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Die Gartenlaube (1893)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

Nr. 20.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
(6. Fortsetzung.)
10.

Frau Sabine Eleonore saß, wie schon berichtet, an jenem Tage, an dem der Oberst von Gouda mit Polyxene bei Hofe erschienen war, noch in ihrem bauschenden Morgengewande mit der Méninville zusammen und sah der Obersthofmeisterin diesmal mit einer gewissen Neugier entgegen. Daß sie den alten Herrn und sein Mündel nicht zur Audienz zugelassen hatte, das war eine launische Unart gewesen, deren Spitze sich gegen Polyxene richtete. Gleich bei der Nennung dieses Namens war der boshafte Groll wieder aufgewacht und hatte sie die Zusammenkunft heftig ablehnen lassen. Nun aber war sie doch begierig auf die soeben aus der Quelle geschöpften Nachrichten der Obersthofmeisterin. Zuerst entledigte sich diese Dame mit Gewissenhaftigkeit dessen, was sie als eine Art Auftrag des Obersten von Gouda betrachtete: der vorläufigen mündlichen Bitte um Unterstützung weiterer Nachforschungen nach dem Junker von seiten der pfalzgräflichen Kanzlei. Diese sagte Sabine Eleonore ohne weiteres zu. Frau von Kallenfels hatte aber noch mehr zu erzählen. Und die Pfalzgräfin fuhr förmlich in die Höhe und vergaß ihrer hochfürstlichen Steifheit, als die Reihe an Polyxenens Befürchtung von wegen des Mühlgrabens kam und an den Fund, den man dort dicht neben dem tiefen Wasser gethan hatte. Das war etwas Neues; hiervon hatte das Stadt- und Hofgeschwätz bisher noch nichts vermeldet.

„Ertrunken im eignen Garten!“ rief sie voll Eifer. Und dann fiel ihr ein: „Potz Tausend – das wäre doch schade um den hübschen Jungen!“

Der Oberst von Gouda wolle davon auch nichts hören, berichtete die Obersthofmeisterin weiter; er glaube nicht daran. Das Fräulein schon eher. Sie sei weit niedergeschlagener als ihr Herr Oheim und scheine geringere Hoffnung zu hegen auf eine glückliche Lösung dieses Räthsels.

„Wie? Sagten Sie etwas, liebe Méninville?“ fragte die Fürstin hier.

„Ich? Nein, ich sagte nichts, Hoheit,“ erwiderte Frau von Méninville und machte ein Gesicht, als gedenke sie überhaupt nie wieder zu reden in ihrem Leben. Daß sie aber gut zuhörte, war trotzdem anzunehmen.

Die Pfalzgräfin hatte sich indessen mit der Sache beschäftigt. So weit sie überhaupt für den Nächsten zu empfinden vermochte, empfand sie vielleicht in diesem Falle, bei dem Untergang einer frisch erblühenden männlichen Jugend. „Wenn der Junker im Mühlwasser verunglückt wäre, müßte man ihn doch aber gefunden haben,“ sagte sie zuletzt, nach einigem Nachdenken.

Frau von Kallenfels wußte hierauf nichts zu erwidern. Und da war es Frau von Méninville, die ihr bisheriges Schweigen brach mit den Worten: „Im Falle der Mühlgraben etwa einen unterirdischen Abfluß hat, könnte die Leiche dahin gespült worden sein und käme schwerlich wieder ans Tageslicht.“

„Da höre einer unsere kluge Méninville!“ rief die Fürstin bewundernd. „Wer wäre wohl auf so etwas gekommen wie Sie.“

Die ausdrückliche Anerkennung ihres Scharfsinnes schien der frommen Witwe nicht ganz zu behagen; wahrscheinlich litt ihre Bescheidenheit darunter. „Pfalzgräfliche Gnaden haben von meinem geringen Verstand stets eine zu hohe Meinung,“ wehrte sie ab. „Erinnern sich Eure Gnaden nicht, wie umständlich uns das Fräulein von Leyen einstmals eben diesen Mühlgraben beschrieb? Derselbe

Rosi.
Nach einem Gemälde von G. Buchner.

[326] habe, so sagte sie, für sie von jeher eine besondere Anziehungskraft gehabt.“

„So, sagte sie das? Nun hat das Gewässer aber nicht sie, sondern ihren armen Vetter angezogen, wie es scheinst,“ bemerkte dazu die Pfalzgräfin, sich sogar zu einer Art Wortspiel versteigend. Ihre Lebensgeister waren eben ungewöhnlich angeregt durch dieses ganz neue Licht, das auf den Vorfall schien. „Und hat die Polyxene denn da auch schon von dem geheimen Abfluß des Grabens gesprochen?“

„Geheim“ nun schon anstatt „unterirdisch“! Die Pfalzgräfin hatte das eine Wort absichtslos mit dem andern vertauscht; aber als sie sich nun hörte, fand sie, daß das unheimlichere so klinge, als sei es hier sehr am Platze, und gebrauchte es von da an ausschließlich.

„Wenn mir recht ist, ja,“ entgegnete Frau von Méninville auf die letzte Frage der Fürstin. „Wie käme ich sonst darauf?“

Die Pfalzgräfin aber hatte eine eigene Art, von einer Sache nicht loskommen zu können, und zwar meist von Nebenumständen derselben. „Haben Sie die Leyen von dem geheimen Wasserabfluß sprechen hören?“ fragte sie die Obersthofmeisterin. Das verneinte diese Dame entschieden, obwohl sie an dem Tage und in dem Zirkel, an welchen Frau von Méninville jetzt die Erinnerung aufgefrischt hatte, auch zugegen gewesen war. Ihr Gedächtniß war indessen wohl schwerlich so gut wie das der Méninville.

„Zum Grausen wäre es aber doch, wenn er so nahe am Hause zu Grunde gegangen wäre und nun unbegrabeu dort irgendwo läge,“ beharrte die Fürstin. „Da möchte ich an des Fräuleins Stelle nicht länger auf der Herrenmühle sitzen; ich würde immer denken, er erschiene mir einmal.“

„Behüt’ uns Gott, Hoheit,“ sagte hier die Kallenfels, nicht viel anders, als die Weiber auf der Gasse vor dem Bäckerhause bei ähnlichem Anlasse auch gerufen hatten.

„Mich deucht, das Fräulein sei von starkem Gemüth; eine solche Furcht wird sie wohl nicht beschweren,“ meinte Frau von Méninville.

Die beiden Damen wurden nunmehr entlassen, da die Fürstin sich kräftig genug fühlte, einmal wieder Toilette zu machen. Sie hatte auch der Obersthofmeisterin den Entschluß kundgegeben, heute noch mehrere Personen zu empfangen; ihr Befinden schien innerhalb der letzten Stunden eine Wendung zum Bessern erfahren zu haben. –

Nicht eigentlich in die Klasse der Audienzsuchenden gehörte eine Person, die kraft ihres Amtes sozusagen zu jeder Zeit freien Zutritt zur fürstlichen Gegenwart hatte, der Beichtvater der Hoheit nämlich, der Pater Gollermann, Vorsichtig aber und taktvoll, wie es einem Mitgliede der Gesellschaft Jesu ziemte, hatte der geistliche Herr von seinem Vorrecht immer nur einen maßvollen Gebrauch gemacht. Und in ähnlicher Weise pflegte er auch mit dem Gewissen seines fürstlichen Beichtkindes sehr glimpflich umzugehen. Und doch oder vielleicht gerade deshalb war der Einfluß des klugen Herrn nicht gering am Hofe. Er kam heute, um sich zunächst nach dem körperlichen Befinden der Fürstin zu erkundigen, welches, wie er voll Antheil bemerkte, ja leider nicht zum besten gewesen sein solle in der letzten Zeit. Eine kleine Reise ins Lothringische, in Sachen des Ordens, hätte ihn für eine kurze Frist fern gehalten, sonst wäre er längst erschienen.

Mit dem Jesuitenpater zugleich war auch Frau von Méninville wieder zur Fürstin beschieden worden. Sie störte hier nicht, im Gegentheil, sie gehörte gewissermaßen mit in ein solches kleines geistliches Kollegium und war ja auch als die Schutzbefohlene des Paters ins birkenfeldische Land gekommen. Ja so sehr am Platze schien sie alsdann in dieser geistlichen Gesellschaft, daß sie da unmerklich einen andern Ton annahm. Hier in Gegenwart des geistlichen Herrn pflegte sie immer noch mit schicklicher Zurückhaltung, aber doch mit weit größerer Sicherheit zu reden als sonst. Und es muß gesagt sein, daß Pater Gollermann ihren Meinungen stets Aufmerksamkeit, ja sogar, soweit sich dies mit der schuldigen Ehrfurcht vor hochfürstlicher Gegenwart vertrug, eine merkliche Achtung zollte,

Es konnte nicht fehlen, daß jetzt mit dem gewandten und umgänglichen Mann, der gar nicht immer nur den Geistlichen herauskehrte, die Rede sehr bald auf das Tagesgespräch von Hof und Stadt kam, auf das Verschwinden des Junkers von Leyen. Pater Gollermann, dem doch schon einige Kunde von dem Ereigniß zugegangen sein mußte, machte von dieser keinen Gebrauch, sondern ließ sich von den beiden Damen alles, was zu ihrer Kenntniß gekommen war, berichten, hierin vielleicht einer Ordensgewohnheit folgend. Er saß in ehrfurchtsvoller Haltung, etwas vorgeneigt, und strich zuweilen mit der langen Hand um das Kinn, diesen sehr ausgeprägten Theil des angenehm magern bartlosen Gesichts. So hörte er zu, während die kleine Pfalzgräfin bunt durcheinander alles vorbrachte, was über die Sache geschwatzt wurde und was sie selber dachte. Wie schade es um den schönen Jungen sei; und daß der von Gouda der richtige Vormund wohl auch nicht gewesen sein möge, Stubenhocker und halber Alchimist, der er sei; und wie ihr die Herrenmühle von jeher als ein ganz verlassener, erbärmlicher Aufenthalt für Leute von einigem Stande erschienen; und manche sprächen auch von Werbern oder holländischen Preßgängern; das glaube sie aber nimmermehr, daß die Generalstaaten in pfalzgräflich birkenfeldischen Landen eine solche Gewaltthätigkeit wagen würden, da man doch freundnachbarlich stehe; und dann handle es sich gar um einen von Adel – und was dergleichen mehr war.

Pater Gollermann wiegte dabei den Kopf hin und her oder nickte, je nachdem. Als aber das Gesicker des fürstlichen Redebächleins einmal stockte, da wendete er sich, nach nochmaligem respektvollen Neigen des Hauptes vor der pfalzgräflichen Weisheit, zu Frau von Méninville, ganz entschieden, wie ein Mann, der weiß, daß er etwas zu erwarten hat. Er thut dies schweigend, aber, wie gesagt, ausdrucksvoll. Und nun erst gestattete sich die vortreffliche Frau dasjenige, was sie bisher so gewissenhaft vermieden hatte: sie äußerte auch ihrerseits eine Meinung über den sonderbaren Vorfall. „Sollte nicht,“ bemerkte sie zuerst, „eine wahrhafte gründliche Untersuchung dieses Falles nunmehr bald am Platze sein?“ Worauf aber die Pfalzgräfin sogleich ausrief: „Wie Sie reden, liebe Méninville! Das ist Sache des Vormundes, und was schiert es uns weiter, wie er es betreibt! Ich wünsch’ ihm alles Glück. Nicht daß ich glaube, der alte superkluge Umstandskrämer werde viel herausbringen.“

Frau von Méninville fuhr fort, halb zu dem geistlichen Herrn gewendet: „Das ist die edle Arglosigkeit in der Natur unserer gnädigsten Fürstin, welche alles nach der Güte und Unschuld ihres eigenen Herzens beurtheilt und deshalb nicht bedenkt, wie weit die Verderbtheit der menschlichen Natur zu reichen vermag.“ Und noch einmal unterbrach Frau Sabine Eleonore diese Rede etwas ungeduldig: „Mir wäre lieb, Sie kämen nunmehr zur Sache. Das klingt ja, als hätte man dem Junker absichtlich ans Leben gewollt, nach Ihrer Meinung. Wer sollte ihm denn ein Leid angethan haben?“

Größer war vielleicht die innere Verachtung der Méninville für den Mangel an Witz bei ihrer lieben Pfalzgräfin nie gewesen als in diesem Augenblick. Noch immer an dasjenige nicht zu denken, worauf doch schon ihre Malice allein sie sollte geführt haben! So war also sogar die Bosheit kraftlos bei ihr und schärfte ihren stumpfen Verstand nicht! „Ich fürchte,“ sagte sie aber mit um so mehr äußerer Sanftmuth, „ich fürchte, ich komme immer noch viel zu früh zur Sache, zu demjenigen nämlich, was vielleicht dem landesmütterlichen Herzen Eurer Hoheit eine schmerzliche Wunde schlagen wird. Ich habe bis jetzt geschwiegen und schwiege am liebsten ganz. Aber mich zwingt der Eifer eines wahrheit- und rechtliebenden Gemüthes zum Reden. Und die Gegenwart des hochwürdigen Herrn, dem ich nach Eurer Hoheit in schuldiger Demuth meine Gedanken vorlege, sei Bürgschaft dafür, daß ich nicht leichthin spreche, sondern nach Ueberwindung vieler banger Zweifel.“

„Nun, so lassen Sie endlich hören!“ sagte die Pfalzgräfin und glättete ungeduldig an den Falbeln ihres Kleides herum.

„In aller Bescheidenheit,“ begann Frau von Méninville darauf, „wollte ich nur auf einen Weg hingewiesen haben, der vielleicht dahin führte, einiges Licht in das Dunkel dieser Angelegenheit zu bringen. Wenn ich von einer Begebenheit höre, welche den Menschen unbegreiflich scheint, so pflege ich mich zu fragen: wem nützt dieser Vorfall? Wer hat den Vortheil davon? Und die Beantwortung führt dann gemeiniglich auf die Spur einer richtigen Erklärung.“

Pater Gollermann schob die Unterlippe über die obere und nickte beistimmend. Frau Sabine Eleonore begriff, was ihr übrigens zur Ehre gereichte, offenbar noch immer nicht, Frau von Méninville mußte deutlicher werden. Man konnte ihr ansehen, wie schmerzlich es ihr war.

„Wer hat den Vortheil davon?“ wiederholte sie. „Wer hat ihn in diesem Falle, Hoheit? Auf wen gehen nach dem unbezweifelten Ableben des Junkers seine Besitzungen über? Auf eine Person, welche ohne dieselben, wie man weiß, in Dürftigkeit ihr Leben hätte verbringen müssen. Und diese Person ist –“

„Polyxene von Leyen,“ sagte die Fürstin und verfärbte sich. Und mit leiserer Stimme, mit aufrichtigem Entsetzen, fügte sie hinzu: [327] „Sie wollen doch nicht sagen, Frau von Méninville, die Polyxene hätte ihren Vetter gar hinterrücks und böslich in das tiefe Wasser gestoßen! Das wäre ja himmelschreiend!“

„Gott verhüte, daß wir vorschnell richten, meine gnädigste Frau,“ rief die Méninville und wendete die blassen Augen gen Himmel. „Eine Untersuchung wird Licht in die Sache bringen und hoffentlich die Unschnld des Fräuleins vor aller Augen an den Tag stellen. Ihr selber muß eine solche erwünscht sein, um verleumderische Zungen, die sich regen könnten, zum Schweigen zu bringen.“

„Die Ansicht der trefflichen Dame scheint auch mir die richtige,“ bemerkte der Jesuit hier mit milder Stimme.

