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Die Gartenlaube (1893)/Heft 31

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]


In Vaters Garten.


Zuweilen führt ein Traum mich in der Nacht
In Räume, wo die Kindheit ich verbracht,
Auf der Erinn’rung Flügeln fliegt hinaus
Das Herz zum Garten an des Vaters Haus. –

Da sind die Beete, eingezäunt mit Buchs –
Ein Stachelbeerbusch an der Ecke wuchs,
Und wohl gehalten in den Beeten stand
Bescheid’nem Tisch ein nützlich Allerhand.

Nur in der Mitte kleiner Beete vier,
Die waren recht des Gartens Schmuck und Zier.
Vier Centifolien hatten dort das Reich –
Nichts sah ich blühen jenen Rosen gleich!

Zwölf weiße Lilien winkten dort im Grün –
Und mit dem Herbst nur starb das letzte Blüh’n.
Schneeglöckchen rief der erste Sonnenkuß
Und bunte Astern machten den Beschluß. –

Des Bürgers Küchengarten, schlicht und klein –
Er schloß für mich doch einen Himmel ein.
Von frühster Kindheit war mir ja bekannt,
Was dort in Knospen und in Blüthen stand!

Der Vogel, dessen Nest im Strauche hing,
Er flog nicht auf, wenn ich vorüber ging,
Und ruhig trank auf Kelch und Blüthenblatt
Die Biene sich an Thau und Honig satt – –

O süßer Traum – und du bist auch noch da,
Die ich als Gast so oft im Garten sah,
Du Nachbarkind! – Wenn hold der Mai geblaut,
Dann spielten gern wir Bräutigam und Braut.

Der Buchsbaum hat die Myrthe uns ersetzt;
Die Weißdornknospe war von uns geschätzt
Als Brautkranzblüthe. Seltsam nur: ich wüßt’
Nicht, daß ich dich ein einzig Mal geküßt!

Bleich warst du, krank, gezeichnet von dem Tod
Schon in der Jugend gold’nem Morgenroth,
Und doch so lebensfroh an Herz und Sinn –
Du warst mir aller Blumen Königin!

Und wenn ich in den alten Märchen las
Von Elfen, die bei Nacht getanzt im Gras,
Von Engeln, fliegend durch des Himmels Licht –
Ach, Elf und Engel trug dein Angesicht! –

Daß ich all dies erlebt, wie lang ist’s her!
Wo du begraben bist, weiß ich nicht mehr;
Als man hinaus dich trug aufs Leichenfeld,
Da war ich draußen in der weiten Welt.

Nur noch im Traume kehrt zu mir zurück
In stiller Nacht der Kindheit sel’ges Glück,
Und wach’ ich auf, dann möcht’ ich wieder geh’n
Dahin, wo ich dich einst als Kind geseh’n. –

Umsonst! Die Spule saust, der Hammer pocht,
Wo mir dein weißes Händlein Kränze flocht,
Und nur im Traume grüßt mich, blasse Maid,
Aus deinen Augen noch die Kinderzeit. –
 Emil Rittershaus.

[518]

Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.

 (17. Fortsetzung.)

23.

Als Herr Viktor von Nievern endlich vor das Angesicht der frommen Witwe und fürstlichen Vertrauten kam, da geschah es, daß beide, die einander nun mehrere Wochen lang nicht gesehen hatten, sich einmal wieder mit raschen prüfenden Blicken maßen. Und was die Méninville sah, gefiel ihr überaus. Sie dachte dabei: was für ein Mann das ist; wahrlich, einem solchen begegnet man nicht leicht zweimal im Leben! Und das alles sollte nur für jene bettelstolze Einfalt gewachsen sein, die es nimmermehr zu würdigen weiß? Allzu dumm ginge es doch in der Welt her, wenn unsereiner nicht zuweilen eingriffe!

Leider war der Oberjägermeister in seinem Herzen so ungalant, beim erneuten Anblick der Dame keineswegs ähnliche Empfindungen gegen sie zu hegen. Sein ganzes Innere kehrte sich um in Widerwillen, nein, in Grauen vor der mattfarbigen Hagerkeit dieser Gestalt mit dem schmalen harten Gesicht, den langen Händen. Wo hatte er die Augen gehabt, daß er an ihr je irgend einen Reiz hatte entdecken können!

Mit gesenkten Wimpern und leiser glatter Stimme bat Frau von Méninville jetzt um Verzeihung, daß der Herr Oberjägermeister habe ein weniges harren müssen. Darauf er mit blitzenden Augen: „Laßt Euch meine verlorene Zeit nicht verdrießen, Madame! Wäre sie mir auch etwas lang geworden, so fällt unser Zwiegespräch dafür jetzt hoffentlich um so kürzer aus. Wollet Euch aber doch niederlassen, ich bitte! Hier ... so!“

Was war das für ein Ton und für eine Art, mit der er ihr hier im eigenen Gemach herrisch einen Platz anwies und sich dann den eigenen Sessel so rückte, als sei er nicht sowohl ihr Gast als vielmehr ihr Wächter! Mit dem sanften Befremden einer schuldlosen Seele hob die Méninville die verblichenen Augen zu dem Oberjägermeister auf, senkte dieselben aber rasch wieder, und ein Schrecken kroch durch sie hin, kalt und lähmend – die Angst vor einem ganz neuen Zuge in seinem düster entschlossenen Antlitz.

Herr Gott, wenn es doch keine Vergangenheit gäbe! – Aber sie war eine wahnwitzige Thörin gewesen, soeben zu fürchten! Dieser Gedanke der Erleichterung durchzuckte sie, als Nievern nun endlich begann: „Ich komme, um von der trefflichen Frau von Méninville einen Dienst zu erbitten. Meine Braut, das Fräulein von Leyen, wird im Kloster der Ursulinerinnen unter nichtigen Vorwänden in Haft gehalten. Euer Einfluß, Madame, ist groß, sowohl bei der Pfalzgräfin als bei dem Pater Gollermann. Und ich irre wohl nicht, wenn ich bezweifle, daß Ihr bisher denselben zum Heile des unglücklichen Fräuleins verwendet habt. Besinnt Euch jetzt eines Besseren, ich bitte! Das Fräulein muß frei werden, heute noch, und Ihr werdet mir dafür einstehen!“

Das Aufathmen der Dame war von kufrzer Dauer gewesen. Sie hörte aus dem seltsam sich verändernden Tone heraus, daß der Mann da vor ihr sie in der Hand zu halten glaubte.

