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Die Gartenlaube (1893)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

Nr. 22.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
(8. Fortsetzung.)

Der Pater Gollermann hatte sich Polyxenen rasch genähert, wie um einen höflichen Abschiedsgruß anzubringen, sobald er wahrnahm, daß sein Gefährte sich der Aufmerksamkeit des Herrn von Gouda versichert und dieselbe so von ihm und dem Fräulein abgelenkt hatte. Und nun, sie eigenthümlich ansehend, sagte er leise: „Ihr habt vielleicht gedacht, meine Tochter, daß ich vorhin müßige Worte redete, als ich davon sprach, Ihr würdet uns noch freiwillig in das Asyl zu St. Ursula folgen. Dem war nicht so. Hört mich wohl an: daß Ihr Euch durch den Verkehr mit jenem unseligen Weibe gegen die Satzungen der Kirche vergangen habt, beschwert Eure Tugend weniger, als ich wohl wünschen möchte. Doch ist dieser Fehler der schlimmste, den wir Euch, einer Tochter aus edlem Hause, zutrauen möchten. Der gemeine Pöbel aber denkt anders …“

„Was habe ich mit diesem zu schaffen?“ fragte Polyxene fast unwillig. Der Jesuit jedoch fuhr unbeirrt fort:

„Euer Rang, wollt Ihr sagen, erhebt Euch zu hoch über jede üble Nachrede der Geringen, als daß Ihr sie zu beachten brauchtet? Der Fall liegt anders. Vergegenwärtigt Euch, was diesem Hause widerfahren ist –“ Er stockte, zuwartend; sie sah ihn in voller Verständnißlosigkeit groß an. So mußte er denn deutlicher werden. „Der Erbe der Herrenmühle ist verschwunden, verunglückt und nicht mehr unter den Lebenden, wie man leider annehmen muß. Er war weit reicher an Gütern als Ihr, die Ihr, wie man sagt, nur sehr wenig besitzet, und er war der Letzte von jenem Zweige seines Geschlechts, dessen Habe, falls er wirklich tot ist, nun auf Euch übergeht …“

Der Jesuit machte hier die leiseste Pause. Doch Polyxene füllte dieselbe durch keinen Laut aus. Sie stand starr, jedoch ein wachsendes Entsetzen zeigte sich auf ihrem Gesicht. Als er nun aber hinzugefügt hatte: „Dem Volke hier zu Lande läßt das räthselhafte Verschwinden des Knaben keine Ruhe, es fragt: wem konnte sein Tod Vortheil bringen –“ da endlich brach sie hinein in seine Rede mit jenem qualvollen Stöhnen, das die beiden anderen Männer aufhorchen ließ. Und rasch, ehe der Oberst von Gouda, der mißtrauisch herüberschaute, herzutreten konnte, brachte der Pater Gollermann dem Mädchen auch noch den Rest seiner Gabe bei. „Ich will Euch nichts verhehlen; laut zeiht Euch schon die öffentliche Stimme des Mordes an Euerem Vetter und verlangt, daß Justiz an Euch genommen werde, meine arme Tochter,“ sagte er, sein Antlitz dem ihrigen nähernd. „Euerem Oheim bleibe aber, wenn Ihr meinem Rathe folgen wollt, dieses Unerhörte noch verschwiegen. Und nun versteht mich: Schutz bieten wir Euch in jenen heiligen Mauern. Kein Pöbelhaufe wird Euch dort hervorzerren, um Euch unter Mißhandungen vor den Richter zu schleppen …“

Er sah sie prüfend an. Das reizvolle jugendliche Antlitz war wie versteinert. Es lag in Polyxenens nach außen gehaltener, aber um so tiefer und stärker empfindender Natur, daß etwas Furchtbareres als dieser Verdacht sie gar nicht hätte treffen können. Aber wahrlich nicht seiner Folgen wegen! Die

Lola Beeth als Maria im „Trompeter von Säkkingen“.
Nach einer Photographie aus dem Hofatelier Adèle in Wien.

[358] hatten sich ihrem Geiste noch gar nicht dargestellt, als jetzt Jammer und Entsetzen sie fürs erste der Sprache, ja fast der Fähigkeit des Denkens beraubten. Der Schmerz und die Schmach, die ihr in ihrer edlen Reinheit widerfuhren, waren so groß und überwältigend – hätte man sie jetzt Glied für Glied zerrissen, die Marter wäre kaum eine Verschärfung solcher Qual, im Gegentheil, sie wäre vielleicht willkommen gewesen! Aber nichts, nichts von dem allem fand den Weg über ihre Lippen.

Der Oberst von Gouda trat jetzt heran; die Herren vermochten es nicht zu hindern und hatten ja nun auch beide ihr Theil gethan. „Nun, Nichte?“ fragte er. Sie sprach noch immer nicht und sah ihn nur aus gequälten Augen wie mit mühsamem Verständniß an, so daß der Pater Gollermann endlich mahnen mußte: „Wollet Euerem Herrn Vormund Eueren lobenswerthen Entschluß mittheilen, meine Tochter!“

Polyxene mußte sich besinnen. Einen Entschluß verlangte man von ihr? Verlangt man von einem Gelähmten, daß er gehen soll? Sie schaute mit leerem Blick in dem Gemach umher, über die Anwesenden hin, und dann erschauerte sie. Müßiges, jammervolles Spiel der Gedanken! Ihr war, als warte sie nur darauf, daß ihr Vetter durch die Thür trete, damit sie ihn fragen könne: „Soll ich von hier fortgehen, Lutz?“

Der Rückschlag dieser Wahnvorstellung war verhängnißvoll. Lutz kam ja nie wieder, und Haus und Hof hier, was alles ihm allein gehört hatte, ohne daß die wie Geschwister Lebenden sich dessen je bewußt geworden wären, das war jetzt ihr Eigenthum! Sie wurde Herrin hier durch seinen Tod, und die Leute sagten – – von Ekel und Grauen geschüttelt, bewegte sie sich wortlos nach der Thür. „Ja so; ich gehe mit den Herren, Oheim,“ sagte sie dann tonlos.

„Also doch – ein Frauenzimmer wie alle,“ murmelte der Oberst halb verächtlich. „Ich aber wünsche und rathe, daß Ihr bleibt, wohin Ihr gehört,“ fügte er dann mit erhöhter Stimme hinzu. Er verstand sie nicht, als sie schaudernd, mit fremd klingender Stimme sagte: „Hierher gehöre ich nicht; laßt mich fort, Ihr thut wohl daran!“

Es war ein Blick milden Triumphes, mit dem der Pater Gollermann den Vormund jetzt streifte. Und der Dekan Zindler sagte, vielleicht ein wenig drohend sogar: „Ich mache den hochzuverehrenden Herrn darauf aufmerksam, daß er eine schwere Verantwortlichkeit auf sich laden würde, wenn er das Fräulein in ihrem Beginnen zu hindern suchte.“

„Nichte, habt Ihr mich gehört?“ sagte der Oberst von Gouda hierauf statt aller Antwort und ging noch einmal auf Polyxene zu, zu nicht geringem Aergerniß für den Dekan, dessen Zuruf er somit gänzlich außer acht ließ.

„Ja, Oheim; aber Ihr müßt mich gehen lassen ... ich kann hier nicht bleiben,“ wehrte Polyxene und sah ihn jammervoll an.

Und nun blieb der alte Sonderling unmuthig und unthätig stehen. Er hatte in ihren Augen das gesehen, was ihn an die Unzugänglichkeit des Wahnsinns gemahnte, und obgleich rechtlich und gescheit, wie man ihn wohl nennen durfte, war er doch aller thätlichen Einmischung in das Schickfas anderer Menschen abhold, bis zur sträflichen Lässigkeit. Und so ließ er es denn auch jetzt geschehen, daß von ihm schied, was er hätte halten und schützen sollen. In der nächsten Minute war das Gemach leer. Die geistlichen Herren hatten zuguterletzt auffallend kurzen Abschied genommen, die unglückliche Polyxene gar keinen. Der Oberst war auf die Schwelle getreten, um hinter ihnen her zu sehen. Mißmuthig ging er jetzt in den leeren großen Raum mit der niedrig lastenden Decke zurück und öffnete eines der dicht aneinandergereihten kleinen Fenster. Und da sah er, was ihn mit Verwunderung erfüllte: drüben an den zwei alten Pappeln, die wie Wächter den thorlosen Eingang zum Hofe der Herrenmühle flankierten, hielt eine geräumige Kutsche. Die geistlichen Herren ließen dem Fräulein höflich den Vortritt und stiegen dann nach ihr rasch ein, wobei der Pater Gollermann seine langen Gliedmaßen mit eigenthümlicher Behendigkeit nach sich zog – wie eine Spinne, dachte der abgünstige Zuschauer grimmig. Der Schlag fiel zu und das Fuhrwerk entfernte sich in ziemlich lebhaftem Gange.

Also eine wohl vorbereitete Abführung, dachte der gelehrte Herr. Und durch die Jesuiten. Das sieht nicht gut aus. Was mögen sie mit dem armen Geschöpf vorhaben? – Jetzt, wo das alte weitläufige Haus so leer war, kam ihm das Fehlen Lutzens neu und frisch ins Bewußtsein. Bisher hatte er das Räthsel seines Verschwindens immer von sich abgewiesen, wenn es herandrängte, halb und halb in der Hoffnung, daß die Zeit eine Lösung und vielleicht noch nicht einmal die schlimmste, bringen werde. Jetzt aber packte es ihn mit einem Male wie Verwunderung über das Unglück, von welchem dieses Haus in den letzten Wochen betroffen worden war. Hier stand er allein – ein Vormund ohne Mündel; was war denn nun seines Amtes hier noch? Unerfreuliches Nachsinnen! Er griff im Geiste schon nach seinem Lieblingsphilosophen Seneca, der drüben auf seinem Büchergestell nahe zur Hand war – welchen Trost der etwa für solche Widrigkeiten des Geschickes bieten werde. Nun hörte er auch im Hause ein Geräusch, und in richtiger Erwägung, daß dies die alte Crescenz sein und daß sie ihn mit Fragen über den Verbleib des Fräuleins behelligen werde, dafern sie ihn hier antreffe, entwich er eilends nach seinem Studierzimmer. Dort einzudringen war der Wirthschafterin streng verboten. Aber so wohl verschanzt sich der Oberst auch in diesem seinem Museum gegen häusliche Störungen halten durfte, heute sollte er doch noch einmal Einlaß geben, und zwar einem Boten und einer Kunde, deren er sich wahrlich nicht versehen hatte.




13.

Das spärliche Dienstpersonal der Herrenmühle, vor allem die Crescenz und der alte Dietlieb, mochten an jenem Abend untereinander die Köpfe schütteln und abenteuerliche und thörichte, aber auch aufrichtig kummervolle Muthmaßungen darüber, daß der alte Bau heute noch einen Kopf weniger beherberge als sonst, austauschen, so viel sie wollten – vom Herrn, dem Obersten von Gouda, wurde ihnen keine Aufklärung zutheil, denn er ließ sich überhaupt vor ihnen nicht mehr sehen. Das Fräulein war spät nachmittags in Begleitung der zwei geistlichen Herren fortgefahren – daß sie heute nicht mehr zurückkehren werde, lag nun, da die Herbstnacht hereingebrochen war, auf der Hand. So schlichen denn die Leutchen, nachdem das Häuflein wie verloren in der gewaltigen gewölbten Küche unter dem ungeheuerlichen Rauchfang zum Abendbrot gesessen, bedrückt in ihre Gelasse, und in dem alten Bau verlosch ein schwaches Lichtchen nach dem andern.

Aber es war, als ob das Haus nicht völlig schliefe, sondern ein blinzelndes Auge weit in die Nacht hinein offen behielte. Das waren in Wahrheit die dicht aneinander liegenden Fenster in dem Studiergemache des Obersten, hinter denen sein Oellämpchen auf dem Pulte fort brannte, manchmal bis gegen den Morgen hin. Er vertauschte gern den Tag mit der Nacht, oder vielmehr, es kümmerte ihn das nicht. Schlaf brauchte er überhaupt nicht viel, und er pflegte desselben auch mitten im Tage, eingeschlossen in sein Museum, wenn je einmal eine Müdigkeit ihn überkam. Um den Eindruck des heute Erlebten zu tilgen, der ihm äußerst lästig war, hatte der Herr von Gouda das Werk des Sieur Sébastien le Prêtre de Vauban vor sich aufgeschlagen, welcher vor noch nicht vielen Jahren als Marschall von Frankreich zu Paris verstorben war. Diesem Werke über Befestigungskunst widmete der Oberst, selber ein großer Meßkünstler und geborener Ingenieur, eine tiefe, aber nicht unbedingte Verehrung, insofern er selber die zur Zeit geltende Vaubansche Befestigungskunst durch einige werthvolle Gesetze bereichert zu haben sich schmeicheln durfte. Zur Zeit freilich lagen diese mühevollen Ausarbeitungen in zierlicher Schrift und mit zahlreichen, aufs sauberste gezeichneten Rissen und Plänen durchschossen, noch auf seinem Pulte, und der erste Schritt sie der Mitwelt bekannt zu geben – nämlich die Anknüpfung mit einem Leydener Buchhändler, welcher die Drucklegung eines so kostbaren Werkes übernommen hätte, womöglich auf seine Kosten – dieser Schritt war von dem Herrn von Gouda bis jetzt noch nicht gethan worden. Er dachte demselben eben wieder einmal nach, wie schon öfters in den letzten Jahren. Er hätte zu diesem Zweck die Reise nach Leyden selber machen müssen. Mit diesem Gedanken spielte er seit längerer Zeit, und heute vertiefte er sich völlig hinein und machte den Plan der Fahrt gen Holland bis in alle Einzelheiten. Da, kurz ehe er fertig war, fiel mit einem Male die zur Seite geschobene Erinnerung an das Geschehniß von heute nachmittag schwer wie eine Last auf ihn nieder und das Plangewebe zerriß. Er konnte sich jetzt nicht entfernen; er mußte warten und zusehen, wo dieser böse Handel Polyxenens hinaus wollte.

Dabei hob er den Kopf und sein Ohr wurde jetzt erst wieder [359] frei für ein Geräusch, welches er während seines Nachsinnens sekundenlang äußerlich gehört aber innerlich doch nicht vernommen hatte. Es klang etwas mit feinem und zugleich scharfem Ton an den Scheiben, da – und da wieder, als wenn Hagelkörner vereinzelt aufschlügen. Nun stand er auf und öffnete ein Fenster. Unten vor ihm lag, an der Seitenwand des Hauses entlang, der Gemüsegarten der Crescenz, wo jetzt im Herbst alles ordnungslos ins Kraut geschossen war und Kohlstauden und Sträucher in der bewölkten Nacht nur in dunkeln Massen zu unterscheiden waren. Herr von Gouda, als alter Soldat, sonderte aber doch unter diesen Massen alsbald einen Schatten, unbeweglich wie die übrigen, aber von etwas größerer Form, heraus und ficierte ihn scharf: „Heda!“ rief er nach einer Weile, in der kein Laut gefallen war, mit gedämpfter Stimme hinab. Und richtig – einer der Sträucher schien lebendig zu werden und regte sich, und vernehmlich drangen jetzt die Worte: „Oeffnet die Hausthür –– Kundschaft vom Fräulein!“ zu dem Lauschenden empor.