Eine Untersuchung! Eine Sache, welche die Gerichte in die Hand nahmen! Man mußte die Gerichtsbarkeit von damals kennen, wie sie ihr, der Fürstin, immerhin bekannt war, das Fürchterliche ihrer Umständlichkeit und Schwerfälligkeit zunächst und die schon daraus entspringenden Quälereien für jeden, welcher ihr, ob schuldig oder unschuldig, in die Hände fiel! Wenn Sabine Eleonore sich dies Edelfräulein dachte, wie sie auch nur in dem finstern Amtsgebäude sich einzufinden haben würde, unter allerhand Gesindel, mit dem die Justiz ja stets zu thun hat, wie sie vor den Herren mit den großen Perücken stehen und Fragen beantworten müßte, nicht anders denn eines vom geringen Volk – dann erschien ihr diese Herabwürdigung schon so groß, daß bei all ihrem übeln Willen gegen Polyxene beinahe etwas wie Mitleid mit dieser Unseligen sie befiel. Und dann der Schimpf, den jemand vom Adel damit erfuhr! Sabine Eleonore fühlte für diesen. Es war ihr angeboren und anerzogen, den Adel ihres Landes als etwas, was in althergebrachter enger Beziehung zu seinem Fürstenhause stand, zu betrachten. Die vom Adel waren die geborenen ersten Hofdiener und höchsten Beamten des Landes. Von dem Fürstensitze herab war ihnen seit Menschenaltern, nach französischem Muster, ihre Ehre hauptsächlich zugeflossen. So aber war diese ihre Ehre zugleich auch die des Hofes, ja der Fürsten selber. Dieser Empfindung gab die Pfalzgräfin jetzt Ausdruck. „Sie vergessen den Stand des Fräuleins, liebe Méninville,“ sagte sie, ein wenig verweisend sogar. „Diesem Stande sind wir eine Rücksicht schuldig, welche ihre Person an sich allerdings nicht fordern würde. Ein Skandalum für Stadt und Land hervorzurufen, muß uns fern liegen. Diese Materie will genau überlegt sein. Der hochwürdige Herr hier versagt uns seinen Rath hierin gewiß nicht.“

Das war eine Art Zurückweisung für Frau von Méninville und vielleicht ein Beweis dafür, daß diese trotz aller Vorsicht immer noch zu rasch zu Werke gegangen war. Aber die Fürstin nahm doch nur Anstoß an der Folge, welche die liebe Méninville ihrer furchtbaren Verdächtigung des Fräuleins hatte allsogleich geben wollen. Hatte sie die Verdächtigung selber mit dem Abscheu völligen Unglaubens zurückgewiesen? Durchaus nicht. Und damit war etwas, nein, damit war schon viel gewonnen.

Pater Gollermann hatte zwar eben noch den Gedanken einer Untersuchung – einer gerichtlichen doch wohl – des Falles gutgeheißen. Jetzt aber meinte auch er: „Pfalzgräfliche Gnaden weisen uns mit der Umsicht Ihres erhabenen Standes den richtigen Weg. Es muß alles Aufsehen vermieden werden, und man sollte daher vielleicht zunächst privatim in den Fall inquirieren. Es ließe sich dies“ – er strich sich hier wieder das Kinn, und wer ihn kannte, wußte, daß dann allemal etwas kam, was nicht ganz so unvorbedacht war, wie es den Anschein hatte – „es ließe sich dies vielleicht sogar mit einem Auftrag vereinigen, der mir vom hochwürdigen geistlichen Kolleg in Trier geworden ist und zu dessen Ausführung ich die Erlaubniß Pfalzgräflicher Hoheit heute zu erwirken hoffte.“

„Rede der hochwürdige Herr, ich bitte!“ sagte die Fürstin. Und nun theilte Pater Gollermann mit, wie dem geistlichen Oberhirten auch dieses Landes, dem Bischof von Trier zu Ohren gekommen sei, daß eine gefährliche Pest der Seelen, ein gewisser Irrglaube, den man nach seinem ersten Verbreiter Jansenismus nenne, von Holland her seine Ansteckung unter die Menschen trage und auch verschiedene Personen in birkenfeldischen Landen, sowohl bürgerlichen wie vornehmen Standes, ergriffen haben solle. Dem weiteren Umsichgreifen dieses Unheiles nun aber kräftig entgegenzutreten, werde die birkenfeldische Geistlichkeit durch ihren Bischof aufs ernstlichste ermahnt. An ihn, den Pater Gollermann, sei das bischöfliche Schreiben ergangen zur weitern Mittheilung an die Pfarrherren.

Er hielt inne und die kleine Hoheit entgegnete mit Würde: „Wir ertheilen Euch, hochwürdiger Herr, hierzu die Erlaubniß. In Gewissensfragen verlassen wir uns völlig auf Euch, dem wir auch die Sorge um unser Seelenheil anvertraut haben.“ Und dann in etwas anderm Tone: „War es nicht diese Ketzerei, die dem hochseligen König in Frankreich seine letzten Lebensjahre verbittert hat, indem er vergeblich versuchte, derselben in seinen Landen Herr zu werden?“

„Nicht so ganz vergeblich, gnädigste Frau,“ sagte der Jesuit, sich auf seinem Sitze verbeugend. „Und daran darf sich ohne Ueberhebung unser Orden einiges Verdienst zuschreiben. Es ist Eurer Hoheit ohne Zweifel bekannt, daß die Bulle ‚Unigenitus‘, welche Seine Heiligkeit in Rom, Clemens XI., vor nicht langer Zeit ausgehen ließ, sich gegen eben jene gefährlichen Neuerungen und verderblichen Irrthümer in der Kirche richtet. Der Vater Le Tellier von der Gesellschaft Jesu, der Beichtvater des Königs Ludwig, ist es hauptsächlich gewesen, durch dessen Eifer das Oberhaupt der Christenheit zum Ergreifen jener so höchst nothwendigen Maßregel man darf wohl sagen gedrängt wurde. Es bleibt mir aber noch eine Mittheilung, eben im Zusammenhange mit jenem Auftrag, dessen ich gewürdigt worden bin – eine Mittheilung, welche dem landesmütterlichen Herzen Eurer Pfalzgräflichen Gnaden nicht anders denn schmerzlich sein kann. Und um so mehr, als damit ein schon schmerzender Punkt in diesem Herzen getroffen werden wird.“

Die Pfalzgräfin sah den geistlichen Herrn unbehaglich und daher schon etwas abgünstig an. Ein schmerzender Punkt in ihrem Herzen! Das war ein bedenklicher Ausdruck; sie dachte alsbald an den Herrn von Nievern und setzte ihre hochmüthigste Miene auf. Doch sogleich ging eine Veränderung mit ihr vor, du er nunmehr anhub: „Es handelt sich da auch, wie ich fast fürchteu muß, um das Fräulein von Leyen. Sie gerade ist eine von den Personen, wenn mich nicht alle Anzeichen trügen, deren strenge Ueberwachung aus heilsamer Fürsorge für ihre Seele uns zur Pflicht gemacht wird. Sie ist mehr als nur verdächtig, auf Irrwege gerathen zu sein und der höchst verderblichen Praxis der sogenannten Quietisten sich zuzuneigen, welche von dem geistlichen Hochmuth eines Jansenius als vornehmlich angesteckt zu betrachten sein dürften.“

„Die Polyxene? Hei, wer hätte das gedacht!“ ließ sich die Pfalzgräfin in äußerster Ueberraschung entfahren. „Und ich vermeinte, sie hätte weit andere Dinge im Kopf als Sektiererei und die Religion überhaupt! Irrt sich der hochwürdige Herr auch da nicht in der Person?“

Während der Pater zu der letzten Frage in wohlmeinendem Bedauern den Kopf schüttelte, entgegnete Frau von Méninville: „Das eine braucht das andere nicht auszuschließen. Trauen Pfalzgräfliche Gnaden diesem Fräulein nicht zu, daß sie auch da hoch hinaus strebt, wo es sich um Dinge der allerheiligsten Kirche handelt, daß sie ihren klugen Verstand nur ungern in geistlichen Dingen gefangen nimmt, wie uns Laien doch ziemt, die wir, uns selber überlassen, nur irren und uns deshalb am besten unsern von Gott geordneten Hirten und ihrer Führung blindlings übergeben? – Mich deucht aber, das ist des Fräuleins Sache nicht.“

So mundgerecht gemacht, kam der Fürstin die Beschuldigung Polyxenes schon nicht mehr so unglaubwürdig vor. „Da mögt Ihr recht haben,“ sagte sie. „Der Hochmuth auf ihr bißchen Verstand oder was sonst und die Naseweisheit, die könnten ihr schon den Streich gespielt haben. Wenn nicht,“ fügte sie nach kurzer Pause mit Lebhaftigkeit hinzu, „die Schwärmerei schon in der Familie liegt. Die Mutter des Fräuleins ist eine wunderliche Frau gewesen, wie ich habe erzählen hören, von einer schier übermäßigen Frömmigkeit. Doch ist sie noch im rechten Glauben verstorben, in ziemlich jungen Jahren. Wenigstens habe ich es nicht anders vernommen.“

„Es steht zu hoffen, daß dem so war,“ sagte Pater Gollermann vorsichtig.

Sabine Eleonore heischte nun von dem geistlichen Herrn einige nähere Auskunft über dasjenige, was gegen Polyxene vorliegen sollte. Und zwar that sie dies in einem Tone, der ihm andeuten mochte, daß sie ein allzu selbständiges Vorgehen der Geistlichkeit in ihrem Lande nicht ganz günstig vermerken würde. Sie war eifersüchtig auf ihre Macht, die kleine Dame, und wer sie nach seinem Willen zu lenken gedachte, der durfte sie dies [328] wenigstens nicht merken lassen. „Weiß Gott, diese Herren haben ihre Nasen überall!“ soll sie sogar in diesen Tagen einmal gesagt haben, freilich nicht zur Méninville, die für ein solches Sichgehenlassen nicht die richtige Person gewesen wäre. Und jetzt, während der Jesuit sprach und sich von den Besuchen Polyxenens unter dem verrufenen Dache einer Exkommunizierten genau genug unterrichtet zeigte, da paßte die Pfalzgräfin ein wenig mißtrauisch nach Frau von Méninville hin, ob diese das, was ihr selber noch Neuigkeiten waren, etwa schon wisse. Der frommen Witwe aber war, was sie nicht merken lassen wollte, auch nicht anzusehen: sie saß mit niedergeschlagenen Augen und ihrer bescheidensten Miene da. Hatte sie mit dem geistlichen Herrn über das, was jetzt hier verhandelt wurde, schon Rücksprache genommen, oder nicht? Die Pfalzgräfin kam für heute nicht dahinter.

Am Schlusse seines Berichtes nun wagte Pater Gollermann, immer in schuldiger Ehrerbietung gegen die Fürstin, einen entschiedenen Vorschlag. „Um über den Glauben und den ganzen inneren Zustand dieses Fräuleins mir ein Urtheil bilden zu können“ – so sagte er – „wird es nöthig sein, daß ich häufig Gelegenheit zur Zwiesprache mit ihr, das will heißen: jederzeit freien Zutritt zu ihr habe. Ob sie mir denselben aber bei sich im Hause, so oft ich es für gut finde, gewähren würde, darf bezweifelt werden. Es ist sogar, bei ihrer uns nicht unbekannten eigenwilligen Gemüthsart, zu befahren, daß sie sich uns absichtlich entziehen und sehr selten zu Hause anzutreffen sein würde. Daher es mir geboten scheint – immer die Billigung der Maßregel von seiten Pfalzgräflicher Gnaden vorausgesetzt – uns der Person der jungen Dame zu versichern. Es kann dies in wenig auffälliger Weise geschehen. Gestatten Hoheit nur, daß das Fräulein auf eine Zeitlang zu den Ursulinerinnen am Brückenthor gebracht werde. Bei diesen frommen Frauen, deren Glauben und Gehorsam immer unsträflich waren, werden wir ein geziemendes Gelaß für sie finden und ich kann sie dort befragen und prüfen. Ganz unbemerkt von Hof und Stadt bliebe allerdings auch ein solcher Vorgang nicht. Aber wie leicht ist einem jeglichen Gerede darüber begegnet mit der Erklärung, das Fräulein habe aus Kummer über den Verlust ihres Vetters das Bedürfniß empfunden, sich für eine Weile in stille Zurückgezogenheit und in den Bereich geistlichen Zuspruchs zu begeben.“

Die großen und doch beweglichen Züge des Jesuiten waren sehr wohl eines gewissen Ausdrucks von Wohlwollen fähig, und sie trugen denselben bei den letzten Worten, nicht anders, als ob er selber dem Fräulein von Leyen den aus solcher Zurückgezogenheit zu schöpfenden Trost von Herzen gönne. Uebelwollend im gewöhnlichen Sinne war Pater Gollermann auch nicht. Wie hätte er dies sein sollen, da er nur einen Willen kannte: den seiner Ordensoberen. Wo dieser aber sprach, da war das Wohl oder Wehe eines Einzelnen gering anzuschlagen, also daß das Verfahren des trefflichen Herrn wie seiner Genossen der Härte, ja der Grausamkeit zum Verwechseln ähnlich sehen konnte. Aber das war nur Schein. Grausam waren er und viele seinesgleichen so wenig, wie man den Mühlstein grausam nennen wird, welchen fremde Kraft in Bewegung setzt zu seinem zermalmenden Geschäfte. Hart – nun ja, hart muß ein Mühlstein allerdings sein, weil er sonst nicht mahlen konnte, Aber er ist es, wie man weiß, doch auch nur bis zu einem gewissen nothwendigen Grade. Anders Frau von Méninville. Sie arbeitete, wenn man so sagen darf, auf eigene Rechnung und wußte am besten, wem zugute kam, was sie erstrebte. Sie sagte jetzt mit leicht verzogenen Lippen: „Der hochwürdige Herr hat recht. Bei der großen Liebe, welche das Fräulein zu ihrem Vetter getragen haben soll, wird es nicht allzu sehr Wunder nehmen, wenn sie eine Weile ihr Angesicht vor der Welt zu verbergen Lust hat.“

Die Pfalzgräfin war nicht auf das scharfe Beobachten anderer gestellt; jetzt aber hatte sie einmal halb zufällig die Méninville angesehen, und da mußte sogar ihr der Zug von bitterem Hohn in diesem sonst so beherrschten Gesicht auffallen. Sie sagte aber nichts; der Jesuit mochte fortfahren, und er that es mit den Worten: „Es hat die Maßregel, welche ich vorschlagen zu sollen glaubte, auch noch den Vortheil, daß jene andere so räthselhafte und beklagenswerthe Angelegenheit, ich meine das Verschwinden des Junkers von Leyen, an Ort und Stelle so weit besser untersucht werden kann, als wenn das Fräulein bei Wege wäre. Es geziemt uns Christen, nicht leichtlich an eine so schwarze Schuld einer anderen Christenseele zu glauben, wie dies Verbrechen an dem Knaben sein würde. Noch aber auch will es uns anstehen, irgend eine Vorsicht zu versäumen, welche die Uebelthat, sollte eine solche geschehen sein, ans Licht zu förderu vermag. Und deshalb muß meines Erachtens diesem Fräulein, sobald sie eine Kenntniß des gegen sie entstandenen Verdachts gewinnt, zugleich die Möglichkeit entzogen sein, etwaige Beweise für eine Schuld, als da wäre: Aussagen der Dienstboten und so weiter, zu verhindern oder gar andere vorhandene Indicia beiseite zu schaffen.“

Frau von Méninville mußte gewahr werden. daß sie sich hier einmal in Frau Sabine Eleonore verrechnet habe. Sie hatte gehofft, der Haß der Dame gegen Polyxene sei schon groß genug, um nun an diesem Verdacht sich noch zu kräftigen, und indem er weiter wuchs, zugleich wieder dem Argwohu zu desto frischerem Gedeihen zu verhelfen. Das war gefehlt. Man sah es der Fürstin an: angenehm war ihr diese Angelegenheit nicht, ganz das Gegentheil! Sie hatte mit trockenem Gesicht dagesessen und sagte jetzt beinahe mürrisch: „Der hochwürdige Herr scheint eines zu vergessen: daß das Fräulein eine Minorenne ist. Wird der Vormund, der Herr Oberst von Gouda, in dieser Sache leicht mit sich handeln lassen? Das ist die Frage.“ Und mit dem Sinn für das Geschäftliche, der ihr zuweilen eigen sein konnte, fügte sie hinzu: „Umgangen werden kann er nicht, das wäre wider alles, was Rechtens ist.“

„Umgangen werden kann er nicht,“ meinte hier auch Pater Gollermann mit bereitwilligster Zustimmung. „Er kann sich aber, soweit ich sehe, einer zwanglosen, sagen wir gesprächsweisen Erörterung gewisser Materien des katholischen Glaubens zwischen mir und dem Fräulein nicht wohl widersetzen. Und je nach dem Ergebniß derselben reichen meine Vollmachten von der geistlichen Behörde alsdann aus, um das weitere zu veranlassen – wobei ich, wie gesagt, einen Aufenthalt des Fräuleins bei den Ursulinerinnen, unter leichter Klausur, zunächst im Auge habe.“ Und dann fügte er mit seiner sanftesten Stimme hinzu: „Die Billigung solchen Vorgehens von seiten Pfalzgräflicher Gnaden ist mir ja vorhin schon zugesichert worden.“

So, war sie das wirklich? Aber doch nur in jener allgemeinen Fassung, die auf Untersuchung des Glaubenszustandes im Lande überhaupt zielte! Von Polyxene war dabei noch keine Rede gewesen. Die Pfalzgräfin gab sich nicht die Mühe, sich dies genau zu vergegenwärtigen – so weit nachdenken und sich besinnen, wäre ihr schon lästig gewesen – aber sie hatte doch den Eindruck, daß der fromme Herr da wieder nach etwas griff, was ihm noch gar nicht gereicht worden war. Sollte sie ihm hier einmal sein Spiel verderben, indem sie, ganz wider Erwarten, Polyxene in Schutz nahm? Launisch und selbstwillig genug war sie für dergleichen.

