlte er durchaus nicht. So erzählte er unter anderem, daß man ihn auch im Verdacht gehabt, er habe vermittelst vergifteter Blumensträuße Damen in der Postkutsche betäubt und sie dann ihrer Barschaft beraubt.

Meine Tante, die damals ein zwölfjähriges Mädchen war, getraute sich infolgedessen niemals, an den aus prachtvollen, selbstgezogenen Rosen gebundenen Sträußen zu riechen, welche ihr der Magister hin und wieder brachte. Sie fürchtete, Gift einzuathmen. Aber ihre Furcht war unbegründet. Der Magister war damals zahm geworden!

Die Dorfbewohner hatten zwar eine gewisse Scheu vor dem alten Manne; aber diese galt mehr dem ehemalige Priester, dem großen Gelehrten, als dem Mörder und Zuchthäusler.

Die erstaunliche Gelehrsamkeit, welche diesen merkwürdigen Mann auszeichnete, war es auch vornehmlich, welche die Theilnahme meines Großvaters und vieler anderer Personen für ihn wach erhielt. Seine Bibliothek, die er sich zum größten Theile mit geraubten Geldern angeschafft hatte, soll, wie schon früher mitgetheilt, bei seiner Verhaftung dreißig- oder sogar sechzigtausend Bände enthalten haben. Als er nach Graebendorf kam, besaß er nicht ein einziges Buch; eine große Kiste mit Prozeßakten, das war das ganze Besitzthum des einstmaligen, wohlhabenden Pfarrers von Poserna. Der Verlust dieser so blutig erworbenen, unwiederbringlich verlorengegangenen Bücherschätze schmerzte ihn bis zu seinem Tode; aber – der Inhalt jener Bände war ihm geblieben. Er hatte ihn aufgespeichert in seinem phänomenalen Gedächtniß, wo er ihm jederzeit zur Verfügung stand. Mein Großvater hatte täglich Gelegenheit, Proben davon zu hören. Auch andere Geistliche, denen mein Großvater bei Kirchenvisitationen und ähnlichen Anlässen diesen außerordentlichen Menschen vorstellte, durften sich davon überzeugen, wie geringfügig und schwach ihr eigenes Wissen gegen das des mehrfachen Raubmörders war, der in den letzte fünfundzwanzig Jahren kein wissenschaftliches Buch mehr in die Hände bekommen hatte!

„Wir sind nicht werth, daß wir ihm die Schuhriemen lösen“ – mit diesem aufrichtigen Geständniß entfernten sich gewöhnlich die Besucher.

Mein Vater, der in jenen Jahren das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin besuchte, ließ sich, wenn er in den Ferien zu Hause weilte, von dem alten Magister im Lateinischen, Griechischen und Hebräischen unterrichte. Oft genug habe ich ihn – er war ebenfalls Theologe – von der Belesenheit, von der schier übermenschlichen Gedächtnißkraft seines Ferienlehrers erzählen hören. In manchem mag die Frau Fama etwas übertrieben haben. So wurde behauptet, daß Tinius seine Muße im Gefängniß dazu benutzt habe, um auf Papierfetzen, die er auf dem Hofe und in den Winkeln des großen Gebäudes zusammengesucht, im Laufe mehrerer Jahre allmählich ein vollständiges aramäisch-chaldäisch-deutsches Lexikon frei aus dem Gedächtniß niederzuschreiben! Die Tinte sollte er sich aus Wasser und Ofenruß bereitet haben! – Ich habe diese Anekdote stets in das Reich der Fabel verwiesen. Ich brauchte mir bloß den dickleibigen Gesenius anzusehen, aus dem ich mich im Schweiße meines Angesichts als stolzer Sekundaner auf die Genesis und die Psalmen präparieren mußte, um aufs deutlichste von der gänzlichen Unmöglichkeit eines solchen Titanenwerkes überzeugt zu sein. Zweifellos handelt es sich hierbei um eine Verwechslung mit der großen Studie über die Offenbarung Johannis, die Tinius im Gefängniß abgearbeitet hat, woselbst ihm übrigens auch Schreibmaterial zur Verfügung stand.

Tinius selbst schrieb seine unverwüstliche Gesundheit, seine geistige Frische, sein untrügliches Gedächtniß dem andauernden Genuß von allerlei Wald- und Wiesentheekräutern sowie von verschiedenen Gemüsen und Gartenfrüchten zu. Von den letzteren bevorzugte er namentlich den Kürbis, den er für ungeheuer gehirnstärkend hielt. Mein Vater erlaubte sich daher einmal während der Ferien einen kleinen Schülerscherz, indem er mit seinem Taschenmesser auf einem Kürbis im Pfarrgarten den Spottvers einritzte:

„Vom Magister, dem weisen,
Laß ruhig dich verspeisen!
Daß er noch länger lebe,
Vorm Tode nicht erbebe!“ . . .

Der Kürbis wuchs zu einem Riesenexemplar aus und ebenso die Inschrift. Der Magister verspeiste ihn, wurde zweiundachtzig Jahre alt, aber – vor dem Tode hat er in seinen letzten Tagen unzweifelhaft doch gebebt. Kurz vor dem Fallen des Vorhangs meldete sich doch das Gewissen bei ihm, obwohl er sonst mit der größten Ruhe und Gelassenheit von seiner blutigen Vergangenheit sprach. Denn bei aller Gelehrsamkeit und philosophischen Ueberlegenheit war Tinius kein sogenannter Freigeist, kein Atheist. Er hielt – was als ein psychologisches Räthsel gelten mag – fest an den Grundwahrheiten des Christenthums und an den Lehren der protestantischen Kirche. In seinen Gesprächen war er stets ernst und überzeugungstreu; nie versäumte er den Gottesdienst; an jedem Sonn- und Feiertag saß er im Kirchenstuhl des Gutes Graebendorf, der ihm vom Amtmann eingeräumt worden war. Dagegen ist er allerdings nie zum Abendmahl gegangen. Es mag sein, daß er innere Gewissensbisse empfand, die ihn von dem Genuß des höchsten Gnadenmittels der evangelischen Kirche zurückhielten.

Abgesehen davon, daß der Magister meinem Vater während der Ferien einige Unterrichtsstunden in den klassischen Sprachen ertheilte, hat er sich in Graebendorf niemals mit einer gelehrten geistigen Arbeit beschäftigt. Nur einmal, es war im Herbst 1843, machte er Anstalten zu einem größeren schriftlichen Aufsatz. Er wollte – die Revision seines Prozesses beantragen, um eine nachträgliche Freisprechung zu erzielen. Auf seine Bitten ertheilte ihm mein Großvater die Erlaubniß, die nothwendigen Auszüge aus den dicken Aktenstößen und die Vertheidigungsschrift im Pfarrhause anzufertigen, da er in seiner Miethswohnung nicht die erforderliche Ruhe zu dieser wichtigen Arbeit finden konnte. Drei Wochen lang bewohnte Tinius so die Giebelstube des Pfarrhauses, die sonst mein Vater in den Ferien einzunehmen pflegte.

Meine – damals vierzehnjährige – furchtsame Tante hat in jener Zeit nicht viel geschlafen. Sie fürchtete immer noch, der unheimliche Gast könnte sich des Nachts in ihr doppelt und dreifach verriegeltes Schlafzimmer einschleichen und sie im Schlafe mit seinem Hammer erschlagen.

Es geschah ihr nichts; aber aus der großen Revisionsschrift wurde auch nichts. Der Magister gab seinen Plan wieder auf. [348] Warum? Wer weiß es? War es ihm überhaupt Ernst mit seinem angeblichen Vorhaben gewesen? Er mußte doch ganz genau wissen, daß er sich eben nicht rechtfertigen konnte!

Mein Großvater hoffte stets, daß Tinius auf seinem Sterbebette ein offenes Schuldbekenntniß ihm gegenüber ablegen würde, indessen es kam nicht so weit. Ausgefragt hat mein Großvater ihn niemals, auch nach andern Dingen nicht, die allen Dorfbewohnern räthselhaft waren.

So wußte z. B. niemand, woher der alte Magister das Geld bezog, um seinen kleinen Haushalt, der doch immerhin mit Miethe, Kleidung und andern Nebenausgaben gegen fünfzig Thaler jährlich betragen mochte, zu bestreiten. Zweimal im Jahre begab sich Tinius zu Fuß nach dem fünf Meilen von Graebendorf entfernten Berlin, um seine Gelder zu erheben. Er behauptete stets, daß ihm von der großen Loge der Freimaurer eine gewisse Summe als lebenslängliche Unterstützung ausgesetzt worden sei, da er selbst Freimaurer gewesen und es auch noch sei. Die Unwahrheit dieser Behauptung liegt auf der Hand. Einmal konnte der Magister als Geistlicher gar nicht der Loge angehört haben; und dann ist auch nicht anzunehmen, daß der Orden ein wegen Mordes zu langjähriger Zuchthausstrafe verurtheiltes Mitglied unter sich geduldet oder ihm gar eine bestimmte Jahresrente gewährt haben sollte. Höchst wahrscheinlich wird es sich hier um die Unterstützungsgelder gehandelt haben, die ihm von seiner früheren Gemeinde Poserna bei Weißenfels ausgeworfen waren. Durch Ueberweisung kamen sie dann bei irgend einer Kasse in Berlin zur Auszahlung.

Auf diesen eintägigen Abstechern kehrte Tinius gewöhnlich bei der ältesten verheiratheten Tochter meines Großvaters in der alten Jakobstraße ein. Wenn er ankam, war er in der Regel – wie ganz erklärlich – stark erschöpft, aber er erholte sich nach einer kurzen Ruhe sehr schnell, und niemals haben die Anstrengungen der neun- bis zehnstündigen Fußtour seiner Gesundheit geschadet. Dieser meiner ältesten Tante – sie ist als eine hohe Siebzigerin gestorben – hat Tinius wiederholt mittelbar seine Schuld eingestanden.

Meine Tante war damals Mutter von zwei kleinen Knaben im Alter von sechs bis acht Jahren. Natürlich besaß sie wie alle Mütter den Ehrgeiz, daß aus diesen echten Berliner Rangen etwas Großes werden möchte. Sie äußerte daher oftmals ihrem Besucher gegenüber den Wunsch: „Wenn meine Jungens bloß halb so klug werden wollten, wie Sie es sind, Herr Magister!“

Tinius winkte dann ab: „Wünschen Sie das nicht, liebe Frau! Das war gerade mein Unglück, daß ich so klug war und immer noch mehr wissen und immer klüger werden wollte! Es wäre mir besser gewesen, man hätte mich als Hütejungen bei meinen Schafen gelassen; so wäre ich wie mein Vater ein ehrlicher Schäfer geworden!“

Diese und ähnliche Redensarten, die Tinius meinen Verwandten gegenüber gethan hat, schließen zweifellos ein volles Sündenbekenntniß in sich.