„Ich verstehe den Herrn Oberjägermeister nicht,“ sagte sie aus trockener Kehle. „Ich vermag in dieser Sache nichts, habe nichts damit zu thun. Warum wendet sich der Herr nicht an die ihm so günstige Frau Pfalzgräfin selber? Unbegrristich ist es mir, wie er sich jetzt gerade meiner bescheidenen Person erinnert.“ Sie hatte immer weiter gesprochen, weil er wie lauernd schwieg, ein finsteres Lächeln um die Lippen. Sein drohendes Schweigen reizte sie aber jetzt, so daß sie mit einem bösen tückischen Blicke fortfuhr: „Der Herr von Nievern vergißt auch wohl, wenn er sich über das Mißgeschick des Fräuleins beklagt, welche seltsamen Gerüchte sich an das Verschwinden des jungen Lutz von Leyen knüpfen.“

Das hätte sie nicht sagen sollen. Der Herr von Nievern legte den Arm aufs Knie und bog sich nahe zu ihr hinüber aus seinem Sessel, mit welchem er ihr jeden Ausweg aus ihrer Zimmerecke versperrte. „Ihr sprecht von diesen Gerüchten, Ihr wagt es, die Rede zu bringen auf diese niederträchtigen, aus der Luft gegriffenen Verdächtigungen des reinsten Wesens? Aber – daß ich das Fräulein hier nur nenne, möge sie mir verzeihen!“ Seine Stimme wurde schneidend wie ein Messer, als er fortfuhr: „Wo zuerst diese Verdächtigung entstanden ist, welche unserer arglosen Fürstin als ein allgemeines Gerücht zugespielt wurde, das wissen wir jetzt, Madame von Méninville aus Philippsburg! Andere könnten sich billig über soviel Erfindungsgabe in Euerem klugen Kopfe wundern, Leute, die nicht wissen, daß Frau von Méninville gar mannigfache Erfahrungen besitzt und selber vielleicht am besten demjenigen zu rathen wüßte, dem es um das Verschwinden eines Ueberlästigen zu thun wäre. Wie dünkt Euch, Madame?“

Aber Françoise von Méninville war keine gewöhnliche Frau, und Feigheit war ihr Fehler nicht. Sie schien ganz kalt zu bleiben, und so sagte sie, indem sie den Blick, wie nach einem Ausweg suchend, ungescheut durchs Zimmer schweifen ließ: „Was ich vorhin sagte, wiederhole ich jetzt: ich verstehe nicht, wo der Herr hinaus will. Aber ich bitte, daß Ihr mir Raum gebt, mich zu entfernen und Euch das Gemach zu überlassen, oder ich rufe um Hilfe. Euch bedauere ich, Herr von Nievern, da das Unheil, so über Euer Liebchen gekommen, Euch offenbar den Verstand verwirrt hat.“

Eins hatte sie erreicht: Herr von Nievern saß sekundenlang wie erstarrt über so viel Keckheit. Dann aber – und sie hatte noch nicht nach Beistand gerufen – war er dicht vor ihr, schlug die Arme übereinander und sagte, verächtlich auf sie niedersehend: „Jetzt ist es genug mit dieser Komödie! Soll ich Euch eine Geschichte erzählen? Von einem armen Teufel, Balthasar Gutzeil mit Namen, dem der Schutz und die Förderung durch die frommen Väter von der Gesellschaft Jesu an Leib und Seele so wohl gediehen ist? Den sie in Dienst brachten zu dem kränklichen Herrn von Méninville und der Betschwester, seinem Weibe? Der Mann hat mancherlei dort erlebt; bei Gott, es war eine Kondition, in der man etwas lernen konnte! Er sah seinen armen mattherzigen Herrn hinsiechen unter der Pflege der gnädigen Frau; er schloß Augen und Ohren gegen das, was er sah und hörte, um den Dienst nicht zu verlieren, denn er selber war ein ängstlicher Geselle, in hungernder Jugend verkümmert. Aber er hatte Unglück oder die andern waren zu dreist; zum völlig Blinden konnte er sich nicht machen, und so traf er einst das verbuhlte Weib in den Armen eines jungen Schwarzrockes. Und um den Plan, den Madame nun ausheckte, den armen Kerl unschädlich zu machen, könnte sie wahrlich der Schwarze in der Hölle beneiden! Er wurde der Wärter seines Herrn – er mußte ihm die Pülverlein einschütten, die sie bereitete und kraft deren der gute Herr in der That aller seiner Schmerzen ledig wurde. Sie zwang ihn dazu durch alle die Künste, die sie verstand; er war wie Wachs in ihrer Hand. Und als dann, nach einer Gabe, die ausreichte, der Herr von Méninville seine Glieder streckte und steif und blau wurde – da warf sie ihm den Mord in die Zähne! Sie drohte ihm mit peinlicher Anklage, wenn die Sache ruchbar würde – aber – sie ließ mit sich handeln! Gutherzig, wie sie war, wollte sie den armen Teufel nicht ins Unglück bringen. Schwieg er nur über alles, was vorgegangen war, so meinte sie dazu helfen zu können, daß das Versehen, wodurch ihr lieber Gemahl zu Tode gekommen, nicht ans Licht gelangte. Ein schwächlicher Herr war er ja immer gewesen, dessen mageren Gliedern die Ruhe im Grab zu gönnen war! – Und nun, Madame von Méninville, ehrbare Witwe des seinerzeit mit ein wenig Rattenpulver vergifteten, hoffentlich seligen Herrn François – wundert Ihr Euch nun noch, wenn derjenige, der dies alles weiß und durch den es in einer Viertelstunde Hof und Stadt wissen kann, Euch seine Bedingungen stellt?“

Tiefes Schweigen im Gemach. So still steht der Jäger über der Falle und lauscht, ob das gefangene Wild sich noch regen wird! Hatte dieser hier wirklich seinen Fang gethan? Die Méninville zitterte nicht und verrieth keinen Schrecken, keine Unruhe. Das, wogegen sie anzukämpfen hatte, war vielmehr ein Gefühl eisiger Kälte, das tief aus dem Innersten heraus lähmend durch alle ihre Adern kroch und sie zu erstarren drohte. Deshalb sprach sie jetzt langsam, mit schwerer Zunge, während der matte erloschene Blick ihn fast gleichgültig streifte: „Ich trotze Euch und Euern Drohungen, Geht hin und seht, wer Euch Euere schändlichen Verleumdungen glaubt! Hat jener Schwachkopf, mein Diener, etwa in einer Krankheit geschwatzt, aus alberner Todesfurcht, so hat er phantasiert, Beweisen könnt Ihr nichts – Euere veralteten schmählichen Lügen brauchen mich nicht zu kümmern.“