Kurz darauf erschloß der Oberst in selbsteigener Person unten die Pforte. Alsbald regte es sich dicht neben ihm, hart am Thürpfosten; er wendete die Leuchte und blickte in ein verwittertes Gesicht, das er nicht kannte. Nach kurzem Besinnen und kaltblütigem Prüfen aber kamen von dem trockenen hagern Herrn, den nichts aus der Fassung brachte, die Worte: „Ha, vor Augen habe ich Euern Moosbart an die dreißig, vierzig Jahre nicht gehabt, aber Ihr müßt wohl der Strieger sein!“

„Viele sagen, den hätte der Teufel schon lange geholt,“ war die Entgegnung dessen, der sich dicht ans Haus in den Schatten drückte. „Ich möchte mit Euch reden, Herr von Gouda. Könnt Ihr das verdammte Flackerlicht nicht beiseite setzen, da hinter die Hausthüre, und zu mir heraustreten?“

„Kommt vielmehr in mein Gemach, Alter! Dort sprechen wir ungestört,“ sagte der Oberst.

„Ins Haus?“ Der Waldwart wich widerwillig zurück bei dem Vorschlag. Denn, seltsam zu sagen, in eines steinernen festen Hauses Wänden war der Greis seit mehr als einem Menschenalter nicht mehr gewesen, und ihn bannte davon eine Scheu, als ob die Mauern wie eine Falle sich hinter ihm zusammenschieben müßten, sobald er den Fuß hineinsetzte.

„Ja, ins Haus,“ wiederholte aber der Herr von Gouda ungerührt. „Ich bin kein halber Waldteufel mit schon gegerbtem Leder wie Ihr ... die Nachtkühle sagt mir nicht zu. Uebrigens – eines Edelmannes Wort darauf, daß ich selber Euch wieder hinauslasse, sobald Ihr wollt, was Ihr mir auch mitzutheilen haben möget!“

Die letztere Zusage war so überflüssig nicht für den mißtrauischen Alten vom Walde. Er sah dem Herrn von Gouda erst noch einmal scharf in das ernsthafte längliche Gesicht und folgte ihm dann, indem nun erst seine Gestalt in den Lichtkreis trat, die Treppen hinauf.

Sie hatten das Studierzimmer erreicht. Der Oberst hatte mit der ihm eigenen Bedächtigkeit die Leuchte so gestellt, daß in ihrem Bereiche kein beschriebenes oder bedrucktes Papier sich befand, und wendete sich nun zu dem Alten. „Jetzt sprecht, Strieger, hier hört uns niemand!“ mahnte er nicht unfreundlich. „Was hättet Ihr mir von wegen meiner Nichte zu sagen?“

Er hatte einige Geduld nöthig, denn der Waldmann, ob aus Ungeschick oder Vorsicht, blieb noch eine ganze Weile stumm und sah dabei aus, als könne man ebensogut von einer seiner knorrigen Eichen oder einem verwitterten Felsblock eine Auskunft erwarten wie von ihm. Dann lösten sich endlich die Worte, einzeln, ungefüg, manchmal anscheinend ohne Zusammenhang: „Es kam einer heute vom Galgenfelde über Keula her ... von dort oben hielt er Umschau. Denn er hatte ’was zu melden . . . von wegen daß eine Seele endlich des Leibes ledig geworden war, der es schon lange in selbigem nicht mehr behagte. Und sobald es dämmerte, gedachte er vollends hinabzusteigen, bis hierher. Unterwegs Red’ und Antwort geben mochte er keinem als nur der, die es anging. Und wie der die zwei Schwarzröcke auf der Landstraße herankriechen sah, gleich wie Spinnen, da setzte er sich hin, zog sein Messer und begann, sich aus einem Birkenstecken einen Löffel zu schnitzen, damit ihm die Zeit nicht lang würde, bis er wüßte, wo das Ding hinaus sollte. Wenn er aber wissen wollte, wozu die Kutsche mit den Klostergäulen so sacht hillter den Herren herfuhr und warum sie just hinter den Bäunlell bei der Herrenmühlen-Brücke hielt, so mußte er mit der Zeit sachte näher kommen. Und das wird er wohl gethan haben. Als er nun aber endlich wußte, warum er seit drei Stunden wartete, und auf zehn Schritt weit sah, wie das Fräulein mit den Herren in den Kasten stieg und davongeführt wurde, da gefiel ihm das schlechter als irgend etwas, was seine Augen seit vielen Jahren erblickt hatten.“

Als er diesmal stockte, ging der Oberst ein paar Schritte weit von ihm fort und kehrte zurück, wie in innerer Unruhe. „Ihr seid keiner von den Dummen, das merkt man,“ murmelte er. „Ich verhehle Euch nicht, daß auch mir nicht wohl ist bei der Sache, Aber wisset: sie ging freiwillig. Und gegen meinen Rath und Wunsch ging sie. Auf eine mir unbegreifliche Weise hatte der Jesuit sich ihres Sinnes bemächtigt. Sie erschien plötzlich verwandelt.“

Der Strieger nickte bedächtig. Dieser letztere Ausdruck für des Fräuleins verändertes Wesen sagte ihm zu. Dann aber meinte er: „Etwas mehr als Ihr, Herr Oberst, weiß der Strieger doch noch, aber nichts, was ihn oder Euch freuen kann. Wie es jener, von dem ich sprach, anfing, mit der Klosterkutsche gleichen Schritt zu halten, das ist seine Sache. Es waren nicht viele, die dem Fuhrwerk heute, da es auf den Abend ging, auf der Landstraße begegneten. Und wenn ein oder der andre neugierige Tropf sich nach der Fuhre umsah, so mag er gemeint haben, die frommen Herren hätten, ohne daß sie’s inne wären, hinten den Teufel aufgepackt und schleppten ihn mit, und hat drei Kreuze gemacht und ist nicht ferner stehen geblieben. Dann wurde es unter der Weile dunkel, und das war gut. Die Fahrt ging zum Hause der Ursulinerinnen, das hatte selbiger, von dem ich spreche, längst gemerkt. Wie das Hofthor aufgethan wurde und jener die vielen Riegel knarren hörte, da schien ihm in diese Rattenfalle mit Haut und Haaren hineinzufahren doch bedenklich. Denn wie, ich frage Euch, hätte er nachher wieder herauskommen sollen? Er ist noch leidlich gelenke“ – und hier krümmte der wunderliche Alte den rechten Arm im Ellbogen und das rechte Bein im Knie, um von der Beweglichkeit dieser Gliedmaßen eine Probe zu geben – „und etwas Glück war auch dabei. Er rafft Euch, wie er da so hinten am Wagen hängt, einen Stein vom Boden auf“ – und auch dies machte der Strieger durch Wiederholung begreiflich, indem er die Rechte wie schaufelnd nahe an den Dielen hinführte – „und wirft den zwischen Vorder- und Hinterrad. Und da nun die Kutsche zum Stehen kommt, unter dem finstern Thorwege, und die schwarzen Herren auf der einen Seite die Köpfe herausstecken, da öffnet er den Schlag auf der andern. Wie das nun kam, Herr, ist schwer zu erzählen . . . glaubt’s oder glaubt’s nicht, sie hatte mich gleich erkannt, das Fräulein, und wüßte, daß nicht viel Zeit war, wenn die Schwarzen nichts gewahren sollten. Da kriegt sie mich zu packen – unsereiner sieht auch in der Dunkelheit, wie eine Wildkatze; ich merke, daß sie eine Todesangst auf dem Leibe hat – und so kommt es heraus, ich hör’ es noch: ‚Strieger, ich soll den Lutz umgebracht haben und sie sperren mich ins Kloster, nur damit mir nichts Schlimmeres widerfährt, sagen sie.‘ Und dann noch, aber da hab’ ich die Worte nicht so behalten: wenn der junge Herr nicht wieder zum Vorschein käme, dann wäre ihr alles gleich, was man mit ihr anfinge. ‚Was sagt Euer Oheim dazu?‘ fragte ich, da mir vor Schrecken nichts anderes einfiel, Euch sei es verhehlt worden, weshalb man sie fortgebracht, sagte sie noch, und dann war’s aus. Ich duckte mich, wie Ihr denken könnt, sobald die Patres die Köpfe hereinzogen; indessen war mein Stein doch allgemach auf die Seite geschoben worden, und die Pferde zogen an. Da machte ich denn, daß ich zum Thore hinaus kam, am Pförtner vorbei, der mich jetzt erst gewahr wurde. Damit er die Neugier lassen sollte, hab’ ich ein weniges hinten ausgeschlagen nach ihm; ich will nicht wünschen, daß er seitdem ein paar Zähne weniger hat; er fing an, nach allen seinen Heiligen zu schreien. Und nun wißt Ihr, Herr, was der Pater dem Fräulein heute ins Ohr gesetzt hat.“

Da der Oberst nicht gleich sprach, fuhr er nach einigen Augenblicken fort: „Mir ist aber jetzund von dem vielen Reden die Kehle trocken geworden. Laßt mich einen Trunk thun, ehe ich mich davonhebe.“ Dabei sah er sich, bei allem Antheil an dem Lose Polyxenens, jetzt listig um. Wenn doch von irgendwoher der Wein zum Vorschein käme, den das Fräulein einmal in einem Krüglein zur Hütte der Siechen hinaufgebracht und der ihn dann geletzt hatte. Aber dieser Herr von Gouda sah selber so trocken aus, als ob er sich in seinem Leben die Lippen nicht zweimal genetzt habe –

[360]

Der Onkel als Brautführer.
Nach einem Gemälde von C. Beckmann.

[361] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [362] und das Gemach erst! Flaschen standen da wohl oben auf den staubigen Simsen, aber man spürte zu ihrem Inhalt so wenig Zutrauen wie zu denen im Laden des Apothekers.

Doch zeigte der Oberst jetzt mehr Einsicht in den Zustand einer anderen Kehle, als ihm der Strieger zugetraut hätte. Er sagte, aus seinem unerquicklichen Sinnen zu sich kommend: „Warte, Alter, einen Botenlohn hast Du Dir verdient,“ verließ das Zimmer und kam nach kurzer Frist zurück, etwas steif und in einer Weise, der man das Ungewohnte ansah, einen Krug und einen Becher herbeitragend. Er machte auf dem Schreibpult Platz und setzte beides für den Waldmann hin. Der Strieger aber übersah das Trinkgefäß, wohl nicht ohne Absicht, und hob ohne weiteres den Krug an den Mund. Als er absetzte, flog ein hastiger Blick nach dem Spender hinüber, denn allzu bescheiden war er nicht gewesen. Der Herr von Gouda aber hatte nicht acht darauf gehabt, wieviel sein Besucher getrunken; ihm ging das, was er gehört hatte, zu stark im Kopfe herum, und als der Strieger, dem es in den vier Wänden längst schon zu enge geworden war, sich nunmehr zum Gehen wandte, hielt er ihn nicht zurück. In seiner klugen Weise jedoch warf er hin, da jener schon unter der Thüre war: „Du bist ein Freund des Fräuleins, wie ich merke, Alter. Und wenn Du heute dies fertig gebracht hast, so bist Du, dächt’ ich, auch noch nicht zu morsch, um dann und wann einen anderen Gang für mich in Sachen des Fräuleins zu thun, so ich einmal einen verläßlichen Kerl brauche. Wie alt bist Du?“ fügte er noch hinzu, halb und halb in jener trockenen Scherzhaftigkeit, die selbst bei ernsthaften Händeln seine Art war. „Du hast wohl das Nachzählen verlernt? In die Hundert, wie?“

Er habe allerdings seit langem sich nicht mehr um sein Alter gekümmert, gab der Waldwart zu. Das aber wisse er: wie damals der große Krieg zu Ende gekommen, der aber schon vor seiner Zeit begonnen habe und an die dreißig Jahre gedauert haben solle, da sei er ein Bursch in den zwanzigen gewesen.

Der Oberst rechnete nach. „Ueber neunzig,“ murmelte er dann als Ergebniß und sah darauf, beim Schein der Oellampe, mit der er ihm die Stiegen hinabgeleuchtet hatte, den sehnigen Alten noch einmal schärfer an. Wie dem die Augen noch aus den tiefen Höhlen in dem verwitterten Antlitz funkelten! „Und siehst noch scharf?“ fragte er in halbem Neid.

„Wie ein Luchs,“ versicherte der Strieger. „Und von wegen dessen, was Ihr eben sagtet, gnädiger Herr: wollt Ihr den Strieger brauchen, um dem Fräulein was zu Nutz und den Schwarzen zum Tort zu thun, so läuft er Euch noch heute nacht bis Trier.“

„Er laufe jetzt nur hinauf zum Heidenkopf und ruhe da seine Knochen aus,“ sagte der Herr von Gouda darauf nur. „Aber wenn ich seiner einmal bedarf, wie soll ich ihm das kund werden lassen? Denn hinauf zu Dir kann ich nicht, Alter; ich bin des Fußwanderns entwöhnt, und Du wärest ja auch wohl schwer zu finden.“

Mit seiner Jägerschlauheit wußte darauf der Strieger alsbald Rath. Er beschrieb einen Weidenstrunk hinter den Scheuern, im alten Grasgarten. Dahinein sollte der Herr Oberst irgend ein Zeichen praktizieren, einen Strohwickel oder ein zusammengeknotetes Tüchlein – eine schriftliche Botschaft hätte wenig Werth gehabt, da der Strieger des Lesens niemals kundig gewesen war – und der Alte verhieß, daß er des öfteren dort nachsehen und, wenn er das Zeichen finde, am Abend darauf hier zur Stelle sein wollte.

Zuletzt schüttelte er den Kopf. „Daß ich noch einmal das Umherstreifen kriege! Aus dem Walde dort oben bin ich vor diesen Tagen so lange nicht gekommen, daß unter der Weile ein saugendes Kind hätte groß und zum Bräutigam werden können. Gebt acht, das dumme Volk wird sagen, der Alte vom Heidenkopf gehe um! Denn daß er es selber noch im Leibesleben und in seiner alten Haut ist, das glauben viele nicht, und wenn’s ihnen ihr Pfarrer sagt.“ Er lachte in sich hinein. „Dem Strieger, dem hat Sankt Velten schon lange den Kragen herumgedreht, und er spukt nun herum in dem verwitterten alten Fell und thut ihnen Schabernack an, wie’s ein getaufter Christenmensch nimmermehr könnte, und wenn ihm auch Regen und Schnee von neunzig Wintern – sagtet Ihr nicht neunzig? – das heilige Wasser abgewaschen haben. Geht hinein, Herr! Ihr kriegt noch das Reißen von der Nachtluft, und ich finde meinen Weg schon.“

Plötzlich befanden sie sich beide im Dunkeln und pechschwarz schien im Gegensatz zu dem Licht eben die verhängte Herbstnacht; ein Luftzug hatte die Lampe ausgeblasen.

Vom Strieger kam es noch wie ein gurgelndes leises Lachen, dann hörte man nichts mehr von ihm, keinen Laut. Der gelehrte Herr dachte, indem er sich nun die Stiegen hinauf tastete, diesem Verschwinden des Alten noch ein weniges nach und verglich ihn im Geiste mit den braunen Jägern Kanadas, deren Bekanntschaft man jetzt in Europa durch die Berichte englischer Ansiedler machte, um sich über die Schärfe ihrer durch keine verkünstelnde Kultur geschwächten Sinne zu wundern.

(Fortsetzung folgt.) 