Am nächsten Tage trat er – es mochte noch so schlechtes Wetter sein – regelmäßig beim ersten Tagesgrauen den Rückweg an. Er trug nicht die geringste Schutzwaffe, nicht einmal einen Stock bei sich. Wenn man ihn fragte, ob er sich nicht fürchte, mit einem vollen Geldbeutel in der Tasche gänzlich wehrlos und schutzlos meilenweit über Land und durch den einsamen Forst zu gehen, so schüttelte er stets den Kopf und wiederholte ernst, aber ohne Salbung, die Worte des dreiundzwanzigsten Psalms: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln! Er führt mich auf rechter Straße, um seines Namens willen! Und ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich.“

Welch ein wunderbares Ding ist doch das Menschenherz! Wie viel widersprechende Gefühle können in einem so kleinen Raum dicht bei einander wohnen! . . . Dieser Mann, der sich eine besondere Liste von reichen Personen angelegt hatte, um sie, nach einem sorgfältig ausgeklügelten Plane, zu beschleichen wie der Jäger das Wild des Waldes – dieser selbe Mann vertraute allein auf seinen Herrgott, daß er ihn sicher vor Räuber- und Mörderhänden auf allen Wegen geleiten würde!

Aber als Tinius den Weg durch das dunkle Thal des Todes antreten sollte, hat er doch gezittert!

Es war am Montag in der vierten Woche des Monats September im Jahre 1846 An diesem Tage war Tinius zum letzten Male in seinem Leben bei meinem Großvater zu Tische. Zufällig war Besuch aus Berlin da, zwei Damen, die mit sehr gemischten Empfindungen auf ihren seltsamen Tischgenossen hinschauten.

Der Magister sprach fast gar nicht, aß, trotz wiederholter Aufforderung, nichts und brütete stumm vor sich hin. Auf die Frage meines Großvaters erklärte er, er fühle sich nicht wohl. Nach Beendigung der Mahlzeit empfahl er sich.

Als er am nächsten Tage nicht erschien, wurde meine inzwischen zu einer siebzehnjährigen Jungfrau herangewachsene Tante beauftragt, einen Korb mit Essen einzupacken und ihn dem erkrankten Magister in seine Wohnung zu bringen. Meine Tante kam dieser Weisung nach, übergab den gepackten Korb einer jungen Magd vom Pfarrhofe und machte sich mit ihr auf den Weg. Als ihnen auf ihr Klopfen an der Stubenthür des Magisters niemand öffnete, klinkten sie auf und traten ein. Ein unheimlicher Anblick bot sich ihnen dar. In der Mitte der Stube stand Tinius, starrte mit verstörtem verzerrten Gesichte in die Luft und murmelte allerhand unverständliche Worte vor sich hin. Er zitterte am ganzen Leibe wie Espenlaub. Auf wiederholtes Ansprechen kam er wieder so weit zu sich, daß er den Besuch erkannte. Er wandte sich ab und stöhnte: „Sehen Sie mich nicht an, Fräulein, sehen Sie mich nicht an! An mir ist nichts Gutes; weder außen, noch innen! Es ist alles schlecht, alles . . . alles.“ Dabei taumelte er. Meine Tante schob ihm schnell einen Stuhl unter, auf welchem er buchstäblich in sich zusammenbrach.

Den beiden jungen Mädchen wurde bei dieser höchst seltsamen, erschütternden Scene angst und bange; sie stellten den Korb hin und machten, daß sie davonkamen.

Am nächsten Tage begab sich mein Großvater in die Wohnung des Magisters. Er bekam ihn aber nicht mehr zu sehen. Tinius hatte sich in sein Schlafkämmerchen zurückgezogen, dasselbe von innen verriegelt und sich ins Bett gelegt. Er antwortete aber auf die an ihn durch die Thür gestellten Fragen, es ginge ihm immer noch schlecht, aber doch ein wenig besser als gestern.

Dann entfernte sich mein Großvater, der immer noch an der Hoffnung festhielt, Tinius würde ein offenes Sündenbekenntniß ablegen.

Als am Tage darauf die Wirthsleute von der Feldarbeit heimkehrten, fanden sie den Magister, vollständig angekleidet, mitten in der Wohnstube auf der Erde liegend – tot! Auf seinem Gesichte sowie an seinem Leibe sollen zahlreiche blaue Flecken sichtbar gewesen sein, so daß das ganze Dorf behauptete, Tinius habe sich vergiftet Man machte aber weiter kein Aufhebens davon, holte keinen Arzt zur Obduktion des Leichnams, sondern sargte diesen einfach ein.

Mein Großvater hat sich die Leiche nicht angesehen. Er glaubte nicht an das Gerücht von dem Selbstmord, und auch ich bin der Ansicht, daß die Annahme einer Vergiftung unhaltbar ist.

Als Tinius aufgefunden wurde, war er schon mehrere Stunden tot. Daß sich an ihm einige Flecken, die sogenannten „Totenmale“, vorfanden, ist ganz natürlich. Da er aber ein Mensch mit einer blutigen Vergangenheit war, so durfte er, nach der Ansicht der Dorfbewohner, auch keines natürlichen Todes gestorben sein. Deshalb fand man für die blauen Flecken, deren Anzahl durch die geschäftigen zungenfertigen Dorfweiber im Handumdrehen verdoppelt und verdreifacht wurde, nur die Erklärung: aus Gewissensbissen und weil er fürchtete, in der letzten Stunde schwach zu werden und ein Bekenntniß abzulegen, hat der Magister sich selber schnell vergiftet! . . .

Ich möchte beinahe genau das Gegentheil annehmen.

Unzweifelhaft war Tinius vor seinem Ende von den stärksten Gewissensbissen gefoltert. Als sie unerträglich wurden, sprang er auf, zog sich an, um zu dem Geistlichen zu eilen, dessen Milde und Güte er jahrelang kennengelernt hatte. Er wollte von ihm die Gnadenmittel der Kirche empfangen, an deren heilsame, versöhnende Wirkung er thatsächlich fest glaubte.

Es war zu spät! Ohne mit sich, mit der Welt, mit seinem Gott sich ausgesöhnt zu haben, stand er plötzlich vor dem höchsten Richterstuhle.

Mein Großvater hat ihn, wie jedes andere Mitglied seiner Gemeinde, christlich zur Ruhe bestattet. Niemand erhob Einspruch dagegen, daß das Grab mitten unter den andern aufgeworfen wurde. Von dem Makel des Selbstmordes war Tinius hierdurch offiziell gereinigt.

Er hat alle seine dunklen blutigen Geheimnisse mit sich ins Grab genommen. Kein Mensch hat jemals nach ihm gefragt. Weder Angehörige, noch eine Behörde wandte sich an meinen Großvater um Ausstellung eines Totenscheins. Er war für die Welt längst gestorben!




[349]

In der Bai von New-York.

Weltausstellungsbriefe aus Chicago.

Von Rudolf Cronau.
I.
Bunte Bilder und Erinnerungen von einer Reise.[1]

An Bord des Hamburger Schnelldampfers „Augusta Viktoria“ herrscht ein reges Leben. In dem mit verschwenderischer Pracht ausgestatteten Salon sind die Passagiere beim letzten Mahle versammelt, denn schon tauchen in blauer Ferne die langgezogenen Küstenlinien Amerikas empor, die Meerfahrt neigt ihrem Ende zu!

Sie hat einen programmmäßigen Verlauf genommen, und da unsere verehrten Leser nicht nur das Leben an Bord eines Schnelldampfers überhaupt, sondern auch die Prachträume der „Augusta Viktoria“ aus einer früheren Beschreibung (Jahrg. 1890, S. 249) kennen, so brauche ich nur wenig von der Ueberfahrt zu berichten.

Die Mehrzahl der Passagiere besteht aus Professoren, Schulmännern Musikern und Kaufleuten, und fast alle haben dasselbe Ziel, Chicago, die Weltausstellungsstadt am blauen Michigansee, um daselbst zu lernen, zu studieren oder zu genießen. Aus dem bunten Gemisch der Mitreisenden hebt sich eine kleinere Gruppe hervor von Schriftstellern und Künstlern, Vertretern der bedeutendsten deutschen Familienjournale und Zeitungen. Es ist ihnen die schwere Aufgabe zugetheilt worden, den zahllosen Daheimbleibenden die Weltausstellung, ihre Bauten und ihre Schätze in Worten oder Bildern zu schildern.

Eben klingen die Gläser zum Abschied zusammen, eben ist die letzte von Begeisterung überströmende Rede verhallt, womit die Helden der Feder die unvergleichliche Gastfreundschaft an Bord des schönen Fahrzeuges gefeiert haben, Und nun biegt die „Augusta Viktoria“ ein in die von Tausenden von Schiffen durchfurchte Bai von New-York und hält damit ihren Einzug in die Neue Welt.

Aus dem Nebelmeer, welches über der wallenden Wasserfläche braust, lösen sich allmählich einzelne Punkte, zunächst die bekannte Kolossalfigur der Freiheitsgöttin, deren hoch emporgehobener Fackel allabendlich in breiten Streifen ein Meer von Licht entströmt, dann das mächtige Rondell des Forts auf „Governors Island“, dahinter die Kirchen und Schlote von Brooklyn, ihnen gegenüber die gewaltigen Getreidespeicher von Hoboken und Jersey City. Aus dem Grau des Hintergrundes tauchen nun auch die Häusermassen des unteren Theiles von New-York empor, daneben die Riesenbrücke, die traumhaft, wie mit feinen Bleistiftlinien in die Lüfte gezeichnet, den gewaltigen East River überspannt und unter den Großthaten des alles wagenden, vor keiner Schwierigkeit zurückbebenden amerikanischen Unternehmungsgeistes eine der stolzesten ist.

Von Jahr zu Jahr nimmt dies bereits tausendmal beschriebene Städtebild phantastischere Formen an, mehr und mehr verbirgt sich das Wahrzeichen von „Down town“, der schlanke 284 Fuß hohe Thurm der Dreieinigkeitskirche, hinter himmelanstrebenden Riesenbauten, jenen spezifisch amerikanischen „Wolkenstürmern“, zwischen denen wir in immer neu erregtem Staunen dahinschreiten.

Doch New-York, die Metropole der Vereinigten Staaten von Nordamerika, zu schildern, fällt nicht in den Rahmen unserer Aufgabe, und so reißen wir uns nach kurzem Verweilen von der königlichen Beherrscherin der Meere los, um dem Westen zuzueilen. Wir besteigen einen der herrlichen Salonwagen der „New-York-Central und Hudson River Railroad Company“ und fliegen den amerikanischen Rhein, den Hudson, hinan.