[519] Hierzu nickte Herr von Nievern, fast gemüthlich, als habe er nichts anderes erwartet. „Halten wir uns nicht lange auf mit dem, was Ihr zu sagen habt; es ist dies von wenig Belang,“ bemerkte er, und der unveränderte Ausdruck in seinen Zügen zeigte ihr, daß es in der That von keinem Belang war. „Hört mich lieber zu Ende! Habt Ihr gedacht, ich ließe mich etwa nur mit der Befreiung des Fräuleins abkaufen und Euch hier Euere Rolle weiter spielen, so irrt Ihr gründlich. Da sei Gott vor, daß ich mich der Niedrigkeit schuldig machte, die giftige Schlange wieder frei zu lassen zum Verderben der Menschen, nur weil ich und das Meine gegen ihren Biß gefeit sind! Ihr vollbringt, was ich von Euch verlange ... das Fräulein wird heute noch den Ihrigen zurückgegeben, und dann verlaßt Ihr sofort die Stadt – auf immer! Ihr seid aber frei und unbehindert, das Euere mit Euch zu nehmen, wohin Ihr wollt. Ist dagegen Polyxene heute, wenn es Abend läutet, noch im Kloster, so stehe ich für nichts ... die Pfalzgräfin erfährt dann heute noch, wen sie hier gehegt hat. Und die guten Birkenfelder – je nun, sie sind schwerfällig, dabei aber mir herzlich zugethan. Der Gedanke, daß der Giftmord etwa verjährt sei, wird nicht so leicht Eingang in ihre dicken Köpfe finden wie die fröhliche Ueberzeugung, man müsse Euch dafür gleich eins versetzen. Der Thurm ist Euch zum Nachtquartier gewiß, meine Kavalierparole darauf – nicht aber kann ich Euch versprechen, daß sie Euch nicht auf dem Wege dahin steinigen werden.“

„Es steht Euch wohl an, einem schwachen Weibe so zu drohen,“ sagte die Méninville, jetzt mit klappernden Zähnen.

„Einem Weibe?“ der unsägliche Hohn zerfraß das Wort fast, während er es hervorstieß. „Sagt lieber, einem Teufel! Aber gleichviel! Gebt Euch bald daran, zu thun, was Euch obliegt! Ihr habt neun Stunden Zeit dafür ... in neun Stunden bringt Eueresgleichen noch ganz anderes fertig. Was seht Ihr mich so an?“ Er konnte es nicht hindern, den kräftigen Mann trat ein leises Grauen an bei dem Blicke tödlichen Hasses, den sie ihm zuwarf. „Möchtet Ihr mir auch ein Tränkchen kredenzt haben?“

Die Worte waren ungroßmüthig; er fühlte es, sobald sie gesprochen waren. Das Weib aber verzog die Lippen zu einem cynischen Lachen. „Nein, um Euch wäre es schade gewesen; Ihr habt mir immer gefallen. Und deshalb, und da ich’s um Euch eigentlich besser verdient hätte, mein hübscher Herr von Nievern, haltet mir eine Frage zugute, eine Frage schierer Neugierde: wann und wo ist der dumme Tölpel in die Hölle gefahren, der mir das wohlgemeinte Legat dieser Beichte hinterlassen hat? Und hat er sich doch noch, ohne daß ich ihm weiter den Weg gewiesen, allein zu Galgen und Rad gefunden?“

„Ich kann Euch keine Auskunft über den Mann geben,“ erwiderte Nievern kalt. „Sein Bekenntniß liegt mir jedoch vor, schriftlich und wohl beglaubigt.“

„Ihr besitzt es?“ fragte sie, und ihm entging der lauernde Blick nicht, mit dem sie ihn streifte. So hütete er sich denn wohl, etwa mit unwillkürlicher Bewegung nach der Brusttasche seines Wamses zu greifen, in welcher er die Blätter trug; er zuckte mit keiner Muskel, während er entgegnete: „Das laßt Euch nicht kümmern. Die Schrift wird zur Hand sein, sobald wir sie gebrauchen, verlaßt Euch darauf! Ich gehe jetzt, aber glaubt nicht, daß Ihr unbewacht Euch selber überlassen seid! Ihr werdet gut thun, Euch zunächst gleich mit dem Pater Gollermann ins Benehmen zu setzen, der die Klausur des Fräuleins veranlaßt hat.“

„Eins nimmt mich wunder,“ höhnte Frau von Méninville, „warum Ihr erst zu mir kommt, anstatt gleich zu dem hochwürdigen Herrn selber zu gehen mit Euern Neuigkeiten. Gering muß doch wohl Euere Hoffnung gewesen sein, sie dort um den Preis, den Ihr verlangt, abzusetzen!“

„Mit nichten; ich wollte Euch nur die schmutzige Arbeit bei der Sache selber thun lassen.“ Und jetzt war er noch einmal dicht vor ihr. „Hofft nichts von den Jesuiten, wenn Ihr hier erst einmal Euern erschlichenen guten Namen eingebüßt habt. Aber was sag’ ich Euch das! Ihr wißt so gut wie ich, daß sie Euch fallen lassen werden, sobald Euch auch nur ein Verdacht streift. In dem Philippsburger Handel von damals ist ihnen nichts nachzuweisen, vielleicht hatten sie wirklich nichts damit zu schaffen. Aber Ihr kamet auf warme Empfehlung des Ordens hierher ... ich rathe Euch, den hochwürdigen Herrn Beichtvater ihrer Hoheit daran zu erinnern. Und nun: gedenkt Ihr zu leisten, was ich verlange? Sonst bliebe mir allerdings nichts übrig, als auf eigene Faust mit dem Pater Gollermann zu verhandeln. Dann aber ändert sich unser Pakt. Ich rufe die Obersthofmeisterin hierher, beantrage sofort Zimmerarrest für Euch und übergebe Euch ihr ...“

„Nein, laßt die langhalsige Gans fort – den Spaß soll sie nicht haben,“ sagte die Méninville. „Ich will thun, was Ihr verlangt – wenn ich es vermag. Ihr traut mir nichts Geringes zu. Wider Wissen und Willen legt Ihr damit noch Zeugniß ab für die gute Meinung, die Ihr von den Geistesgaben der Méninville hegt. Ha, ha“ – sie lachte schlimm vor sich hin – „wenn Ihr alles wüßtet, hättet Ihr vielleicht noch eine bessere. Euch dagegen hätte ich nicht für den gehalten, der sich so über Hals und Kopf in das bißchen Jugend vergaffen würde! Nun, habt Euern Willen – dann wird der Segen, den ich dieser Mariage wünsche, schon nicht ausbleiben!“

Sie war imposant in ihrer unverhüllten Bosheit. In den Abscheu, mit dem Nievern sie betrachtete, mischte sich jetzt etwas von widerwilliger Bewunderung, welche die eine rücksichtslos verwegene Natur der anderen abdrang. Zu sagen hatte er ihr freilich nichts mehr, und so verließ er sie mit gemessenem Gruße.

Sie, in der tauben Gleichgültigkeit, die dem Zusammenbruche eines ganzen Lebensgebäudes bei dem Betroffenen zunächst zu folgen pflegt, starrte ihm nach, und dann verzogen sich ihre Lippen zu dem Zerrbild eines Lächelns über eben jenen Gruß, welchen seine eingefleischte Courtoisie nicht einmal ihr, der Verbrecherin, verweigert hatte.