Nachdruck verboten.       0
Alle Rechte vorbehalten.     

Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
V.
Einige Weltverbesserungsversuche im kleinen.

Wer sich in die Lehren eines Morelly, Rousseau und ihrer Geistesverwandten vertieft, jener Philosophen, welche Welt und Menschenleben gleichsam in mechanische Formeln bannen zu können vermeinten, dem eröffnet sich ein ahnungsvolles Verständniß für die gefühllose Grausamkeit, mit welcher die französische Revolution ihre Bahn dahinschritt, für die starre Härte, mit welcher die Guillotine unter einem Robespierre und Genossen ihres fürchterlichen Amtes waltete. In den Köpfen dieser Gewaltmenschen war kein Raum für Duldsamkeit. Was sich nicht glatt in den unverrückbaren Rahmen der von ihnen „zum Beschluß erhobenen“ Welt einfügte, das wurde einfach abgestoßen, weggeschnitten, vertilgt. Eine neue Zeit sollte beginnen, darum fing man auch die Jahre ganz frisch mit I zu zählen an. In grausam kurzer Frist erlebte diese Lehre freilich ihren erschütternden Bankerott, und mit der alten Zeitrechnung erhob auch die scheinbar zertretene alte Welt wieder ihr Haupt. –

Es läßt sich nicht verkennen, daß den Männern und Frauen, welche in der ersten französischen Revolution bedeutsam hervorgetreten sind, ein utopistischer Zug anhaftet, ja daß bis zu einem gewissen Grade eine Utopie, ein in unbestimmter Gestalt vorschwebendes fernes Ziel von Glückseligkeit, die treibende Kraft in ihrer Seele bildete. Trotzdem wäre es falsch, zu behaupten, diese Revolution sei selbst nichts als eine Utopie gewesen. Sie war vielmehr ein wichtiger Fortschritt, eine Art von Reinigungsvorgang, nicht bloß für Frankreich, sondern auch für die übrigen Völker Europas, denn sie verwandelte den beschränkten Unterthan in einen politisch mehr oder weniger freien Staatsbürger. Daß jedoch dieses mehr oder weniger freie Staatsbürgerthum wieder hinterher „unfrei“ gemacht werden kann, wenn nicht ein gewisses Maß von wirthschaftlicher Freiheit und Sicherheit dazu kommt – das zunächst zu spüren und zu erfahren, später aber klarer und immer klarer einzusehen, war dem nun zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhundert vorbehalten.

Gerade der Verlauf und das Ende der französischen Revolution aber mußte jedem Tieferblickenden nahelegen, systematische Weltverbesserer und Staatsumwälzer eindringlich auf die Durchführbarkeit ihrer Ideen und Vorschläge hin zu prüfen. Je mehr dies geschah, je mehr Kritiker die eine furchtbare Erfahrung erzog, um so enger mußte auch der Kreis zusammenschrumpfen, in welchem jene Verkündiger einer neuen Welt die praktische Gestaltungskraft ihrer umwälzenden Vorschläge erproben konnten. Und auch auf diejenigen selbst, die sich mit Weltverbesserungsgedanken trugen, mußte das ungeheure geschichtliche Ereigniß, das sie schaudernd erlebt, als ein mächtiger Dämpfer wirken. So nehmen denn auch bei einer Reihe von Männern, die in diesem Zeitalter durch inneren Herzensdrang oder durch die Einwirkung ihrer Umgebung zur planmäßigen Verbesserung der Lebenslage ihrer Mitmenschen getrieben wurden, die Gedanken bestimmtere Formen an. Wohl ringt in ihnen noch ein utopistisches Hoffen, eine unabgeklärte Gesamtauffassung mit den harten Thatsachen der wirklichen Außenwelt. Aber ihr Streben geht doch auf näherliegende, eher erreichbare Ziele. Sie stecken sich ihr Gebiet schärfer [363] ab und versuchen theilweise die Umbildung der Gesellschaft im kleinen oder wenigstens unter bestimmter Beschränkung. Dies hat auch zur Folge, daß Hand in Hand mit dem Abstreifen des bewußt utopistischen, also vaterlandslosen Wesens eine nationale Eigenart in Umgebung, Auffassung und Anwendung der Mittel mehr hervortritt.

Aus der Masse hierher gehöriger Gestalten greifen wir einige Typen heraus, die Franzosen Fourier und Cabet, den Engländer Owen und den Süddeutschen Rapp.

Charles Fourier und Etienne Cabet.

Am deutlichsten trägt das zwischen Wirklichkeit und Utopie getheilte zwiespältige Gepräge das Leben und Denken des Franzosen Charles Fourier (1772 bis 1837). Dieser mit überaus scharfer Beobachtungsgabe und kritischem Blick für die sozialen Schwächen seiner Zeit und seiner Umgebung ausgestattete Handlungsgehilfe aus Besançon, der sich nie mit der betrügerischen Natur derjenigen Manipulationen, die man dazumal Handel nannte, befreunden mochte, bekämpfte zwar mit Entrüstung Rousseau und „die Philosophen“; thatsächlich aber steht auch er noch unter dem Bann ihrer mechanisch-physikalischen Denkweise. Er ging von der fixen Idee aus: wie Newton durch die Entdeckung der Gesetze der Anziehungskraft der Weltkörper das innere Bewegungsgesetz für die stoffliche Welt gefunden habe, so müßten die Gesetze der sozialen Entwicklung gefunden werden, auf denen die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch beruhen. Dieses letztere Gesetz nun glaubte Fourier gefunden zu haben, und zwar, wie er selbst sagt, rein zufällig. Es ist das Gesetz der „Attraktion der menschlichen Triebe.“ Im Jahre 1808 hat Fourier sein System, vielfach[WS 1] mit phantastischen Träumereien vermischt, niedergelegt in dem Werke „Die Theorie der vier – später wurden es jedoch fünf – Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen“ und dasselbe in den nächsten 20 Jahren noch mehrfach wiederholt und weitergebildet.

Nach dem Gesetze der sozialen Bewegung, der Anziehung der verschiedenen menschlichen Triebe, dessen Darlegung den Angelpunkt der weitschweifigen Ausführungen Fouriers bildet, ist die Bestimmung des Menschen das Glück, das durch die Entwicklung aller seiner Anlagen und durch die Befriedigung aller seiner Triebe erreicht wird. Die Grundlage des inneren Glücks ist die Gesundheit, die des äußeren der Reichthum. Die bekannten fünf Sinne sind die Triebe des Körpers; Liebe, Freundschaft, Auszeichnungs- und Familientrieb sind die vier Triebe der Seele. Diese neun Triebe werden ihrerseits von drei sie lenkenden und bewegenden Trieben beherrscht, vom Trieb der „Intrigue“, der auf den Willen wirkt, dem Schmetterlingstrieb (papillon, wie denn Fourier überhaupt derartige Bilder außerordentlich liebt), der nach beständiger Abwechslung drängt, dem Begeisterungstrieb, der nach Gutem und Schönem lenkt. Diese drei Kräfte wirken zunächst auf die vier seelischen, diese hinwiederum auf die fünf körperlichen Triebe. Wir ersehen hieraus, daß die verschiedenen Menschen, in der jeweiligen Befriedigung je eines oder mehrerer ihrer Triebe begriffen, die verschiedensten „Gruppen“, „Serien“ etc. bilden können; sie einigen, trennen sich je nach Zeit und Wunsch, wobei jeder der Reihe nach seine Triebe befriedigt. Dieser ganze Kreislauf spielt sich innerhalb einer berechenbaren Personenzahl ab. Will demnach der Mensch eine möglichst allseitige Befriedigung dieser seiner Trieb„serie“ erlangen, so müßte er dazu – und hier erhalten wir den Schlüssel zu den Fourierschen Plänen – eine Organisation vorfinden, die ihm ebensowohl alle körperlichen Bedürfnisse landwirthschaftlicher, industrieller und sonstiger Natur lieferte wie zugleich die wechselnde Bethätigung der seelischen Triebe ermöglichte. Dies vermöchte allein „die hauswirthschaftlich-landwirthschaftliche Association“, welchen Titel Fourier auch einem seiner grundlegenden Werke gegeben hat, oder die ausgebildete „Phalanstère“. „Phalanx“ nennt Fourier – nach der keilartig in den Feind eindringenden Schlachtordnung Philipps von Macedonien – die erste nach den von ihm gefundenen „Gesetzen“ zu bildende, in die jetzige Organisation der Erdoberfläche eindringende Genossenschaft, von der aus durch gleichartige Neugründungen die ganze Erde mit etwa zwei Millionen solcher Phalangen netzartig überzogen werden soll. Eine Art phantastischer „Omniarch“ steht an der Spitze des Ganzen, der seinen Sitz aber nicht in Paris, sondern in Konstantinopel haben wird. Die Anlage der Phalanstère muß so erfolgen, daß häusliche Arbeiten, ländliche Arbeiten, industrielle Arbeiten, Austausch, Unterricht, Wissenschaft und Kunst möglichst angenehm und zweckmäßig abwechseln können.

Dazu genügt, wie Fourier genau berechnet, eine Zahl von 1800 bis 2000 Menschen, weil in ihr alle Triebe und Charaktereigenschaften zur Entfaltung kommen können; jede größere oder kleinere Zahl würde die Ausgleichung stören. Wie das Kreuz der Typus der mittelalterlichen Kirchen ist, so ist die „Serie“ der Typus des Wohn- und Arbeitsgebäudes der Phalanx, d. h. ein Centrum mit zwei mittleren oder Hauptflügeln und zwei äußersten oder Nebenflügeln. Die Gemeinwirthschaft bedingt diese Form. Das Centrum enthält die Räume, wo die 2000 Personen mehrmals des Tags verkehren, die zwei Hauptflügel enthalten die verschiedenen Werkstätten, die geräuschvolleren nach außen; in den oberen Stockwerken sind die Wohnräume. Gegenüber der Phalanstère, d. h. hinter ihr, liegen die wirthschaftlichen Nebengebäude. Die Länge des ganzen Bauwerks beträgt 600 Meter, alles ist doppelt und parallel laufend mit dazwischen liegenden Hofgärten gebaut. Eine breite gedeckte Galerie verbindet im Inneren alle Theile des Gebäudes und dient als Hauptader des Verkehrs. Mit der größten Breite und Anschaulichkeit verweilt Fourier bei der Schilderung der Vortheile, welche die gemeinsame Arbeit in diesen genossenschaftlichen Betrieben allen Angehörigen gewährt, wie die beständig abwechselnden Befriedigungen aller Triebe beständig neue Reize und Genüsse bringen, welche Ersparnisse an Arbeitszeit und -kraft erzielt werden und wie schließlich „Luxus“, d. h. volle Einheit des Genusses, erreicht wird. Der Areopag und die aus ihm gewählte oberste Regentschaft haben sehr wenig zu thun, da sich alles durch gegenseitige Anziehung und durch den Korpsgeist der Stämme, Chöre und Serien regelt. In echt französischer theatralischer Manier geht alles vor sich. Der Unterschied des Besitzes hört keineswegs auf, wird jedoch durch die verschiedensten Umstände gemildert. Die Vertheilung des Arbeitsertrags findet nach drei Fähigkeiten, die der einzelne hinzubringt, statt: nach Arbeit, Talent und Kapital. Die Arbeit erhält 5/12, das Kapital 4/12 und das Talent 3/12. Man sieht, Fourier liebt die „bestimmten Zahlen“; warum er gerade diese Abstufung gewählt hat und überall gelten lassen will, sagt er uns nicht.

Die Kosten der Errichtung einer Phalanx berechnete Fourier auf 15 Millionen Franken. Bis zu seinem Tode erwartete er, wie feststeht, in unauslöschlichem Glauben an die Wahrheit seiner Lehren Tag für Tag um die Mittagsstunde in seiner Wohnung den Mann, der ihm die Mittel zur Gründung der ersten Versuchsphalanx zur Verfügung stellen würde. Dieser Mann ist aber nie gekommen, und so starb Fourier, ohne daß sein heißer Wunsch in Erfüllung gegangen wäre. Ein Versuch mit 500 Hektaren, der 1832 in der Nähe von Rambouillet gemacht worden, war aus Mangel an Mitteln schon in den Anfängen stecken geblieben. Die wenigen Anhänger Fouriers, Muiron, Viktor Considérant, Bürkli und andere, gründeten zwar eine Zeitschrift zur Verbreitung der Lehren ihres Meisters, aber dieselbe ging schon nach 10 Jahren in einem gewöhnlichen Tageblatt auf. Dagegen wirkte Fourier innerlich befruchtend nach allen Seiten hin, nach Deutschland, Amerika und in die Schweiz; in Zürich erschienen nach dem Tode Fouriers mehrere Schriften, in denen die Auswanderung nach Texas empfohlen wurde, damit man dort seine Pläne verwirkliche.

Diese letztere Anregung verschmolz mit den Wirkungen eines noch ganz der romantischen Utopie angehörigen Werkes, der „Reise nach Ikarien“ von Etienne Cabet. Das Buch – streng genommen ein Plagiat nach dem Englischen eines gewissen F. Adams – ist insofern eine Ergänzung der Werke Fouriers, als es die Befriedigung aller menschlichen Triebe, namentlich aber der sinnlichen, mit wahrhaft vollendetem Wohlbehagen schildert. Im übrigen ist die ganze Art der Darstellung dieses Romanes nichts Neues; neu aber ist die Thatsache, daß dieser Cabet, geboren 1788 zu Dijon, seines Zeichens ein rabiater Rechtsanwalt, der wegen Aufreizung zum Bürgerkrieg verbannt gewesen war, nach seiner Rückkehr in Paris sofort eine Zeitung für seine Pläne gründete und nach allen Seiten hin die größte Propaganda entfaltete. Tausende begeisterten sich in den Jahren 1840 bis 1848 für diesen „Ikarus“, und am 3. Februar 1848 verließ eine Vorexpedition von 69 „Ikariern“ Frankreich, um drüben im Staate Texas in Fanin County eine große Kolonie zu gründen. Allein nach kurzer Zeit brach das Gelbe Fieber aus, und nur ein kümmerlicher, kranker und entmuthigter Rest kehrte nach New-Orleans zurück. Nach kurzer Zeit traf aber Cabet selbst von Frankreich in New-Orleans [364] ein, und im März des Jahres 1849 brachen abermals 250 Seelen von New-Orleans auf, um im jetzigen Staate Illinois am mittleren Mississippi ihr Glück zu versuchen. Hier in einer früheren Mormonenniederlassung trat die neue Kolonie ins Leben und die Leute kamen wirklich, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, vorwärts. Cabet selbst jedoch, welcher durch zurückgekehrte Mitglieder der ersten Expedition in seinem Vaterland des Schwindels angeklagt worden war, reiste nach Frankreich zurück, wo er 1851 seine Freisprechung erwirkte. Als er in seine Gründung zurückkehrte, war der Geist der Zwietracht in ihr ausgebrochen; Cabet wurde selbst von den Kolonisten verläugnet und starb bald darauf in St. Louis (1856). Ein Rest dieser Unternehmung ist heute noch übrig, das kleine Dorf Ikaria in Adams County im Staate Yowa.