Welch ein eindrucksvoller, malerischer Strom! Drüben auf dem jenseitigen Ufer erhebt sich eine gigantische, lothrecht abfallende Felsenmauer von nahezu zwanzig englischen Meilen Länge, die berühmten „Pallisaden“. Ueppiger Baumwuchs bedeckt den Scheitel dieser nackten, bis 120 Meter hohen Basaltwände, durch deren senkrechte tiefe Risse hie und da einzelne Bäche in schäumenden Kaskaden hinabstürzen.

Oberhalb dieser Mauer erweitert sich der Strom zu einem See von fast einer Meile Breite, dem „Tappan Zee“, an den sich späterhin noch ein zweiter mächtiger Wasserspiegel, die „Haverstraw Bay“, anschließt; dicht bewaldete Berge von bedeutender Höhe und wunderbaren Formen bilden an ihrem Nordufer ein entzückend schönes und großartiges Panorama, die sogenannten „Highlands“ des Hudson. „Anthonys Nose“, „Crow Nest“ und „Storm King“ sind gewaltige Kuppen, deren trotzige Felsennasen drohend über den quirlenden Fluthen hängen. Inmitten dieser großartigen Landschaft liegt das Gibraltar des Hudson, West Point mit seiner berühmten Militärakademie.

Nach mehrstündiger Fahrt breiten sich die Gestade des königlichen Stromes weiter aus und der Blick wird von einer fernen Gebirgskette, den „Catskill Mountains“ gefesselt, in der einige wolkenumzogene Gipfel die Höhen unseres Riesengebirges erreichen.

Gar manche moderne Schriftsteller, welche den Hudson befahren und die hohe landschaftliche Schönheit seiner Ufer nach Gebühr gewürdigt haben, meinten bedauernd, es fehle dem Strom jener Zauber der Romantik, mit dem die Poesie der Sage und einer nahezu zweitausendjährigen Geschichte den Rhein umkleide.

Weit gefehlt! Freilich sind die Berge nicht mit altersgrauen Burgen gekrönt, die Städte und Dörfer nicht von ehrwürdigen Domen überragt, auch weiß der Volksmund nichts von liebetrunkenen Burgfräulein, kampfesmuthigen Rittern und ewig durstigen [350] Klosterbrüdern zu berichten. Darum aber ist die geschichtliche Vergangenheit des Hudson nicht minder reizvoll und bedeutend.

War es doch dieser selbe Strom, welchen im Jahre 1609 der im Dienst der Niederländisch Ostindischen Compagnie stehende berühmte englische Seefahrer Henry Hudson hinauffuhr, der mit seinem kleinen Schiffchen „Halbmond“ unter mancherlei Abenteuern bis an den Fuß der Catskill Gebirge vordrang und durch seine Berichte über das herrliche Land und den großartigen Fluß den Unternehmungsgeist seiner Reeder so zu entflammen wußte, daß sie zur Gründung eines Kolonialreiches, Neu-Niederland, schritten. Auf „Manhattan Island“, welches sie für die Summe von 24 spanischen Thalern (etwa 100 Mark) von den Rothhäuten erwarben, erbauten sie das Fort Neu-Amsterdam.

Leider sollten die strebsamen Niederländer sich ihres Besitzes nicht lange erfreuen, denn die englischen Kolonisten, welche sich in Neu-England und in Maryland festgesetzt hatten, drangen Schritt für Schritt gegen den Hudson vor, nahmen zunächst das Thal des Connecticut, dann Long Island ein; und wenn auch die biederen Holländer wider diesen Einbruch in ihr Gebiet Verwahrung einlegten, so vermochten sie auf die Dauer dem mächtigen Druck der von beiden Seiten vordringenden Briten doch nicht zu widerstehen. Mit der Eroberung von Neu-Amsterdam im Jahre 1664 gingen sie ihres Besitzthums verlustig, dessen Name von den Engländern in New-York umgewandelt wurde.

Auch aus jenen großen Zeiten, wo das Geläute der Sturmglocken die Bewohner der 13 Kolonien zum Kampfe um die Freiheit rief, welche ihnen durch die Gewaltherrschaft des alten Mutterlandes verkümmert zu werden drohte, giebt es der Erinnerungen am Hudson noch viele. Da findet man Ruinen gewaltiger Forts, die auf den Höhen einzelner Berge oder in tiefem Waldesdunkel verborgen liegen; das scharlachrothe Laub des Sumach, dessen Büsche sich über die mächtigen, moosüberwucherten Quadern neigen, mag den Amerikaner gar oft an das Blut erinnern, welches seine Vorfahren im Kampfe für ihre Unabhängigkeit vergossen haben.

Bei Albany, der politischen Hauptstadt des Staates New-York, verläßt die Eisenbahn den Hudson, um in das liebliche Thal des Mohawk einzutreten. In breiten Windungen durcheilt dieser Fluß die ehemaligen Jagdgründe der von Cooper verherrlichten Mohawk-Indianer, eines dem großen Irokesenbunde angehörenden Stammes, gegen welchen die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hier ansässigen Hessen und Pfälzer schwere Kämpfe auszufechten hatten. Nun ist das Kriegsbeil lange schon begraben, die Hochfluth der europäischen Einwanderung, welche sich auch über dieses Thal ergoß, hat die rothen Urbewohner hinweggeschwemmt und nichts ist von ihnen übrig geblieben als einige der wohlklingenden Namen, mit denen sie die Berge, die Ströme und Seen ihrer Heimath bezeichneten.

Mit Befremden vernimmt der Europäer neben diesen indianischen Namen auch solche, welche ihn an die ältesten Kulturstätten der Menschheit erinnern: „Ilion“, „Utika“, „Troy“ (Troja), „Syrakuse“, „Memphis“, „Niniveh“, „Palmyra“, „Carthago“ etc.; es ist, als hätten sich die sämtlichen Städte des Alterthums auf diesem Boden ein Stelldichein gegeben. Selbstverständlich sind all diese Ortschaften, die ihre stolzen Namen der Laune einiger klassisch angehauchten Städtegründer verdanken, blutjunge Städte, nur wenig älter als das gleichfalls am Mohawk auf den Vorbergen der Adirondacks gelegene „Dolgeville“, das seinen Namen einem wackeren Deutschen, dem im Revolutionsjahr 1848 in Chemnitz geborenen Alfred Dolge, verdankt. In seinem äußeren Anblick unterscheidet sich dies liebliche Bergstädtchen durch nichts von vielen tausend ähnlichen Ansiedlungen, aber trotzdem wird sein und seines Begründers Name in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit dereinst mit Ehren genannt werden müssen. Die der Wohlfahrt der Arbeiterschaft gewidmeten Einrichtungen, welche durch Alfred Dolge hier ins Leben gerufen worden sind und sich praktisch aufs glänzendste bewährt haben, sind von ganz hervorragender Bedeutung.

Wir deutschen Journalisten und Künstler fanden in dem lieblichen, von Wäldern und Wasserfällen umrauschten Bergstädtchen die herzlichste Aufnahme; die deutschen Lieder und Reden, die bei deutschem Bier im dortigen Turnverein erklangen, ließen uns gar zu leicht vergessen, daß wir fern, fern der Heimath seien.

Nach eintägigem Verweilen ging es weiter gen Westen, und es war bereits Mitternacht, als sich mit dem Rasseln der Dampfwagen ein fernher kommendes Brausen mischte, als fahre ein mächtiger Windstoß über die Höhen und wühle in den Kronen der Bäume. Bald stärker, bald schwächer, je nachdem der Wind die Wellen herübertrug, scholl das tiefe Brausen durch die dunkle Nacht, und als bald darauf der Ruf „Niagara Falls“ die Mitreisenden elektrisierte, bestrebte sich ein jeder, so schnell wie möglich den dumpfen Wagen zu verlassen.

Mit Ungeduld sehnten wir den Tag herbei, doch als wir in der Morgenfrühe erwachten, hatte die Witterung vollständig umgeschlagen. Regenschwere Wolken zogen vom Eriesee herüber, verfingen sich in den Föhren und mischten sich mit den weißen Nebelschleiern, die gespensterhaft aus der tiefen Felsschlucht emporstiegen, in welche der Niagara, der Abfluß des Ecie- in den Ontariosee, herniederprallt.

Trotz des beginnenden Regens trat ich in Begleitung meines Herrn Kollegen von der „Kölnischen Zeitung“ die Wanderung nach den Fällen an, zunächst nach jenem weltbekannten Punkte, den ich meinen verehrten Lesern im Bilde vorgeführt habe.

Wer vermöchte es, dies überwältigende Schauspiel, dies rasende Vorwärtsstürzen eines entfesselten Elementes zu schildern, dies Chaos wild dahinstürmender Wogen, die, wie von der eigenen Wuth berauscht, dem Abgrund entgegentosen, als wollten sie Himmel und Erde mit sich in ihren Untergang reißen. Was hilft es ferner, wenn wir versuchen wollen, durch Mittheilung von Zahlen dem Leser die Größe der Wassermassen anschaulich zu machen, wenn wir ihm eröffnen, daß nach Berechnung englischer Gelehrten allstündlich gegen 100 Millionen Tonnen[2] Wassers über den Absturz schießen, was hilft ferner die Angabe, daß die Höhe der Fälle 154 Fuß und ihre Gesamtbreite fast eine englische Meile betrage? Mehr als ein bedeutender Schriftsteller hat, vor dem Niagara stehend, seinen Bankerott, seine Unfähigkeit erklärt, ein der Großartigkeit der Fälle auch nur annähernd entsprechendes Bild zu liefern, und so möge man eben selber kommen, um in schweigendem Staunen vor den Offenbarungen dieses Weltwunders zu vergehen. –

Ungeachtet der immer häßlicher werdenden Witterung setzten wir unsere Wanderung fort, überschritten den schwanken Steg, den die Kunst des Deutsch-Amerikaners Johannes Röbling vom amerikanischen Ufer über den brausenden Strom hinweg zum kanadischen Ufer gespannt hat, warfen einen Blick auf die Fälle von jener Seite aus, besuchten dann die den Niagara in zwei ungleiche Hälften theilende Ziegeninsel und kletterten hier bis zu jenem Pnnkt hinab, wo halsbrecherisch angelegte Stege es ermöglichen, bis unter den westlichen, den sogenannten „American Fall“, zu gelangen. Zur Sommerzeit, wenn die schlüpfrigen Stege nicht mehr mit Eismassen bedeckt sind, wagen es einzelne, mit kolossalen Filzpantoffeln und Gummianzügen ausgerüstete Abenteurer, in die Geheimnisse dieser Wasserwelt einzudringen. Es ist ein schmaler Arm des Falles, der sich hier so heftig über die Klippen schnellt, daß zwischen diesen und den stürzenden Fluthen ein schmaler freier Raum bleibt, die berühmte „Cave of the winds“, „die Höhle des Windes“.