24.

Die Fenster und Thüren im Hause des Kanonikus von Wildenfels in Malmedy waren an einem stürmischen Novemberabend, während draußen die Winde wie toll über die kahlen Gefilde fuhren längst verwahrt – bis auf das große Eingangsthor, aus welchem bis zu später Stunde noch gastlich der rothe Lichtschein auf die dunkle steile Gasse hinaus zu fallen pflegte. Herr Engelbrecht selber saß oben im wohlerhellten Gemach vor dem gedeckten Tische in behaglicher Laune. Ihm, der außer den Freuden einer guten Tafel keine höher schätzte als die der Jagd, war dies weiche Novemberwetter gerade recht, welches dem Wilde wie dem Weidmann zupaß kam, und er ließ sorglos und in guter Ruhe den schneefeuchten Weststurm um die Zinnen seines hochgelegene Hauses schnauben und an den Dachtraufen musizieren. Denn an der Art der Melodie hörte der Herr, wetterkundig wie alle Jäger, daß an einen Umschlag und harten Frost schwerlich so bald zu denken sei.

Der Sturm trieb es aber ein bißchen arg heute abend. Als die großen Saalthüren sich jetzt öffneten, um zwei schüsseltragenden Dienern, die gemessen einander folgten, Einlaß zu geben, da wurde dem dritten, einem kleinen Pagen, der eine mächtige Thürflügel krachend aus der Hand gerissen, von einem gewaltigen Windstoß, weicher von unten herauf durchs Haus fuhr, einen Theil der Kerzen auf dem Tische auslöschte und das Kaminfeuer in hochlodernder Flamme weit in den Schornstein hinauftrieb.

Anderswo hätte bei einem solchen Anlaß die Dienerschaft sich gewiß bekreuzt und geglaubt, es sei da eben der Gottseibeiuns näher, als einem lieb sein mußte, vorüber gesaust. Mit dergleichen gab man sich aber nicht ab in diesem aufgeklärten und ein wenig spottsüchtigen geistlichen Haushalt. Betreten waren die Diener jedoch darüber, daß ihnen der Windstoß die Beine beinahe unter dem Leibe weggerissen hatte, und dann wäre es um den köstlichen Rheinsalm wenigstens, den der eine trug, geschehen gewesen!

Der Domherr fuhr ein wenig scharf herum. „Was war das für eine Lotterei! Man muß bei einem solchen Sturm das Hausthor schließen!“ Sein ärgerlicher Blick traf gerade noch den alten Haushofmeister, der draußen stand und die Achseln hob, als wollte er für den unhöflichen Wind um Entschuldigung bitten. Die gewölbte Halle draußen erschien dunkel; der Luftzug mußte die Fackeln und Windlichter im Portal und auf den Treppen ausgelöscht haben.

Hatte so der Mahlzeit schon vor dem Beginn eine Störung gedroht, so schien es derselben auch nicht beschieden, in der unverbrüchlichen Ordnung und Ruhe wie sonst zu enden. Den Fisch zwar hatte Herr Engelbrecht unbehelligt verzehren dürfen, was schon eine geraume Zeit in Anspruch nahm, da der gute Herr den Moselwein, dessen Begleitung nach seiner Ansicht der Salm [520] am meisten liebte, in gehörigen Zwischenräumen und mit innigem Behagen dazu zu schlürfen pflegte. Und wenn im Keller die Lunte an einem Pulverfaß geglimmt und der Haushofmeister es gewußt hätte, er hätte seinen Herrn beim Fischessen nicht eher als im allerletzten Augenblick zu unterbrechen gewagt! Jetzt aber, da der Wildenfelser mit einem behaglichen Seufzer den Teller von sich schob, hatte sich der alte getreue Diener ihm respektvoll genähert und stand dicht an seinem linken Ellbogen.

„Hochwürden –“

„Nun?“ Das schöne heitere Gesicht des Domherrn mit dem ansehnlichen Doppelkinn wendete sich gelassen halb um. Da weiter nichts erfolgte, sah er den Haushofmeister an und dann fuhr sein Kopf schnell genug herum nach der Thür, um dasjenige zu entdecken, was sich in den Zügen des Dieners eben als maßloser Schrecken widergespiegelt hatte. Und da allerdings war auch er betroffen. Schon fast mitten im Gemach standen zwei fremde Figuren, von denen man nicht begriff, wie sie durch das stets wohlbewachte Haus und ohne Anmeldung bis hierher gekommen waren in die Gegenwart des Herrn.

Herr Engelbert runzelte leicht die Stirn über der kräftig gebogenen Nase. Er war Kanonikus, aber vor allem ein großer Herr, der es nicht liebte, wenn in seinem Hause jemand die Form mißachtete, und nun gar durch Schuld seiner Diener. Dem scharfen Frageblick begegnete aber auch sogleich die bittende Gebärde des Haushofmeisters, der hastig flüsterte. „Hochwürden, sie sind hereingekommen, unvermerkt, als bei dem Windstoß vorhin die Lichter verlöschten. Sie heischen Schutz von Euerer Hochwürden und so ernstlich, daß ich sie nicht abweisen mochte. Zudem kennt Ihr den Alten, er kam als Bote –“

„Ha, von meinem Vetter Nievern, ganz recht!“ sagte der Wildenfelser, ein wenig milder.

„Ich wollte sie draußen behalten, bis Ihr abgespeist hättet, obwohl sie drängten ...“

„Laß, es thut nichts,“ sagte der Domherr rasch aufstehend. Er hatte jetzt erst in der einen der beiben Gestalten, die dicht verhüllt war, aber eben wie ungeduldig ihr Kopftuch lüftete, ein schlankes Mädchen mit hellem jugendlichen Antlitz erkannt. Nun trat er hinzu, federnden Schrittes, der schöne Mann in der gefälligen geistlichen Haustracht, und sah voll Erstaunen und Antheil seinen räthselhaften Besuch genauer an, während aus einem der hübschesten Gesichter, die er je erblickt hatte, ein Paar scharfer Blauaugen mit einem ganz eigenen Gemisch von Scheu und trotziger Keckheit auf ihn gerichtet war. „Nun, Alter, was heißt das?“ fragte er endlich den Begleiter des Mägdleins.

Der, ein kleiner verwitterter Graubart, sagte halblaut: „Das ist nur für die Ohren Euerer Hochwürden; schickt, ich bitte Euch, Euer Gesinde hinaus; die Jungfer da ist gar scheu und ihr Schicksal wunderlich ...“

„Das scheint so, da sie in Euerem Geleite reist,“ lachte der Wildenfelser kurz, aber er winkte seinen Leuten zu, worauf sie sich sämtlich entfernten, der Haushofmeister aber nicht eher, als bis er die Schüssel mit den Feldhühnern sorglich zugedeckt und in der Nähe des Kaminfeuers niedergesetzt hatte.