Frau von Méninville hatte sie beobachtet. War der Jesuit klug, so war die Méninville noch klüger. Ihren Blick auf eine Weile in den des Paters senkend, sagte sie: „Wäre es, wenn mir zu reden vergönnt ist, nicht besser, der hochwürdige Herr verzöge mit dieser seiner Maßregel einstweilen? Das milde Herz unserer Fürstin erleidet eine Kränkung dadurch. Vielleicht, ja hoffentlich, ist auch alles, was an der lauteren Frömmigkeit und Rechtlichkeit des Fräuleins zweifeln lassen könnte, unbegründet. Wie sollte eine junge Person nicht tadelfrei und liebenswerth sein, die sich des ausdrücklichen Beifalls eines so klugen und treulichen Herrn zu erfreuen hat, wie es hochdero Oberjägermeister von Nievern doch sonder Frage ist! Und nahm er sie damals im Walde – Pfalzgräfliche Gnaden wissen, was ich meine – gegen einen verdienten Verweis ausdrücklich und öffentlich in Schutz, indem er ihr vor aller Augen das Geleit gab, um wie viel eher würde ihr sein Ritterdienst, uns allen aber des Herrn Oberjägermeisters Unwille jetzt erstehen, wenn jemand es wagen sollte, an dem Glauben und der Tugend dieser Dame zu zweifeln. Und das Gutbefinden eines so ergebenen Dieners Euerer Hoheit, wie Herr von Nievern es stets war, will auch erwogen sein.“

Der Jesuit erkannte, daß seine Finger hier an eine Saite rührten, auf der zu spielen man von ihm nicht erwarten konnte, und schwieg wohlweislich. Frau Sabine Eleonore aber sagte alsbald, mit emporgerecktem Kinn: „Frau von Méninville irrt. Das Gttbefinden des Herrn von Nievern hat mit dieser Sache nichts zu thun. Dieser Kavalier ist unser Oberjäger- und Forstmeister, aber kein Berather in Angelegenheiten des Glaubens. Gehe denn [329] der hochwürdige Herr in Betreff des Fräuleins so zu Werke, wie er es für gut hält. Gelegentlich wünsche ich von dem Fortgang der Sache unterrichtet zu werden.“ Damit war dem Pater das Ende der Audienz angedeutet, und er nahm nunmehr ziemlich rasch seine Entlassung, ehe etwa die Dame noch einmal anderen Sinnes würde.

Auch Frau von Méninville hätte sich gern zurückgezogen. Es war für jetzt alles erreicht, was irgend zu hoffen gewesen; von einer weiteren Erörterung dieser Angelegenheiten war nichts mehr zu erwarten, im Gegentheil. Nun schien zwar die Pfalzgräfin nach des Paters Abgang nicht mehr zum Reden geneigt über den Gegenstand des eben gepflogenen Gespräches, ebensowenig aber eilte sie damit, Frau von Méninville fortzuschicken. Und sie machte sich dieser Dame die nächste Viertelstunde lang so unangenehm, daß dieselbe für all ihren Vorrath von christlicher Geduld reichliche Verwendung fand.

Der Hof des Syenitwerks zu Bensheim im Odenwalde.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Es fiel der Pfalzgräfin nämlich plötzlich ein, von dem Fortschritt der weitläufigen Stickerei an der Altardecke sich eine Anschauung verschaffen zu wollen. Und so mußten die schon vollendeten Ecken, welche der Schonung wegen zusammengeschlagen und vernäht waren, losgetrennt und aufgerollt werden, was an sich schon Mühe machte, ganz besonders aber die weit größere der Herstellung des alten Zustandes veranlassen würde. Nun, im Herrendienst lernt Geduld, auch wer sie sonst nicht zu üben versteht, und Geduld und die Kunst des Abwartens war immer eine der Tugenden dieser lieben Seele, der Méninville, gewesen. Aber auch ihr reicher Vorrath an dieser nützlichen Eigenschaft wollte nicht mehr vorhalten, wie sie jetzt auf den Knien im ganzen Zimmer herumrutschen mußte, um bald hier bald da ein Stück des aus dem Fußboden ausgebreiteten steifen und schweren Gewebes der Pfalzgräfin ins richtige Licht zu halten, so lange, bis ihr die Arme sinken wollten, während Frau Sabine Eleonore kritische Bemerkungen machte, wie etwa: „Die Knospe hier, deucht mich, sollte noch mehr hervortreten; die überarbeiten Sie noch einmal, liebe Méninville! Machen Sie sich ein Zeichen daran – ziehen Sie ein rothes Fädchen daneben hinein. Diese? Nein, die andere meinte ich; hier muß das Zeichen hin! So; entfernen Sie aber das andere, damit Sie nicht irre werden ... O je, was haben wir da gemacht! Sehen Sie doch selber, fällt Ihnen nichts auf? Der Faden läuft ja bei der Lilie hier durchweg verkehrt! Nein, das verschimpfiert das ganze Muster; das trennen Sie doch gleich morgen wieder heraus! – Was meinen Sie, ließe nicht hier eine Wiederholung des zackigen Blattes besser als dieses mit dem rnnden Rande? Es sieht plump aus, dünkt mich. Das ändern Sie auch wohl ab!“ Und nun, drei Schritte weiter, eine ähnliche Ausstellung – drei Schritte, welche die fürstliche Dame stattlich und aufrecht dahinsegelte, welche die Méninville aber auf den Knien entlang rutschen mußte, dabei mühsam auf den erhobenen flachen Händen das spreizige Gewebe den fürstlichen Prüfungsblicken entgegenhaltend. Während dies alles vor sich ging, da waren ihre Gefühle gegen die Pfälzerin wie gegen dieses gottgefällige Werk ihrer eigenen Hände so ziemlich die gleichen und nicht gerade die erbaulichsten.

Und wer weiß, ob die Pfalzgräfin ganz so harmlos war, wie sie aussah, bei dieser Feuerprobe, welche sie der christlichen Demuth ihrer lieben Méninville verordnete. Als diese Dame endlich wieder auf ihren Füßen stehen durfte, ziemlich erschöpft, mehr noch von der inneren Wuth als von der Anstrengung – denn außer Athem kam sie nie – da beliebte es der Fürstin sogar noch einmal redselig zu werden über den Fall des Junkers von Leyen. Die etwas vorwurfsvolle Schweigsamkeit der Dulderin Méninville schien sie dabei gar nicht zu merken; sie hieß sie auch nicht sitzen, was sie sonst, wenn sie mit der Vertrauten allein und in gnädiger Laune war, meist that. Sie kam heute auf allerlei, die kleine Dame, die sonst von einer fast imponierenden, leeren, trockenen Schweigsamkeit sein konnte – so auch auf die Jagdlust Polyxenens. „Ein Wunder ist die schier übermäßige Lust am Wald in dem Fräulein nicht,“ meinte sie, „wenn man bedenkt, wer ihr Vater war und ihr Großvater vor diesem. [330] Dem Vater, dem Freiherrn Ernst Josias, war mein seliger Herr nicht abhold. Er sei ein treuherziger Kumpan gewesen, habe ich den Pfalzgrafen sagen hören, und einen Mann, der des Weidwerks aller Art kundig sei wie dieser, den solle man ihm noch zeigen. Er kam ja auch auf der Jagd zu Tode. Das alles muß ihr im Blute stecken. O ja, es ist ein adliger Zeitvertreib, die Pirsch. Mer alles mit Maß! Und wie es die Polyxene getrieben hat, das schien mir, ich bekenne es frei, für ein Frauenzimmer von Stand zu toll.“

In der inneren Verachtung ihrer Herrin versäumte Frau von Méninville jetzt doch etwas von der gewöhnlichen Beherrschung ihrer Mienen. Wenigstens wehrte sie diesmal dem Ausdruck unsäglichen Hohnes nicht, der um ihre Lippen flog, als sie sagte: „Nun, bei den Ursulinerinnen, und wenn auch in leichter Klausur, wird dem Fräulein das Waldlaufen gelegt sein, und auf eine gute Spanne Zeit, sollt’ ich denken.“

Aber trau einer den Großen! Es ist fast, als ob das hohe Postament, auf dem sie doch von vornherein stehen, sie in eine Sphäre rückte, welche selbst ihre Einfalt mit einer gewissen Schärfe durchtränkt. Die Pfalzgräfin drehte sich plötzlich zur Méninville herum und sagte bedächtig: „Wie kommt es eigentlich, daß Ihr dem Fräulein von Leyen so feind seid? Mich dünkt, Ihr haßt sie recht von Herzen … just, als ob sie Euch im Wege wäre. Ist es nicht so?“

Die fromme Witwe hatte Mühe, ihren Schrecken zu verbergen. Das war ja gewesen, als risse einer Decken und Schleier fort von dem innersten Schrein ihres Herzens! Und wer that es! Von dorther hatte sie sich eines solchen Angriffs wahrlich nicht versehen. Sie stammelte eine Entkräftung der Annahme und wurde erst nach und nach wieder sicherer, sogar vorwurfsvoll. „Wie sehr verkennen Hoheit meinen Eifer für dero fürstliche Ehre,“ klagte sie. „Wenn mich zuerst etwas gegen diese junge Person eingenommen hat, so war es ein Gebahren, welches sie bei Hofe zur Schau trug, fast als ob es ihr an der rechten schuldigen Devotion gegen Pfalzgräfliche Gnaden mangele. Doch war das vielleicht das Ungeschick ihrer unerzogenen Jahre, denn ich erfuhr ja durch den Mund hochfürstlicher Gnaden selber, daß besagtes Fräulein jünger sei, als ich gedacht hatte.“ – Es konnte auf alle Fälle nicht schaden, der durchlauchtigen Dreißigerin die gefährliche Jugend Polyxenens immer wieder in Erinnerung zu bringen.

Sabine Eleonore ging nicht weiter auf die erbaulichen Worte ihrer ergebenen Vertrauten ein, meinte vielmehr: „Papperlapapp – Ihr seid der Polyxene eben nicht grün. Aber bei Gott, leid sollte es mir doch thun, wenn man sie als eine Uebelthäterin justifizieren müßte. Und an das Skandalum, wenn so etwas auf jemand vom Adel fällt, wag ich noch gar nicht denken.“ Wobei sie aussah. als ob sie sich für jetzt, um dem bevorstehenden ernsten Geschäft der Toilette volle Sammlung entgegenzubringen, die ganze Sache gründlich aus dem Sinne zu schlagen gedachte. Und Frau von Méninville erhielt nunmehr den Wink ihrer Entlassung.

Die gute Méninville war nachdenklich geworden. Sie hatte durch den kleinen Stoß, den ihr der Pfalzgräfin Worte versetzt hatten, eine heilsame Warnung erhalten. Man begeht selten größere Fehler, als wenn man die Personen, mit denen man zu rechnen hat, unterschätzt. War ihr das etwa mit dieser fürstlichen Puppe geschehen? Steckte außer den stets vorher zu bemessenden Drahtbewegungen, vermittelst welcher jene den Tageskreis durchrollte, doch noch ein selbständiges Leben in ihr? Dann ging dasselbe auch nur von einem Punkte aus, natürlich, und so stimmte die Rechnung doch wieder. Welche Regung macht selbst das stumpfeste Geschöpf scharfsinnig? Die eine, deren Wirken in dieser kleinen Pompfigur Frau von Méninville als boshaft belustigte Zuschauerin von Anfang ihrer Hoflaufbahn an beobachtet hatte! Wenn aber die Pfalzgräfin ungewöhnlich scharfsichtig gemacht wurde durch ihre Laune – vielleicht war es sogar mehr – für den Oberjägermeister von Nievern, so hatte die Méninville alle Ursache, den wachsamen eifersüchtigen Argwohn der Fürstin, den sie schon mit Erfolg gegen die verhaßte Polyxene benutzt hatte, nicht am Ende gar – gegen sich selber zu lenken. Das eine fühlte sie nur zu deutlich: schlug dieser Argwohn – als könne auch sie, die fromme, der Welt ganz abgewendete Méninville, je von dem Oberjägermeister als ein Weib angesehen werden – nur mit einer Faser Wurzel in dem engen eigensinnigen Gemüthe der Pfalzgräfin, dann war ihr Spiel bei derselben für immer völlig verloren.

Sie war aber jetzt gewarnt und gedachte es dazu nicht kommen zu lassen.

(Fortsetzung folgt.)




Deutschlands große Industriewerkstätten.
Die Granit- und Syenitwerke im Odenwalde.
Von Karl Falk.0 Mit Zeichnungen von Friedr. Boehle.

Zwischen dreien der schönsten deutschen Ströme, zwischen dem Vater Rhein, dem Main und dem unteren Laufe des Neckars, erhebt sich ein Bergland, das in alten Zeiten, als die Römer in Süddeutschland vordrangen, eine öde Wildniß, ein „durch schreckliche Finsterniß Schauder erregender Wald“ war und darum, „öder Wald“ oder „Odenwald“ genannt wurde. Längs seiner westlichen Abhänge bauten die römischen Kolonisten die „alte Bergstraße“, errichteten Burgen und Weiler und brachten den Segen der Kultur in die starre Wildniß. Der Odenwald verlor seine Schrecken und wurde zu einem herrlichen Stückchen Erde. Auf seinen grünen Triften weiden heute die friedlichen Herden, fleißige Mühlen klappern im Thale, Städtchen, Dörfer und Weiler lugen aus den dichten Obstgärten hervor, und durch die herrlichen Buchen- und Eichenwaldungen klimmt der Tourist auf wohlgebahnten Pfaden zu den Bergkuppen empor, um von ihren Zinnen die herrliche weite Rundschau zu genießen.

Drehbank für Säulen.

Dorthin wollen wir heute auch unsere Leser im Geiste führen, um ihnen wunderbare Schöpfungen der Natur und nicht minder wunderbare Werke des menschlichen Fleißes zu zeigen.

Wenn wir aus der Vogelschau, wie die Alten sagten, oder vom Luftballon aus, wie die Modernen sich ausdrücken, einen Blick auf den Odenwald werfen könnten, so würden wir sofort erkennen, daß er in zwei grundverschiedene Theile zerfällt, für die eine Linie, die man im Geiste von Heidelberg bis Aschaffenburg ziehen würde, als Grenze gelten mag.