Es ist merkwürdig, daß Fourier stets jeden Zusammenhang mit den Männern der Revolution ablehnte; seine Theorie, so versicherte er mit Entrüstung, habe nichts zu thun mit den Umsturzgelüsten der Jakobiner, sie sei vielmehr in hervorragendem Sinne friedliebend und Frieden bringend. Das ist wahr. Aber in einem Punkte theilte er doch, wie das naturnothwendig ist, durchaus die Vorurtheile jener Männer und jener Zeit. Er, und mit ihm Cabet, hatte keine richtige Einsicht in das Wesen der Entwicklung. Beide, besonders aber Fourier, wähnten, daß die menschliche Gesellschaft ebenso mechanisch sich konstruieren lasse wie etwa leblose Körper, lediglich vermittelst einiger allgemeiner Formeln. Das Irrige dieser Anschauung hat sogar August Bebel eingesehen, welcher die vielfach verkannte und manchmal absichtlich entstellte Gestalt Fouriers in einem besonderen Buche vorgeführt hat. Er sagt: „Jeder solche Versuch“ – wie Fourier ihn ersehnte – „ist ein Zeichen geistiger Unreife, die nur die Wirkung haben kann, Enttäuschungen hervorzurufen. Der große Fortschritt unseres Zeitalters ist, daß die Utopisten ausgestorben oder im Aussterben begriffen sind; in der Masse fanden sie nie Boden, sie finden ihn heute weniger als je. Auch der einfachste Arbeiter fühlt, daß sich künstlich nichts schaffen läßt, daß das, was werden soll, sich entwickeln muß, und zwar mit dem Ganzen und durch das Ganze, nicht getrennt und isoliert von ihm.“

Wie Charles Fourier in Frankreich, so steht Robert Owen in England auf der Schwelle der neuen Zeit, mitten inne zwischen Utopie und Wissenschaft. Von ihm in einem weiteren Artikel!


Ferienheime für Kinder.

Hochsommer ist’s. Eine schwere, träge Gluthhitze lagert über den hohen Häusern, den engen Höfen und den spärlichen Gärtchen der inneren Stadt. Müde und verdrossen kauern die Kinder in schmutzigen Winkeln, sie athmen die dunstige Luft, sie schlucken den dicken Staub, der sich in der Atmosphäre aufgesammelt hat, und ihre Wangen, auf denen ohnedies schon schlechte Ernährung und mangelhafte Reinlichkeit geschrieben stehen, sind noch bleicher und eingefallener als sonst. Tag um Tag verlungern sie so in der ungesundesten Umgebung – denn es sind Ferien, die Schulen haben sich geschlossen, und die Eltern dieser Kinder haben keine Zeit und kein Geld, ihnen die Ferien durch freundliche Theilnahme zu vergolden. Von den geistigen Anstrengungen des Lernens mögen diese Kinder sich vielleicht erholen, sofern sie dessen überhaupt bedürfen; von den üblen Folgen der Großstadtluft, der Enge und Feuchte ihrer Wohnung, der ganzen Kümmerlichkeit ihres Daseins erholen sie sich nicht – und dessen bedürfen sie gewiß.

In dieses Elend tönte vor nunmehr bald zwei Jahrzehnten das erlösende Wort herein: Ferienkolonien! Der Schweizer Pfarrer Bion war es, der zuerst 1876 eine Anzahl Züricher Stadtkinder hinausführte in die würzige Luft des Kantons Appenzell, damit sie dort neue Lebenskraft schöpfen könnten. Seitdem sammeln sich alljährlich, wenn die Ferien in den Volksschulen begonnen haben, auf gar vielen städtischen Bähnhöfen große Gruppen kleiner Leute, dort Knaben, hier Mädchen, von Lehrer oder Lehrerin überwacht, ein jedes Kind mit einem Päckchen „Nothwendigstem“ unter dem Arm. Auch einige Herren, anscheinend aus den wohlhabenden Ständen, bewegen sich unter den erwartungsvollen Scharen, Mitglieder der Komites, die sich gebildet haben, um die Mittel für die Aussendung dieser Kolonien aufzubringen. Und bald führt der Bahnzug die Glücklichen einem bescheidenen Landort entgegen, wo sie bei einfacher guter Kost sich der mühelosen aber nichtsdestoweniger nothwendigen Arbeit des Luftschnappens mit Hingebung zu widmen haben.

Das Ernst Wagner-Haus zu Grünhaide im Sächsischen Vogtlande.
Zeichnung von R. Püttner.

Diese Ferienkolonien oder „Sommerpflegen“, wie man sie auch genannt hat, gehören zu den erfreulichsten Erscheinungen in der praktischen Wohlthätigkeit der Gegenwart, und sie haben eine Ausdehnung angenommen, die dem Gemeinsinn unserer großstädtischen Bürger alle Ehre macht, wenn auch noch nicht alle Wünsche befriedigt werden können und manches bleiche Geschöpfchen von dem entscheidenden Schul- oder Komitevorstand mit schwerem Herzen auf „ein andermal“ vertröstet werden muß. Während in Deutschland 1878 zwei Städte 151 Kinder aussandten, waren es im Jahre 1890 nicht weniger als 20.586 Kinder, die von 115 Städten in die Ferienkolonien geschickt wurden. Nimmt man die Kinder hinzu, die nicht durch freiwillige Vereinigungen, sondern durch Stadtbehörden u. dergl. in See- oder Soolbäder gesandt wurden, so stellt sich die Zahl der Pfleglinge in dem letztgenannten Jahre auf nahezu 26.000. Die erforderlichen Mittel für die von Vereinen ausgesandten Kinder sind durchgehends durch freiwillige Leistungen aufgebracht worden. Sie betrugen im Jahre 1886 rund 300.000 Mark, 1890 schon 446.000 Mark. Außer diesen unmittelbar verwendeten Summen haben aber auch viele Vereine theils aus ihren regelmäßigen Beiträgen theils aus besonderen Stiftungen eigene Vermögen begründet, deren Gesamtbetrag im Jahre 1890 sich bereits auf 3.157.380 Mark belief.

Die üblichste Art und Weise, unsere Kolonisten unterzubringen, ist bis jetzt noch die, daß kleine Trüppchen von 12 bis 25 Kindern unter Führung eines Lehrers oder einer Lehrerin sich in einem geeignet gelegenen Landort bei einem guten Wirthe einquartieren, welcher die Verpflegung gegen einen mäßigen Satz übernimmt. So natürlich dieses Verfahren ist und so gute Erfolge man damit erzielt hat, es haften ihm doch auch Uebelstände an. Insbesondere ist es, auch bei weitem Entgegenkommen der Quartierwirthe, immer noch verhältnißmäßig theuer. Ferner entsprechen die Räumlichkeiten, welche der Besitzer eines ländlichen Gasthofs für einen solchen Zweck zur Verfügung stellen kann, vollends bei der starken Belegung, nicht immer den gesundheitlichen Anforderungen, die man an sie stellen muß, soll der Zweck des Landaufenthalts an den kränkelnden Pflänzchen des Stadtbodens erreicht werden. Endlich ist auch die Ueberwachung vielfach erschwert, da die Kinder zur Nacht doch meist in verschiedene Zimmer vertheilt werden müssen. Und was erst mit den müßigen Seelen anfangen, wenn ein heimtückischer Landregen sie unter das Dach bannt! – So kam man denn im Laufe der Zeit auf den Gedanken, eigene Häuser zu bauen oder zu erwerben und sie zur Aufnahme der Sommerpfleglinge einzurichten. Die guten Erfahrungen, die man damit gemacht hat, werden mehr und mehr zur Nachahmung reizen; und wenn wir im folgenden zwei Anwesen dieser Art dem Leser näher vor Augen führen, so möchten auch wir zu weiterem Fortschreiten auf dieser Bahn anregen.

Auch im Schoße des Vereins für Ferienkolonien zu Leipzig war der Wunsch nach der Erwerbung eines eigenen Besitzthums längere Zeit lebendig gewesen, ohne daß sich Mittel und Wege zur Ausführung gezeigt hätten. Da kam plötzlich Hilfe. Im Jahre 1888 starb der Geheime [365] Medizinalrath Professor Dr. Wagner, und aus seinem Nachlaß floß den Ferienkolonien das hochsinnnige Vermächtniß von 30 000 Mark zu. Noch in demselben Jahre erwarb der Verein zu Grünhaide im Sächsischen Vogtland, nur zwanzig Minuten von dem Luftkurort Reiboldsgrün entfernt, ein stattliches zweistöcklges Wohnhaus mit zugehörigen Wirthschaftsgebäuden, Wiesen und Feldern und ließ es alsbald für seinen Zweck herrichten, so daß in ihm noch im Jahre 1888 fünfzig Kinder Aufnahme und Verpflegung finden konnten. Und als die günstigen Erwartungen, welche man daran geknüpft hatte, sich bestätigten, da schritt man im Jahre 1890 zur Erweiterung der Anstalt, indem man gegenüber dem alten Hause, nur durch die Landstraße von ihm getrennt, im Barackenstil ein neues Gebäude errichtete, das dem edlen Spender jenes ersten Heims zu Ehren den Namen „Ernst Wagner-Haus“ erhielt. Nunmehr können hundert Kinder gleichzeitig in Grünhaide versorgt werden, und unser Gewährsmann versichert uns, daß die eigene Wirthschaftsführung es ermögliche, für denselben Preis, der sonst in Gasthöfen bezahlt würde, beinahe die doppelte Anzahl von Kindern in mindestens ehenso guter und reichlicher Weise zu verköstigen.

Grundriß des Ernst Wagner-Hauses.

Sehen wir uns das zweite, neuere Gebäude noch etwas näher an, denn seine Bauart und Einrichtung dürfte überall da Interesse haben, wo ähnliche Einrichtungen angestrebt werden! Es hat nur ein Geschoß und ruht auf gemauerten Pfeilern, so daß die Luft zwischen Diele und Erdboden freien Durchzug hat. Es besteht aus einem Mittelbau und zwei sich anschließenden Flügeln. Den Mittelbau nimmt zum größten Theile der bis zum Dache reichende 9 Meter breite und 10 Meter tiefe Speisesaal ein, hinter welchem noch eine zum Aufenthalt bei regnerischem Wetter günstige offene Halle gelegen ist. Jeder der beiden Flügel enthält einen 16 Meter langen und 7 Meter breiten luftigen Schlafsaal, der tagsüber von der Sonne ganz durchfluthet und außerdem durch besondere Vorrichtungen am Dache gelüftet wird. An die beiden Schlafsäle schließt sich an der Hinterseite des Hauses je ein für den Führer oder die Führerin bestimmtes Zimmer, während der Vorderseite der beiden Flügel je eine vor Regen geschützte, mit Bänken versehene Veranda entlang läuft. Geräumige Spielplätze, durch einen Zaun begrenzt, umgeben das Haus auf allen Seiten. Der Kostenaufwand betrug rund 17000 Mark.

Wie in Leipzig, so legte auch in Dresden die zunehmende Menge der verpflegungsbedürftigen Kinder den Wunsch nach einem eigenen Anwesen nahe; hatte doch der „Gemeinnützige Verein zu Dresden“ im Jahre 1892 nicht weniger als 669 Knaben und Mädchen zu versorgen! So entschloß sich denn der genannte Verein, aus eigenen Mitteln ein „Sommerheim für Kinder“ zu bauen. Er erwarb zu diesem Zwecke für den Preis von 4000 Mark in der Nähe des an der Dresden-Chemnitzer Bahn gelegenen Dorfes Klingenberg eine 8500 Quadratmeter große Parzelle des Grüllenburger Forsts, die durch ihre hohe, gegen Norden geschützte und landschaftlich schöne Lage, durch die unmittelbare Nachbarschaft ausgedehnter Waldungen besonders geeignet schien, als Baugrund für ein „Sommerheim“ zu dienen. Im Anfang des Jahres 1891 wurde der Bau begonnen und bereits im Juni vollendet.

Wir können ihn kurz charakterisieren als eine Verdoppelung des Grünhaider Neubaus. Er besteht im wesentlichen aus zwei 35 Meter voneinander entfernten, ebenfalls auf Steinsäulen ruhenden Fachwerkbaracken, deren jede zwei sonnige und luftige Schlafsäle für je 25 Kinder, einen geräumigen gemeinsamen Tagraum (Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer), zwei Führergelasse und zwei Kleiderkammern enthält. Zwischen beiden Baracken liegt das Wirthschaftsgebäude mit Küche, Speisekammer, Keller, Baderaum, Wohnzimmern für die Wirthschafterin und die Dienstboten und endlich, für vorkommende Nothfälle, zwei Krankenzimmern. Ein breiter, bedeckter, nach Süden offener Gang verbindet die drei Gebäude, der zugleich bei ungünstigem Wetter den Kindern einen erträglichen Aufenthalt bietet. Hiezu kommt noch ein Thorwärterhäuschen, das auch während des Winters von dem Hausmann und seiner Familie bewohnt wird, und ein Waschhaus mit anstoßendem Holz- und Kohlenschuppen. Die Gesammtkosten des Baus betrugen 44 966 Mark. Die innere Einrichtung, welche 8227 Mark kostete, ist durchweg einfach praktisch, aber freundlich und gefällig, immer darauf berechnet, die Kinder zu einem gewissen Sinn für Anmuth zu erziehen, ohne sie zu verwöhnen. Doch fehlt auch künstlerischer Schmuck nicht ganz. Auf der Rückwand des bedeckten Ganges hat der Historienmaler Rödig eine Reihe von humoristischen Bildern angebracht, wie die Kinder willkommen geheißen werden von „Frau Sonne“ und „Vater Wald“, wie sie gewogen werden vor und nach der Sommerpflege u. dergl. m. Die Wände der Hauptgebäude dagegen hat Maler Schultz mit Arabeskenschmuck und allerlei Sinnsprüchen geziert.

Die Aufsicht in dem Sommerheim führt eine Oberin nebst drei Lehrern oder Lehrerinnen, die Verpflegung liegt in den Händen der Inspektorin, der zwei oder drei Hausmädchen beigegeben sind. Eine fest bestimmte Kostordnung schreibt auf drei Wochen für jeden Tag Art und Menge der Speisen vor.

Im Sommer des Jahres 1892 hat das Klingenherger Heim zweimal je hundert und einmal fünfzig Kinder beherbergt, wobei sich alle seine Einrichtungen aufs beste bewährt haben. Durch eine frische Gesichtsfarbe und stattliche Gewichtszunahme quittierten die Kinder auch äußerlich dankend das Empfangene.

Ein sehr kluger und beherzigenswerther Gedanke ist übrigens mit diesem Sommerheim des Dresdener Gemeinnützigen Vereins noch erprobt worden. Um das Heim außerhalb der doch verhältnißmäßig kurzen Ferienzeit nicht leer stehen zu lassen wurde beschlossen, es während der ganzen wärmeren Jahreszeit für blutarme und schwächliche, überhaupt der Erholung bedürftige Kinder gegen eine Vergütung von 10 Mark für die Woche offen zu halten. Die Anstalt dient also außerhalb der großen Sommerferien gleichsam als Genesungshaus für solche Kinder, die durch ihr Befinden am Schulbesuch verhindert sind; und diese können den herrlichen stärkenden Aufenthalt in Luft und Licht genießen, ohne daß die Eltern selbst genöthigt sind, mit ihnen aufs Land hinauszugehen. Anmeldungen für eine derartige Aufnahme in das Sommerheim sind an die Geschäftsstelle des „Gemeinnützigen Vereins“ in Dresden (an der Kreuzkirche 15,I) oder an Herrn Dr. Richard Schmaltz (Pragerstraße 30) zu richten.