„Kommt, mein Kind,“ sagte jetzt der Domherr gütig und griff nach der Hand des Mädchens. „Erwärmt Euch hier, während ich erfahre, welcherlei Beistand Euch frommt! Ihr seid in gar üblem Wetter unterwegs gewesen.“

Davon zeugte allerdings das feuchte Regentuch der Fremden und die perlenden Tropfen, zu welchen sich der Schnee in dem blonden Kraushaar über ihrer Stirn aufgelöst hatte. Sie ließ sich, wohl aus Schüchternheit, an steifem Arm in die Nähe des Marmorkamins mehr ziehen als führen und hatte noch nicht die Lippen voneinander gebracht. Ihr Begleiter sah zu und es zuckte wunderlich über sein Gesicht mit den tausend Runzeln und Fältchen, als der menschenfreundliche Hausherr jetzt mit drei Fingern dem fremden Kind unter das Kinn griff, um ihr Antlitz zu besserer Betrachtung ein wenig emporzuheben. Sie war ja so blutjung – er blickte angelegentlich forschend in dies reizvolle längliche Gesicht, das sich jetzt unter seiner Berührung mit Purpur überzog, während die Lider wie festgeleimt auf den Augen blieben, und sagte endlich ermuthigend: „Fürchtet Euch nicht; Euere hilflose Jugend spricht für Euch, noch ehe Ihr den Mund geöffnet habt. Schwerlich könnt Ihr Ernstliches verschuldet haben und gewiß nichts gegen unsere heilige Kirche –“

Dabei glitt sein Blick an ihr nieder, die, soweit er bei ihren Hüllen sehen konnte, von noch ganz unentwickelten Formen war, und das Kennerauge wurde eben durch den schmalen langen Fuß gefesselt, der so fest auf seinem Estrich stand, da – kaum wußte er, wie ihm geschah – da entzog sie sich mit einem kräftigen, ja ungebärdigen Ruck seiner Berührung und dabei stampfte der eben bewunderte Fuß den Boden, während sie ausrief: „So redet doch, Strieger, daß der hochwürdige Herr nicht länger betrogen werde! Das kommt von dem verwünschten Aufputz! Meine Schuld war es nicht, Herr von Wildenfels!“

Es klang wie scharfe kindische Ungeduld durch die helle Stimme, und dabei zerrte das Mägdlein befremdlich an ihrem Anzug, von dem das Regentuch abgeglitten war, als ob alles sie drücke und einenge. Das Gewand war ein halb ländliches; offenbar war sie, die ihrer herrischen Art nach einem ganz andern Stande angehörte, desselben ungewohnt. Das aber war es nicht allein, weshalb der Domherr sie jetzt so verständnißlos anstarrte, bis endlich der mit Strieger angeredete Moosbart sich vernehmen ließ. „Ihr seid leider im Irrthum, Herr, wenn Ihr annehmt, daß wir mit der Geistlichkeit nichts zu schaffen hätten. Mehr, als uns lieb ist – fragt den da!“

„Wen?“ schrie jetzt Herr Engelbert, an den Rand seiner Geduld gebracht durch alle diese Räthsel, hinter denen er nunmehr nur Ungelegenheiten witterte und allerlei, was seiner Ruhe bedrohlich schien. „Was für Gauklerpack habe ich hier?“

Da trat jener adlige Fuß mit einem Male fest vor ihn hin, ein Paar trotziger Blauaugen sprühte ihn an und von einer bebenden Knabenstimme – daß er sie jetzt erst erkannte! – kamen die Worte: „Keine Gaukler, Herr von Wildenfels, vielmehr einen, dessen Wappenschild so gut ist wie Eueres! Ich heiße Ludwig von Leyen – der da ist mein Diener, treu wie Gold, wenn auch wunderlich. Ihr seht den vor Euch, dem die schnödeste Unbill widerfahren ist, von der ihr je Kunde erhalten habt! Das habt Ihr wohl nicht gedacht, als Ihr so frank und frei vorbeirittet an dem Gitter unseres Gefängnisses mit dem Nievern, meinem guten Bekannten aus der Heimath, und ich Euch zuwinkte, weil zu rufen mir versagt war in meiner schändlichen Sklaverei –“

„Wo? Was schwatzt der Bursch? Wo soll ich ihn gesehen haben? Ich weiß von nichts!“ rief der sonst gütige Herr scharf, wie er selten zu sein pflegte.

„Ich sagt’ Euch schon, ich bin der Junker Ludwig von Leyen,“ wiederholte darauf das falsche Jüngferchen stolz. „Und die mich nach St. Menehould brachten, mit Zwang, und dort festhielten, das waren –“

„St. Menehould! Gott sei mir gnädig! Ich ahnte es! Ein entlaufener Jesuitenschüler!“ rief der Domherr und rannte wie unsinnig im Gemach auf und nieder. Der würdige behäbige Herr war nicht mehr zu kennen, „Und zu mir kommt man, bringt mir die Fährte ins Haus, hetzt mir die Väter von St. Menehould auf den Hals – tausend, zehntausend Gulden gäb’ ich dafür, daß dies nicht geschehen wäre!“

Lutz von Leyen, obwohl seinen Jahren voran an Gestalt und Muth, war am Ende doch noch ein Kind. Jetzt schossen ihm die Thränen heran und wollten sich nicht zurückhalten lassen bei dem Gegensatz dessen, was ihm der Strieger von dem Domherrn hatte hoffen lassen und was er jetzt erfuhr. Aber er schluckte sie tapfer; sie erhöhte nur den Glanz seiner Augen, als er jetzt mit klingender Stimme sagte: „Wollt Ihr mich meinen Kerkermeistern, den Jesuiten, wieder ausliefern, Herr? Versucht es, wenn Ihr’s übers Herz bringen könnt – aber eher springe ich hier zum Fenster hinaus oder thu’ mir sonst etwas an, ehe sie mich lebendig kriegen. Ich hätte mich tot gehungert dort, so sauer es mir geworden wäre – denn die Kost bei ihnen ist gut, das muß wahr bleiben – wenn ich nicht immer gedacht hätte: die Polyxene wird mich nimmermehr so im Stiche lassen. Und nun, da ich weiß, warum, da sie mein armes Bäschen ins Kloster gesperrt haben, wo sie sich gewiß tot grämt, nun will ich auch nicht einen Tag mehr länger leben, den ich nicht frei bin ...“ Seine Stimme brach – er wandte sich ab und drückte die Fäuste in die Augen.

Zur Ehre des Herrn von Wildenfels sei es gesagt, daß sein Anfall ärgerlicher, verzweifelt übler Laune schon vorüber war – einem Mann übrigens allenfalls zu verzeihen, dessen leckere Mahlzeit so jäh unterbrochen worden. Seine Feldhühner verschmorten und verdarben da am Feuer, und an ihrer Statt wurde ihm

[521]

Der neue Nachbar.
Nach einem Gemälde von G. Weiß.