Die östliche Hälfte des Odenwaldes bietet sich unseren Blicken als eine Reihe plateauartiger Höhenzüge dar, die, zum Theil mit Wald bestanden, zum Theil [331] mit grünen Matten überzogen, sich ausgezeichnet für die Viehzucht eignen. Mannigfaltiger in ihrer äußeren Erscheinung ist dagegen die westliche, steil gegen den Rhein abfallende Hälfte; runde Bergkuppen reihen sich hier dicht aneinander und schließen tiefe, oft schluchtartige Thäler ein. Dort im Osten wiegt der bunte Sandstein vor, der im Laufe von Jahrtausenden aus längst verschwundenen Meeren sich ablagerte, hier im Westen begegnen wir Gneisen; Graniten und Syeniten, welche durch vulkanische Kräfte aus dem Schoße der Erde emporgehoben worden sind. Dem romantischeren Theile des Odenwaldes wenden wir uns zu und ziehen auf der alten Bergstraße südwärts von Darmstadt, um einen der beliebtesten Aussichtspunkte, den 516 Meter hohen Felsberg, zu erreichen. Der Weg verlohnt sich, nicht allein der Rundschau wegen, die sich uns von der Bergspitze bietet, sondern mehr noch wegen der eigenartigen Felsgestalten, die seine Abhänge umsäumen; wir können dort sehen, wie Wind und Wetter am Marke der Bergriesen nagen.

An der Sägemaschine.

Steigen wir, vom Dorfe Reichenbach ausgehend, den Felsberg hinauf, so fällt uns die große Anzahl nackter Felsblöcke auf, die oft haushoch aus dem Waldboden hervorragen; die Berghänge bilden mitunter förmliche Trümmerfelder. Aber der Führer verspricht uns eine noch größere Ueberraschung, und während wir ihm folgen, erreichen wir den Rand einer flachen Thal-Mulde, die, ringsum von dichtem Buchenwald umschlossen, ein wildes Chaos von Felsen darstellt. (Siehe das Bild S. 332.) Da liegen die dunklen Blöcke in wirrem Durcheinander, dicht aneinander gedrängt, übereinander gestürzt, wie mächtige Eisschollen, die sich beim Eisgang gestaut und aufgethürmt haben. „Teufelsmühlen“ oder „Felsenmeere“ nennt man derartige Steingebilde, und in der That gleichen sie einem sturmgepeitschten, plötzlich zu Stein erstarrten Meere. Unwillkürlich denkt man bei ihrem Anblick an Bergstürze oder an Erdbeben, in welchen titanische Kräfte diese gewaltigen Felsen übereinander gewälzt hätten. Wie wild aber auch dieses Landschaftsbild erscheinen mag, die Natur führte es in stillstem Frieden aus, von Jahrhundert zu Jahrhundert die einzelnen Züge langsam vertiefend. Die Geologen belehren uns, daß dieses Felsenmeer einst aus einem gleichmäßigen Syenitlager bestand, dessen harte Steinmasse von weicheren Adern durchzogen war. An diesen weicheren Stellen begann vor uralten Zeiten die Atmosphäre zu nagen. Die Regenwasser, die Schneeschmelze lösten kleine Theilchen des Gesteins auf und schwemmten die locker gewordene Masse zu Thal. So entstanden allmählich Rinnen, Risse und Sprünge, welche durch die spülenden Gewässer und den Frost des Winters vergrößert wurden. Aus den Rissen wurden Klüfte, und schließlich blieben nur die härteren Blöcke daliegen als ein wüstes Durcheinander. Nicht weniger als achtzehn solcher Felsenmeere liegen am Felsberg zerstreut; die Steinblöcke der meisten sind völlig kahl, nur hier und dort an schattigen Stellen wuchert auf ihnen das Moos. Mitunter soll es aber geschehen, daß in den Klüften Pflanzenwuchs festen Fuß faßt, daß auf dem von absterbenden Blättern neugebildeten Erdreich der Wald vorrückt, das Felsenmeer überwuchert und den Berg auch an dieser Stelle mit seinem schützenden Mantel verhüllt. Aber dieser Stillstand im Werke der Zerstörung dauert nicht lange; ein gewaltiger Wolkenbruch schwemmt den Wald fort und Wind und Wetter nagen weiter an den Flanken des Berges – und sie werden siegen, sie werden den Felsberg dem Thale gleich machen.

Die Vorgänge, die sich hier abspielen, fassen die Geologen unter dem Namen der „Erosion“, d. h. „Ausnagung“, zusammen, und sie prophezeien, daß durch diese langsam wirkenden Kräfte nicht nur die Berge der Erde erniedrigt, sondern überhaupt alle Festländer mit der Zeit ins Meer hinabgeschwemmt werden würden; ja einer von ihnen hat herausgerechnet, daß in etwa fünf Millionen Jahren die letzte Festlandscholle in den Ocean hinabgespült sein wird.

Schleif- und Poliermaschine für Säulen.

Das sind tiefe Einblicke in die Erdgeschichte, die sich auf den Abhängen des Felsberges uns darbieten. Aber in seinen Buchenwaldungen birgt er noch Spuren einer anderen Thätigkeit; in seltener Treue hat er steinerne Urkunden zur Kulturgeschichte des Menschen bis auf unsere Tage bewahrt.

Folgen wir weiter unserem Führer! Mitten im Walde zeigt er uns eine Stelle, wo eine steinerne „Riesensäule“ liegt, mächtig wie ein gefällter Baumstamm. Sie ist 9,25 Meter lang und hat an ihrem dickeren Ende einen Durchmesser von 1,30 Meter, an dem dünneren einen solchen von 1,05 Meter und soll gegen 560 Centner wiegen. Die Natur hat sie nicht geschaffen; diese wohlgerundete Form ist ein Werk der Menschenhand. Diese Riesensäule liegt auf dem Felsberge seit vielen Jahrhunderten; in den ältesten Urkunden der um den Berg verstreuten Städte wird sie bereits erwähnt. Eine seltsame Erscheinung! Es müssen im Odenwald einst Meister gewohnt haben, welche die Kunst der Steinbearbeitung ausgezeichnet verstanden, denn es ist nicht leicht, solche Riesensäulen aus der rohen Fels-Masse herauszuhauen. Die Bemühungen der Geschichtsforscher, die unbekannten Hersteller dieser Säule zu ermitteln, wurden von Erfolg gekrönt: es darf als zweifellos erwiesen gelten, daß diese Steinhauer dieselben Römer waren, welche die alte Bergstraße gebaut haben.

Schon das graue Alterthum hatte seine Meister der Steinbearbeitung, [332] ein Volk, das aus hartem Felsen unvergängliche Baudenkmale schuf: es war dies das Volk der Aegypter, der Erbauer der Pyramiden, das den Nil hinauf über die heilige Insel Philä bis zu den geheimnißvollen Brunnen von Syene unter dem Wendekreise stieg, um dort den schönen rothen Granit zu brechen. Die Alterthumsforscher wissen auch, in welcher Weise die Aegypter ihre Steine bearbeiteten, denn nicht nur die Papyrusrollen erzählen davon, in den alten Steinbrüchen liegen noch begonnene und nicht vollendete Arbeiten, welche dem Zahne der Zeit getrotzt haben und uns das alte Steinhauerhandwerk in seinen Einzelheiten vor Augen führen. Von den Aegyptern lernten die Römer die schwierige Kunst und trugen sie über das von ihnen beherrschte Erdenrund, trugen sie in die Felsenmeere des Odenwaldes und hieben hier aus den unförmlichen Blöcken schlanke glatte Säulen. Und wie die Aegypter am Nil, so ließen sie am Felsberg gleichfalls unvollendete Arbeiten zurück, aus welchen wir noch heute ersehen können, wie sie mit den Syeniten des Odenwaldes verfuhren.

Das Felsenmeer bei Reichenbach im Odenwalde.

Unweit von der Riesensäule liegt z. B. zwischen Baumstämmen ein viereckiger Block, welcher der „Altarstein“ genannt wird, obwohl er niemals irgend welchem gottesdienstlichen Zwecke gedient hat. Er ist 1,80 Meter hoch, am vorderen Rande etwas über 3,50, am hinteren 4,50 Meter lang und er zeigt den Beginn und Erfolg einer Bearbeitung, durch welche man ihn in Balken von 53 bis 62 Centimeter Dicke und 3,50 bis 4,10 Meter Länge zerlegen wollte. Aus den Spuren, welche der „Altarstein“ trägt, läßt sich die Art der Sprengung wohl erkennen. Mit Sägen, die ausgezeichnet sein mußten, wurden zuerst senkrechte Schnitte in den Stein gemacht; in diese setzte man Keile und sprengte durch deren Antreiben den Balken vom hinteren Grunde ab. Die Bruchfläche nahm dabei schon von selbst eine schalige rundliche Form an, welche die Ausarbeitung der Säule aus dem abgesprengten Stück erleichterte. Auf der Abbildung des „Altarsteines“ (S. 333) sehen wir deutlich jene rinnenförmig ausgehöhlten Bruchflächen.

Die am Felsberg hergestellten Säulen wurden in verschiedene Gegenden des Rheinlandes gebracht, in welchem zur Römerzeit eine gewisse städtische Pracht aufzublühen begann. Noch heute sind viele dieser Zeugen der alten Herrlichkeit erhalten. Mannheim und Heidelberg, Köln und Aachen, Trier und andere Städte rühmen sich noch des Besitzes dieser römischen Säulen aus deutschem Stein. –

Nicht lange indessen, und die Römerherrschaft sank in Staub, ein neues Zeitalter begann, neue Völker flutheten über jene Länder. Die Syenitbrüche am Felsberg wurden verlassen, und die alte Steinindustrie gerieth derart in Vergessenheit, daß die Odenwäldler selbst nicht mehr wußten, wer jene Riesensäule auf ihrem Berge gehauen hatte!

Aber der Tag kam, wo die harten Felsen wieder zu Ehren gelangen sollten. Männer der Wissenschaft begannen sie zu studieren, und was früher oft unter einer allgemeinen Bezeichnung Stein, Fels, Wacke u. dergl. zusammengeworfen worden war, erhielt besondere Namen. Plinius, der Naturkundige des Alterthums, hatte jenen Baustein der Aegypter nach der Stadt Syene „Syenit“ genannt. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts gab der Freiberger Gottlob Werner, der Vater der Geognosie, diesen Namen einer besonderen Gesteinsart, die im Plauenschen Grunde bei Dresden vorkommt, dem Granit sehr ähnlich ist, aber in ihrer Zusammensetzung sich von ihm unterscheidet. Spätere Untersuchungen zeigten nun allerdings, daß die ägyptischen Steine zwischen Philä und Syene durchaus nicht mit denen vom Plauenschen Grunde übereinstimmen; die ägyptischen sind rother Hornblendegranit. Aber der Name „Syenit“ bürgerte sich einmal für die zuerst erwähnte Gesteinsart ein und man behielt sie im Sinne Werners bei.

Der Odenwald besitzt nun auch rothen Granit, vor allem aber tiefdunkeln, fast schwarzen Syenit, während der vom Felsberg zumeist schwarz und weiß gesprenkelt erscheint.

Allein nicht nur die Wissenschaft beschäftigte sich mit diesen Felsen; auch die Industrie wandte ihnen wieder erhöhte Aufmerksamkeit zu. Der Marmor, mit dem der Süden seine Tempel [333] und Paläste schmückt, ist den zerstörenden Einflüssen des nordischen Klimas nicht gewachsen; härter sind die Granite und Syenite, und als man sie in der Neuzeit zu polieren anfing, vermochten sie in der That zum Theil den Marmor im Norden zu ersetzen. So entstanden die verschiedensten Granitarbeiten, welche die Bauten der Gegenwart schmücken: Säulen, Wandverkleidungen in Vorhallen, polierte Stufen und Podeste, Pilaster und Friese, die in den verschiedenen Farbenzusammenstellungen das Aüge entzücken; ferner Denkmale aller Art, monumentale Brunnen, Postamente für Standbilder und vollständige Grabmonumente.

Diese Steinindustrie entwickelte sich zuerst in Schottland, wo sie noch jetzt in hoher Blüthe steht. Schweden und Norwegen sowie Italien liefern ausgezeichnete verschiedenfarbige Granite. Die rohen Blöcke werden auch nach Deutschland verbracht und hier bearbeitet. Endlich besann man sich, daß auch in deutschen Bergen prachtvolle Felsen standen und nur auf die regsame Hand warteten, die sie in Kunstwerke umformte. Da wurde es wieder lebendig an den Abhängen des Odenwaldes; der Hammer dröhnte durch die Wälder, und an der alten Bergstraße entstanden in Bensheim und Heppenheim groß angelegte Werke, in welchen nicht nur die fremdländischen, sondern auch die deutschen Gesteinsarten zu schlanken Säulen, zu spiegelglatten Platten, zu kräftigen Sockeln gestaltet wurden. Und so herrscht in dieser Gegend nunmehr ein noch regeres Leben als zur Römerzeit, flotter und flinker nimmt der Stein die gewünschten Formen an, spiegelblanker geht er aus der Werkstätte hervor; denn die Maschine unterstützt heute mit ihren unermüdlichen stählernen Armen den Steinmetz bei seinem schwierigen Werke. Schauen wir zu, was der Mensch heute an den Felsenmeeren vollbringt, besuchen wir die deutschen Syenitbrüche im Odenwald!

Riesensäule und „Altarstein“.

Die Blöcke werden noch immer in ähnlicher Weise wie zur Römerzeit gebrochen. Entlang der gewünschten Bruchlinie des Felsens werden in einiger Entfernung voneinander Stahlkeile in eigens hierfür ausgearheitete Nuten eingesetzt und dann mit schweren Hämmern der Reihe nach so lange angetrieben, bis von Keilnut zu Keilnut ein Riß im Steine entsteht und die Trennung des Blockes erfolgt. Aber nicht immer geht diese Trennung so ganz nach Wunsch vor sich und manche beiseite geworfenen Trümmer gehen Zeugniß davon, daß die Steinrisse trotz aller Vorsicht mitunter ihren eigenen Weg gehen. Ist der Stein endlich gespalten und in roher Form vorgearbeitet, so muß er verladen und oft meilenweit aus den auf den Höhen des Gebirgs gelegenen Brüchen auf schwierigen Waldwegen nach den Werkstätten gebracht werden, eine mühevolle und nicht selten sogar gefährliche Arbeit, wenn es sich um Blöcke von 1Ü0 bis 200 Centnern Gewicht handelt!

In den Werken angelangt, wandert ein Theil der Blöcke in die Steinhütte, wo er von den Steinmetzen nach den gewünschten Formen zugehauen wird. Tüchtig geschulte Arbeiter handhaben hier den Meißel aus bestem Stahl, aber trotzdem schreitet die Arbeit nur langsam vorwärts, denn der Felsen ist gar hart. Ein anderer Theil der Blöcke wird durch Maschinen, die mit Dampf- oder Wasserkraft betrieben werden, verarbeitet.

Da ist zunächst eine Maschinensägerei, in welcher die Blöcke in Platten zerlegt werden. Man sägt Steine nicht in der Art wie das Holz. Die Steinsäge hat keine Zähne, ihr Stahlblatt hat einen ganz glatten Rand und wird nur zum Hin- und Herbewegen von Quarzsand verwendet, den man auf Stein schüttet und durch Wasserzuleitung in die Sägeschnitte führt. Neuerdings hat man vielfach den Sand durch Stahlkörner ersetzt, welche die Leistung der Steinsäge erhöhen. Freilich, blitzschnell, geht es trotz Maschine und Dampfkraft nicht vorwärts; während eines vollen Arbeitstages dringt die Säge nur einige Centimeter tief in die Felsmasse ein. Aber die Sägen arbeiten sicher, manche sind als „Vollgattersägen“ gebaut, mit dreißig und mehr Sägeblättern ausgerüstet und zerlegen die bis zu vier Meter langen Blöcke in Platten, die nur zwei Centimeter stark sind und eine Fläche von mehreren Quadratmetern besitzen. Andere, wie die „Trennsägen“, führen nur ein Sägeblatt, gehen rascher und arbeiten geschwinder.