Aus früheren Jahren stehen mir die ungeheuren, viele Fuß dicken Wassersäulen, die unablässig aus der Höhe herniederbrausen und ein Getöse verursachen, als seien Hunderte von mächtigen Dampfhämmern neben, unter und über uns in rasendster Thätigkeit, noch in lebhafter Erinnerung. Noch fühle ich im Geist den unsäglichen Druck auf Lunge, Ohren und Gehirn, noch sehe ich den grünlichen Dämmerschein, in dem wir über schleimüberzogene und unter der furchtbaren Erschütterung bebende Planken von Klippe zu Klippe tappten, und mit derselben Freude wie damals begrüße ich, nachdem die tolle Irrfahrt durch dies Bacchanal beendet, das hellleuchtende rosige Licht.

Von der Höhle des Windes gelangten wir weiter bis zu jenem Punkt, wo der größere, westliche Arm des Niagarafalles ein ungeheures Hufeisen, die sogenannten „Horseshoe Falls“, beschreibt. Später besuchten wir während des tollsten Unwetters drei kleine Felsenriffe, die „drei Schwestern“, welche am Südwestende der Ziegeninsel liegen und durch schmale Brücken mit ihr verbunden sind.

Welch eine eigenartig wilde, tief ergreifende Landschaft! Altersgrauer Urwald, aus dunklen Cypressen und wetterzerzausten Föhren bestehend, bedeckt die Inselchen, deren Gestein unter dem heftigen Anprall der Wogen erzittert. An die nackten Stämme klatschte der strömende Regen, die Aeste und Zweige wanden und neigten sich wie in wahnsinniger Angst, als seien sie bestrebt, sich den rauhen Griffen des Sturmes zu entziehen, der in mächtigen Stößen über die wirbelnden Fluthen fuhr.

[351] Bilder fern entlegener Zeit stiegen inmitten dieser einsamen, majestätischen Waldwildniß empor, im Sausen des Windes, im Aechzen der Bäume, im Brausen der Wogen glaubte ich den Sterbegesang jener drei von dem Dichter verherrlichten Indianer zu vernehmen, die auf schwankem Kanoe den Katarakt hinunterfuhren und freiwilligen Tod der Knechtschaft vorzogen.

Mit diesem Bilde im Herzen schieden wir vom Niagara, für immer aber wird die Sehnsucht in uns bleiben, aufs neue seinem Donner zu lauschen und uns in seine Wunder zu vertiefen. –

Von Buffalo aus folgt die nach Chicago führende „Michigan Central Bahn“ zunächst dem Rande des Eriesees, um dann den Staat Michigan und die nordwestliche Ecke von Indiana zu durchqueren. Unserem Ziele, der Hauptstadt von Illinois, sind wir nunmehr nahe.

Wieder drängen sich geschichtliche Erinnerungen mit Macht in den Vordergrund und haften an der Person eines französischen Abenteurers, welcher im letzten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts diese Länder durchzog und nichts Geringeres im Sinne hatte als die Gründung eines gewaltigen französischen Kolonialreiches, das sich von den Quellen des Mississippi bis zum Golf von Mexiko, von den Alleghanies bis zu den Felsengebirgen erstrecken sollte.

Kaum jemals war ein Mann zu solch großem Vorhaben mehr geeignet als dieser im Jahre 1643 zu Rouen geborene Robert Cavelier Sieur de la Salle, aber kaum jemals wurde ein mit gleich kühnem Geiste, mit gleichem Muth und Scharfblick, mit gleicher Entschlossenheit und beispielloser Ausdauer begabter Held so hartnäckig von Mißgeschick verfolgt wie dieser. Die Geschichte seiner sich über einen Zeitraum von vierzehn Jahren erstreckenden Wanderzüge im Gebiete der Großen Seen und des Mississippi sichert ihm unter den Pionieren des amerikanischen Westens unstreitig einen der ersten Plätze und wer weiß, wie heute die politischen Verhältnisse Nordamerikas beschaffen wären, hätte nicht eine tückische, von den eigenen Leuten entsandte Kugel den Plänen des kühnen Unternehmers ein vorschnelles Ende bereitet.

Das von La Salle begründete Vicekönigthum Louisiana überdauerte seinen Schöpfer nur kurze Zeit. Die Geschichte hatte andere Wandlungen im Sinne. Wie die auf dem Boden der heutigen Union gegründeten Kolonialreiche der Spanier, Holländer, Schweden und Engländer vergehen mußten, so mußte auch das großartig geplante Kolonialreich der Franzosen, Louisiana, zusammenbrechen, damit aus den Ruinen dieser Reiche jene machtvolle Republik emporblühen konnte, die für Millionen von Menschen eine neue glückliche Heimath geworden ist.

In der Ferne werden jetzt die Thürme, die Häuserkolosse von Chicago sichtbar, noch eine kurze Weile, und der Zug fährt schnaubend durch die Straßen der Riesenstadt, um unweit jener historischen Stelle zu halten, wo im Jahre 1803 jenes kleine Fort „Dearborn“ errichtet wurde, das den Keim zu der heutigen Weltstadt bildete. Von den Indianern niedergebrannt, später aber wieder aufgebaut, hatte die junge Ortschaft Chicago noch im Jahre 1831 jenes bescheidene Aussehen, wie unsere Schlußvignette es bietet. Dann aber, als Chicago der Mittelpunkt eines ausgedehnten Handels wurde, begann es sich auszudehnen, und während des letzten Menschenalters wuchs es zu jener Wunderstadt empor, deren fabelhafte Entwicklung einem Romane gleicht. 1833 nur 550 Einwohner zählend, beherbergt Chicago deren jetzt über 11/4 Millionen; früher ein armseliges Nest, das in wenigen Minuten umschritten werden konnte, nimmt es jetzt eine Oberfläche von 182 englischen Quadratmeilen ein; vor 50 Jahren fast gänzlich unbekannt, ist Chicago heute eine der meistgenannten Städte; und wohl der glänzendste Beweis für die selbst in der Geschichte des amerikanischen Westens ohnegleichen dastehende Leistungsfähigkeit seiner Bevölkerung ist es, daß Chicago, dies verhältnißmäßig so junge Gemeinwesen, es wagen durfte, die größte aller bisherigen Weltausstellungen ins Leben zu rufen und die gesamten Völker des Erdballs bei sich zu Gaste zu laden.


Chicago im Jahre 1831.




Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(20. Fortsetzung.)


„Wo ist Frau Dernburg und Fräulein Maja? Sie sind doch hoffentlich im Park und im Schutze des Hauses geblieben?“ Mit dieser hastigen Frage trat Doktor Hagenbach in den Salon, wo sich augenblicklich nur Fräulein Friedberg befand.

„Die Damen wollten zum Grabe des jungen Herrn, so viel ich weiß,“ antwortete sie erschrocken. „Es ist doch nichts vorgefallen?“

„Noch nicht, aber man kann nicht wissen, was die nächste Stunde bringt. Also zur Grabstätte sind die Damen gegangen? Nun, die liegt am Ende des Parkes, in entgegengesetzter Richtung von den Werken, da ist hoffentlich nichts zu fürchten. Es wäre aber doch gut, wenn sie bald zurückkämen.“

„Ich erwarte sie jede Minute – steht es denn so bedrohlich drüben auf den Werken?“

Hagenbach nickte und nahm dem Fräulein gegenüber Platz. „Leider! Die Beamten thun alles mögliche, damit die Ablohnung und Entlassung der Arbeiter sich in Ruhe und Ordnung vollziehe, allein das paßt dem Fallner und seinem Anhang nicht; die wollen um jeden Preis Lärm haben. Ein Theil der Leute hat die Absicht kundgegeben, morgen weiter zu arbeiten, die anderen haben das mit Drohungen und Schimpfereien beantwortet, schließlich ist es hier und da zu Thätlichkeiten gekommen – es scheint schon heut’ abend losbrechen zu wollen.“

Leonie faltete mit angstvoller Miene die Hände. „Mein Gott, was wird daraus werden! Herr Dernburg ist hart und unzugänglich wie Stein. Sie ahnen nicht, in welcher Stimmung er ist! Er wird allem Trotz bieten – ich schwebe in Todesangst!“

„Nun, das brauchen Sie nicht, wofür bin ich denn da?“ sagte Hagenbach mit Nachdruck. „Ich würde Sie nöthigenfalls [352] schon schützen. Doch diese Nothwendigkeit wird gar nicht eintreten. Das Haus und seine Bewohner sind unbedingt sicher, mag es da drüben auch zu noch so argen Ausschreitungen kommen. In jedem Falle können Sie auf mich rechnen.“

„Das weiß ich,“ entgegnete Leonie warm, indem sie ihm die Hand reichte, die der Doktor auch sehr bereitwillig nahm; er behielt sie auch gleich und dachte nicht daran, sie wieder frei zu geben. „Ich war heute morgen bei Ihnen,“ hob er wieder an, „bin aber nicht vorgelassen worden!“

Leonie senkte die Augen und ihre Stimme bebte, als sie leise antwortete: „Sie werden begreifen, daß es mir peinlich war, nach dem Erlebniß von gestern –“

„Bitte, ich kam nur als Arzt, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen,“ fiel Hagenbach ein. „Sie sehen angegriffen aus, haben vermuthlich eine schlaflose Nacht gehabt – ich übrigens auch!“

„Sie, Herr Doktor?“

„Nun ja, mir ging so allerlei im Kopfe herum, zum Beispiel, daß Sie ganz recht haben, wenn Sie mich für einen halben Bären halten. Es fragt sich nur, ob der Versuch lohnen würde, noch irgend etwas Menschliches aus mir zu machen. Was meinen Sie dazu?“

„Ich – ich meine gar nichts,“ sagte Leonie, mit einem vergeblichen Versuch, ihre Hand frei zu machen.