[522] hier eine Suppe eingebrockt, an deren Art manch einer schon sein halbes Leben lang zu würgen gehabt! Nun aber hatte er sich gefaßt, zu seiner gewöhnlichen vornehmen Anmuth, der ein Beigeschmack geistlicher Würde nicht übel stand, und indem er dem Knaben die Hand auf die Schulter lehnte und dabei sogar dessen Ohrläppchen zwischen die Finger nahm, sagte er: „Von Sterben ist hier keine Rede, und daß ich Euch den frommen Vätern von St. Menehould nicht wieder zusende, dafür ist ebenfalls gesorgt, wenn Ihr wirklich derjenige seid, von dem mein Vetter Nievern mir geschrieben, wie es denn allerdings den Anschein hat. Will ich es nicht auf ewig mit dem Viktor, meinem Herzbruder aus der Jugend her, verderben, so muß ich Euch sogar allen Vorschub leisten, damit Ihr heil nach Hause gelangt. Den Wunsch aber, daß die Herren von St. Menehould nicht gerade mich nach Euch zu fragen haben möchten, werdet Ihr ja wohl begreiflich finden. Schwerlich freilich wird er sich erfüllen, da meine Leute Euch gesehen haben ...“ Er stockte, in sorgenvoller Ueberlegung.

(Fortsetzung folgt.) 


Der Hexenwahn und seine frühesten Bekämpfer.

Von Georg Winter.

So unzweifelhaft berechtigt der Satz ist, daß die Geschichte der Vergangenheit die beste Lehrmeisterin der Gegenwart sei, daß eine wahre und begründete Erkenntniß der Gegenwart nur aus einem eindringenden Studium der Geschichte erworben werden kann, so grundverfehlt wäre es, wollte man diesen Satz nun auch umgekehrt anwenden, mit den Anschauungen und Vorstellungen der Gegenwart an die Ereignisse der Vergangenheit herangehen und sie an diesem Maßstab messen. Jede geschichtliche Erscheinung muß vielmehr aus dem Geiste der Zeit, in der sie entstand, begriffen und wenn möglich erklärt werden. Mag jene Erscheinung nach unseren heutigen Begriffen und Vorstellungen sich als noch so unerklärbar darstellen, es muß versucht werden, sie aus dem Ganzen, von dem sie ein Theil ist, verständlich zu machen. In dieser Loslösung von den Anschauungen, in denen wir aufgewachsen sind, liegt die vornehmste Schwierigkeit einer vorurtheilslosen Beurtheilung vergangener Ereignisse und Zustände.

Ganz besonders schwer wird uns Kindern einer bildungs- und aufklärungsstolzen Zeit dieses Sichversenken in die Vorstellungswelt der Vergangenheit gegenüber den mannigfachen Erscheinungen, welche in dem Volksaberglauben ihre Wurzel haben. Wir sind gewohnt, mit einer Art von souveräner Verachtung auf die Reste des Aberglaubens, welche sich in manchen Kreisen unseres Volkes bis in die Gegenwart erhalten haben, herabzublicken, und vermögen uns nur schwer vorzustellen, daß diese Reste eben – Reste sind, Reste einer Zeit, in der das, was wir als Aberglaube mit voller Klarheit erkannt haben, sichere und hochgehaltene Ueberzeugung nicht bloß der niederen Schichten des Volkes, sondern der Gesamtheit desselben einschließlich seiner geistigen und sittlichen Führer gewesen ist. Daß wir aber diese Ueberbleibsel einer scheinbar längst überwundenen Zeit zuweilen doch wieder aufleben sehen, nicht nur in den niedersten Schichten, sondern in Kreisen, welche ihrer Stellung nach zu den geistigen Führern des Volkes gehören sollten, hat noch kürzlich mit erschreckender Deutlichkeit die vielbesprochene Teufelaustreibung gelehrt, welche ein katholischer Geistlicher mit einem angeblich besessenen Knaben vorgenommen hat. Wir kamen uns wie in eine andere Welt versetzt vor, als wir die Berichte darüber und über die gerichtlichen Verhandlungen, die sich an den berüchtigten Vorgang anschlossen, zu lesen bekamen. Gewiß ist dieses Vorkommniß ein beklagenswerther Anachronismus; zugleich zeigt es uns aber, wie schwer selbst durch die größten Fortschritte der Wissenschaft die Mächte der Finsterniß völlig zu überwinden sind. Und wenn solches noch in unserer aufgeklärten Zeit möglich ist, so sollten wir daraus Veranlassung nehmen, die verwandten Erscheinungen der Vergangenheit milder zu beurtheilen, als wir es gewöhnlich thun. Je mehr wir verpflichtet sind, solchen abgestorbenen Resten der Vergangenheit in der lebensfrohen Gegenwart mit allem Nachdruck entgegenzutreten, um so mehr können sie uns zugleich dazu dienen, die Vergangenheit selbst, aus der jene Reste stammen, leichter zu verstehen und uns klar zu machen, daß jene Erscheinungen des Aberglaubens in einer Zeit, in der die heutigen Fortschritte der Wissenschaft noch nicht gemacht waren, doch nicht so unerklärlich sind, wie uns das heutzutage auf den ersten Blick erscheinen will. Wir werden dann die Vergangenheit unbefangener und deshalb gerechter beurtheilen, indem wir bedenken, daß vielleicht dereinst auch vieles, was wir als unumstößliche Wahrheit erkannt zu haben glauben, von einer höheren wissenschaftlichen Erkenntniß ebenso als „Aberglauben“ betrachtet werden wird wie von uns so manche Erscheinung der Vergangenheit. Das Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntniß steht eben in umgekehrten Verhältniß zu der, wenn wir so sagen sollen, Rückwärtsentwicklung der abergläubischen Vorstellungen; je größer das erstere, um so kleiner das Gebiet, auf welchem sich die letzteren zu erhalten vermögen. Denn eben das, was die wissenschaftliche Erkenntniß nicht zu lösen und zu erklären vermag, fällt am leichtesten dem Aberglauben anheim. Je geringer die erstere, desto größer ist die Neigung, das Unerklärliche auf übersinnliche, übernatürliche Einflüsse zurückzuführen.