Die also zugesägten Blöcke müssen nun ihre richtige Form, ihre Profilierung erhalten. Auch diese Arbeit wird entweder von Steinmetzen oder von Maschinen besorgt. Handelt es sich um verwickeltere Gestaltungen, so ist der Steinmetz unentbehrlich; aber für gewisse einfache Grundformen, wie für Säulen und Walzen, hat man sehr zweckmäßige Maschinen erfunden. Es sind dies Drehbänke, auf welchen durch sich drehende scheibenförmige Stahlmesser die vorstehenden Theile des Steines solange abgesprengt werden, bis die kreisrunde Form hergestellt ist.

Die Form, die man beabsichtigt hat, ist nun im allgemeinen erreicht; doch ist die Fläche des Steines noch rauh, sie muß den Schliff erhalten. Für gleichmäßige Stücke werden wiederum Maschinen benutzt, in denen das Schleifen durch rotierende oder hin- und hergehende Eisenscheiben besorgt wird. Als eigentliches Schleifmittel wird nach und nach Sand, dann gemahlener Schmirgel in verschiedenen Sorten, vom groben bis zum feinsten, geschlemmten, aufgeschüttet. Schließlich wird mit verschiedenen Poliermitteln die Fläche spiegelblank poliert, und diese Politur behält, wenn sie in der richtigen Weise ausgeführt wurde, ihren Glanz in allen Wechseln unseres Klimas.

Ein Theil der Aufgabe bleibt freilich noch immer für die Menschenhand übrig. Einzelne Theile, die sich zur maschinellen Bearbeitung nicht eignen, müssen mit eisernen Läufern, die in Form der zu schleifenden Profile hergerichtet sind, von der Hand geschliffen und poliert werden. Zu allerletzt werden, wo dies gewünscht [334] wird, Inschriften und Verzierungen aller Art von den geübtesten Steinmetzen an den Steinen angebracht.

Von den einzelnen Werkstätten, die wir soeben aufgesucht haben, laufen Schienengeleise zu dem Werkhof, der sozusagen das Herz der ganzen Anlage bildet und stets ein Bild regster Thätigkeit bietet. Hier mündet auch das Geleise, welches die Syenit- und Granitwerke mit der Bahnstation verbindet, hier steht der mächtige Fahrkrahn, mit dessen Hilfe die Eisenbahnwagen von den ankommenden italienischen oder schwedischen Blöcken entlastet oder mit den Kunstleistungen der Anstalt beladen werden. Unsere Abbildung auf Seite 329 zeigt uns den Werkhof des Syenitwerkes zu Bensheim mit der Fülle von Blöcken, Platten und Säulen. Im Vordergrunde wird gerade zur Probe der Sockel für das Denkmal Alfred Krupps zusammengestellt, welches ihm von seinen Beamten und Arbeitern errichtet und im vorigen Herbste zu Essen enthüllt worden ist. Die in Bronze gegossene Figur des Schmiedes, die auf der einen Seite des Postamentes sitzt, stellt die „Arbeit“ dar und wurde von dem Bildhauer J. Menges in München modelliert. Die andere Figur, welche die gegenüberliegende Seite schmücken soll, auf dem Bilde aber noch daneben liegt, ist eine Versinnbildlichung der „Humanität“ und eine Schöpfung des Bildhauers A. Mayer in München.

Die Granit- und Syenitwerke Bensheim beschäftigen noch andere Werkstätten, so die mit Wasserkraft betriebenen Anlagen in dem nahen Heppenheim und das Werk Friedenfels im Fichtelgebirge. Die Erzeugnisse dieser rasch zur Blüthe gekommenen Industrie sind heute über ganz Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus verbreitet; viele Prachtbauten zeigen Bensheimer Säulen und Quadern. Die Kaiser Wilhelms-Brücke in Berlin ist mit Felsberger Granit verkleidet, und zahlreiche Postamente zu berühmten Denkmälern der Neuzeit entstammen denselben Werken. So stehen die Denkmäler Huttens und Sickingens auf der Ebernburg, Schneckenburgers in Tuttlingen, Abts in Braunschweig, Bismarcks und Moltkes in Stuttgart auf Felssockeln, welche von den regen Werkstätten des Odenwaldes geliefert wurden.

Wie eigenartig ist diese auf den verschollenen Trümmern römischer Kunstfertigkeit aufgeblühte deutsche Industrie! Möge es ihr auch ferner gelingen, aus dem edlen Gestein kunstvolle Bildungen zu formen und neben den fremden auch den deutschen Steinen den ehrenvollen Platz zu verschaffen, der ihnen gebührt.




Ein Jahrhundert Turngeschichte.

Es war am Abend des 1. Juni 1785, als in die seit kurzem eröffnete Salzmannsche Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal ein junger Theologe aus Quedlinburg kam. Er hatte zwei Zöglinge bei sich, einen sechs- und einen zehnjährigen Knaben, die er in der Anstalt unterbringen sollte – und wie er nun so dem Leiter derselben, dem vielverehrten Meister der Erziehungskunst Christian Gotthilf Salzmann, gegenüberstand, da knüpfte sich rasch und unsichtbar ein Band zwischen den beiden Männern, das sich im Leben nicht mehr lösen sollte. Die gleichen Seelen schlossen sich voreinander auf, aneinander an, der geweckte geistige Ausdruck der beiden Jungen trug das Seinige dazu bei – kurz, das Ende vom Liede war, daß Salzmann den jungen Hauslehrer aufforderte, bei ihm zu bleiben und sein Gehilfe zu werden. Und so geschah es auch.

Der Quedlinburger Theologe war Johann Christoph Friedrich GutsMuths, damals ein 26jähriger Mann, denn er theilte sein Geburtsjahr mit Friedrich Schiller; und seine zwei Schutzbefohlenen waren Söhne des Leibarztes der Aebtissin von Quedlinburg, Dr. Friedr. Wilh. Ritter; Johannes hieß der ältere, Karl der jüngere, und dieser letztere war kein anderer als der später so berühmt gewordene Geograph.

Vierundfünfzig Jahre hat nun GutsMuths an der Schnepfenthaler Anstalt gewirkt, durch seine Vermählung mit einer Nichte des Begründers bald noch enger mit ihr verknüpft. Und neben verschiedenen anderen Unterrichtsfächern, unter denen die Geographie einen bevorzugten Platz einnahm, war es insbesondere die Leitung der Leibesübungen, die GutsMuths oblag.

Den Werth der Leibesübungen für die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Körper und Geist hatten manche Reformatoren des Unterrichts in damaliger Zeit wohl erkannt. Auf den „Philanthropinen“ zu Marschlins, Heidesheim und Dessau waren einzelne Uebungen in den Lehrplan aufgenommen, und die Dessauer Anregungen Basedows lebten in Salzmann weiter. Der erste aber, der mit methodischer strenge und Gründlichkeit das Turnen gleichsam in ein System brachte, das war GutsMuths, und nach achtjähriger Arbeit auf dem eichenbeschatteten Turnplatze von Schnepfenthal veröffentlichte er 1793 das erste deutsche Turnbuch. „Gymnastik für die Jugend. Enthaltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen. Ein Beitrag zur nöthigsten Verbesserung der körperlichen Erziehung, von GutsMuths, Erzieher zu Schnepfenthal“ – so lautete der nach alter Sitte etwas umständliche Titel, vorgedruckt aber war dem Buche das Motto:

„Ihr lehrt Religion, ihr lehrt sie Bürgerpflicht,
Auf ihres Körpers Wohl und Bildung seht ihr nicht!“

Hundert Jahre sind seitdem dahingegangen, gewaltige Stürme haben die Welt durchfegt, mächtige Fortschritte auf allen Gebieten des Wissens und Könnens sind zu verzeichnen – und doch ist fast alles das, was GutsMuths von dem Einzelnen, vom Hause, von der Schule verlangte, noch heute wahr und richtig; allein nur zum kleinsten Theil ist es in den Codex unseres erziehlichen Lebens übergegangen, noch harrt das Meiste der Erfüllung, und es bedarf der Mitarbeit aller ernsten Jünglinge und Männer, wenn wirklich das Ziel erreicht werden soll, welches GutsMuths anstrebte, daß in den breiten Massen unseres Volkes „eine gesunde Seele im gesunden Körper“ wohne.

Das Buch von GutsMuths hat seinerzeit eine mächtige Wirkung ausgeübt – es traf den wunden Fleck in der Erziehung der Jugend, und Schnepfenthal wurde der Wallfahrtsort für alle, die Herz und Sinn für eine Besserung hatten. Wie es oft im Leben geschieht, fand der Prophet die meiste Anerkennung zuerst außerhalb des Vaterlandes. In Dänemark wurden von Staats wegen seine Ideen in die Schulen eingeführt, und die frühzeitige Entwicklung der leiblichen Uebungen in Schweden ist ebenfalls auf GutsMuths’ Anregung zurückzuführen. 1796 schrieb GutsMuths zur Ergänzung seines ersten Werkes „Spiele zur Uebung und Erholung des Körpers und Geistes, für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger Jugendfreuden“, ein „Lehrbuch der Schwimmkunst“ folgte 1798, und 1804 erschien, ganz umgearbeitet und bedeutend erweitert, die zweite Auflage der „Gymnastik für die Jugend“.

Noch aber fehlte der starke Geist, der es verstand, die Lehren der alten Griechengymnastik und die Anregung, welche von GutsMuths ausging, der Gesamtheit des deutschen Volkes zu vermitteln. Und dieser starke Geist war Friedrich Ludwig Jahn. „Was mir unmöglich wurde,“ schreibt GutsMuths, „gelang späterhin dem kräftigen Jahn. Er trug 1810 die wiedererweckte Gymnastik nach Berlin – dem Wackeren fügte sich die glückliche Stunde, ihm gebührt das große Verdienst der unmittelbaren Einführung der gymnastischen Uebungen, denen er den Namen Turnübungen gab, in die (damals) zweite Stadt des deutschen Landes und eben dadurch in viele andere Orte.“ 1811 eröffnete Jahn den Turnplatz in der Hasenhaide bei Berlin – in der Zeit der tiefsten, schier hoffnungslosen Erniedrigung des deutschen Volkes, unter der Faust des Korsen wollte er ein neues starkes Geschlecht heranziehen helfen zur Befreiung des Vaterlandes! Ernst und Zucht im Bunde mit feuriger Begeisterung herrschten auf dem Turnplatz, von dem die Jünger hinauszogen ins Land, allenthalben neue Turnstätten zu gründen. Und als die Stunde der Erhebung kam, als Friedrich Wilhelm III. sein Volk aufrief, da zog von den Turnern mit ins Feld, was nur die Wehre tragen konnte. Unter allen ragt Jahns treuer Arbeitsgenosse Friedrich Friesen aus Magdeburg hervor, „ihn hätte,“ schreibt Jahn, „im Kampfe keines Sterblichen Klinge gefällt, von welscher Tücke fiel er bei düsterer Winternacht durch Meuchelschuß in den Ardennen“. Auf Jahns Zureden und auf Verlangen der Aerzte blieb Ernst Eiselen mit schwerem Herzen als Leiter der Turnsache in Berlin zurück – mit ihm gab Jahn 1816 „Die deutsche Turnkunst“ heraus, die das ganze Gebiet der Leibesübungen, zum ersten Male auch Reck [335] und Barren mit umfaßte und Regeln und Gesetze für Einrichtung und Leitung der Turnplätze aufstellte. Auch GutsMuths erschien mit einer neuen Schrift auf dem Plane. Sein „Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes“ (1818) brachte die nationale Bedeutung des Turnens besonders auch als Vorschule für den Wehrdienst zur Geltung.

Aber dem frischen Turnerleben, das sich damals entwickelt hatte, war nur eine kurze Blüthezeit beschieden. Die Diplomaten, die in Wien unter Metternichs Führung die Früchte der Freiheitskämpfe, die „Wiedergeburt eines ehrwürdigen Deutschen Reiches“ zu nichte machten, sahen mit Mißtrauen auf das Treiben der Turner und auf „den Jahn, der die höchstgefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands erfunden hatte“. Die Gründung der Burschenschaft, das Wartburgfest mit seiner Verbrennungsscene regten die ängstlichen Regierungen noch mehr auf und die Ermordung Kotzebues durch Sand am 23. März 1819 gab den letzten Anstoß – Jahn wurde am 13. Juli 1819 verhaftet, die Turnplätze wurden geschlossen, die Burschenschaft aufgehoben und die Demagogenhetze auf alle, die für Turnen, Burschenschaft und Vaterland eingetreten waren, begonnen. Nach vier langen Jahren ward der in Colberg internierte Turnvater zu zweijähriger Festungshaft verurtheilt. Auf seine „Selbstvertheidigung“ sprach ihn das Oberlandesgericht zu Frankfurt a. d. O. 1826 völlig frei, – aber der König bestimmte, daß Jahn weder in Berlin und dessen Umkreis von 10 Meilen, noch in einer Universitäts- oder Gymnasialstadt sich aufhalten dürfe, und daß er unter polizeilicher Aufsicht bleiben solle. So war er zur Unthätigkeit verdammt. Nur der treue Eiselen arbeitete in Berlin für das Turnen weiter, so gut es möglich war, doch erst 1826 durfte er einen „Fecht- und Voltigiersaal für die Studierenden“ und Jahre später eine Privatturnanstalt eröffnen.

Indessen, durch Polizeierlasse und Kabinettsbefehle war die gute Sache nicht tot zu machen. Immer wieder tauchten, besonders aus den Kreisen der Erzieher und Aerzte, Stimmen auf, welche die Aufnahme der Leibesübungen in den Kreis der Lehrfächer verlangten. Besonders Lorinsers Flugschrift „Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen“ rüttelte die Geister auf, und mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. schlug auch für die Turner endlich die Stunde der Erlösung. 1842 ward durch das preußische Kultusministerium die Nothwendigkeit der Leibesübungen für die Jugenderziehung anerkannt. Freilich, vom erlösenden Worte auf dem Papiere bis zur umfassenden Einführung des Turnens in den Schulplan war noch ein weiter Weg. Erst nachdem das deutsche Turnvereinswesen festen Boden gewonnen hatte, nach 1860, und nachdem von allen Seiten die Wortführer der Sache mit Denkschriften und Mahnungen hervorgetreten waren, fingen die Einzelstaaten an, Ernst zu machen. In Preußen, Sachsen, Württemberg u. a. wurde das Turnen in den Schulplan aufgenommen, und heute ist wohl kein deutscher Staat damit mehr ganz im Rückstand, wenn auch noch viel zur vollständigen Durchführung fehlt. Ueberall, besonders auf dem platten Lande, läßt man noch viele Ausnahmen zu – staatliche und Gemeindeturnhallen, Turn- und Spielplätze giebt es im Verhältniß immer noch zu wenig und vielfach fehlt bei dem Unterricht der rechte Feuereifer, der hervorgeht aus der Ueberzeugung, daß, indem wir eine starke gesunde Jugend erziehen, wir dem Vaterland, der Menschheit dienen!