„Mir liegt aber an Ihrer Meinung ganz besonders,“ fuhr er fort. „Sehen Sie, mein Fräulein, wenn man so als alter Junggeselle durch das Leben läuft, ohne nach einem Menschen zu fragen, und mit dem Bewußtsein, daß auch kein Mensch nach einem fragt – das ist eine traurige Geschichte. Wenn man wenigstens noch eine Mutter oder Schwester besitzt, dann geht es allenfalls; ich aber habe nur den dummen Jungen, den Dagobert, und was ich an dem habe, das wissen Sie ja!“

„Aber Herr Doktor, müssen wir das denn gerade heute erörtern?“ versuchte Leonie auszuweichen. „In dieser Stunde, wo ganz Odensberg –“

„Odensberg wird uns hoffentlich den Gefallen thun, mit seiner Rebellion so lange zu warten, bis wir miteinander in Ordnung sind,“ unterbrach Hagenbach sie. „Und in Ordnung müssen wir jetzt kommen, das hab’ ich mir in der besagten schlaflosen Nacht feierlich gelobt. Ich war vorhin zum zweiten Male bei Ihnen, fand Sie aber nicht, Sie waren bei Frau von Ringstedt. Ich habe mir trotzdem die Freiheit genommen, einzutreten, denn ich wollte mir Ihren Schreibtisch einmal ansehen. Ueber diesem hängt jetzt das Bild Ihrer seligen Frau Mutter, und der gönne ich den Platz von Herzen, denn die ist in Ehren selig geworden. Sie haben kurzen Prozeß gemacht und tapfer aufgeräumt mit den alten Erinnerungen und deshalb – und darum – ja was wollte ich denn eigentlich sagen?“

Der Herr Doktor fing an, sich zu verwickeln. Er war bei seinem ersten Antrag mit der Thür ins Haus gefallen und wollte bei dem zweiten nun recht zartsinnig zu Werke gehen, allein dabei blieb er stecken. Doch er faßte einen raschen Entschluß, erhob sich und trat zu seiner Erwählten, „Ich habe Sie lieb, Leonie,“ sagte er mit einfacher Herzlichkeit, „und wenn ich auch ein derber Geselle bin – so im Handumdrehen läßt sich das ja nicht ändern – so meine ich es doch ehrlich und treu, und wenn Sie es mit mir wagen wollten, so würde mich Ihr Jawort sehr glücklich machen. Sie sagen nichts? Gar nichts? Darf ich das als ein gutes Zeichen nehmen?“

Leonie saß mit tieferglühenden Wangen und gesenkten Augen da, sie fühlte die ganze Großmuth und Herzensgüte des Mannes, den sie so herb zurückgewiesen hatte und der ihr nun von neuem Herz und Hand bot. Sie antwortete auch jetzt nicht, aber sie reichte ihrem Bewerber wortlos die Hand. Er verstand das auch vollkommen und brachte die Sache nun schleunigst in Ordnung, indem er seine Braut in die Arme nahm und küßte.

„Gott sei Dank, endlich sind wir so weit,“ sagte er aus tiefster Seele. „Ich werde es morgen dem Jungen, dem Dagobert schreiben. Nun kann er uns ein Hochzeitsgedicht machen und bei sonstigen passenden Gelegenheiten seine künftige Tante ansingen, das will ich ihm allenfalls erlauben.“

„Aber Herr Doktor,“ mahnte Leonie vorwurfsvoll.

„Peter heiß’ ich!“ unterbrach er sie. „Der Name gefällt Dir nicht, das weiß ich noch von früher her, er ist Dir nicht poetisch genug, aber ich bin nun einmal so getauft, und Du wirst Dich daran gewöhnen müssen. Fräulein Leonie Friedberg und Doktor Peter Hagenbach – so wird es auf den Verlobungskarten stehen.“

„Aber Du hast doch wohl noch andere Taufnamen außer dem einen?“ wagte die Braut einzuwerfen.

„Versteht sich! ‚Peter Franz Hugo‘ heiße ich.“

„Hugo? Wie schön! So werde ich Dich in Zukunft nennen.“

„Das verbitte ich mir,“ erklärte Hagenbach mit einer Entschiedenheit, die schon sehr an den künftigen Eheherrn erinnerte. „Peter heiße ich nach meinem Vater und Großvater, so bin ich stets genannt worden und so wird mich auch meine künftige Frau nennen.“

Leonie legte mit schüchterner Vertraulichkeit, die ihr sehr gut stand, die Hand auf den Arm des Bräutigams und sah ihm bittend ins Auge. „Lieber Hugo – findest Du nicht, daß das sehr schön klingt?“

„Nein!“ brummte der Doktor, indem er sich abwendete.

„Nun, wie Du willst, Hugo, ich richte mich darin ganz nach Deinen Wünschen. Aber Peter und Leonie paßt so gar nicht zusammen, das mußt Du doch einsehen.“

Hagenbach brummte wieder, doch diesmal schon um vieles sanftmüthiger. Er fand den Namen, in diesem Tone ausgesprochen, gar nicht so übel. Allein sofort tauchte die düstere Vorstellung von der Möglichkeit eines Pantoffelregimentes in ihm auf, und er fühlte sich verpflichtet, seine Oberherrschaft ein für allemal zu wahren. „Es bleibt bei dem ‚Peter‘!“ entschied er. „Darin mußt Du Dich fügen, Leonie.“

„Ich füge mich in alles,“ versicherte Leonie im weichsten Tone. „Ich bin ja überhaupt ein schwaches unselbständiges Wesen, das gar keinen eigenen Willen hat. Du wirst in unserer Ehe nie einen Widerspruch hören, lieber Hugo – aber willst Du mir wirklich die erste Bitte abschlagen am Verlobungstage?“

Dem lieben Hugo wurde es ganz schwül bei dieser weichen Stimme und diesen bittenden Augen, und seine Unerschütterlichkeit wie seine Oberherrlichkeit kamen bedenklich ins Wanken. „Nun, wenn es Dir so großes Vergnügen macht, kannst Du mich allenfalls so nennen“ gestand er zu. „Aber auf den Verlobungskarten steht –“

„Leonie Friedberg und Doktor Hugo Hagenbach! Ich danke Dir, Hugo, von ganzem Herzen danke ich Dir für diesen Beweis Deiner Liebe!“

Was wollte der arme Peter Hagenbach machen? Er steckte den Dank ein und deckte seinen schmählichen Rückzug damit, daß er seiner Braut einen Kuß gab. Bei diesem ersten Streite hatte der „schwächere“ Theil glänzend gesiegt und der stärkere war unterlegen – es mochte eine Vorbedeutung sein. –

Inzwischen empfing Dernburg in seinem Arbeitszimmer die Meldungen von den Werken, die nichts weniger als beruhigend lauteten. Sonst hatte ihn jeder ungewöhnliche Vorfall in der Mitte oder an der Spitze seiner Arbeiter gefunden, jetzt wich er jeder Berührung mit ihnen aus. Er hatte in der letzten Zeit keinen der Leute angeredet, keinen auch nur beachtet, obgleich er täglich seine Werke betrat.

In düsteres Sinnen verloren stand er, augenblicklich ganz allein, am Fenster, und als die Thüre geöffnet wurde, wandte er sich langsam um, in der Meinung, es treffe eine neue Meldung ein. In der nächsten Sekunde aber zuckte er zusammen und starrte den Eintretenden an, als traue er seinen Augen nicht.

„Egbert!“

Egbert schloß die Thür hinter sich und blieb dicht an der Schwelle stehen, während er leise sagte: „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich von meinem alten Rechte, unangemeldet einzutreten, noch einmal Gebrauch mache – es geschieht zum letzten Male.“

Dernburg hatte sich bereits wieder gefaßt, seine Augen blitzten drohend auf, aber seine Stimme klang eisig. „Ich habe allerdings nicht erwartet, Sie wieder in Odensberg zu sehen, Herr Runeck. Was führt den Herrn Abgeordneten zu mir? Ich dächte, wir beide hätten uns nichts mehr zu sagen.“

Runeck mochte einen solchen Empfang erwartet haben, aber sein Blick richtete sich doch vorwurfsvoll auf den Sprechenden. „Herr Dernburg, Sie sind zu gerecht, um mich für die Ausschreitungen verantwortlich zu machen, die am Abend des Wahltages stattgefunden haben. Ich war in der Stadt –“

„Ich weiß – mit Landsfeld! Und von dort wurde die Bewegung geleitet.“

Egbert erbleichte und trat rauh einen Schritt näher. „Soll der Vorwurf auch mir gelten? Ist es denn möglich, daß Sie glauben, ich hätte Antheil an jenen Beleidigungen, ich hätte darum gewußt und sie nicht verhindert?“

[353]

Die Niagara-Fälle von der amerikanischen Seite aus.
Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

[354] „Lassen wir das“, sagte Dernburg in demselben kalten Tone. „Wir sind jetzt nur noch politische Gegner, Herr Runeck. Als solche werden wir uns wohl bisweilen im öffentlichen Leben treffen, anderweitige Beziehungen aber giebt es nicht mehr zwischen uns. Wenn Sie mir wirklich noch Mittheilungen zu machen haben, so würde ich den schriftlichen Weg vorziehen. Da Sie jedoch einmal hier sind – was wünschen Sie von mir?“

„Ich konnte den schriftlichen Weg nicht wählen“, entgegnete Runeck fest. „Wenn mein Kommen Sie befremdet –“

„Durchaus nicht! Es wundert mich nur, daß Sie mich hier in meinem Arbeitszimmer aufsuchen. Ihr Platz ist doch wohl drüben auf den Werken, bei Ihren Wählern, die eben dabei sind, die Vorgänge des Wahltages zu wiederholen. Wollen Sie sich nicht an ihre Spitze stellen, um sie gegen mich zu führen? Ich bin bereit zu dem Gange!“

Man sah es dem jungen Ingenieur an, wie tief ihn diese grausamen Worte verwundeten, er war nicht mehr imstande, seine ruhige Haltung zu bewahren. „Herr Dernburg, nicht diesen Ton!“ fuhr er auf. „Schütten Sie Ihren ganzen Zorn über mich aus, ich will es tragen, aber sprechen Sie nicht in dieser Weise zu mir – eine solche Strafe habe ich nicht verdient.“

„Strafe? Ich dächte, Du wärest meiner Zucht entwachsen,“ sagte Dernburg, der jetzt wirklich den höhnischen Ton fallen ließ mit tiefer Bitterkeit. „Noch einmal, was willst Du hier? Mir vielleicht Deinen Schutz anbieten gegen die da drüben? Ihrem Abgeordneten werden sie ja wohl folgen auf den bloßen Wink. Ich danke Dir, ich werde allein mit ihnen fertig. Die Hälfte der Leute bereut den erzwungenen Beschluß, die Arbeit heute niederzulegen, und wird morgen wiederkommen. Aber ich verbiete ihnen die Arbeit, wenn sie sich nicht bedingungslos unterwerfen und sich lossagen von ihren Führern.“

„Herr Dernburg –“

„Das werden sie nicht wagen, meinst Du? Ich glaube es, Ihr haltet sie noch zu fest an der Kette. Gut, dann ist der Krieg offen erklärt. Sie haben mich erst zum äußersten gezwungen, jetzt will ich dies äußerste!“

Runeck schwieg einige Sekunden lang, dann sagte er mit düsterem Ernste: „Das ist ein schweres Wort!“

„Das weiß ich! Denkst Du, ich kenne nicht die Tragweite des Kommenden, wenn die Zehntausend meiner Werke wochenlang, vielleicht monatelang feiern? Die Leute werden ins Elend, in die Verzweiflung getrieben und ich muß das mit ansehen. Aber die Verantwortung dafür fällt auf Dich und Deinesgleichen, Ihr habt mir keine Wahl gelassen. Ein Menschenalter lang war Friede und Segen in Odensberg, und was ein Mann thun kann für seine Arbeiter, das habe ich gethan. Ihr habt die Zwietracht, den Haß hereingetragen, die Drachensaat ist aufgegangen, nun seht zu, wie Ihr mit der Ernte fertig werdet!“