So mögen denn diese Beispiele, denen sich noch andere von Hamburg, Bremen, Barmen, Landsberg a. d. W. etc. anreihen ließen, ihre gute Wirkung thun! Zur Schaffung eines eigenen Heims bedarf es naturlich einer einmaligen größeren Ausgabe, für welche Deckung gesucht werden muß, sei es durch Rücklagen aus den laufenden Einnahmen, sei es durch besonderen Anruf der Mildthätigkeit. Wenn aber die Ueberzeugung sich Bahn bricht, wie viel mehr auf diesem Wege zu erreichen ist, so wird es gewiß nirgends an offenen Herzen und offenen Händen fehlen!

Das Sommerheim bei Klingenberg in Sachsen.

Zeichnung von R. Püttner.

[366]
Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(21. Fortsetzung.)


Die Bäume des Parkes rauschten und schwankten im Winde, der jetzt, gegen Abend, zum Sturme zu werden drohte. Er trieb die rothen und gelben Blätter in wirbelndem Spiel durch die Luft und ein grauer wolkenverhüllter Himmel blickte nieder auf die herbstliche Erde.

Maja kam allein zurück von der Ruhestätte ihres Bruders, während Cäcilie noch dort geblieben war; sie hatte sich überreden lassen, vorauszugehen. Das junge Mädchen, mitten im sonnigen Lenz des Lebens, empfand ein geheimes Grauen vor allem, was mit Tod und Grab zusammenhing. Ihr winkte ja das Dasein und das Glück an der Seite eines geliebten Mannes!

Auf dem Rückweg kam sie an dem Rosensee vorüber, wo Oskar ihr damals seine Liebe gestanden hatte. Freilich, heute sah der Ort anders aus als an jenem Maientag im Sonnen- und Frühlingsglanze. Welkes Laub bedeckte den Boden und welkes Riedgras die Ufer des Sees, der im düsteren Lichte des Sturmtages schwarz und unheimlich dalag. Kein süßes Vogelgezwitscher tönte mehr aus den herbstlich gelichteten Gebüschen, alles war stumm und tot, und die Bergwand, die einst so duftig blau aus der Ferne herübergeblickt, hüllte sich heute in dichten Nebel.

Maja war unwillkürlich stehen geblieben; sie blickte starr auf den so traurig veränderten Ort und zog fröstelnd den Mantel fester um die Schultern. Da hörte sie nahende Schritte, und in der nächsten Minute trat Oskar von Wildenrod aus den Gebüschen hervor. „Ich suchte Dich im ganzen Parke, Maja,“ sagte er hastig, „und verzweifelte schon daran, Dich zu finden.“

„Ich war mit Cäcilie an Erichs Grab,“ entgegnete das junge Mädchen. „Sie ist noch dort.“

„Um so besser, denn ich habe mit Dir allein zu reden. Willst Du mich anhören?“

Ohne die Antwort abzuwarten, zog er sie auf die Bank nieder, über welche die Buche ihre halbentlaubten Aeste gespenstisch hinstreckte. Erst jetzt sah Maja, daß er in Hut und Mantel war und daß seine Züge einen seltsam verstörten Ausdruck hatten.

„Es ist doch nichts Schlimmes geschehen?“ fragte sie erschrocken. „Der Papa –?“

„Nicht um ihn handelt es sich, sondern um mich, oder vielmehr um uns beide, Maja, ich habe Dir Ernstes, Schweres zu sagen. Du sollst mir jetzt zeigen, ob Deine Liebe zu mir echt und groß ist. Du liebst mich doch, nicht wahr? Hier an dieser Stelle hast Du Dich einst mir zu eigen gegeben. Ich glaubte Deine Hand nur für das Glück zu fordern, für ein Leben voll Sonnenschein und Freude – hast Du den Muth, auch das Leid mit mir zu tragen?“

Maja war wie betäubt von diesen sich überstürzenden Worten; sie bebte zusammen. „Oskar, um Gotteswillen, was meinst Du? Du ängstigst mich namenlos mit diesen dunklen Andeutungen!“

„Ich verlange ein Opfer von Dir, ein großes schweres Opfer. Wirst Du es mir bringen?“

„Das fragst Du noch? Alles, alles, was Du verlangst!“

„Und wenn ich nun forderte, Du sollest den Vater, die Heimath verlassen und mit mir gehen, weit fort in ein fremdes Land – würdest Du mir folgen?“

„Den Vater? Die Heimath?“ wiederholte das junge Mädchen verständnißlos. „Aber wir bleiben ja hier in Odensberg.“

„Nein! Ich muß fort – wirst Du mit mir gehen?“

„Ich – ich verstehe Dich nicht,“ sagte Maja, an allen Gliedern zitternd. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sein Gesicht war totenbleich und in seinen Augen loderte jene düstere Gluth, die sie damals bei der ersten Begegnung so erschreckt hatte.

„Ich habe Dir einmal von meinem früheren Leben erzählt,“ hob er an, „von einer wilden ruhelosen Jagd nach dem Glück, das mich immer wieder zu fliehen schien, bis ich es endlich hier fand, in Deinem Besitz – erinnerst Du Dich dessen?“

„Ja“ flüsterte Maja. Ob sie sich dessen erinnerte! War es doch in jener Stunde gewesen, in der er ihr seine Liebe gestanden hatte!

„Ich konnte die Vergangenheit Deinen reinen Kinderaugen nicht entschleiern,“ fuhr Wildenrod mit sinkender Stimme fort, „und kann es auch heute nicht, aber es liegt ein Schatten darin –“

„Ein Unglück – nicht wahr?“ Die Frage klang angstvoll.

„Ja – ein Unglück, das mich aus meiner Bahn schleuderte und mich dann in Unheil und Schuld verstrickte. Ich hatte das alles von mir geworfen und wollte hier an Deiner Seite ein neues Leben beginnen. Da taucht der alte Schatten wieder auf und droht mir von neuem und droht, Dich, Maja, mir zu entreißen.“

„Nein, nein, ich lasse nicht von Dir, was auch geschehen ist, was auch kommen mag!“ rief Maja heftig, sich an ihn klammernd. „Mein Vater ist Herr in Odensberg, er wird Dich schützen.“

„Dein Vater wird unsere Verlobung zerreißen und uns trennen, unwiderruflich. Der eiserne Mann mit seinen starren Grundsätzen wird Dich lieber tot sehen als an der Seite eines Gatten, dessen Vergangenheit nicht rein ist. Nur ein Mittel giebt es, Dich mir zu retten, ein einziges – aber Du mußt Muth haben.“

„Was – was soll ich thun?“ stammelte sie, willenlos im Banne seiner Augen und seiner Stimme. Er beugte sich tiefer zu ihr hinab und die Worte strömten heiß und leidenschaftlich über seine Lippen. „Du bist meine Braut – ich habe das Recht, Dich zum Weibe zu fordern! Wir fliehen aus Odensberg, und sobald wir die deutsche Grenze überschritten haben, führe ich Dich zum Altare. Dann hat niemand, auch Dein Vater nicht, das Recht, Dich von mir zu reißen, an unserer Ehe scheitert jede Macht – Du bist unwiderruflich mein.“

Oskar von Wildenrod wußte sehr gut, daß eine derartige Trauung vor dem Gesetz ungültig war, aber was kam darauf an, wenn nur Maja sie für gültig hielt, wenn sie sich nur als sein Weib wußte. Dann mußte Dernburg einwilligen, er durfte um der Ehre seines Namens willen nicht zugeben, daß seine Tochter mit einem anderen als ihrem Gatten in der Ferne weile, und die gültigen Formen konnten nachträglich vollzogen werden. War dann auch die Herrschaft in Odensberg verloren, Maja blieb doch die Erbin ihres Vaters, Freiheit und Reichthum hingen an ihrer Hand.

Es war ein unsinniger tollkühner Plan, den die Verzweiflung dem Freiherrn eingegeben hatte, indessen der Plan war ausführbar, wenn Maja zustimmte. Aber sie schreckte jetzt entsetzt auf aus seinen Armen. „Oskar! Allmächtiger Gott, was forderst Du?“

„Meine Rettung!“ rief er stürmisch aus. „Ich bin verloren, wenn ich bleibe – Du allein kannst mich retten. Geh’ mit mir, Maja, sei mein Weib, mein Schutzgeist, und ich will Dir auf den Knien danken. Nur zwei Wege kann ich noch gehen – den einen mit Dir in das Leben, den anderen ohne Dich –“

„In den Tod?“ schrie Maja auf. „Nein, nein, Oskar, Du sollst nicht sterben! Ich gehe mit Dir, wohin Du willst!“

Ein Jubelruf entrang sich seinen Lippen; er überschüttete seine Braut mit leidenschaftlichen Liebkosungen. „Meine Maja! Ich wußte es ja, Du würdest mich nicht verlassen, wenn auch alles mich verläßt. Und nun komm’, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Jetzt? In dieser Stunde?“ fragte Maja zusammenzuckend. „Ich soll den Vater nicht mehr sehen?“

„Unmöglich! Du würdest Dich verrathen! Wir müssen auf der Stelle fort. Am hinteren Parkthor hält der Wagen, der uns zur Bahn bringt, meine Papiere und eine Summe Geldes trage ich bei mir. Bei der Aufregung, die heute in Odensberg herrscht, bleibt unsere Abreise unbemerkt. Ich werde dafür sorgen, daß man die Spur nicht findet, bis ich Deinem Vater unsere Vermählung melden kann.“

Majas Augen waren unverwandt auf den Sprechenden gerichtet, aber das waren nicht mehr die frohen harmlosen Kinderaugen, es stand ein Ausdruck darin, den Oskar nicht zu enträthseln vermochte.

[367] „Dem Vater nicht Lebewohl sagen?“ wiederholte sie mechanisch. „Nicht einmal das, wenn ich auf immer von ihm gehe?“

„Nicht für immer,“ beruhigte sie Wildenrod. „Dein Vater wird sich versöhnen lassen. Ich nehme die ganze Schuld und Verantwortung dieses Schrittes auf mich allein. Wir werden zurückkehren.“

„Ich nicht!“ sagte das junge Mädchen leise. „Ich werde sterben an diesem Leben in der Fremde, an der Trennung von dem Vater, an jenem – jenem Furchtbaren, das Du mir nicht nennen willst. Deine Liebe ist mein Tod!“

„Maja!“ unterbrach er sie mit zorniger Bestürzung, sie aber fuhr unbeirrt fort: „Ich habe das eigentlich immer gewußt. Als Du zuerst unser Haus betratest und ich zum ersten Mal in Deine Augen sah, da überfiel mich eine Angst, als stände ich an einem Abgrund und müßte hinabstürzen. Und die Angst ist immer wieder gekommen, selbst in der Stunde, in der Du mir Deine Liebe gestandest, selbst in dem Glück der letzten Wochen. Ich habe es nur nicht wissen wollen, habe mich dagegen gewehrt und an das Glück der Gegenwart geklammert. Nun zeigst Du mir den Abgrund, und ich – ich muß hinunterstürzen.“

„Und Du willst doch mit mir gehen?“ fragte Oskar langsam; es war, als versagte ihm der Athem.

„Ja, Oskar! Du sagst, ich könne Dich retten, wie darf ich zögern?“ Sie legte den Kopf an seine Brust, mit einem leisen herzzerreißenden Weinen, in dem das junge Wesen sein Glück begrub. Wildenrod stand regungslos da und blickte auf sie herab; von der Buche rieselten langsam die welken Blätter auf die beiden nieder.

Endlich richtete sich Maja auf und trocknete ihre Thränen. „Laß uns gehen – ich bin bereit!“

„Nein!“ sagte Oskar, beinahe rauh, indem er sie aus den Armen ließ.

Das junge Mädchen sah ihn betroffen an. „Was sagtest Du?“

Er nahm den Hut ab und strich über die Stirn, als wollte er dort etwas wegwischen. Seine Züge erschienen auf einmal so seltsam verändert, vor wenigen Minuten stürmte noch die ganze wilde Leidenschaft seiner Natur darüber hin, jetzt lag eine kalte starre Ruhe darauf. „Ich sehe ein, daß Du recht hast,“ sagte er und seine Stimme klang unnatürlich ruhig. „Es wäre grausam, Dir den Abschied von dem Vater zu verwehren. Geh’ zu ihm und sage ihm – was Du willst.“

„Und Du?“ fragte Maja, bestürzt über diese plötzliche Sinnesänderung.

„Ich warte hier auf Dich. Es ist vielleicht besser, Du sprichst ihn noch einmal, ehe wir den letzten äußersten Schritt wagen, vielleicht gelingt es Dir, ihn umzustimmen.“

Es war nur ein karger Lichtschimmer, den er ihr zeigte, aber mehr bedurfte es nicht, um in dem Herzen Majas die Hoffnung hell wieder aufflammen zu lassen. „Ja, ich will zum Vater!“ rief sie. „Ich will ihn auf meinen Knien bitten, uns nicht zu trennen. Du kannst ja nichts so Schweres, Unsühnbares begangen haben, und er wird und muß mich hören. Aber – wäre es nicht besser, Du gingest mit mir?“

„Nein, das wäre umsonst! Aber nun geh’, geh’ – die Zeit ist kostbar.“

Er drängte sie beinahe angstvoll von sich, doch als sie sich dann wirklich zum Gehen wandte, streckte er plötzlich beide Arme nach ihr aus. „Komm’ zu mir, Maja! Sage mir noch einmal, daß Du mich liebst, daß Du mit mir gehen wolltest, trotzalledem!“

Das junge Mädchen flog wieder zu ihm zurück und schmiegte sich an ihn. „Du fürchtest, ich könnte nicht standhaft bleiben? Ich theile alles mit Dir, Oskar, und wäre es das Schlimmste, mich reißt nichts von Deiner Seite!“

„Dank!“ sagte er innig. In seiner Stimme bebte ein weicher verschleierter Klang, aus seinen Augen war die düstere Gluth gewichen, sie strahlten jetzt voll tiefer Zärtlichkeit. „Dank, meine Maja! Du ahnst nicht, was dies Wort alles in mir befreit und erlöst, was Du mir damit giebst. Vielleicht erfährst Du jetzt aus dem Munde Deines Vaters, was ich Dir nicht sagen kann. Wenn sie mich dann alle verdammen und verwerfen, so denke daran, daß ich Dich geliebt habe, grenzenlos geliebt. Wie sehr, das fühle ich erst in diesem Augenblick – und ich werde es Dir beweisen.“

„Oskar, Du bleibst doch hier?“ fragte Maja, von einer dunklen Ahnung geängstigt.

„Ich bleibe in Odensberg, mein Wort darauf – und nun geh’, Kind!“

Er küßte seine Braut noch einmal und gab sie dann frei. Sie schritt langsam davon; am Rande des Gebüsches wandte sie sich um. Wildenrod stand regungslos da und sah ihr nach, aber er lächelte, und das beruhigte das junge Mädchen, das nun rasch in den nebelerfüllten Park eilte.

Oskar folgte der schlanken Gestalt mit seinen Blicken, bis sie verschwunden war, dann ging er langsam zu der Bank zurück und legte prüfend die Hand an die Brusttasche. Dort ruhten seine Papiere, die Geldsumme, die er bei sich trug, und – noch etwas anderes, das er für alle Fälle zu sich gesteckt hatte. Jetzt galt es … doch nein, nicht hier, nicht im Umkreis des Hauses! Es kam ja auch auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an – die Nacht paßte besser zu seinem Vorhaben.