Auch das turnerische Vereinsleben trieb im Anfang der vierziger Jahre wieder die ersten Knospen; im sächsischen Vogtland, in Württemberg, am Rheine, später in Dresden und Leipzig wurden Turnvereine gegründet und die ersten Versuche zu einer ganz Deutschland umfassenden Organisation gemacht. Der einzige Verein, der seit der Zeit nach der Völkerschlacht bei Leipzig sich erhalten hatte, war die Hamburger Turnerschaft von 1816. Aber wie die Turnsache jahrelang von der Metternichschen Politik verdächtigt worden war, so wurde sie jetzt in natürlichem Rückschlag gerade von den Männern gefördert und gepflegt, die an der Spitze der politischen Reform- und Revolutionsbewegung standen. Noch fehlten damals der Sache die rechten Führer, die es verstanden hätten, sie hoch über dem Treiben der Parteien zu erhalten, und so fiel der gewaltige Aufschwung, den die Turnerei 1848 und 1849 fast Hand in Hand mit der politischen Bewegung genommen hatte, wieder in sich zusammen. Der politische „Demokratische Turnerbund“ und der unpolitische „Allgemeine deutsche Turnerbund“, die man gegründet, waren totgeborene Schöpfungen. In Frankfurt, Dresden, in Baden kämpften Turner auf den Barrikaden – Grund genug, von Neuem zu einer Unterdrückung der Turnvereine zu schreiten, und nur wenige Vereine, die sich ganz tadellos gehalten hatten, überlebten die neue Turnsperre und hielten Wacht auf eine bessere Zeit. Sie mußte kommen und sie kam. Die tausend deutschen Turner, die 1860 am Jahrestag der Schlacht von Belle-Alliance auf den Ruf zweier schwäbischen Turner, namentlich Theodor Georgiis, des späteren langjährigen Vorsitzenden der Deutschen Turnerschaft, unter dem Schutze Herzog Ernsts in Koburg zum ersten deutschen Turn- und Jugendfest zusammentraten, sie verkündeten den Frühling einer neuen Zeit. In Koburg und ein Jahr später in Berlin gab es noch heiße Kämpfe mit den politischen Drängern, die mehr beschließen wollten, als damals zu erringen war. In Leipzig zogen 1863, 50 Jahre nach der Leipziger Schlacht, schon 20.000 Turner zum dritten deutschen Turnfest ein, das von einer so übermächtigen Begeisterung getragen war, daß es sogar den Herrn von Beust zwang, sich vor dem Gedanken an ein einiges großes deutsches Vaterland zu beugen! Es war damals eine Zeit, in welcher es bis in die höheren Stände hinauf Ehrensache, vielleicht auch Mode war, Turner zu sein. Doch ehe noch das Reich erstanden war, kam auch schon der Rückschlag. Das Strohfeuer erlosch rasch, aber die Treuen blieben doch. 1868 wurde in Weimar der Vereinigung der deutschen Turner auch die äußere Form gegeben und der Bund mit den deutsch-österreichischen Turnern unter Genehmigung der österreichischen Regierung fest geschlossen. Die „Deutsche Turnerschaft“ war gegründet und ein neues Leben begann.

Und dann kam die große Zeit, da die deutschen Scharen nach Frankreich zogen, um dort mit „Blut und Eisen“ das Reich zu gründen. Wieder wie 1813 wurden die Turnplätze leer, die Turnhallen wurden zu Lazarethen, und die Turner zogen, wenn nicht als Kämpfer, so doch als Krankenträger und Krankenpfleger mit ins Feld. Und seit der Zeit, da Jahns „höchst gefährliche Lehre von der deutschen Einheit“ sich im jungen Deutschen Reich verkörpert hat, ist der Segen bei der Turnsache geblieben. Gefestet und in Eintracht verbunden zählt die Deutsche Turnerschaft jetzt fast 5000 Vereine mit einer halben Million Mitgliedern. In 17 Kreise, deren fünfzehnten Deutsch-Oesterreich bildet, ist das Turnerreich getheilt, an der Spitze eines jeden Kreises steht ein Kreisvertreter, und die Fäden von überall her laufen zusammen in der Hand des Vorsitzenden und des Geschäftsführers. Die großen deutschen Turnfeste in Frankfurt a. M. 1880, Dresden 1885 und München 1889 haben Zeugniß abgelegt, daß die Turnsache im Geiste ihrer Schöpfer, eines GutsMuths, eines Jahn, mit Fleiß und Treue gepflegt wird. Die Deutsche Turnerschaft hat die „Jahnstiftung“ für Turnlehrer und deren Witwen und Waisen gegründet, sie hat eine „Stiftung für Errichtung deutscher Turnstätten“ geschaffen, aus der unbemittelte Vereine Unterstützung zur Erbauung von Turnhallen erhalten, im Archiv der Deutschen Turnerschaft wird die gesamte turnerische Litteratur gesammelt, in Gau-, Bezirks- und Kreisvorturnerstunden wird unermüdlich für Ausbildung tüchtiger Lehrkräfte gesorgt. Hand in Hand mit der Turnerschaft arbeiten die deutschen Turnlehrer an der Vervollkommnung des deutschen Schulturnens, und Tausende von Turnern treten alljährlich wohlvorbereitet in das Heer ein, um dem Vaterland zu dienen – kurz, am Schlusse des ersten Jahrhunderts deutschen Turnerlebens ist das Werk der Meister zu herrlicher Blüthe gelangt!

In GutsMuths’ stilles Leben zu Ibenhain, wo er seit seiner Verheirathung wohnte, warfen die Stürme der Turner- und Demagogenverfolgung ihre Wogen nicht hinein. In Schnepfenthal wurde auch nach 1819 ruhig weiter geturnt, und unbehelligt leitete GutsMuths in den Vormittagsstunden von 11 bis 12 Uhr den Turnunterricht, in den späteren Nachmittagsstunden das Schwimmen der Schüler. Und als man am 1. Juni 1835 sein fünfzigjähriges Wirken an der Anstalt durch ein kleines Fest feierte, da richtete es Salzmann – der Sohn und Nachfolger des Gründers – in sinniger Weise so ein, daß der Zug, welcher den Jubilar von seiner Wohnung abholte, ihn zuerst auf den alten wohlbekannten „gymnastischen Platz“ führte, wo die Zöglinge unter seiner Anleitung einige Uebungen ausführten. „Welche hohe Gnade des Himmels,“ schrieb er nach diesem Feste an seinen einstigen Schüler Karl Ritter, damals längst Professor an der Berliner Universität, „daß ich hier wie vor fünfzig Jahren noch kräftig, gewandt wie in alter Zeit über die lustige Jugend walten konnte.“

Die Leitung der Turnübungen gab der sechsundsiebzigjährige [336] Greis nun allerdings nach jenem Feste an zwei jüngere Lehrer ab. Doch unterrichtete er in wissenschaftlichen Fächern noch weiter, und erst mit Ostern 1839 legte er auch diese Thätigkeit nieder. Er hatte ausgeharrt bis zum Letzten; kaum zwei Monate später, am 21. Mai, ging er zur ewigen Ruhe ein.

Jahn, den man zu früh für seinen reichen Geist und seine Schaffenskraft lahmgelegt hatte, erlebte noch den Vorfrühling des deutschen Volksthums im Jahre 1848, aber was er erstrebt, ein wirklich einiges Volk, das für Kaiser und Reich einträte, das fand er nicht. Das Treiben der Parteien, deren äußerste in fanatischer Unzufriedenheit und Wildheit ihm sogar ans Leben wollte, ekelte ihn an. In körperlicher und geistiger Frische legte er nach kurzer Krankheit am 15. Oktober 1852 zu Freiburg a. d. U. den Wanderstab nieder. Auf seinem Grabe errichteten die dankbaren deutschen Turner 1859 ein Grabdenkmal, das eine Büste von Schillings Meisterhand ziert, und noch in diesem Jahre wird sich an derselben Stelle über dem Denkmal ein Ehrenbau wölben, dessen rückwärts liegender Theil eine Turnhalle bildet, während der ganze in den Besitz der Stadtgemeinde übergegangene alte Begräbnißplatz zum Turn- und Spielplatz werden soll. So wird über seinem Grabe fort und fort ein frisches fröhliches Turnerleben blühen, ein Anblick, so recht nach dem Herzen des toten Meisters! ***     


Freie Bahn!

Roman von E. Werner.

 (19. Fortsetzung.)

In Odensberg herrschte eine schwüle gewitterschwere Stimmung. Es lag Sturm in der Luft und allen Anzeichen nach mußte das ausbrechende Wetter ein schweres werden.

Heute war der Tag, wo die Arbeiter, denen infolge der Vorgänge des Wahltages gekündigt worden war, die Arbeitsstätte verlassen mußten. Es waren Hunderte und ihre sämtlichen Genossen hatten erklärt, die Arbeit gleichfalls niederlegen zu wollen, wenn jene Entlassungen nicht zurückgenommen würden.

Wohl hatten sich die Gemäßigten und Besonnenen, und das war der größere Theil der Odensberger, nach Kräften gegen diesen Beschluß gewehrt, aber vergeblich. Die kleinere energischere Partei hatte der Mehrheit ihren Willen aufgezwungen und diese hatte sich gefügt. Der Siegesrausch war den Leuten in der That zu Kopf gestiegen. Seit sie ihrem Chef das so lang behauptete Mandat für den Reichstag entrissen und es einem der Ihrigen zugewendet hatten, glaubten sie, alles erreichen zu können, und Landsfeld hatte diese Stimmung zu benutzen gewußt.

Jetzt freilich, wo es ernst wurde, zeigte die Sache bereits ein anderes Gesicht. Dernburg hatte die Arbeiter, die ihm ihre Bedingungen überbrachten, gar nicht empfangen, sondern ihnen durch den Direktor ein schroffes Nein antworten lassen. Dann hatte er, ohne sich auf irgend eine Verhandlung einzulassen, ohne auch nur zu fragen, ob die Leute auf ihrem Sinne beharrten, die gemessensten Befehle gegeben, an dem betreffenden Tage sämtliche Werkstätten zu schließen und die Anstalten zum Auslöschen der Hochöfen zu treffen. Er hatte seinen Beamten gegenüber rückhaltlos ausgesprochen, daß er den Kampf eher bis zur eigenen Vernichtung durchführen, als auch nur einen Deut jener Forderungen bewilligen werde, deren bloße Zumuthung er schon als eine Schmach empfand. Man kannte diesen Ausspruch auf den Werken und er hatte überall Bestürzung hervorgerufen, denn man wußte, daß der Chef Wort halten werde. Er war trotz seiner Niederlage der Alte geblieben und machte bitteren Ernst, das sah man wohl. Der Rausch der Odensberger verflog, als sie statt des erträumten Sieges jetzt einen langen und schweren Kampf vor sich erblickten, der nur zu leicht mit ihrer Niederlage enden konnte.

Im Arbeitszimmer Dernburgs hatte soeben eine Sitzung stattgefunden. Außer dem Freiherrn von Wildenrod, der bei solchen Veranlassungen niemals fehlte, waren die drei obersten Beamten anwesend; sie hatten sich nach Kräften bemüht, den Chef zu einer milderen Auffassung des Geschehenen zu bestimmen – es war vergebens gewesen.

„Es bleibt dabei, die befohlenen Maßregeln werden mit aller Entschiedenheit durchgeführt!“ erklärte er. „Sie werden dafür sorgen, meine Herren, daß die Unterbeamten sich genau nach den gegebenen Anweisungen richten. Jeder besondere Vorfall wird mir sofort gemeldet. Wir gehen einer ernsten, vielleicht schweren Zeit entgegen und ich rechne darauf, daß ein jeder von Ihnen im vollsten Maße seine Pflicht thut.“

„Bei uns ist das wohl selbstverständlich, Herr Dernburg,“ entgegnete der Direktor, „und auch für unsere Untergebenen glaube ich mich verbürgen zu können. Vielleicht kommt es aber doch nicht zum äußersten. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Stimmung auf den Werken eine sehr gedrückte ist. Viele bereuen schon jetzt den Entschluß, zu dem sie halb und halb gezwungen wurden. Wir wissen es ja genau, welche Hände da thätig gewesen sind; die Leute sind in unerhörter Weise gehetzt und aufgereizt worden.“

„Das weiß ich,“ sagte Dernburg kalt. „Aber sie haben sich doch hetzen lassen, von Fremden – gegen mich. Jetzt mögen sie ihren Willen haben.“

Die Antwort klang so schroff, daß der Direktor den Muth verlor, weitere Vorstellungen zu machen; er warf seinen Kollegen einen bedeutsamen Blick zu, und jetzt nahm der Oberingenieur das Wort. „Ich bin gleichfalls überzeugt, daß die Mehrheit schon jetzt anfängt, ihre Uebereilung einzusehen. Man wird die unsinnige Forderung, in die ja auch Fallners Bleiben eingeschlossen war, stillschweigend fallen lassen. Ein großer Theil wird ruhig weiter arbeiten, die anderen werden früher oder später folgen, und die ganze Bewegung verläuft schließlich im Sande, wenn Sie sich entschließen könnten, Herr Dernburg, auch nur das geringste Entgegenkommen zu zeigen.“

„Nein!“ sagte Dernburg mit eisiger Schärfe.

„Aber was soll denn mit den Leuten geschehen, die sich morgen wie gewöhnlich zur Arbeit stellen?“

„Sie haben die ausdrückliche Erklärung abzugeben, daß sie mit ihren Genossen nicht einverstanden sind und sich bedingungslos meinen Beschlüssen unterwerfen – dann steht ihnen die Wiederaufnahme der Arbeit frei.“

„Das wird nicht zu erreichen sein!“

„Gut, dann bleiben die Werkstätten geschlossen. Wir wollen sehen, wer es länger aushält – sie oder ich!“

„Ganz meine Meinung!“ fiel Wildenrod ein. „Das sind Sie sich und Ihrer Stellung schuldig. Sie scheinen anderer Ansicht zu sein, meine Herren, aber Sie werden sich bald überzeugen, daß dies der einzig richtige Weg ist, daß wir damit die gesamte Arbeiterschaft zur Unterwerfung zwingen und zwar in kürzester Zeit.“

Die Beamten schwiegen, sie waren es bereits gewohnt, daß der Freiherr sich in solcher Weise an die Seite ihres Chefs stellte und daß ihm dies Recht zugestanden wurde. Für besonders heilbringend hielten sie allerdings den Einfluß Wildenrods nicht, hatte er doch auch jetzt wieder alles mögliche gethan, um Dernburg in seiner Haltung zu bestärken. Aber man mußte allmählich in ihm den künftigen Schwiegersohn Dernburgs und den dereinstigen Herrn von Odensberg sehen; sie versuchten also keinen Widerspruch, der doch nutzlos gewesen wäre, und als Dernburg jetzt das Zeichen zur Entlassung gab, indem er sich erhob, verabschiedeten sie sich mit stummer Verbeugung.

„Ich glaube, die Herren haben Angst vor einer etwaigen Empörung,“ spottete Oskar, als die Thür sich geschlossen hatte. „Sie würden um des lieben Friedens willen alle nur möglichen Zugeständnisse machen. Es freut mich, daß Sie fest geblieben sind; hier wäre jede Nachgiebigkeit eine unverzeihliche Schwäche.“

Dernburg war ans Fenster getreten. Er schien in den wenigen Tagen um Jahre gealtert zu sein, aber wie bitter auch die Erfahrung gewesen sein mochte, niedergeworfen hatte sie ihn nicht – in seiner Haltung prägte sich noch der alte eiserne Wille aus. Die starre Härte seiner Züge hatte etwas Unheimliches, jede Regung von Milde war daraus geschwunden. Er blickte schweigend zu den Werken hinüber. Noch rauchten dort die Essen, glühten die Hochöfen, noch regte sich das mächtige rastlose Getriebe, noch arbeiteten Tausende von Händen. Morgen lag das alles tot und still da – auf wie lange?

Er hatte unwillkürlich den letzten Gedanken laut ausgesprochen, und Wildenrod, der zu ihm getreten war, verstand ihn. „Nun,

[337]

Sehnsucht.
Nach einem Gemälde von E. Niczky.

[338] lange wird es nicht dauern,“ sagte er zuversichtlich. „In Ihren Händen liegt die Macht, und den Odensbergern kann es nicht schaden, wenn ihnen das endlich einmal fühlbar gemacht wird. Dieses Gesindel, das Sie ohne weiteres im Stiche ließ, um dem ersten besten Hetzer nachzulaufen! Eine solche Bande –“

„Oskar, Sie sprechen von meinen Arbeitern!“ unterbrach ihn Dernburg finster.