Er wandte sich heftig ab und schritt einigemal durch das Zimmer. Dann blieb er vor dem jungen Ingenieur stehen, der finster und mit gesenkten Augen dastand, ohne zu antworten. „Du hast wohl Furcht bekommen vor den Geistern, die Du selbst gerufen, und möchtest jetzt den Vermittler spielen?“ fragte er mit herbem Spotte. „Du wärst der letzte, dem ich ein solches Recht zugestehe! Ich will überhaupt nichts von Vermittlung hören. Zwischen mir und den Odensbergern ist das Band zerrissen, wir haben hinfort nur noch als Feinde miteinander abzurechnen.“

„Ich kam nicht als Vermittler,“ sagte Egbert, sich emporrichtend. „Mein Kommen hat überhaupt mit dieser Angelegenheit nichts zu thun. Was mich herführt, ist eine peinvolle Pflicht, der ich mich nicht entziehen kann. Es betrifft den Freiherrn von Wildenrod, dem Sie Majas Hand zugesagt haben.“

Dernburg stutzte und sah ihn betroffen an. „Du weißt von dieser Verbindung? – Doch gleichviel, ich mache kein Geheimniß mehr daraus.“

„Und ich erfuhr es zum Glücke noch rechtzeitig, um dazwischenzutreten.“

„Willst Du Einspruch dagegen erheben?“ fragte Dernburg scharf. „Es gab eine Zeit, wo ich einen solchen Einspruch hätte gelten lassen, wo Dir der Weg zu Majas Hand und Herz offen stand – Du weißt, was ihn Dir verschloß. Du hast auch Deine Liebe Deiner ‚Ueberzeugung‘ geopfert wie alles andere.“

„Ich habe Maja nie geliebt,“ entgegnete Runeck fest. „Ich habe in ihr immer nur die Jugendgespielin, die Schwester Erichs gesehen und nie andere Gefühle als die eines Bruders für sie gehegt.“

Die Erklärung wurde mit einer solchen Bestimmtheit gegeben, daß ein Zweifel daran nicht möglich war. „Dann habe ich mich also auch hier geirrt,“ sagte Dernburg langsam. „Aber was geht Dich dann die Heirath meiner Tochter an?“

„Ich will Maja davor bewahren, die Beute eines – Schurken zu werden.“

„Egbert, bist Du von Sinnen?“ fuhr Dernburg auf. „Weißt Du, was Du sprichst? Diese unsinnige Anklage –“

„Werde ich beweisen. Ich hätte längst gesprochen, aber erst jetzt ist es mir gelungen, die Beweise zu erhalten, erst jetzt habe ich den Plan des Freiherrn erfahren, mit Majas Hand auch Odensberg an sich zu reißen. Jetzt muß ich reden und Sie müssen mich anhören.“

Dernburg war bleich geworden, aber noch wehrte er sich gegen das Unerhörte, das ihm undenkbar schien. „Ich werde sie vollgültig von Dir fordern, die Beweise,“ versetzte er drohend. „Und nun sprich, ich höre!“

„Freiherr von Wildenrod gilt hier für reich,“ hob Egbert in gedämpftem Ton an, „er besitzt jedoch nicht das Geringste. Er mußte vor zwölf Jahren die diplomatische Laufbahn verlassen, weil der Ruin seines Vaters ihn aller Mittel beraubte. Der alte Freiherr erschoß sich und die Familie dankte es nur ihrem alten Namen, daß der Landesfürst für sie eintrat. Er kaufte die Güter, die überschuldet waren, befriedigte die Gläubiger und zahlte der Witwe bis an ihr Lebensende eine kleine Pension. Der Sohn verließ Deutschland und blieb lange für seine Heimath verschollen.“

Dernburg hörte mit finster zusammengezogenen Brauen zu. Er hatte einst eine andere Auskunft empfangen, die freilich keine direkte Unwahrheit enthielt, aber doch das Entscheidende, den Ruin der Familie, verschwieg.

„Ich lernte Oskar von Wildenrod schon vor drei Jahren kennen,“ fuhr Runeck fort. „Es war in Berlin, im Hause einer Frau von Sarewski, einer reichen verwitweten Dame, die auf großem Fuße lebte. Ich gab ihren Kindern Zeichenunterricht, sah sie dabei öfter und entwarf auf ihren Wunsch für den geplanten Umbau ihrer Villa eine Skizze, die ihren Beifall fand. Sie wollte mir wohl ein Zeichen der Anerkennung geben, indem sie mich zu einer ihrer Abendgesellschaften einlud. Ich durfte das nicht ablehnen, denn ich war zur Fortsetzung meiner Studien auf den Zeichenunterricht angewiesen. Völlig fremd in dem großen Kreise, der mir nicht das mindeste Interesse abgewann, zog ich mich an jenem Abend in ein Nebenzimmer zurück, wo der Bruder der Dame des Hauses mit einigen Herren beim Spiele saß. Unter ihnen befand sich auch Freiherr von Wildenrod, der, wie ich aus dem Gespräch entnahm, seit drei Monaten in Berlin war und den ganzen Winter dort zubringen wollte. Er wurde beim Spiel auffallend vom Glücke begünstigt, während die anderen ebenso entschiedenes Unglück hatten. Der Bruder der Frau von Sarewski, ein leidenschaftlicher Spieler, trieb die Einsätze immer höher und gerieth in immer größere Verluste, während Wildenrod bereits ein kleines Vermögen gewonnen hatte. Mich widerte dies ganze Treiben an und ich war eben im Begriff, mich zu entfernen, als ein älterer Herr, ein Graf Almers, der sich gleichfalls unter den Mitspielern befand, plötzlich die Hand des Freiherrn packte, sie festhielt und ihn mit wuthbebender Stimme einen Falschspieler nannte.“

„Das hast Du selbst gesehen?“ fiel Dernburg heftig ein.

„Mit eigenen Augen! Ich war auch Zeuge dessen, was nun folgte. Die Herren sprangen auf, alles gerieth in Bewegung, das laute Hin- und Herreden rief noch andere Gäste herbei, auch Frau von Sarewski erschien. Sie bat und beschwor die Anwesenden, die Sache ruhen zu lassen und ihr Haus mit einem öffentlichen Skandal zu verschonen. Wildenrod spielte den Empörten, Tiefbeleidigten, er drohte, den Grafen zu fordern, benutzte aber diese Empörung als Vorwand, um sich schleunigst zu entfernen. Jetzt erklärte Graf Almers, er sei dem Betrüger schon seit längerer Zeit auf der Spur, habe aber erst heute Gelegenheit gefunden, ihn zu entlarven. Er bestand auf Verfolgung der Sache, da Wildenrod in den ersten Kreisen verkehre und man derartige Elemente rücksichtslos ausstoßen müsse. Den Bitten der Frau von Sarewski und den Vorstellungen ihres Bruders gelang es endlich, die Zeugen zum Schweigen zu bewegen, unter der Bedingung, daß Wildenrod zur sofortigen Abreise veranlaßt werde. Das war überflüssig; dieser dachte weder daran, den Grafen zu fordern, noch Rechenschaft zu geben. Am andern Morgen erfuhr man, daß er noch in der Nacht abgereist sei.“

[355] Es waren einfache Thatsachen, die Runeck berichtete, aber seine Haltung und sein Ton gaben der Erzählung einen furchtbaren Nachdruck. Man sah, wie vernichtend diese Enthüllungen den Zuhörer trafen, obgleich er kein Zeichen der Theilnahme gab. „Weiter!“ sagte er kurz und rauh.

„Ich sah und hörte nichts weiter von Wildenrod bis zu dem Augenblick, wo er hier in Odensberg als Erichs Schwager erschien. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick, während er sich meiner Persönlichkeit wohl nicht mehr erinnerte; eine Andeutung, die ich machte, wies er mit Hochmuth zurück.“

„Und Du verschwiegst mir das? Du sprachest nicht sofort?“

„Hätten Sie mir geglaubt, ohne Beweise?“

„Nein, aber ich hätte Nachforschungen angestellt und die Wahrheit erfahren.“

„Das that ich an Ihrer Stelle. Ich besaß vielfache Beziehungen in Berlin, die ich jetzt benutzte, ich wandte mich nach der Heimath Wildenrods und nach Nizza, wo Erich jene Bekanntschaft gemacht hatte. Es war nicht meine Schuld, daß Monate darüber vergingen. Was Sie irgend hätten thun können, das geschah durch mich, und mir als einem Fremden stand man offener Rede, als es Ihnen gegenüber der Fall gewesen wäre. Ich dachte freilich trotzdem daran, Sie wenigstens vorläufig zu warnen, aber dann hätten Sie vermuthlich das Band zerrissen, an dem Erichs Lebensglück hing, und das hätte ihm den Tod gegeben. Er sagte, als ich einmal scheinbar absichtslos auf eine solche Möglichkeit hindeutete, es mir selbst, Cäciliens Verlust würde sein Tod sein. Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach – solche Folgen konnte und wollte ich nicht auf mich nehmen.“

„Cäcilie?“ wiederholte Dernburg mit aufblitzendem Argwohn. „Ganz recht, sie wird ja in erster Linie dadurch betroffen. Welche Rolle spielte sie bei der Sache? Was wußte sie davon?“

„Nichts, nicht das geringste! Sie lebte ahnungslos an der Seite des Bruders, den sie für reich hielt. In diesem Wahn ist sie Erichs Braut geworden; erst hier in Odensberg erfuhr sie durch mich, daß irgend etwas Schweres, Dunkles in ihres Bruders Vergangenheit liege. Was es war – das hatte ich nicht das Herz, ihr zu sagen, aber die Art, wie sie meine Andeutungen aufnahm, gab mir den überzeugenden Beweis, daß ihr auch nicht der leiseste Vorwurf zu machen ist.“

Das tiefe erleichterte Aufathmen Dernburgs verrieth, wie sehr er gefürchtet hatte, daß auch auf seine Schwiegertochter ein Schatten fallen könnte. Ein kaum hörbares „Gott sei Dank!“ kam von seinen Lippen.