Diese Neigung ist es, der die furchtbare Erscheinung des Hexenwahnes vergangener Jahrhunderte, von der wir in jenem Wemdinger Vorgange ein plötzliches Wiederaufleuchten mit Verwunderung erlebt haben, ihre Entstehung verdankt. Die Zeitverhältnisse und selbst die wissenschaftlichen Bestrebungen der Epoche, in welcher der unglückliche Irrwahn entstand, waren ein mächtiges Förderungsmittel jener Neigung. Es war eine Zeit, in welcher die religiös-kirchlichen Fragen die Aufmerksamkeit und die geistige Arbeit so ausschließlich in Anspruch nahmen, daß es für die wissenschaftlichen Bestrebungen auf anderen Gebieten an Muße und Neigung fehlte. Denn nicht das als finster und abergläubisch verschrieene Mittelalter war es, das den Hexenwahn mit allen seinen furchtbaren Folgen hervorbrachte, vielmehr gerade die Zeit des Uebergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, das vielgepriesene Jahrhundert des Humanismus und der Renaissance, das Jahrhundert des Zusammenbruchs der alten und der Begründung einer neuen Kirche. Nicht in den Zeiten allgemeinen geistigen Niedergangs trat der unglückselige Wahn auf, vielmehr trieb er gerade seine traurigsten Blüthen, als das geistige Leben durch die Wiedererweckung des klassischen Alterthums, das kirchlich-religiöse Leben durch Martin Luther besonders kräftige und nachhaltige Triebe erhielt. In derselben Zeit, in welcher eine begeisterte Schar geistig hochbedeutender Männer die humanistischen Studien mit schwärmerischem Eifer betrieb, in welcher Kunst und Wissenschaft eine glänzende Entwicklung nahmen, flammten die Scheiterhaufen der unglücklichen Opfer eines grausigen Wahns in Deutschland auf. Schier unbegreiflich scheint uns dieser Widerspruch, dieses Nebeneinander einer hohen geistigen Kultur und eines furchtbaren und in seinen Folgen verhängnißvollen Aberglaubens. Aber eben in der Einseitigkeit dieser hohen Kultur liegt die Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs. Eben weil die führenden Geister der Nation sich immer ausschließlicher den außerweltlichen Fragen zuwandten, verloren sie die Grundlagen der Erkenntniß der materiellen, sinnlichen Welt fast gänzlich aus den Augen; in übersinnliche Fragen vertieft, waren sie geneigt, auch in den Vorkommnissen des täglichen Lebens ein beständiges Eingreifen und Walten übersinnlicher Mächte und Kräfte anzunehmen. Wer wüßte nicht, wie sehr Luther selbst in den Stürmen seiner Gewissenskämpfe von der leibhaftigen Existenz und unheilvollen Wirksamkeit des Satans überzeugt war! Wie er trotz der Höhe seiner sittlichen Weltanschauung die Anfechtungen des bösen Prinzips, mit denen er zu kämpfen hatte, nicht auf innere Vorgänge des Geistes- und Seelenlebens, sondern auf unmittelbare Einwirkungen des Satans zurückzuführen geneigt war, so herrschte in jener Zeit höchster religiöser Erregung ganz allgemein die Vorstellung vor, daß besonders schwere und auffallende Unglücksfälle, für die man keine Erklärung fand, auf unmittelbare Einflüsse des Teufels zurückzuführen seien. Von dieser Anschauung aber zu der anderen, daß sich der Teufel zu diesen Einwirkungen bestimmter mit ihm im Bunde befindlicher Menschen bediene, war nur noch ein kleiner Schritt.

[523] Wohl hat es anfangs in dem Lande, welches der Einführung der kirchlichen Inquisition allezeit zähen Widerstand entgegensetzte, nicht an ruhig denkenden Männern gefehlt, welche auch dem Zauberer- und Hexenwesen mit ihren Zweifeln entgegentraten, aber ihre vereinzelten und nur gelegentlich laut werdenden Stimmen verhallten in dem Sturme der leidenschaftlichen Erregung, der das für abergläubische Vorstellungen leicht zugängliche Volk beherrschte. Und als dann gar der eifrig gehegte Wahn in einem im Auftrage des Papstthums verfaßten Buche, dem berüchtigten „Hexenhammer“, eine genaue Formulierung und mit grausamer Folgerichtigkeit durchgeführte Behandlung erfahren hatte, die mit peinlichster Genauigkeit alle die schrecklichen Vergehungen der Zauberer und Hexen in das hellste und verderblichste Licht stellte, da hatte die Sache eine so feste und für jeden „gläubigen“ Christen bindende Gestalt angenommen, daß selbst der Sturm religiöser Reinigung, den die Reformation anfachte, nichts dagegen auszurichten vermochte. Und wie hätte er es auch sollen? Konnten sich doch, wie angedeutet, die Reformatoren selbst vor dem Wahne, den man wohl als eine „Krankheit“ jener Zeit bezeichnet hat, nicht befreien! Mochte der dogmatische Gegensatz zwischen den Anhängern der neuen und der alten Lehre sich auch im Laufe der Entwicklung immer schroffer und schroffer gestalten, in diesem [e]inen Punkte waren die feindlichen Parteien vollkommen einig. Die Hexe wurde verbrannt, gleichviel, ob ihre Richter Protestanten oder Katholiken waren. Je tiefer aber der Wahn sich in dem allgemeinen Bewußtsein des Volkes festsetzte, um so schwieriger wurde es, gegen denselben anzukämpfen, weil jeder, der es wagte, gegen den gewaltigen Strom zu schwimmen, alsbald selbst in den Verdacht kam, mit den Zauberern und Hexen im Bunde zu stehen, oder gar selbst zu ihnen zu gehören. So gewann der Wahn immer unbeschränktere und freiere Bahn, seine verderbliche Wirkung in allen Gauen des deutschen Vaterlandes zu entfalten. Erst die neuere geschichtliche Forschung, die sich mit Eifer dieser ebenso traurigen wie fesselnden Erscheinung der Vergangenheit zuwandte, hat uns von dem Umfange, den die furchtbaren Verfolgungen der Hexen und Zauberer auf dem Höhepunkte ihrer Entwicklung angenommen haben, eine einigermaßen erschöpfende Vorstellung gegeben und gezeigt, daß in der That fast unzählbare Unglückliche in den Flammen des Scheiterhaufens einen qualvollen Martertod gefunden haben. Man stellte fest, daß allein in Genf in drei Monaten 300 Personen, in Quedlinburg im Jahre 1599 an einem Tage 133, in Bamberg und Würzburg in wenigen Jahren 900 Personen hingerichtet wurden!