„Jawohl von Ihren Arbeitern, die Ihnen am Wahltag in so rührender Weise Ihre Anhänglichkeit gezeigt haben! Ich kann es Ihnen nachfühlen, was damals in Ihrer Seele vorging.“

„Nein, Oskar, das können Sie nicht,“ sagte Dernburg mit düsterem Ernste. „Sie sind als ein Fremder nach Odensberg gekommen, für Sie ist Ihre künftige Stellung hier nur eine Machtfrage. Vielleicht wird sie es in Zukunft auch für mich sein müssen, aber sonst war das anders. Ich stand an der Spitze meiner Arbeiter, und alles, was ich that, geschah mit ihnen und für sie, und wie jeder in Noth und Gefahr auf mich rechnen konnte, so glaubte ich auf jeden rechnen zu können. Das ist jetzt vorbei! Thor, der ich war! Sie wollen keinen Frieden, sie wollen den Krieg!“

„Ja, sie wollen ihn,“ fiel Wildenrod ein, „und sie sollen uns bereit finden! Wir werden dies rebellische Odensberg schon niederzwingen.“

„O gewiß, wir werden siegen,“ rief Dernburg mit tiefster Bitterkeit aus. „Ich werde meine Arbeiter zur Unterwerfung zwingen und sie werden unterliegen mit Haß und Wuth im Herzen, mit Haß gegen mich! Jeder scheinbare Ausgleich wird nur ein Waffenstillstand sein, in dem sie neue Kräfte sammeln, um wieder gegen mich anzustürmen, und dann werde ich sie von neuem niederwerfen müssen, und so wird das weiter und weiter gehen, bis eine Partei vernichtet ist. Ein solches Leben kann ich nicht ertragen!“

Er wandte sich mit einer heftigen Bewegung vom Fenster ab, wie wenn er nichts mehr von seinen Werken drüben sehen wollte, und seine Stimme hatte einen müden Klang, als er fortfuhr: „Ich habe immer geglaubt, ich würde die Zügel der Herrschaft in Odensberg bis zu meinem Tode festhalten, seit acht Tagen denke ich anders darüber. Wer weiß, Oskar, ob ich die Leitung nicht schon bald in Ihre Hände lege. Sie sind in der Zeit, der wir entgegengehen, vielleicht besser am Platze als ich.“

„Mein Gott, welche Anwandlung!“ rief Wildenrod bestürzt und doch zugleich geblendet von der ungeahnten Aussicht, die sich ihm eröffnete. „Sie denken doch nicht im Ernste daran, zurückzutreten?“

„Für jetzt – nein!“ sagte Dernburg, sich hoch aufrichtend. „Ich bin noch nie einem Kampfe ausgewichen, der mir aufgedrängt wurde, ich werde auch diesen durchfechten.“

„Und dabei rechnen Sie ganz auf mich!“ sagte Oskar, ihm die Hand bietend. „Aber noch eins! Der Direktor scheint zu fürchten, daß es heute da drüben auf den Werken bei der Lohnzahlung und Verabschiedung Unruhen geben könnte. Die nöthigen Maßregeln sind zwar getroffen, dennoch stelle ich mich zur Verfügung, wenn die Autorität der Beamten nicht ausreichen sollte. Sie selbst dürfen nicht persönlich eingreifen, Sie sind es sich und Ihrer Stellung schuldig, sich nicht wörtlichen, vielleicht sogar thätlichen Beleidigungen auszusetzen. Ueberlassen Sie das mir!“

Um Dernburgs Lippen spielte ein unendlich bitteres Lächeln, aber er machte eine abwehrende Bewegung. „Ich danke Ihnen, Oskar. An Ihrem Muthe habe ich nie gezweifelt, doch bei solchen Gelegenheiten lasse ich keinen anderen an meine Stelle treten. Aber an meiner Seite sollen Sie bleiben. Man soll sehen und wissen, daß ich Ihnen die Rechte eines Sohnes zugestehe, ich mache kein Geheimniß mehr daraus.“

Die beiden Männer wechselten noch einen Händedruck, dann ging Wildenrod. Im Vorzimmer trat einer der Diener an ihn heran und meldete: „Auf dem Schreibtisch des Herrn Baron liegt ein Brief aus Schloß Eckardstein, der vor einer halben Stunde gekommen ist. Wir wagten nicht zu stören, der Bote sollte auch nicht auf Antwort warten.“

„Es ist gut!“ sagte der Freiherr zerstreut. Er hatte jetzt andere Dinge im Kopfe, ihn beschäftigte jene Aeußerung, die vorhin gefallen war, die Andeutung Dernburgs, daß er möglicherweise schon bald die Leitung von Odensberg niederlegen werde. War das nur eine Aufwallung des Unmuthes gewesen, eine flüchtige Laune, die man nicht ernst nehmen durfte? Nein, der Mann war in tiefster Seele verwundet – wenn er wirklich zu einem dauernden Kampfe mit seinen Arbeitern gezwungen wurde, war es wahrscheinlich, ja gewiß, daß er jenen Gedanken zur That werden ließ … und an seine Stelle trat Oskar von Wildenrod. So nahe sollte das heiß erstrittene Ziel liegen? Oskars Augen blitzten. O, er würde keine sentimentalen Anwandlungen haben wie sein künftiger Schwiegervater – dies Odensberg sollte den neuen Herrn kennenlernen, das gelobte er sich.

Erst als er in sein Zimmer trat und den Brief auf dem Schreibtisch liegen sah, fiel ihm die Meldung des Dieners wieder ein und er nahm mit einigem Befremden das Schreiben zur Hand. Von Schloß Eckardstein? Was konnte man ihm denn von dort mittheilen? Der neue Majoratsherr wußte oder ahnte doch zweifellos, wer seiner Bewerbung um Maja im Wege gestanden hatte, und machte sicher nicht den Versuch zu einer nachbarlichen Annäherung.

Oskar erbrach den Brief, überflog die ersten Zeilen und stutzte. Hastig wandte er das Blatt um, sah nach der Unterschrift und erbleichte. „Friedrich von Stetten!“ murmelte er. „Welch böser Geist führt den nach Eckardstein und was will er von mir?“

Er begann zu lesen. „Es ist eine sehr ernste und sehr peinliche Angelegenheit, die ich mit Ihnen erörtern muß,“ schrieb Herr von Stetten. „Ich habe lange geschwankt, in welcher Form das geschehen soll, und habe schließlich die mildeste gewählt, denn ich kann die Freundschaft nicht vergessen, die mich mit Ihrem Vater verbunden hat. So sage ich Ihnen denn nur, ich kenne Ihre Vergangenheit, von dem Augenblick an, wo Sie Deutschland verließen, bis zu Ihrem letzten Aufenthalt in Nizza. Als wir uns dort unvermuthet wieder trafen, habe ich mir – gleichviel, auf welche Weise – diese Kenntniß verschafft. Unter solchen Umständen werden Sie es wohl begreifen, wenn ich Sie auffordere, den Platz zu räumen, den Sie gegenwärtig in Odensberg einnehmen. Man sagt, Sie seien der Verlobte der Tochter des Hauses; Sie selbst wissen aber am besten, daß Sie das Recht verwirkt haben, ein junges reines Wesen an Ihr Leben zu ketten. Es wäre ein Verbrechen gegen Herrn Dernburg und seine Familie, wenn ich das geschehen ließe, ohne ihm die Augen zu öffnen. Ersparen Sie mir die bittere Nothwendigkeit, als Ihr Ankläger auftreten zu müssen, verlassen Sie Odensberg! Ein Vorwand für Ihre Abreise wird sich finden – es ist dann Ihre Sache, wie Sie aus der Ferne Ihre Beziehungen zu der Familie lösen wollen. Ich gebe Ihnen acht Tage Frist, sind Sie alsdann noch in Odensberg, so muß ich sprechen und Dernburg erfährt die Wahrheit! Ich lasse Ihnen Zeit zum Rückzug, es ist das Einzige, was ich noch für den Sohn eines ehemaligen Freundes thun kann.
 Friedrich von Stetten.“

Oskar ließ den Brief sinken. Er kannte den ernsten besonnenen Stetten von den Besuchen im väterlichen Hause her. Der gab sich nicht mit leeren Drohungen ab; wurde der von ihm verlangte Rückzug verweigert, so that er ohne Zögern, was er für seine Pflicht hielt, und dann – dann war alles verloren!

Oskar sprang auf und schritt stürmisch im Zimmer auf und nieder. Gerade jetzt, wo er schon die Hand ausstreckte nach dem höchsten Preise, kam der vernichtende Schlag. Aber die jäh hereinbrechende Gefahr rief auch seine ganze Entschlossenheit und Tollkühnheit wach. Er sollte weichen, sollte Odensberg, als dessen unumschränkten Herrn er sich eben noch gefühlt, in feiger heimlicher Flucht den Rücken kehren? Nimmermehr!

Acht Tage ließ man ihm Zeit, das war eine lange Frist, was konnte da nicht alles geschehen! Er hatte so oft schon am Abgrund gestanden, wo der Sturz unausbleiblich schien, und immer hatte ihn irgend ein verwegener Entschluß oder ein unerhörter Glücksfall gerettet, jetzt galt es, aufs neue dies Glück zu erproben. In dem wilden Wirbel der Gedanken und Pläne, die durch sein Inneres stürmten, stand nur eines klar und deutlich vor ihm: er mußte sich Majas versichern, um jeden Preis, mußte sie so fest an sich ketten, daß keine Macht der Erde, auch die des Vaters nicht, sie von ihm losreißen konnte. Sie war der Schild, der ihn gegen jeden Angriff deckte, sie, deren ganze Seele er an sich gerissen hatte, deren ganzes Denken und Fühlen ihm gehörte – diese Liebe sollte seine Rettung werden.

Oskar nahm den Brief wieder auf und las ihn nochmals von Anfang bis zu Ende, dann zerknitterte er ihn und warf ihn [339] in das Kaminfeuer. Das Papier flammte auf und sank in Asche zusammen, während der Freiherr sich in einen Sessel warf und in die Gluth starrte, immer neue Pläne entwerfend.

Eine halbe Stunde mochte so vergangen sein, da öffnete sich die Thür und der eintretende Diener meldete: „Herr Ingenieur Runeck.“

„Wer?“ rief Wildenrod auffahrend.

„Herr Runeck wünscht den Herrn Baron in einer dringenden Sache zu sprechen.“

Es war wirklich Egbert, der dem Diener auf dem Fuße folgte. Er trat ein, ohne die Antwort abzuwarten, und sagte mit einer kurzen Verbeugung: „Ich bitte mich nicht abzuweisen, Herr von Wildenrod, ich komme in der That in einer wichtigen und dringenden Angelegenheit.“

Oskar war aufgesprungen und gab jetzt schweigend dem Diener einen Wink, sich zu entfernen. Er täuschte sich keinen Augenblick darüber, was dies Erscheinen Runecks bedeute. Aber der Brief Stettens hatte ihn vorbereitet und gestählt für alles – auf eine Gefahr mehr oder weniger kam es nicht mehr an in dem Kampfe, in dem es sich für ihn so wie so um Sein oder Nichtsein handelte.

„Was führt Sie zu mir?“ fragte er kalt. „Sie werden es begreifen, Herr Runeck, daß nach dem, was vorgefallen ist, Ihr Erscheinen mich einigermaßen befremdet. Ich glaubte nicht, daß Sie Odensberg wieder betreten würden.“

„Mein Kommen gilt Ihnen allein,“ entgegnete Egbert in gleichem Tone, „und ich ersuche Sie in Ihrem eigenen Interesse, mich anzuhören.“

„Ich höre,“ war die kurze Antwort.

„Es bedarf keiner langen Einleitung,“ begann Runeck, „Sie wissen, was damals am Albenstein zwischen Ihrer Schwester und mir zur Sprache gekommen ist. Ich habe mich längst überzeugt, daß sie unwissend und schuldlos Ihr Leben getheilt hat, und um ihretwillen allein habe ich so lange geschwiegen.“

„Um Cäciliens willen?“ rief Oskar mit einem spöttischen Auflachen. „Das begreife ich vollkommen, Sie hat allerdings Anspruch auf jede Rücksicht von Ihrer Seite.“

Egbert trat einen Schritt zurück und seine Stirn zog sich drohend zusammen.

„Was wollen Sie damit sagen?“

Wieder kam das kurze höhnische Lachen von den Lippen Wildenrods, als er entgegnete: „Spielen Sie doch keine Komödie mit mir, ich weiß vollkommen Bescheid. Der arme Erich, wenn er geahnt hätte, daß sein geliebter Jugendfreund ihm die Braut abwendig gemacht hatte! Wer weiß, vor welcher bitteren Erfahrung ihn sein schneller Tod bewahrt hat.“

„Das ist eine schändliche Voraussetzung,“ rief Egbert empört, „und Sie beschimpfen Ihre Schwester ebenso wie mich! Sie sprechen, als ob ein Einverständniß zwischen uns bestanden hätte. Erichs Braut ist für mich so unnahbar gewesen, als es jetzt seine Witwe ist – über meine Gefühle habe ich niemand Rechenschaft abzulegen.“

„Auch nicht dem Bruder Cäciliens?“

Diesem Bruder – nein!“

„Herr Runeck, Sie sind in meinem Zimmer,“ erinnerte Oskar mit Schärfe.

„Das weiß ich, aber ich bin nicht gekommen, um Höflichkeiten mit Ihnen auszutauschen, sondern um einer Auseinandersetzung willen, die sich nicht länger verschieben läßt.“

„Worüber?“ fragte Wildenrod, der unbeweglich mit gekreuzten Armen dastand.

„Muß ich Ihnen das erst noch erklären?“

„Wenn ich Sie verstehen soll – allerdings.“ Runeck machte eine Bewegung der Ungeduld, aber er bezwang sich und fuhr mit anscheinender Ruhe fort: „Es handelt sich in erster Linie um jenen Vorfall in Berlin bei Frau von Sarewski, dessen Bedeutung für jeden der Anwesenden zweifellos war. Da ich aber nicht in jenem Kreise verkehrte und keinen der Betheiligten näher kannte, kümmerte ich mich nicht weiter darum. Erst als Sie in Odensberg auftauchten und ich die Gefahr erkannte, die Erich und seinem Vater von Ihnen drohte, forschte ich weiter nach. Ich erfuhr, daß damals nur Ihre schleunige Abreise und der dringende Wunsch der Betheiligten, einen öffentlichen Skandal zu verhüten, Sie rettete. Ich habe die Beweise in Händen und die Zeugen stehen mir zur Verfügung. Wollen Sie dem gegenüber wirklich noch den Unwissenden spielen?“

Oskar machte keinen Versuch mehr, zu leugnen, aber seine Augen flammten in so wildem tödlichen Hasse, als wollte er den Gegner vernichten. Es war nicht die Anklage selbst, die ihm keinen Ausweg mehr ließ, es war die grenzenlose Verachtung in dem Tone dessen, der sie aussprach, die den Freiherrn aufs äußerste reizte. Der ganze Stolz und Trotz seiner Natur bäumte sich dagegen auf. Er richtete sich hoch empor. „Und wozu sagen Sie mir das alles? Ich weiß längst, was ich von Ihnen zu erwarten habe, und werde mich zu wehren wissen. Was sollen die Drohungen, warum haben Sie nicht längst zugeschlagen?“

„Weil ich voraussetzte, daß Sie Odensberg früher oder später verlassen würden. Weder Erichs Vermählung noch sein Tod gab Ihnen ein Recht, dauernd hier zu bleiben. Erst gestern erfuhr ich von Maja, daß Sie ihr Verlobter sind, und Sie werden mich wohl verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß dies Band nicht geknüpft werden wird. Ich verbiete es Ihnen.“

„Wirklich? Und mit welchem Rechte?“

„Mit dem Rechte eines ehrlichen Mannes, der nicht zugeben wird, daß die Tochter Eberhard Dernburgs und sein Odensberg in die Hand eines Schurken fallen.“

Wildenrod zuckte zusammen und sein Gesicht wurde fahl wie das eines Toten. „Wahren Sie sich!“ stieß er mit halberstickter Stimme hervor, die Faust wie zum Schlage erhebend. „Sie werden mir Rechenschaft geben für dies Wort.“

„Das werde ich, aber nicht in der Art, wie Sie es meinen,“ sagte Egbert, das Auge fest auf ihn richtend. „Solche Dinge werden nur im Gerichtssaal ausgefochten, da giebt man nur mit Zeugen und Beweisen Rechenschaft. – Blicken Sie nicht so angelegentlich nach dem Revolver, der da über Ihrem Schreibtisch hängt, Herr von Wildenrod. Ich glaube es wohl, daß er geladen ist, aber ich bin auf meiner Hut – beim ersten Schritte, den Sie dorthin thun, werfe ich mich auf Sie.“

Oskars Auge hatte sich in der That auf den Revolver geheftet und ein unsinniger Gedanke war dabei in ihm aufgeblitzt, um freilich im nächsten Augenblick schon wieder verworfen zu werden. Was half es, wenn er diesen Gegner niederschoß? Stetten erhob ja die gleiche Anklage, Viktor von Eckardstein war jedenfalls auch eingeweiht und wer weiß wie viele noch – das Netz zog sich von allen Seiten zusammen.