Egbert zog eine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Anzahl von Papieren „Hier ist ein Brief des Grafen Almers, der mit seinem Ehrenwort für seine damalige Behauptung eintritt; hier sind Berichte über die Vorgänge beim Tode des alten Freiherrn und hier Nachrichten aus Nizza. Erich muß blind gewesen sein oder man hat ihn absichtlich von jeder anderweitigen Beziehung ferngehalten, sonst hätte er wissen müssen, daß sein Schwager in ganz Nizza bereits für eine zweideutige Persönlichkeit, für einen gewerbsmäßigen Spieler galt. Wie er sein ‚Glück‘ zu erzwingen wußte, das ahnte man vielleicht da und dort, zu beweisen war es nicht, und das gab ihm die Möglichkeit, seine äußere Stellung zu behaupten.“

Dernburg nahm die dargereichten Papiere und trat zugleich zum Tische, wo sich die Klingel befand. „Vor allen Dingen muß ich Wildenrod selbst hören! Du scheust Dich doch hoffentlich nicht, ihm Deine Anklage ins Gesicht zu wiederholen?“

„Das that ich soeben, ich komme aus seinem Zimmer. Es war ein letzter Versuch, die Sache schonend zu erledigen, er ist gescheitert. Der Freiherr weiß, daß ich in dieser Stunde Ihnen alles enthülle – er ist mir nicht gefolgt, um sich zu verantworten.“

„Gleichviel, er soll mir Rede stehen!“ Dernburg drückte auf die Klingel und rief dem eintretenden Diener zu: „Ich lasse Herrn von Wildenrod bitten, sofort zu mir zu kommen!“

Der Diener ging; eine lange schwere Pause trat ein. Man hörte nur das Knittern der Papiere, die Dernburg eins nach dem anderen öffnete und durchsah; er wurde immer bleicher dabei. Egbert verharrte schweigend und unbeweglich an seinem Platze – so verrannen die Minuten. Es dauerte lange, sehr lange, bis die Thür sich von neuem öffnete, aber nicht Wildenrod, sondern der Diener trat wieder ein. „Der Herr Baron ist nicht in seinen Zimmern und überhaupt nicht im Hause zu finden,“ berichtete er. „Vielleicht ist er schon abgefahren.“

„Abgefahren? Wohin?“

„Wahrscheinlich nach der Stadt. Er hat befohlen, den Wagen anspannen zu lassen und an der hinteren Parkpforte vorzufahren. Er wird schon fort sein.“

Ein stummer Wink verabschiedete den Diener, und dann brach die Selbstbeherrschung Dernburgs zusammen. Er sank in einen Sessel, und ein Ausruf der Verzweiflung entrang sich seinen Lippen. „Mein Kind! Meine arme arme Maja! Sie liebt diesen Mann mit ganzer Seele!“

Es lag etwas Erschütterndes in dem Schmerze des Mannes, der mit ungebeugter Stirn in einen Kampf ging, welcher seine Existenz bedrohte, der aber das Unglück seines Lieblings nicht ertragen zu können schien.

Egbert trat zu ihm und beugte sich nieder. „Herr Dernburg!“ sagte er mit bebender Stimme.

Eine finster abwehrende Bewegung wies ihn zurück. „Geh! Was willst Du?“

„Erich ist tot, und den Mann, der an seine Stelle treten sollte, müssen Sie verwerfen. Geben Sie mir nur einmal noch, nur für diese Stunde das Recht, das ich einst besaß.“

„Nein!“ rief Dernburg, sich emporrichtend, und die alte starre Härte lag wieder in seinen Zügen. „Du hast Dich losgesagt von mir und den Meinen, Du hast das Recht verwirkt, das Leid mit uns zu tragen. Geh hinüber zu Deinen Freunden und Genossen, die jetzt wie eine losgelassene Meute gegen mich anstürmen, denen Du mich geopfert hast! Zu ihnen gehörst Du, dort ist Dein Platz! Sie haben mir Schlimmes angethan, Du aber das Aergste, denn Du standest meinem Herzen am nächsten. Von Dir will ich keine Theilnahme und keine Stütze – eher ginge ich zu Grunde!“

Er schritt in die anstoßende Bibliothek und schmetterte die Thür hinter sich zu. Die Brücke zwischen ihm und Egbert war abgebrochen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 53 des Jahrg. 1892.)

278) Die am 14. Juni 1849 zu Seifersdorf, Kr. Falkenberg in Schlesien, geborene Köchin Johanna Gabriel, welche vor vielen Jahren in Aachen und Köln gedient haben soll, wird von ihrer betagten Mutter gesucht.

279) Der Feilenhauergehilfe Ottomar Oscar Merz, geb. den 3. Jan. 1845 zu Schwarzenberg in Sachsen, am rechten Arme geschwächt, ging zu Ende März 1875 in die Fremde, ohne jemals Nachricht zu geben. Seine hochbejahrte Mutter und eine Schwester harren in Sehnsucht seiner.

280) Engelbert Buhmüller, Schlosser, geb. am 1. Jan. 1857 zu Konstanz, übersandte im April 1887 aus Mannheim seinen Angehörigen Koffer und Kleider von sich und Briefe, in denen er ihnen seinen letzten Gruß zuruft. Seitdem ist Buhmüller verschwunden; weder ein gleich nach Ankunft der Sendung von seinen Brüdern abgesandtes Telegramm traf ihn mehr, noch konnte er später mit Hilfe der Polizei aufgefunden werden.

281) Das einzige Kind seiner Eltern, der Schulknabe Ernst Robert Puppe, geb. am. 11. Jan. 1879 zu Georgenthal (Kirchspiel Wilhelmsdorf) in Schlesien, hat sich am 10. September 1891 mittags aus seiner elterlichen Wohnung in Dresden entfernt und ist seitdem verschollen. Puppe ist von schmächtiger Gestalt mit blondem Haar, er war mit grauem Anzug bekleidet und barfuß.

282) Zwei Bruder verschollen: Wilhelm Witt, geb. am 7. Mai 1853 zu Wertheim a. M., seines Zeichens Bierbrauer und Küfer, welcher im Jahre 1880 aus Chicago schrieb, dann aber nach St. Paul, Minn., und Milwaukee gegangen sein soll, und der Kaufmann Alexander Witt, geb. am 7. Febr. 1856 ebenda, der bei der Panamakanal-Gesellschaft thätig war und später mit einem Herrn Beste unter der Firma E. Beste u. Co. ein Geschäft in Colon (Centralamerika) gegründet hatte.

283) Der taubstumme Papiermüller Robert Carl Eitrich, geb. am 7. April 1825 zu Stobnica, Kreis Obornik, hat sich bis zum Jahre 1885 in Berlin aufgehalten, ist aber trotz polizeilicher Nachforschung daselbst nicht mehr aufzufinden.

284) Der Eisendreher Adolf Gustav Rudolf Primke, geb. am 18. Aug. 1867 zu Striese, Kr. Trebnitz in Schlesien, schrieb von Gassen in der Lausitz im Jahre 1889, daß er in der Spandauer Gewehrfahrik Arbeit suchen wolle. Seitdem ist von Primke jede Nachricht ausgeblieben. Eine Anfrage in Spandau ergab, daß sich Primke dort nicht aufhält.

285) Adolph Baron von Knüpfer, Professor der Malerakademie, welcher am 9. Jan. 1824 zu Weimar geboren wurde, hielt sich im Jahre 1869 in Brasilien auf, ließ aber seit dieser Zeit nichts mehr von sich hören.

286) Im Mai 1885 hat sich der Bäcker Daniel Schnippering von Haspe in Westfalen, wo er am 7. Juli 1848 geboren ist, entfernt, und im März 1886 gab er das letzte Lebenszeichen von sich aus Australien.

[356] 287) Heinrich Schrader, geb. am 10. November 1850 zu Dinklar bei Hildesheim, der in den Jahren 1877 bis 1879 zu Göttingen Philologie studierte und dann ein Jahr lang in Ratibor als Lehrer angestellt war, nahm im Jahre 1881 seinen Wohnsitz in Paris, wo er aber trotz der Bemühungen des deutschen Konsulats nicht mehr aufzufinden ist.

288) Braugehilfe Gerhard Wilhelm Heilmann, geb. am 7. Mai 1850 zu Osnabrück, hat seit Mai 1876 seine Heimath verlassen, um über Havre nach New-York zu reisen. Von Havre hat derselbe, während der Dampfer anlegte, die letzte briefliche Nachricht gegeben.

289) Der Böttcher Friedrich Karl August Rudolf Scheffler, geb. am 6. Juni 1861 zu Ichstedt bei Ringleben (Kyffhäuser) hat vor einigen Jahren noch in Osnabrück gelebt, ist aber dort nicht mehr aufzufinden.

290) Heinrich Carl Schmidt, geb. den 4. August 1833 zu Braunschweig, war von 1865 bis 1866 Makler in Braunschweig und hatte Ende der sechziger Jahre mit einem Herrn Graf zusammen in Nienburg a. d. Weser ein Cigarrengeschäft. Von da ab fehlt jedes Lebenszeichen von Schmidt.

291) Von seinen bekümmerten Eltern wird gesucht der am 20. Sept. 1863 zu Zwönitz geborene Bäcker Paul Alban Richter. Seit seiner Nachricht vom April 1880 aus Breslau ist von Richter nichts gehört worden.

292) Der Ingenieur Wilhelm Steuer, geb. am 30. Dezember 1844 zu Leobschütz in Schlesien, siedelte im Jahre 1871 nach Brasilien über, von wo er aus Curitiba zuletzt im Jahre 1881 schrieb.

293) Eine alte Mutter verlangt nach ihrem Sohne, dem Bürstenarbeiter und Handelsmann Franz Albert Ebert, geb. am 12. April 1865 zu Rothenkirchen, von dem die letzte Kunde 1889 aus Stargard in Pommern kam.

294) Emil Arthur Kumschlies, geb. den 29. Jan. 1872 zu Schmelz b. Memel, ist als Seemann am 24. Aug. 1891 auf der Fahrt von Ostindien in Amsterdam angekommen, aber seitdem nicht mehr aufzufinden.

295) Im November 1887 schrieb der am 20. März 1852 zu Güstrow in Mecklenb. geborene Bäcker Hermann Bahl aus Albany in Westaustralien, daß er mit dem Dreimaster „Bithern“, auf dem er als Schiffskoch oder Stewart angestellt war, nach Sidney fahren würde. Briefe, die er sich nach Adelaide und Melbourne erbeten hatte, kamen jedoch als unbestellbar zurück, und eine Anfrage in Sidney ergab, daß das genannte Schiff ohne Bahl dort angekommen sei.

296) „O Martin, kehre heim zu Deiner gramerfüllten schwachen Mutter, zu Deinem Dich liebenden Vater, Deinen Geschwistern!“ Dieser Schmerzensschrei gilt dem Bäckergesellen Hermann David Martin Gloge, geb. zu Schosdorf in Schles. am 23. Febr. 1870, welcher im Oktober 1888 in die Fremde ging und zuletzt im Juni 1891 von Lumpzig, Sachs.-Altenburg, schrieb. Später hat Gloge einmal im Stadtkrankenhause zu Boizenburg gelegen.