„Arme Maja!“ sagte er leise. „Du wirst bitter weinen; aber Dein Vater wird Dich in seine Arme nehmen. Du hast recht, Du würdest sterben an einem solchen Leben und an meiner Schuld – Du sollst gerettet werden. Ich gehe allein – ins Verderben!“

*      *      *

Das Erbbegräbniß der Dernburgschen Familie lag an der Rückseite des Parkes. Es war kein prunkendes Mausoleum, nur ein von dunklen Tannen umfriedeter Ort. Einfache marmorne Gedenksteine schmückten die grünen epheuumrankten Hügel. Hier ruhten Dernburgs Vater und Gattin und hier hatte auch sein Sohn Erich die letzte Ruhestätte gefunden.

Die junge Witwe weilte noch allein am Grabe, doch der immer stürmischer sich erhebende Wind mahnte auch sie jetzt zum Aufbruch. Sie hatte sich eben niedergebeugt, um den frischen Kranz auf dem Grabe besser zu befestigen, und richtete sich nun empor, als sie auf einmal jäh zusammenzuckte. Egbert Runeck war aus den Tannen hervorgetreten und stand ihr gegenüber. Er hatte offenbar nichts geahnt von diesem Zusammentreffen, aber er faßte sich rasch und sagte mit einer Verbeugung. „Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich störe. Ich glaubte den Platz leer zu finden!“

„Sie sind in Odensberg, Herr Runeck?“ fragte Cäcilie, ohne ihr Befremden zu verbergen.

„Ich war bei Herrn Dernburg und wollte die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne die Grabstätte meines Jugendfreundes zu besuchen. Es ist das erste und wohl auch das letzte Mal, daß ich sie sehe.“

Sein Blick streifte dabei düster die schwarz verschleierte Gestalt Cäciliens; dann trat er zum Grabe und blickte lange und schweigend darauf nieder. „Armer Erich!“ sagte er nach einer Weile. „Er mußte so früh scheiden, und dennoch – es ist ein beneidenswerther Tod, so mitten im Glück zu sterben!“

„Sie irren – Erich starb nicht im Glück!“ sagte Cäcilie leise.

„Sie glauben, daß er das Nahen des Todes gefühlt und den Trennungsschmerz empfunden hat? Ich hörte doch, der Blutsturz habe ihn bei anscheinend voller Gesundheit befallen und er sei dann nicht wieder zur Besinnung gekommen.“

„Ich weiß nicht, für mich liegt etwas Räthselhaftes in den letzten Augenblicken Erichs,“ entgegnete die junge Frau gepreßt. „Als er noch einmal die Augen aufschlug, kurz vor seinem Tode, da sah ich, daß er mich noch erkannte. Der Blick verfolgt mich immer noch, ich kann ihn nicht loswerden. Er war so voll Klage und Vorwurf, als hätte Erich gewußt oder geahnt –“ sie brach plötzlich ab.

„Was soll er geahnt haben?“ fragte Runeck hastig.

Cäcilie schwieg, sie konnte hier doch am wenigsten sagen, was sie fürchtete. „Mein Bruder meint, es sei Einbildung,“ entgegnete sie dann ausweichend. „Er mag recht haben, und doch bleibt diese Erinnerung für mich ein Stachel, der immer schmerzen wird.“

Sie neigte das Haupt zum Gruße gegen Egbert und wollte gehen; er kämpfte offenbar mit sich selbst, dann machte er eine Bewegung, als wollte er die Scheidende zurückhalten. „Ich glaube, [368] es ist besser, ich bereite Sie auf die Nachricht vor, gnädige Frau, mit der man Sie im Hause empfangen wird – Freiherr von Wildenrod ist abgereist.“

„Mein Bruder?“ fuhr Cäcilie in ahnungsvoller Angst auf. „Und Sie sind in Odensberg? Was haben Sie gethan?“

„Eine bittere Pflicht erfüllt!“ entgegnete er ernst. „Ihr Bruder hat mir keine Wahl gelassen, Er war gewarnt durch Sie – er hätte sich mit dem Erreichten begnügen können … Maja durfte nicht geopfert werden! Ich habe ihrem Vater die Augen geöffnet.“

„Und Oskar? Er ist abgereist, sagen Sie – wohin?“

„Das weiß augenblicklich niemand, Ihnen wird er jedenfalls Nachricht senden. Aber Sie verlieren nichts von der Liebe Ihres Schwiegervaters. Er weiß, daß Sie auch nicht der leiseste Vorwurf trifft.“

„Handelt es sich hier denn um mich?“ rief die junge Frau heftig. „Glauben Sie, daß ich ruhig hier in Odensberg leben kann, wenn mein Bruder in der Welt da draußen umherirrt, wieder im Kampfe mit all den unseligen Mächten, die ihn so weit gebracht haben? Sie haben Ihre Pflicht gethan – ja wohl! Was fragt eine eiserne Natur wie Sie danach, wen und was sie dabei vernichtet!“

„Cäcilie!“ unterbrach Runeck sie und der Ton verrieth die ganze Qual, die er bei diesen Vorwürfen ausstand. Aber Cäcilie hörte nicht darauf, sie fuhr mit steigender Bitterkeit fort: „Majas Hand und Liebe hätten Oskar gerettet, ich weiß es, denn in ihm lag eine mächtige Kraft zum Guten wie zum Bösen. Jetzt ist er wieder zurückgeschleudert in das alte Leben, jetzt ist er verloren.“

„Durch mich – das wollen Sie doch wohl sagen?“

Sie antwortete nicht, aber ihre Augen blickten mit bitterem verzweifelten Vorwurf zu dem Mann auf, der finster und ungebeugt vor ihr stand.

„Sie haben recht,“ sagte er herb, „Das Schicksal hat mich nun einmal dazu verdammt, allem, was mir lieb ist, Weh und Schmerz zu bringen. Den Mann, der mir mehr als ein Vater gewesen ist, mußte ich kränken bis in die tiefste Seele hinein; das Herz der armen Maja mußte ich tödlich verwunden. Aber das Schwerste war doch das, was ich Ihnen anthun mußte, Cäcilie, und wofür Sie mich nun verdammen!“

Er wartete vergebens auf eine Erwiderung; Cäcilie verharrte in ihrem Schweigen. Um die beiden her brauste und rauschte es wie damals, als sie am Fuße des Albensteins standen; geheimnißvoll wie aus weiter Ferne kam dies Brausen herangezogen, immer mächtiger anschwellend und dann sinkend und ersterbend mit dem Windeshauch. Aber jetzt wühlte der Herbststurm in halbentlaubten Bäumen, die ersten grauen Schatten der Dämmerung begannen aufzusteigen, und was sich in das Rauschen und Brausen mischte, das waren nicht friedliche Glockenklänge wie damals, sondern fremde und unheimliche Töne. Es war ein fernes verworrenes Geräusch, zu unbestimmt, als daß man hätte unterscheiden können, was es war, denn der Sturm verschlang es immer wieder. Aber jetzt setzte der Wind für einige Minuten aus, da klang es lauter, deutlicher herüber. Cäcilie richtete sich betroffen auf. „Was war das? Kam das vom Hause her?“

„Nein, es scheint von den Werken zu kommen,“ erklärte Runeck. „Ich hörte es schon vorhin.“

Beide lauschten jetzt gespannter, und plötzlich fuhr Egbert auf. „Das sind Menschenstimmen! Das ist das Toben einer empörten Menge! Drüben auf den Werken geschieht etwas – ich muß hinüber!“

„Sie, Herr Runeck? Was wollen Sie dort?“

„Den Herrn von Odensberg schützen vor seinen Leuten! Ich weiß am besten, wie die Arbeiter gegen ihn gehetzt und aufgereizt worden sind, Wenn er sich jetzt zeigt – er ist nicht mehr sicher unter seinen Arbeitern.“

„Um Gotteswillen!“ rief die junge Frau entsetzt.

„Fürchten Sie nichts,“ fiel Runeck ein. „So lange ich an seiner Seite bin, naht ihm keiner. Wehe dem, der es wagen sollte!“

Cäcilie war aufgesprungen; noch vor wenigen Minuten hatte sie geglaubt, dem Ankläger ihres Bruders nicht verzeihen zu können, und jetzt ging aller vermeintliche Haß unter in der Angst um ihn, um sein Leben. Sie flog herbei und umfaßte mit beiden Händen seinen Arm.

„Egbert!“

Er war im Begriff, fortzueilen, und blieb jetzt wie gebannt stehen. „Cäcilie! Sie nennen mich so?“

„Sie wollen die empörte Menge dort drüben herausfordern? O, Sie suchen den Tod!“ rief die junge Frau außer sich. „Egbert, denken Sie an mich und meine Todesangst um Sie!“

Mit einem stürmischen Ausruf des Jubels wollte Egbert die Geliebte an sich ziehen, da fiel sein Blick auf ihre Trauerkleidung, auf das Grab seines Jugendfreundes, und still zog er nur ihre Hand an seine Lippen; aber ein heller Strahl des Glückes blieb in seinem Gesicht zurück, als er leise sagte: „Ich werde daran denken – leb’ wohl, Cäcilie!“ Damit stürmte er fort. –

Die Odensberger Werke waren am Abend der Schauplatz wilder und wüster Scenen geworden. Die Besonnenheit, mit der die Beamten versucht hatten, die Gährung der Arbeitermassen niederzuhalten und bei den Entlassungen Ruhe und Ordnung zu wahren, war vergebens gewesen; es scheiterte alles an der herausfordernden Haltung jener Partei, die Landsfeld im geheimen lenkte und an deren Spitze hier auf den Werken der Arbeiter Fallner stand. Heute hatte der Sozialistenführer es allerdings für nothwendig befunden, selbst nach Odensberg zu kommen, was er sonst vermied; denn er wußte, was diesmal auf dem Spiele stand. Die meisten Arbeiter waren schon zur Besinnung gekommen, mehr als die Hälfte war entschlossen, morgen die Arbeit wieder aufzunehmen und sich den Bedingungen des Chefs zu fügen. Die Wirkung dieses Beispiels auf die übrigen war vorauszusehen. Da galt es, um jeden Preis Gewaltscenen herbeizuführen, welche die Verständigung unmöglich machten. Und das war bereits gelungen.

Die Werke waren erfüllt von wogenden lärmenden Massen, die sich vorläufig noch untereinander bedrohten. Fallner und sein Anhang schleuderten der Gegenpartei wüthende Schimpfworte zu; „Feiglinge! Verräther! Elende Hunde!“ scholl es wild durcheinander, und die solchermaßen Angegriffenen blieben die Antwort nicht schuldig. Sie warfen ihren Genossen vor, sie in den Ausstand hineingehetzt, ihnen einen Beschluß, von dem sie nichts wissen wollten, gewaltsam aufgezwungen zu haben. Einstweilen spielten die Fäuste nur noch eine nebensächliche Rolle, aber jeden Augenblick konnte ein blutiger Zusammenstoß erfolgen und die ganze Wildheit der aufgeregten Menge entfesseln.

Im Direktionsgebäude hatten die Beamten eine förmliche Belagerung auszuhalten. Die Jüngeren waren aus den nunmehr geschlossenen Werkstätten und Bureaus hierher geflüchtet zu ihren Vorgesetzten, die selbst völlig rathlos waren. Die getroffenen Maßregeln hatten sich als wirkungslos erwiesen, man berieth eben in erregtester Weise, was nun zu thun sei.

„Es hilft nichts, wir müssen den Herrn herbeirufen,“ sagte der Direktor. „Er war so wie so entschlossen, im Nothfall persönlich einzugreifen – jetzt weiß ich keinen anderen Rath mehr.“

„Um Gotteswillen nicht!“ fiel Winning ein. „Er darf sich nicht zeigen. Seine Stimmung ist wahrhaftig nicht danach, den Leuten gute Worte zu geben, und tritt er ihnen schroff entgegen, dann ist das Schlimmste zu fürchten.“

„Was wollen diese Menschen da draußen denn eigentlich?“ rief Doktor Hagenbach, der gleichfalls anwesend war, weil er fürchtete, daß seine ärztliche Thätigkeit nothwendig werden könnte. „Wen bedrohen sie denn? Herrn Dernburg? Uns? Oder sich untereinander?“

„Das wissen sie vermuthlich selbst am wenigsten,“ entgegnete der Oberingenieur. „Höchstens wird ihr Führer, der Landsfeld, darüber im klaren sein. Er soll heute in Odensberg sein, da haben wir mit Sicherheit irgend etwas Ernstes zu erwarten.“

„Um so weniger kann ich die Verantwortung noch länger auf mich allein nehmen,“ erklärte der Direktor. „Ich werde unserem Chef melden, daß wir nicht mehr Herren der Lage sind. Er mag dann thun, was er will.“

Er wollte ans Telephon, als auf einmal der Lärm draußen aufhörte. Er verstummte ganz plötzlich, nur noch einzelne Stimmen wurden laut, dann schwiegen auch diese und es herrschte eine Totenstille. Die Beamten eilten an die Fenster, um zu sehen, was es gebe.

„Da ist der Herr!“ rief Winning. „Ich dachte mir, daß er ungerufen erscheinen würde, wenn er das Toben hört.“

[369]

Elefantenjagd am Kongo.
Originalzeichnung von Alb. Richter.

[370] „Aber wie sieht er aus!“ fügte Hagenbach leise hinzu. „Ich fürchte, das giebt ein Unglück.“

„Wir wollen die Thüren öffnen, damit er sich im Nothfall hierher zurückziehen kann,“ sagte der Direktor, der gleichfalls herbeigeeilt war. „Er ist ja ganz allein, nicht einmal Wildenrod ist bei ihm. Wir müssen zu ihm. Schnell, meine Herren!“

Die von innen verschlossenen Thüren wurden geöffnet, aber die Beamten konnten weder zu ihrem Chef, noch dieser zu ihnen gelangen, eine dichte Menschenmasse stand dazwischen und hielt den Platz vor dem Hause besetzt. Der Versuch des Direktors und seiner Kollegen, diese lebendige Mauer zu durchbrechen, war vergeblich – die zunächststehenden Arbeiter nahmen eine so drohende Haltung an, daß die Herren zurückwichen, um nicht eine Gewaltthat hervorzurufen, die sich dann sofort auch gegen Dernburg gekehrt haben würde.

Dieser hatte den kleinen Seitenweg benutzt, der vom Herrenhaus nach dem Direktionsgebäude führte, ohne die Werke zu berühren. Niemand hatte ihn kommen sehen, und nun stand er auf einmal wie aus der Erde gewachsen mitten unter seinen Arbeitern. Die ganze Macht seiner Persönlichkeit zeigte sich in diesem Augenblick – sein bloßes Erscheinen wirkte mit zwingender Gewalt auf die eben noch wild erregte Menge, die plötzlich wie von einem Banne gefesselt stand. Aller Augen waren auf die hohe Gestalt mit den finster zusammengezogenen Brauen gerichtet, alles wartete auf das erste Wort aus seinem Munde. Sein Blick schweifte langsam über die Menge hin, die er sonst mit einem einzigen Winke gelenkt hatte und die ihm nun so gegenüberstand. Er sprach noch immer nicht, es war, als wollten die Worte nicht über seine Lippen.