„Ich lasse Ihnen noch einen Ausweg, den letzten,“ hob Runeck wieder an. „Verlassen Sie Odensberg für immer – heute noch, denn Maja darf auch nicht eine Stunde länger Ihre Braut heißen. Wie viel man dann auch errathen mag, die volle Wahrheit erfährt niemand, und Ihrer Schwester und Maja bleibt das Bitterste erspart. Ich schweige, wenn Sie sich verpflichten, zu gehen.“

„Nein!“ sagte Wildenrod mit unheimlicher Ruhe.

„Herr von Wildenrod –“

„Nein, sage ich Ihnen.“

„So gehe ich sofort zu Herrn Dernburg und enthülle ihm alles. Ihr Spiel ist verloren, geben Sie es auf!“

„Meinen Sie?“ fragte Oskar mit wildem Hohne. „Warten Sie erst das Ende ab, Herr Egbert Runeck. Was auch kommen mag. Ihnen weiche ich nicht.“

„Und das ist Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes – ich bleibe!“

Egbert wandte sich schweigend nach der Thür, die sich in der nächsten Minute hinter ihm geschlossen hatte.

Wildenrod war allein. Er trat langsam zum Schreibtisch und nahm den Revolver von der Wand, den er lange in der Hand hielt. Diesen Weg war der Vater einst gegangen, als alles um ihn her zusammenbrach, um die Schande des Ruins nicht zu überleben. Hier galt es eine größere Schmach zu sühnen! Der matt blinkende Lauf der Waffe schien dem Sohne den gleichen Weg zu weisen. Aber da bäumte sich die heiße Lebenslust wieder auf in dem Manne, dem das Leben und seine Güter verlockender gewesen waren als die Ehre. Mußte denn das Spiel schon verloren gegeben werden? Er legte die Waffe nieder und versank in dumpfes Brüten, aus dem er sich plötzlich gewaltsam losriß, eiserne Entschlossenheit in den finsteren Zügen.

„Zu Maja!“ sagte er düster. „Ich will doch sehen, ob ihre Liebe zu mir die Probe aushält. Giebt sie mich preis – nun, dann ist es immer noch Zeit, ein letztes Wort mit diesem letzten Freunde hier zu reden!“

(Fortsetzung folgt.)

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BLÄTTER UND BLÜTHEN.

Das Aufspringen der Blüthen. Das Wachsthum der Pflanzen geht allmählich vor sich; man kann nicht das Gras wachsen sehen. Rascher vollzieht sich der Uebergang aus der Blumenknospe zur vollen Blüthe, obwohl auch dieser Vorgang für unser raschlebiges Geschlecht viel zu lange dauert, so daß die wenigsten vor einer aufspringenden Knospe so lange stehen bleiben, bis sich die Blume ganz entfaltet hat.

Nun giebt es Pflanzen, die selbst den Ungeduldigsten befriedigen dürften, und sie fehlen nicht in unseren Gärten. Wer kennt nicht das Geißblatt oder „Jelängerjelieber“, den Schlingstrauch mit blaugrüner Belaubung, der um unsere Lauben rankt und sich mit anfangs röthlichen und später gelblichen Blumen schmückt, die einen starken Wohlgeruch aushauchen? Die Knospen des Geißblattes pflegen gegen sechs Uhr abends aufzuspringen und die Blüthe dauert drei Tage, allerlei Kerbthiere zur süßen Tafel einladend. Ihre Zeit fällt in die Monate Mai und Juni. Wenn wir also an einem schönen Frühsommerabend uns an eine, von Geißblatt umrankte Laube begeben, so finden wir an ihr oft Blüthenknospen, die jeden Augenblick aufspringen müssen, und es wird uns nicht schwer fallen, den wichtigen Vorgang im Pflanzenleben, die Eröffnung des Zugangs zum Blüthengrund, zu beobachten.

Mit einem Mal kommt Leben in die Knospe. Ihr Oeffnen beginnt mit dem Herabschlagen des unteren Blattes der Blumenkrone; unmittelbar darauf biegen sich die seitlichen und oberen Blumenblätter zurück und die Träger der Staubgefäße spreizen sich wie die Finger einer Hand auseinander. Alle diese Bewegungen können wir deutlich sehen, denn von dem ersten Aufspringen der Knospe bis zu der vollen Entfaltung der Blüthe vergeht nur die kurze Zeit von zwei Minuten!

Aus der Neuen Welt sind zu uns viele Arten der Nachtkerze eingewandert, von denen einige als Ziergewächse von Juni bis Oktober unsere Gärten schmücken. Eine derselben, die Osnotkers, Zrunckillors, eignet sich vielleicht noch besser als das Geißblatt zur Beobachtung des Erblühens. Ihre Blumen öffnen sich gleichfalls des Abends, um nach einem kurzen, kaum 24 Stunden langen Dasein dahinzuwelken. Bei dieser Pflanze „springen“ die Knospen in des Wortes vollster Bedeutung auf; denn die Blumenblätter schieben sich ganz plötzlich auseinander und breiten sich binnen einer halben Minute zur völlig entfalteten Blume aus!

Man kann dieses schöne Schauspiel auch an einigen anderen Pflanzen beobachten; wir haben jedoch nur die beiden genannten hervorgehoben, da sie in den meisten Gärten anzutreffen sind oder sich leicht anpflanzen lassen. *      

Die zusammenstellbaren Rundreisehefte im ersten Jahrzehnt. Billige Ferienreisen! So ging im Frühling des Jahres 1884 ein Frohlocken durch die erholungsbedürftige Welt, als der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen die Einrichtung der „kombinierbaren Rundreisebillette“ mit ermäßigten Sätzen ins Leben rief. Ausgabe nur während der Sommerzeit, geschlossene Rundreise von mindestens 600 km, 35 Tage Gültigkeit, kein Freigepäck – denn leicht sein soll das Ränzel des Wanderers – das waren damals die wichtigsten Bestimmungen. Der Erfolg war ein ungeahnter. Auf dem Gebiete der vereinigten 59 Verwaltungen Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, Rumäniens, der Niederlande und Luxemburgs mit ihren 45516 km Bahnlinien wurden gleich im ersten Jahre 61590 Personen mit den neuen Fahrheften befördert und dafür 3332165 Mark eingenommen!

Stetig hat sich seitdem die Einrichtung weiter entwickelt. Das Reisegebiet wurde auf Belgien, die Schweiz, Dänemark, Schweden und Norwegen ausgedehnt und umfaßt gegenwärtig 147 Verwaltungen mit einem Netz von 76547 km Länge. Man hat die Rundreise aufgegeben und bloß die Rückkehr nach dem Ausgangsorte bedungen, die Ausgabe ist auf das ganze Jahr und die Gültigkeit auf 45 Tage ausgedehnt, ja bei Reisen von 2001 km und darüber sogar auf 60 Tage verlängert worden, und die Benutzung ist dementsprechend gestiegen. Im Jahre 1891 sind 548888 Hefte ausgegeben und dafür 27764556 Mark eingenommen worden. Bemerkenswerth ist hierbei die vorwiegende Benutzung der II. Klasse – im Gegensatz zu den sonst im Reiseverkehr gemachten Erfahrungen.

So darf man nach nahezu zehnjährigem Bestande den Rundreiseverkehr als ein neues Glied in der Entwicklung des Verkehrs bezeichnen, dessen weitere Ausgestaltung nur erwünscht sein kann.

Brot und Zähne. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß die Sitte, grobes Brot zu essen, namentlich bei der Landbevölkerung viel zum Gesunderhalten der Zähne beiträgt. Man führte diese günstige Wirkung vor allem darauf zurück, daß das grobe Brot beim Kauen mechanisch die Zähne reinige. Der berühmte englische Arzt Sir James Crichton Browne weist in einer Arbeit über den Zahnverfall bei der heutigen Menschheit darauf hin, daß neben anderen bekannten Einflüssen, wie der unzweckmäßigen oder vernachlässigten Zahnpflege, auch unsere Gewohnheit, ungeschrotetes Brot zu essen, schuld an diesem Uebel sei. Zur Bildung des Zahnbeins sowie des Zahnschmelzes ist Fluor erforderlich, ein Element, das in Verbindung mit Calcium den bekannten Flußspath bildet. Das Fluor ist nun in unseren Nahrungsmitteln verhältnismäßig selten, wohl aber kommt es in der Hülse des Brotkornes vor. Trennen wir demnach die Kleie völlig vom Mehle, so entziehen wir dem Körper einen Stoff, der zur Festigung der Knochen und Zähne sehr viel beiträgt. Für die Werthschätzung des Brotes in seinen verschiedenen Gestalten ist die Kenntniß dieser Thatsache sicher von hohem Werthe. *      

Brehms Thierleben. Die Neubearbeitung dieses großartigen Werkes volksthümlicher wissenschaftlicher Schriftstellerei liegt nunmehr abgeschlossen vor. Wenn sie auf der einen Seite berufen ist, das Lebenswerk des unvergeßlichen Alfred Edmund Brehm einer neuen, fortgeschrittenen Generation zu vermitteln und damit das Andenken an den verdienstvollen Forscher, dem auch die „Gartenlaube“ so viele schöne Beiträge verdankt, auf lange hinaus lebendig zu erhalten, so gereicht sie andererseits auch den Bearbeitern selbst wie der Verlagshandlung, dem Bibliographischen Institut in Leipzig, zur größten Ehre. Beide haben in ihrem Theile keine Mühen und Opfer gescheut, das kostbare Vermächtniß des Altmeisters Brehm auf der Höhe der Zeit zu erhalten. Besonderer Dank gebührt dem Herausgeber der neuen (III.) Auflage, dem Professor Dr.Pechuel-Loesche, der den Haupttheil der Arbeit auf sich genommen hat; im Verein mit Dr. Wilh. Haacke hat er die Bände über die Säugethiere, die Vögel und die Fische, im Verein mit Professor Dr. O. Boettger denjenigen über die Kriechthiere und Lurche einer sorgfältigen Sichtung und theilweisen Neugestaltung unterworfen. Die „Insekten“ sind von derselben Hand, welcher ihre Darstellung schon in der ersten Auflage des Gesamtwerks anvertraut war, von Professor Dr.E. L. Taschenberg, neu bearbeitet worden, während der von Professor Dr.Oskar Schmidt herrührende Band über die „Niederen Thiere“ jetzt durch Professor Dr. W. Marshall der Erneuerung unterzogen wurde.

So mögen denn die stattlichen zehn Bände von „Brehms Thierleben“ in ihrer – auch in Beziehung auf das Abbildungsmaterial – verjüngten Gestalt fortfahren, eine unerschöpfliche Quelle des Wissens und der Anregung für jung und alt, für Gelehrte und Ungelehrte zu bilden.

Der Dichter der „Arbeit“. Der russische Dichter Graf Tolstoi, der Verfasser der Romane „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“, ist mit einer Lehre aufgetreten, welche der Menschheit neues Hell bringen soll. Im Jahre 1885 kam ihm ein kleines Manuskript vor Augen, in welchem ein fünfundsechzigjähriger Bauer, Timotheus Bondereff, die neue Hellswahrheit verkündigt: eine Verherrlichung der Arbeit und zwar der physischen Handarbeit, „der Arbeit des Brotes, wie er sie nennt, und der Bauern, welche solche Arbeit vollbringen. „Ich habe,“ sagt Bondereff, „gerechten Anspruch, mich auf denselben Lehnstuhl zu setzen, auf dem ein General Platz nimmt. Ja was sage ich, auf denselben? Nein, der General muß vor mir stehen bleiben; denn er verzehrt das Brot meiner Arbeit, nicht ich das der seinen.“ An einer andern Stelle sagt er: „Ich werde meinem Sohne in meinem Testament befehlen, mich nicht auf dem Kirchhof zu beerdigen, sondern in dem Boden, der, durch meine Arme umgewühlt, mir das tägliche Brot gab. Ich werde ihn bitten, mein Grab nicht mit Sand anzufüllen, sondern mit fruchtbarer Erde und jedes Jahr von neuem auf dieser Stelle das nährende Getreide zu säen.“

Dieser Lehre von der Arbeit des Brotes, die nach Bondereff auch eine religiöse Bedeutung hat und alle Tugenden einschließt, hat sich nun Graf Tolstoi angeschlossen, welcher 1888 das Werk Bondereffs mit einer Vorrede herausgab, nachdem er schon zwei Bücher von gleicher Tendenz, „Was ist zu thun?“ und „Das Leben“, verfaßt hatte. Ja, wie eifrig er schon früher den gleichen Weg verfolgte, beweist die Thatsache, daß sein Palast in Moskau das Schild trug: „Tolstoi, Schuhmacher“, ein Schild, das später auf Befehl des Czaren, dessen Mißfallen es erregt hatte, fortgenommen wurde. Der Graf hatte kein Bedenken gehabt, sein Wappenschild durch das Schild des Handwerkers zu ersetzen. Auch Tolstoi ist ein Apostel der Arbeit.

„Zieht aufs Land,“ ruft er, „flieht die ewige Orgie der Städte; arbeitet mit den Arbeitern, verdient euer Geld wie sie! Litteratur, Kunst und Wissen darf sonst keine Rolle spielen; alles ist nur für das Volk da.“ Diese Lehren enthalten im Grunde nichts Neues. Tolstoi ist der russische Rousseau; er predigt die Rückkehr zur Einfachheit der Natur, nur daß der Franzose wohl mehr an paradiesische Zustände dachte, während der Russe zur Losung das Wort nimmt: „Im Schweiße des Angesichts sollst du dein Brot essen“, also in der Vertreibung aus dem Paradiese erst das beginnende Hell der Menschheit erblickt. Die inneren Zustände Rußlands mögen solche Träumereierl rechtfertigen; da herrscht ja in unbegrenzten Landstrichen nur der Ackerbau. Doch die reichgegliederte Kultur in den Ländern des Westens, wie sie der Fortschritt der Weltgeschichte entwickelt hat, zurückschrauben zu wollen zu jenen anfänglichen Urzuständen einer patriarchaischen Zeit, das ist, so prosaisch und praktisch dies klingen mag, doch eine in den Lüsten schwebende Schwärmerei. †      


KLEINER BRIEFKASTEN.

Bitte um ein altes Harmonium. Eine arme deutsche Gemeinde im siebenbürgischen Ungarn, die nicht in der Lage ist, für ihren in einem dürftigen Schulzimmer stattfindenden Gottesdienst ein Harmonium zur Begleitung des Gesanges anzuschaffen, richtet an mildthätige Freunde die herzliche Bitte, ihr zur Erlangung eines solchen behilflich sein zu wollen. Vielleicht besitzt einer unserer Leser ein abgespieltes Harmonium, das er als für sich wenig mehr brauchbar beiseite gestellt hat und gerne zu dem genannten Zwecke unentgeltlich zur Verfügung stellen würde. Wir bitten in solchem Falle um freundliche Benachrichtigung der Redaktion der „Gartenlaube“ oder des Herrn Pfarrers Johann Hermann in Mönchsdorf, Bistritz-Nassoder Komitat, Post Szeretfalva, Ungarn.


Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge in Heft 20/1993]


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.