297) Die letzte Nachricht von dem Zimmermann und Seemann Georg Friedrich Franz Gelzinnes, der am 7. Dezemb. 1860 zu Memel geboren wurde, kam aus dem Hospital zu Newcastle in Neu-Süd-Wales, wo er krankheitshalber Aufnahme gefunden hatte.

298) Seit dem großen Brande im Frühjahr 1888 zu St. Augustine (Florida) ist Friedrich Ludwig Ponaß, welcher in einem Hotel angestellt war, das bei diesem Brande zerstört wurde, verschwunden. Ponaß ist geboren am 10. Dezemb. 1866 zu Hainichen in Sachsen, seines Zeichens war er Tischler.

299) Um ein Lebenszeichen wird von seiner Frau und den Kindern gebeten der Tischler Wilhelm Renner, der am 3. März 1843 zu Koburg geboren ist. Dem Vermißten fehlt an einer Hand ein Fingerglied.

300) Clara Dose, geborene Hamburgerin, war noch im Jahre 1882 als Erzieherin auf einem Schloß Jistebnitz bei Tabor in Böhmen angestellt, und Mathilde Behm, geb. Dose, hielt sich im Jahre 1880 in Argentinien auf. Beide sind seitdem verschollen.

301) Am 21. Febr. 1892 hat der zu Hermsdorf, Kr. Landeshut, Schles., am 15. März 1875 geborene Karl August Wilhelm Dittmann mit dem Eisenbahnzug (in der Richtung Berlin) Sorau, wo er bei einem Kaufmann als Lehrling angestellt war, verlassen, und bis heute ist nicht zu ermitteln gewesen, wohin er sich gewandt hat.

302) Der Goldarbeiter August Ullrich, welcher am 20. Juli 1854 zu Wien geboren ist und im Jahre 1889 sich in Meran aufhielt, wird um Nachricht gebeten.

303) Von seinem armen alten Vater wird gesucht der Schuhmacher Karl Wilhelm Ecke, welcher am 17. Juli 1853 zu Ermsleben a. Harz geboren ist. Ecke hat an der linken Seite des Halses eine Narbe.

304) Im Herbst 1872 ging der am 6. Juni 1855 zu Sonderburg auf Alsen geborene Christian Thomsen als Schiffsjunge zur See, er lernte in Neuseeland das Tischlerhandwerk und fand später als Geselle in Melbourne Stellung, von wo er das letzte Mal im Jahre 1882 schrieb.

305) Robert Friedrich Carl Gabriel, geb. am 11. März 1869 zu Leipzig, ging nach Brasilien, war dort als Schullehrer und Kaufmann thätig und hielt sich in Victoria und Sao Leopoldo auf. Seit März 1892 ist jedwede Nachricht von ihm ausgeblieben.

306) Hermann Reimers, geb. 9. Januar 1873 zu Lüdingworth (Hannover), trat am 1. Oktober 1888 in ein Uhrengeschäft in Hannover als Lehrling ein. Am 20. Febr. 1891, abends 7 Uhr, ist er vom Geschäft nach seiner Wohnung gegangen, hat dieselbe nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen und seitdem nichts mehr von sich hören und sehen lassen.

307) Seit etwa dem Jahre 1889 ist der Koch und Reitkünstler Gustav Adolf Fäs, geb. am 12. Juli 1867 zu Neuchâtel in der Schweiz, spurlos verschwunden.

308) Der am 20. Febr. 1864 zu Kleutsch in Schles. geborene Stellmachergeselle Heinrich Grünwald, welcher sich im Januar 1889 zu Olbersdorf bei Frankenstein in Schles. abgemeldet hat, um nach Frankfurt a. d. O. zu gehen, ist daselbst nicht aufzufinden. Grünwald trägt auf einem Arm das Stellmacherwappen in blauer Tätowierung, ferner auf der rechten Backe eine und an dem linken Handballen zwei Schrammen.

309) Der Inspektor oder Oekonom Emil Buchsteiner, geb. den 19. Mai 1844 zu Allenburgshausen, Kreis Wehlau, Ostpr., machte die Kriege von 1866 und 1870/1871 mit und hielt sich später im Westen Deutschlands auf. Seine alte Mutter hofft, noch einmal etwas von ihrem Sohne zu hören.

310) Der Tischlergehilfe Anton Obst, geb. am 1. Juni 1856 zu Pecin in Böhmen, ist seit seiner letzten Nachricht vom September 1890 aus Jundiahy in Brasilien verschollen.

311) Ein Elternpaar lebt in tiefster Bekümmerniß, weil es von seinem am 6. Dezemb. 1877 in Wien geborenen Sohne, Carl Joerg, seitdem er im Juli 1892 aus seiner Stellung als Kaufmannslehrling in Budapest fortgelaufen ist, nichts mehr erfahren hat.

312) Der Buchbinder Friedrich Adolf Maximilian Wermer, geb. am 9. März 1857 zu Leipzig, hat sich am 30. Oktob. 1892 in Breslau polizeilich abgemeldet und ist seitdem nicht mehr gesehen worden.

313) Im Jahre 1877 hat sich der 1853 zu Plaidt, Bezirk Coblenz, geborene Sammetweber Mathias Arenz in Viersen bei Crefeld abgemeldet, um nach Aachen zu gehen, er ist aber dort eingezogener Mittheilungen zufolge nicht angekommen.

314) Seit seiner letzten Nachricht aus Sidney im Jahre 1891 wird der Arbeiter Franz Wilhelm Emil Schiel, geb. am 25. März 1864 zu Magdeburg, vermißt.

315) Der Müller Friedrich Ferdinand Krause, welcher am 26. Dezemb. 1847 zu Jersleben geboren ist, ließ im November 1888 aus Marienburg in Westpr. das letzte Mal von sich hören.

316) Von seiner Schwester gesucht wird der im Jahre 1832 oder 1833 in Kurland geborene Schiffer Alexander Kochyus, der in Holland verheirathet war und sich 1879 in Montevideo aufhielt.

317) Vater und Sohn verschollen! Der Oekonom Julius Caesar Adler, geb. im Jahre 1822 zu Lommatzsch in Sachsen, und dessen Sohn Johann Clemens, geb. am 12. Aug. 1845 zu Medzibor, schrieben zuletzt im Jahre 1854 oder 1856 aus Tioga und betheiligten sich später am amerikanischen Kriege, seit welcher Zeit sie spurlos verschwunden sind.

318) Georg August Hugo Heinrich Geisler, geb. am 23. Juli 1861 auf der Alteburg bei Coeln a. Rh., welcher 1889 Picklesfabrikant in Modesta (Californien) war und später nach Sacramento verzogen sein soll, wird von seiner Mutter sehnlichst um ein Lebenszeichen gebeten.

319) Von Anverwandten wird gesucht der in Degerloch bei Stuttgart geborene Drucker von Lichtfarbenbildern Friedrich Gohl und dessen Familie.

Biergarten in Kissingen. (Zu dem Bilde S. 345.) Es ist ein Glück, daß der „Rakoczy“ ein gutes Glas Bier nicht ausschließt, denn wie wollte man sich einen bayerischen Kurort denken, in dem es kein Bier gäbe! So findet sich denn die internationalste Gesellschaft in den behaglichen Gärten der Badestadt Kissingen hinter einem Glase „Echten“ zusammen und läßt es sich wohl sein. Adolf Menzel, der greise bald 78jährige Meister, hat eine besondere Vorliebe für die Darstellung des Kissinger Badelebens. Die Leser erinnern sich vielleicht des flotten Bildes von der Brunnenpromenade, welches die „Gartenlaube“ vor zwei Jahren (1891, Nummer 25) veröffentlicht hat. Heute schließen wir ihm den „Kissinger Biergarten“ an, und wieder müssen wir staunen über die verblüffende Echtheit der Typen, die der Maler uns vorführt.

Strandnixe. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das frische Mädchengesicht, das uns aus unserer heutigen Kunstbeilage entgegenschaut, ist das Werk eines jüngeren Berliner Künstlers, Hans Looschen. Es ist, als ob ein Hauch von Seeluft erquickend daraus hervorwehte, so gesund und kräftig muthen uns Gestalt und Antlitz der jungen „Strandnixe“ an. „Strandnixe“? Also auch gefährlich kann diese junge Dame mit ihrem keck aufs linke Ohr gedrückten Sturmmützchen sein! Fast muß man es glauben! Denn unergründlich sind ihre schwarzen Augen – mag sein, daß schon mancher allzu kühne Seebadegast in diesen geheimnißvollen Tiefen gar jämmerlich ertrunken ist.

Kleiner Briefkasten.
(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Fr. Th. in Euskirchen. Es besteht seit einigen Jahren ein „Centralausschuß zur Förderung der Jugend- und Volkspiele in Deutschland“, desen Vorsitzender der Abgeordnete von Schenckendorff ist. Im Auftrage dieses Centralausschusses haben der genannte Herr von Schenckendorff und Dr. med. F. A. Schmidt eine äußerst praktische Schrift herausgegeben (Hannover-Linden, Manz und Lange), welche über Jugend- und Volksspiele nach allen Seiten Auskunft und Anregung giebt. Dort können Sie sich über alle einschlagenden Fragen Raths erholen. Der Titel der Schrift lautet: „Ueber Jugend- und Volksspiele. Allgemein unterrichtende Mittheilungen des Centralausschusses zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland. Jahrgang 1892 und 1893.“

A. Z. in Berlin. Das von Ihnen in Vorschlag gebrachte Heften der „Gartenlaube“ haben wir schon häufig eingehend in Erwägung gezogen, mußten aber immer wieder davon abstehen, weil die doppelseitigen Bilder durch das Heften mit Draht oder Faden in der Mitte stark beschädigt und dadurch erheblich an Schönheit und Werth verlieren würden.

Lehrerin aus Petersburg. Gewiß haben wir Ihre freundliche Gabe erhalten. Die Quittung dafür finden Sie in Nr. 6 dieses Jahrgangs, 2. Spalte, Zeile 41 von unten.

H. v. L. in Gr. b. Lemberg (Gal.). Besten Dank für Ihre freundliche Mittheilung! Der von Ihnen genannte mittlerweile verstorbene Seeoffizier war ein Verwandter des in unserer Vermißtenliste unter Nr. 271 aufgeführte Bäckers S.


Hierzu Kunstbeilage VI: Strandnixe. Von Hans Looschen.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Der unsern Lesern wohlbekannte Maler und Schriftsteller Rudolf Cronau hat sich im Auftrage der „Gartenlaube“ nach Chicago begeben, um für sie mit Stift und Feder eine Reihe von Bildern aus der Ausstellung zu zeichnen. Wir sind heute in der Lage, den ersten seiner Berichte unsern Lesern vorzulegen. Ein zweiter Brief, welcher die Eröffnung und die ersten Eindrücke schildert, wird in kürzester Frist erscheinen. D. Red. 
  2. 1 Kubikmeter = 1000 Kilogramm = 1 Tonne.