Unglücklicherweise befand sich Landsfeld mit Fallner in unmittelbarer Nähe. Da vor dem Direktionsgebäude, wo man die Beamten eingeschlossen hatte, die verwegensten seiner Anhänger sich zusammenfanden, hatte der Sozialistenführer seine Stellung dort genommen. Das Erscheinen Dernburgs schien ihm weder überraschend noch unerwünscht zu sein, im Gegentheil, es blitzte wie Genugthuung in seinen Augen auf, als er leise zu Fallner sagte, der als eine Art Adjutant stets an seiner Seite war: „Da ist der Alte! Ich wußte, daß er nicht ruhig in seinen vier Pfählen bleiben würde, während hier auf seinen Werken der Teufel los ist. Jetzt kommt die Sache in Fluß!“

Endlich begann Dernburg zu sprechen, seine Stimme war laut und fest, und das tiefe Schweigen ringsum ließ kein Wort verloren gehen. „Was soll der Lärm hier auf den Werken? Es liegt kein Grund dazu vor. Ihr habt den Ausstand angekündigt und ich habe die Werkstätten schließen lassen und halte sie geschlossen. Ihr habt Eueren Lohn erhalten, also geht nach Hause!“

Die Arbeiter stutzten, sie waren es gewohnt, daß der Chef kurz und befehlend sprach, aber diesen verächtlichen eisigen Ton hörten sie zum ersten Mal aus seinem Munde. Sie fühlten das sofort, ohne sich genau Rechenschaft darüber zu geben.

Jetzt hielt Landsfeld den Augenblick für gekommen, um persönlich einzugreifen. „Du folgst mir mit den anderen,“ befahl er kurz, zu Fallner gewendet, und dann trat er ohne weiteres an Dernburg heran. „Es handelt sich hier nicht um die Lohnfrage,“ begann er in herausfordernder Haltung. „Was die Arbeiterschaft von Ihnen will, Herr Dernburg, das ist Ihnen ja mitgetheilt worden. Die ungerechten Entlassungen sollen –“

„Wer sind Sie? Wer giebt Ihnen das Recht, hier mitzureden?“ unterbrach ihn Dernburg, obgleich er den Sprecher ebenso vom Ansehen kannte wie dieser ihn.

„Mein Name ist Landsfeld,“ war die hochfahrende Antwort. „Ich denke, das genügt für meine Berechtigung.“

„Nein, denn Sie gehören nicht zu meiner Arbeiterschaft. Fremde Einmischung dulde ich nicht. Verlassen Sie Odensberg, auf der Stelle!“

Der Befehl klang stolz und verächtlich. Landsfeld trat einen Schritt zurück und maß den Mann, der allein vor ihm stand und so zu sprechen wagte, vom Kopf bis zu den Füßen.

„Einer solchen Aufforderung folge ich nicht,“ versetzte er höhnisch. „Ich stehe hier im Namen meiner Partei, welche die Odensberger Dinge sehr nahe angehen. Kameraden! Erkennt Ihr mich als Euren Vertreter an? Soll ich für Euch sprechen?“

Fallner und die Seinen, die ihrem Führer gefolgt waren und ihn von allen Seiten umgaben, antworteten mit stürmischer Zustimmung, während die übrigen stumm blieben. Landsfeld hob triumphierend das Haupt. „Sie hören es! So sage ich Ihnen denn, daß die Bedingungen, die Sie für die Wiederaufnahme der Arbeit gestellt haben, schmachvoll und entwürdigend sind. Ich erkläre jeden, der sich ihnen fügt, für einen Feigling und Verräther.“

„Und ich erkläre, daß ich mit Ihnen und Ihresgleichen nichts zu thun habe!“ rief Dernburg, durch diese Herausforderung aufs äußerste gereizt. „Meinen Arbeitern habe ich die Bedingungen gestellt, unter denen allein ich die Werke wieder öffne – mit Menschen Ihres Schlages verhandle ich überhaupt nicht.“

Landsfeld fuhr wüthend auf. „Mit Menschen meines Schlages? Wir sind wohl nur Gewürm in den Augen des hohen Herrn? Kameraden! Laßt Ihr Euch das gefallen?“

Er rief nicht umsonst seine Genossen an. Schimpfworte und Drohungen wurden gegen Dernburg geschleudert, der immer fester in der Menge eingekeilt wurde. Von jedem Beistand abgeschnitten, mußte er jeden Augenblick des Aergsten gewärtig sein.

Da wurden in der Ferne Rufe und Stimmen laut, aber nicht wild und drohend, sondern in jubelnder Begrüßung. Jetzt vernahm man sogar ein stürmisches „Hoch“, das sich langgedehnt fortpflanzte und immer näher kam. „Hoch Runeck! Egbert Runeck Hoch!“ erscholl es von allen Seiten, und in den dichtgedrängten Massen öffnete sich ein Weg für den Ingenieur, der rasch herankam.

Athemlos von dem stürmischen Gange, stellte er sich an die Seite Dernburgs mit einer Miene, die verrieth, daß er entschlossen war, mit ihm zu stehen und zu fallen. Er sandte Landsfeld einen drohenden Blick zu, den dieser mit einem spöttischen Achselzucken erwiderte.

„Bist Du wirklich da, mein Junge?“ murmelte Landsfeld. „Nun, wenn Du Dir selbst den Hals brechen willst, dann brauche ich es nicht zu thun.“

Runeck hatte inzwischen eine rasche Umschau gehalten, er erkannte die Gefahr der Lage und ergriff das einzige Mittel, das hier noch Rettung verhieß. „Zurück vom Hause!“ herrschte er den Arbeitern zu, die das Direktionsgebäude besetzt hielten. „Seht Ihr nicht, daß Herr Dernburg zu seinen Beamten will? Ich werde ihn geleiten, macht Platz!“

Die Leute waren betroffen, bestürzt über diese Parteinahme; sie gehorchten und begannen zurückzuweichen. Der Platz vor dem Hause wurde allmählich leer, und war Dernburg erst dort in der Mitte seiner Beamten, so war er auch in Sicherheit. Wenn Runeck dann an seiner Seite blieb, verlief die ganze Sache friedlich. Allein das paßte nicht in den Plan Landsfelds; er griff von neuem ein. „Was soll das heißen?“ rief er scharf und laut. „Unser Abgeordneter nimmt Partei gegen uns und stellt sich auf die feindliche Seite? Hierher, Runeck! Bei uns ist Dein Platz, uns hast Du zu vertreten – oder willst Du etwa zum Verräther werden?“

Das böse Wort „Verräther“ that sofort seine Wirkung, ein dumpfes drohendes Murren wurde laut. Jetzt verlor Runeck die Mäßigung, die er sich bisher schwer genug bewahrt hatte. „Ihr selbst seid Verräther und Schurken, wenn Ihr den Mann angreift, der Euch allen geholfen hat, wo er nur konnte!“ donnerte er. „Zurück von ihm! Wer ihn anrührt, den schlage ich zu Boden!“

Seine Haltung war so wild und drohend, daß alles zurückwich, nur Landsfeld nicht. „Willst Du das vielleicht auch bei mir versuchen?“ schrie dieser und stürzte sich vorwärts auf Dernburg zu, aber in demselben Augenblick sank er auch, von einem wuchtigen Faustschlag Egberts getroffen, mit einem lauten Schrei zu Boden, wo er blutüberströmt liegen blieb.

Die rasche blitzähnliche That entfesselte alle Leidenschaften der wüthenden Menge. Mit einem wilden Geschrei stürzten sich Fallner und seine Genossen auf Runeck, der sich vor Dernburg warf und ihn mit seinem Leibe deckte. Einige Minuten hielt seine Riesenkraft stand gegen die Angreifer, aber das Ende dieses ungleichen Kampfes war vorauszusehen. Da blitzte plötzlich ein Messer in der hoch erhobenen Hand Fallners, ein wuchtiger Stoß und Egbert sank blutend zusammen.

Diesmal aber wirkte die That anders als vorhin, die Menge war wie gelähmt vor Entsetzen. Das Ungeheuerliche des ganzen [371] Vorgangs schien ihnen auf einmal zum Bewußtsein zu kommen, selbst Fallner stand regungslos da, wie erschreckt über seine That. Das Geschrei war verstummt; niemand hinderte Dernburg, der mit bleichem Gesicht und zusammengepreßten Lippen sich langsam niederbeugte und den Bewußtlosen in seine Arme nahm.

Inzwischen hatten die Beamten, als der Platz vor dem Hause frei wurde, einen erneuten Versuch gemacht, zu ihrem Chef zu dringen; das war nur theilweise gelungen, aber sie befanden sich doch bereits in seiner Nähe, als der blutige Vorfall sich ereignete. Doktor Hagenbach wußte das mit rascher Geistesgegenwart zu benutzen. „Platz für den Arzt!“ rief er, sich vorwärts drängend. „Laßt mich durch!“

Das Wort half, es öffnete sich für ihn eine schmale Gasse in der dicht zusammengekeilten Menge und die Beamten drängten nach; in wenigen Minuten war Dernburg von ihnen umgeben. Doch dieser kümmerte sich nicht darum; er kniete neben Egbert, dessen Haupt er stützte, und als der Doktor sich jetzt niederbeugte und die Wunde untersuchte, fragte er leise im Tone tiefer Angst: „Ist er – tödlich getroffen?“

„Sehr schwer!“ sagte Hagenbach laut und ernst. „Er muß augenblicklich fortgeschafft werden.“

„Nach dem Herrenhause!“ fiel Dernburg ein. „Jawohl, das ist das beste.“ Der Doktor legte rasch einen Nothverband an und wandte sich dann dem blutenden Landsfeld zu, um auch ihn zu untersuchen. „Hier ist keine Gefahr!“ rief er laut den Umstehenden zu. „Der Schlag hat den Mann nur betäubt. Tragt ihn ins Haus – er wird bald wieder zur Besinnung kommen, zu besorgen ist nichts. Aber Runeck – der ist schwer getroffen!“

Seine Miene verrieth, daß er das Schlimmste fürchtete, und das entschied die Haltung der Menge. Es entstand ein erregtes Gemurmel, das sich von Mund zu Mund fortpflanzte, bis in die Reihen derer, die zu ferne gestanden hatten, um den Vorfall mit anzusehen. Und als nun Egbert aufgehoben und fortgetragen wurde, ging eine Bewegung des Schauers durch die Menschenmassen. Sie sahen ihren Abgeordneten, den sie ihrem Chef zum Trotze gewählt und mit lautem Jubel auf den Schild gehoben hatten, blutüberströmt, leblos auf den Armen der Beamten, die ihn trugen, und der alte Chef schritt neben ihm und hielt die Hand des Bewußtlosen in der seinen. Es bedurfte keiner Aufforderung, Platz zu machen; alles wich stumm zur Seite, wo der traurige Zug vorüberkam, kein Wort, kein Laut ließ sich vernehmen. Wie Todesschweigen lag es über all den Tausenden.




Inzwischen harrte man im Herrenhaus angstvoll auf den Ausgang jenes Lärmens und Tobens, das deutlich vernehmbar von den Werken herüberscholl. Maja war erst aus dem Parke gekommen, als ihr Vater sich bereits drüben inmitten der Arbeiter befand, sie konnte ihn also nicht mehr sprechen. Sie wollte zu Cäcilie flüchten, um dieser ihr Herz auszuschütten, fand sie aber in einer so besinnungslosen Angst und Aufregung, daß eine Aussprache unmöglich war.

„Laß mich, Maja!“ flehte die junge Frau verzweiflungsvoll. „Nur jetzt laß mich! Später will ich alles von Dir hören, Dir in allem Rede stehen, aber jetzt kann ich nichts anderes denken und fühlen als seine Gefahr!“ Damit war sie hinausgeeilt auf die Terrasse, von wo man nach den Werken hinüberblicken konnte.

Der armen Maja wurde das Herz noch schwerer. Seine Gefahr! Damit konnte doch nur der Vater gemeint sein, an dem auch Cäcilie mit aller Liebe hing. War er denn wirklich so schwer bedroht unter seinen Arbeitern?

So war mehr als eine Stunde vergangen und Maja hielt es nicht länger aus. Was sollte Oskar von ihrem Ausbleiben denken! Er mußte glauben, sie sei in ihrem Entschluß wankend geworden, sie wolle ihn allein ziehen lassen – ins Verderben! Sie mußte zurück zu ihm, nur auf wenige Minuten, um ihm zu sagen, daß es unmöglich sei, den Vater jetzt zu sprechen! Mit fliegendem Athem eilte sie in den Park, der schon in tiefer Abenddämmerung lag. Da kam ihr der Vater entgegen.

Dernburg hatte mit seinen Begleitern den kürzesten Weg gewählt, jenen kleinen Seitenpfad, auf dem er vorhin nach den Werken gelangt war und den man von der Terrasse aus nicht sehen konnte. Egbert war schon unterwegs durch die Bewegung des Tragens und den Schmerz der Wunde wieder zur Besinnung gekommen; seine erste Frage hatte Landsfeld gegolten. Hagenbach erklärte auch ihm, daß dessen Wunde unbedeutend und nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, und ein tiefes erleichtertes Aufathmen verrieth, wie sehr diese Auskunft den Verwundeten beruhigte. Maja, die im ersten Augenblick nur den Vater sah, warf sich stürmisch an seine Brust. „Du lebst, Papa, Du bist gerettet! Gott sei Dank, nun wird alles gut werden!“

„Ja, ich bin gerettet – um diesen Preis!“ sagte Dernburg leise, indem er hinter sich deutete. Das junge Mädchen gewahrte jetzt erst den Verwundeten und stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

„Still, mein Kind!“ mahnte Dernburg, „Ich wollte Euch nicht erschrecken. Wo ist Cäcilie?“

„Draußen auf der Terrasse. Ich muß sie benachrichtigen, sie ängstigt sich fast zu Tode um Dich,“ flüsterte Maja, mit einem angstvollen Blick auf den Jugendgespielen, der wie ein Sterbender aussah. Dann eilte sie davon zu ihrer Schwägerin.

Dernburg ließ Egbert in sein eigenes Schlafzimmer tragen und half ihn dort auf das Bett niederlegen, während Doktor Hagenbach sich um ihn bemühte und dem rasch herbeigerufenen Diener einige Anweisungen gab. Da öffnete sich die Thür und in Majas Begleitung erschien Cäcilie; ohne sich um die Zeugen zu kümmern, ohne sie auch nur zu sehen, stürzte sie mit einer stürmischen Bewegung zu dem Lager und sank dort in die Knie. „Egbert, Du hattest mir doch versprochen, zu leben!“ rief sie verzweifelnd, „und nun hast Du doch den Tod gesucht!“

Dernburg stand da wie vom Blitz gerührt. Er hatte nie auch nur die leiseste Ahnung von dieser Liebe gehabt, und nun verrieth der eine unbewachte Augenblick ihm alles.

„Ich wollte ja nicht sterben, Cäcilie, gewiß nicht,“ sagte Egbert matt. „Aber es gab keine andere Möglichkeit, ihn zu retten.“

Sein Auge wandte sich auf Dernburg, der jetzt herantrat und noch immer fassungslos von einem zum anderen blickte. „Steht es so mit Euch beiden?“ fragte er langsam.

Cäcilie antwortete nicht; sie umklammerte nur mit beiden Händen die Rechte des Geliebten, als fürchtete sie, man könnte sie von ihm trennen. Egbert versuchte zu sprechen, aber Dernburg hinderte ihn daran.

„Sei ruhig, Egbert,“ sagte er ernst „Ich weiß, daß Erichs Braut Dir heilig gewesen ist, Du brauchst es mir nicht erst zu versichern; und nach seinem Tode hast Du ja heute zum ersten Mal wieder Odensberg betreten. Mein armer Junge! Der Gang ist Dir verhängnißvoll geworden, Du hast ihn mit Deinem Herzblut bezahlen müssen.“

„Aber dies Blut hat mich doch frei gemacht von der Kette!“ rief Egbert aufflammend. „Ihr ahnt alle nicht, wie schwer ich daran getragen habe. Jetzt ist sie gebrochen – ich bin frei!“

Er sank erschöpft zurück, und nun mischte sich Doktor Hagenbach ein. Er verbot dem Verwundeten aufs bestimmteste jedes Sprechen und jede weitere Aufregung und verhehlte ihm das Gefährliche seines Zustandes nicht.

Dernburg blickte auf seine Schwiegertochter, die mit gefalteten Händen stehend zu ihm aufsah, er verstand die stumme Bitte. „Egbert braucht also volle Ruhe,“ sagte er ernst „und eine aufopfernde Pflege. Ich übergebe ihn Dir, Cäcilie – Du wirst hier die beste Pflegerin sein!“ Er beugte sich noch einmal zu dem Verwundeten nieder, wechselte einige leise Worte mit dem Arzt und ging dann in sein Arbeitszimmer. Maja, die bisher wortlos an der Thür gestanden hatte, folgte ihm, aber sie nahte dem Vater so scheu und zögernd, als habe sie selbst eine Schuld zu beichten.

„Papa, ich habe Dir etwas zu sagen,“ flüsterte sie mit gesenkten Augen. „Ich weiß, Du hast heute schon so Schweres durchgemacht – aber ich kann nicht warten. Da draußen im Park harrt jemand meiner und Deiner Entscheidung – ich soll sie ihm bringen. Willst Du mich hören?“

Dernburg hatte sich zu ihr gewandt. Ja freilich, er hatte heute Schweres durchgemacht, aber jetzt kam das Allerschwerste. Er streckte beide Arme aus, und seinen Liebling an die Brust schließend, sagte er mit brechender Stimme: „Meine kleine Maja! Mein armes, armes Kind!“ – –

(Schluß folgt.)

[372] 0


Blätter und Blüthen

Lola Beeth. (Zu dem Bilde S. 357.) Es war im Jahre 1882, am Tage nach Lola Beeths erstem Auftreten in Berlin, als ich die junge Sängerin im Hause einer Berliner kunstsinnigen Familie kennenlernte. Alle diejenigen waren bekehrt, welche zweifelnd und tadelsüchtig das Wagestück des damaligen Theaterintendanten Herrn von Hülsen belächelt hatten, eine völlig unbekannte Sängerin, die noch nie auf den Brettern gestanden, zum ersten Mal in einer großen Rolle auftreten zu lassen. Die „Elsa“, die noch am Tage vor der Aufführung als eine künstlerische Unmöglichkeit, als eine Intendantenlaune, als ein gewagter Scherz betrachtet worden war, erstand an jenem Abende in hinreißender, lieblicher Wirklichkeit. Lola Beeth war über Nacht eine Berühmtheit geworden, und die Oper der Reichshauptstadt hatte einen Namen gewonnen, dessen Klang dem kunstliebenden Publikum nicht wieder entschwand. In allen musikalischen Kreisen Berlins besprach man dieses Ereigniß, und ich war wirklich neugierig, die Heldin desselben kennenzulernen, und nicht wenig erstaunt, ein ganz blutjunges, schüchternes, blondes Wesen vor mir zu sehen, das nur durch seine hohe, imposante Gestalt vor der Gefahr bewahrt blieb, für einen guten, lieben Backfisch gehalten zu werden. Das holde, jugendfrische Geschöpf schien von der Tragweite seines Erfolges keine recht klare Vorstellung zu haben und nahm die ihm gezollte Anerkennung so bescheiden und lieblich erröthend hin wie ein junges Mädchen seine ersten Cotillonsträußchen. Es hatte etwas ungemein Rührendes, die kaum Zwanzigjährige mit schlichter Einfachheit und fast kindlicher Freude von dem Beifallssturm, mit dem das Publikum sie ausgezeichnet hatte, sprechen zu hören. Diese Naivetät gewann ihr damals mein ganzes Herz, und noch Jahre nachher, wenn wir im Gedankenaustausch auf die hohen und ernsten Aufgaben der Kunst zu sprechen kamen, als sie begriffen, was das Wort „Künstlerin“ umfasse, als sie in Glück und Leid die Bedeutung von „Künstlers Erdenwallen“ verstehen gelernt hatte, da erinnerte ich mich noch oft jener köstlichen glücklichen Unbefangenheit, mit der das reizende Mädchen damals in die Welt und ganz besonders in jene Welt des schönen Scheins geblickt hatte, die nachher so bedeutungsvoll für sie geworden ist. Denn von jenem Abende an schreibt sich eine Künstlerlaufbahn, die eigentlich nur zwei Etappen hat, allerdings die beiden größten, welche eine deutsche Künstlerin zurücklegen kann: Berlin und Wien.

Lola Beeth wurde sofort nach ihrem Auftreten als „Elsa“ für das Berliner Opernhaus gewonnen, wo sie in einem Zeitraum von sechs Jahren zu jener künstlerischen Höhe emporstieg, die nur hervorragende Begabung im Verein mit unermüdlichem Streben und zielbewußtem Eifer erklimmen kann. Lola Beeth lernte immerfort. Der Erfolg blendete sie nicht, sondern spornte sie nur zu neuem Schaffen an, – und noch heute, wo sie am erreichten Ziele steht, ruht sie nicht etwa auf ihren Lorbeeren aus, sondern arbeitet nimmermüde und studiert mit höchstem Eifer, keinen Stillstand sich gönnend, der – wie sie wohl weiß – Rückschritt bedeutet.

Sie ist heute ein „Stern“ der Wiener Hofoper und hat so in ihrem Vaterlande die höchste Ruhmesstaffel erreicht, denn Oesterreich ist ihr Heimathland, da sie im Jahre 1862 zu Krakau geboren ist. Lola war ein musikalisches Wunderkind, das schon mit sechs Jahren sang und Klavier spielte, und zwar dies so gut, daß sie zunächst zur Klaviervirtuosin ausgebildet werden sollte. Sie hatte auch bereits eine vollkommene künstlerische Fertigkeit auf dem Klavier erlangt, als die übliche Fürstin die Stimme des Kindes entdeckte und sie der Bühne rettete, indem sie das junge Mädchen Frau Professor Dustmann in Wien zum Gesangsunterricht übergab. Eine solche „Fürstin“ fehlt ja in den wenigsten Künstlerbiographien; aber diesmal leibte und lebte sie thatsächlich. Es war die kunstsinnige Fürstin Sapieha, welche die Vorsehung Lolas wurde und ihre nicht unvermögenden Eltern, die das Theater mit dem Vorurtheil bürgerlicher Kreise betrachteten, dazu bewog, ihr Kind dem gefährlichen Künstlerleben auszuliefern. Und Lola bewährte sich. Tadellos und lauter blieb ihr Charakter, vornehm und edel ihr Wesen, sie blieb in Wirklichkeit ein Geschöpf wie die liebliche Maria im „Trompeter von Säkkingen“. In dieser Rolle möge sie denn auch den Lesern der „Gartenlaube“ vorgeführt werden! Ulrich Frank.     

Der Oheim als Brautführer. (Zu dem Bilde S. 360 u. 361.) Großes Ereigniß im Städtchen! – Bürgermeisters Luise heirathet, und zwar nicht den vom gestrengen Papa so eifrig unterstützten Bewerber, den dicken reichen und ältlichen Fabrikbesitzer, sondern ganz im Gegentheil ihre stille Jugendliebe, den armen Pfarrerssohn, welchem sie nicht zu geben derselbe Papa viele hundertmal zornig geschworen hat. Aber treue Liebe besiegt alle Hindernisse: die beiden hielten fest zusammen, und heute sind sie am Ziel. Pfarrers Fritz, der arme Student, ist als Arzt im Städtchen ansässig, und die Brautkutsche steht bereit, um ihn und sein Luischen zur Trauung zu fahren.

Freilich, ob alles ebenso glücklich abgelaufen wäre ohne den kleinen Mann, der still lächelnd dem Bräutchen die Hand zum Einsteigen reicht, das fragt sich doch noch sehr. Er war der Schutzgeist ihrer Liebe, der gute Onkel Doktor, er hielt den väterlichen Zornesausbrüchen ruhig stand, und er hat dann dem Pathen Fritz, von dessen großer Tüchtigkeit er überzeugt ist, den Eintritt in den ärztlichen Beruf erleichtert. Und jetzt – spricht er nicht bereits davon, sich selbst allmählich von der Praxis zurückzuziehen und seinen jungen Freund sachte einrücken zu lassen? O, er ist ein Engel in Menschengestalt, der gute Onkel Doktor, wenn auch die letztere, wie in solchen Fällen öfter, recht unscheinbar ausgefallen ist. Aber das stört niemand – das ganze Städtchen kennt und liebt ihn, und so sieht jetzt alles mit freudiger Theilnahme zu, wie er seines Amtes als Brautführer waltet. Luise hat es sich so ausgebeten, und alle finden es richtig – und freuen sich: die Alten droben am Fenster, die theilnehmenden Nachbarn, die kleinen Schwestern, welche, ganz Würde und Hochgefühl, die Brautschleppe tragen, die behäbige Mama und vor allem der glückliche Bräutigam, dessen Ehrentag die ganze Kleinstadt so recht von Herzen mitfeiert.

Jetzt aber dröhnt mit Donnergewalt der Musikantentusch aus der „Goldenen Laterne“, ein vielstimmiges Vivat! mischt sich darein und mit lautem Gerassel fährt die altehrwürdige Kutsche samt ihrem glückseligen Inhalt zur Kirche. Bn.     

Aus Anzengrubers Nachlaß ist im Cotta’schen Verlag in Stuttgart ein Volksstück mit Gesang, „Brave Leut’ vom Grund“, erschienen, welches schon mehrfach mit Erfolg zur Aufführung gekommen ist. Anzengruber war seinerzeit am Theater an der Wien Dramaturg und hatte die Verpflichtung, jährlich zwei Stücke zu schreiben. So schrieb er das Volksstück „Brave Leut’ vom Grund“ für Marie Geistinger; doch diese kam nicht dazu, die Rolle zu spielen. Das Stück blieb im Theaterarchiv liegen; jetzt, nach dem Tode des Dichters, wurde es herausgegeben. Es spielt in den Kreisen des kleinen Bürgerstandes; die Heldin ist eine fesche brave Wienerin, die anfangs als Tochter, später als Frau, zuletzt als Mutter auftritt und immer alles, was aus den Fugen zu gehen droht, ins rechte Geleise bringt. Das Stück beschäftigt sich nicht mit tieferen gesellschaftlichen Fragen wie die späteren Werke des Dichters, aber es enthält Bilder aus dem Volksleben, denen es nicht an voller Wahrheit und markiger Ausführung fehlt, und Scenen, die durch ihre ungezwungene Heiterkeit fesseln. †      

Elefantenjagd am Kongo. (Zu dem Bilde S. 369.) Der Dunkle Welttheil ist nicht so arm an Elefanten, wie man früher behauptet hat. Am unteren Kongo, der vorwiegend von Savannenlandschaften eingeschlossen wird, ist das Thier allerdings selten; am oberen Laufe des Riesenstromes aber, wo an seinen und seiner Nebenflüsse Ufern weite Urwaldstrecken bessere Schlupfwinkel bieten, begegnet man nicht nur vereinzelten Stücken, sondern auch ganzen Herden von Elefanten, die zwanzig Köpfe und darüber stark sind.

Für den Europäer ist die Elefantenjagd zumeist ein Werk des Zufalls. Begegnet er auf seinen Zügen den riesigen Dickhäutern, so geht die Knallerei los, und sie ist zumeist mit keiner besonderen Gefahr verbunden, da der Elefant trotz seiner Größe scheu und furchtsam ist und am liebsten das Weite sucht, selbst wenn er verwundet ist. Nur äußerst selten wendet er sich gegen den Angreifer. Der Neger, der das Gelände kennt, pflegt sich alsdann sicher zu retten; die Europäer sind dagegen öfters der Wuth des afrikanischen Hochwildes zum Opfer gefallen. Im übrigen sind die neuen Gewehre mit ihrer großen Durchschlagskraft auch dem Elefanten gegenüber eine furchtbare Waffe und sie werden neuerdings von europäischen Faktoreien auch unter die eingeborenen Elefantenjäger vertheilt, die das erbeutete Elfenbein an die Europäer abliefern.

Eigenartiger sind die alten Jagdmethoden, mit welchen die Neger seit undenklichen Zeiten dem Hochwild Afrikas nachstellen. Da werden Fallen und Gruben angelegt, Elefanten in Rohrhorste getrieben und durch Feuer vernichtet, ja die Jäger greifen die Kolosse unmittelbar an, indem sie nur Schwert und Speer schwingen. Berühmt seit dem Alterthum sind die Schwertjäger der nordostafrikanischen Steppe, welche den Elefanten umzingeln und ihm von hinten die Achillessehne am Fußgelenk mit einem Schwerthieb durchschneiden. Die Neger am oberen Kongo kennen gleichfalls ähnliche Verfahren. Mit einem breiten Speer bewaffnet, schleichen sie sich an die Elefanten heran und suchen ihnen die Fersensehnen zu durchschneiden, wodurch die Thiere kampfunfähig gemacht werden. Im Hinterlande von Kamerun benutzte man früher vergiftete Speere zur Jagd, indem man sie gegen den Elefanten stieß; heute steckt man die Giftwaffen in das Gewehrrohr und feuert sie auf das Wild ab.

Die Jagd im Urwalde ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden; Meister in derselben sind eigentlich nur die Zwergvölker der Watua oder Akka-Akka; sie verstehen es, selbst mit ihren kleinen vergifteten Pfeilen die Elefanten zu erlegen, und sie hätten wohl längst das Hochwild des Urwaldes ausgerottet, wenn sie in größerer Zahl vorhanden wären; aber diese geborenen Jäger des centralafrikanischen Urwaldes sind selbst im Aussterben begriffen; die Zwerge des Waldes schwinden vielleicht noch rascher dahin als die Riesen unter den Thieren Afrikas. *      


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

A. W. in Hamburg. Ueber die Thätigkeit und die Ziele der Arbeiterkolonien finden Sie Aufschluß in dem anregend und frisch geschriebenen Schriftchen von W. Paul „Unsere Heimathlosen und ihre Pflegestätten“ (Leipzig, Kommissionsverlag von H. G. Wallmann).

Neográd! 1. Ja!0 2. Nähere Angabe der Adresse nicht nothwendig.

K. Str. in Krefeld. Die Heilanstalt für bed[ü]rftige Lungenkranke zu St. Andreasberg im Harz wird von Dr. A. Ladendorf geleitet und ist im wesentlichen auf wohlthätige Stiftungen gegründet, erhebt aber auch von den Verpflegten kleine Beiträge. Mit Krankenkassen steht sie unseres Wissens nicht in Verbindung.


Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge in Heft 22/1893. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: viefach