Ueber viele der Prozesse, welche zu diesen Hinrichtungen führten, besitzen wir nicht nur kurze geschichtliche Angaben, sondern die vollständigen Prozeßakten, welche mit aller wünschenswerthen Genauigkeit über Einleitung und Verfahren der haarsträubenden Justiz, welcher die Unglücklichen unterworfen wurden, Aufschluß geben. Denn alles bewegte sich in scheinbar völlig geregelten und geordneten Bahnen. An dem Dasein von Hexen und Zauberern, an der Wahrheit der gegen sie vorgebrachten Beschuldigungen zweifelten die Richter ebenso wenig wie das übrige Volk. Mit größtem Erstaunen findet man in den Prozeßakten die genauesten Angaben über alle die Dinge, welche man den Angeklagten schuld gab und die thatsächlich natürlich niemals geschehen sein können. Die Aussagen der Zeugen beschränken sich nicht etwa darauf, festzustellen, daß der oder die Angeklagte ein Zauberer oder eine Hexe sei; sie berichten vielmehr mit der größten Ausführlichkeit, wie die Hexe durch den Schornstein gefahren, wie sie auf einem Besen durch die Luft geritten sei, wie sie im Verein mit dem Teufel und anderen Hexen die abscheulichsten Orgien gefeiert habe u. dgl. m. Gerade diese eingehenden Aussagen mußten der Forschung natürlich als das Unbegreiflichste erscheinen, ebenso unbegreiflich wie die Thatsache, daß die Richter auf eine bloße Denunziation hin einschritten und noch dazu dem Angeber volle Geheimhaltung zusicherten. Anfangs versuchte man sich diese Sachlage aus zwei Ursachen zu erklären: einmal aus dem Streben der Kirche, sich unbequemer Ketzer, welchen man nach dem siegreichen Durchdringen der kirchlichen Reformation des 16. Jahrhunderts nicht mehr wegen ihrer religiösen Ueberzeugungen beikommen konnte, durch die populärere Anklage der Hexerei und Zauberei zu entledigen, welche auch bei den Protestanten gläubiges und williges Gehör fand; dann aber aus der Habsucht der Angeber und Richter, welche dadurch angeregt wurde, daß das Vermögen der Verurtheilten in Beschlag genommen wurde und zu einem nicht unbedeutenden Theile jenen zufiel. Für das häufige Vorkommen des letzteren Beweggrundes schien namentlich der Umstand zu sprechen, daß die Veurtheilten zumeist nicht den völlig unbemittelten, sondern den wohlhabenderen Schichten des Volkes angehörten.

Aber es liegt auf der Hand, daß diese Gründe doch nur in vereinzelten Ausnahmefällen zur Erklärung dienen konnten, man hätte denn eben alle Angeber und Richter, die während dreier Jahrhunderte in diesen traurigen Prozessen eine Rolle gespielt haben, für bewußte und schurkische Betrüger erklären müssen. Völlig unerklärlich aber blieb auch in jenen Fällen, in denen man betrügerische Beweggründe annehmen zu dürfen glaubte, die Thatsache, daß die Angeklagten selbst alle das, was man ihnen vorwarf, zugaben und die eingehendsten Geständnisse über ihren Verkehr mit dem Teufel ablegten, welche uns unendlich komisch anmuthen würden, wenn sie nicht so entsetzlich traurig wären.

Gerade über diese letzte scheinbar unverständlichste Frage kam dann freilich die kritische Forschung unserer Tage am schnellsten ins klare, je umfassender das Material wurde, welches in ihren Gesichtskreis trat, und je mehr sie infolgedessen aus den vielen einzelnen Fällen das System erkennen konnte, nach welchem hierbei verfahren wurde. Man fand da in den Prozeßakten, daß die „Geständnisse“ der Angeklagten nicht die während des Verhörs aufgezeichneten Berichte über ihre „Hexerei“ nach deren eigenen freiwilligen Erzählungen enthielten, daß der Inhalt der einzelnen Aussagen vielmehr bereits vor dem Beginn des Verfahrens aufgezeichnet war und dann von dem Angeschuldigten nur durch ein „Ja“ als wahr bezeichnet wurde. Dieses „Ja“ aber erfolgte nicht freiwillig, sondern in fast allen Prozessen erst nach Anwendung der Folterwerkzeuge mit allen ihren endlosen Qualen, mit deren Schilderung wir den Leser nicht ermüden wollen. Wer in unseren Museen und Alterthumssammlungen sich einmal eine klare Vorstellung von den namenlosen Martern gemacht hat, welche diese Werkzeuge, die schrecklichsten Ausgeburten der erfinderischen menschlichen Grausamkeit, den armen Opfern auferlegten, der wird es begreiflich finden, daß die Angeklagten nach dem zweiten oder dritten Grade der Folter, schon mehr tot als lebendig, zu jedem Geständnisse bereit waren, wiewohl sie mit Bestimmtheit wußten, daß ein Geständniß den Tod auf dem Scheiterhaufen zur Folge hatte. Selbst dieser Tod mußte ihnen als eine Erlösung erscheinen gegenüber den namenlosen Qualen der Folter.

Sobald man also über die Art, wie jene Selbstgeständnisse zustande kamen, im klaren ist, schwinden diese aus der Reihe der psychologischen Räthsel; nur die genauen Angaben der Denunzianten bez. Zeugen, unter denen merkwürdig oft auch unmündige Kinder vorkommen, stellen der Erklärung noch immer fast unübersteigliche Hindernisse entgegen. Man kann nur annehmen, daß ein dem Wahnsinn ähnlicher Fanatismus ihre Phantasie so fruchtbar gemacht habe, oder daß sie von religiösen Fanatikern als Werkzeuge benutzt worden seien. Und in der That ist diese einzig mögliche Erklärung auch die richtige, d. h. also, eine große Anzahl der Fälle wird in das Gebiet der geistigen Störungen zu verweisen sein, ähnlich wie die verwandten Erscheinungen des religiösen Fanatismus im Mittelalter, Tanzwuth u. a. m., von denen sich der Hexenwahn des 15. bis 18. Jahrhunderts nur durch die ungleich größere Ausdehnung und die ungleich größere Zahl seiner unglücklichen Opfer unterscheidet.

Vor allem aber muß die lange Zeitdauer, in welcher sich der unselige Irrwahn erhielt, befremden, muß es befremden, daß selbst das Jahrhundert der Aufklärung nur langsam und allmählich den unheimlichen Gast zu verdrängen vermochte. Ja, die Ereignisse der letzten Zeit haben uns gelehrt, daß er heute noch nicht einmal aus unserem eigenen Vaterland verschwunden ist. Kaum vermag man sich es heute noch vorzustellen, daß es noch nicht viel über ein Jahrhundert her ist, daß die letzte Hexenverbrennung in Würzburg stattgefunden hat (1769), welche dann noch am Ende des 18. Jahrhunderts ein trauriges Nachspiel in Polen fand. Um so wunderbarer muß das erscheinen, als es doch schon in der Zeit, in welcher der Hexenwahn in seiner höchsten Blüthe stand, nicht an vereinzelten Stimmen gefehlt hat, welche sich, nicht zwar gegen die Möglichkeit von Zauberern und Hexen überhaupt, wohl aber gegen deren grausame Verhetzung und Hinrichtung nachdrücklich ausgesprochen haben. Ihre Stimmen verhallten wie die des Predigers in der Wüste; trotz des kräftigen und von echt menschenfreundlicher Begeisterung getragenen Einspruches, der von ihnen [524] erhoben wurde, flammten die Scheiterhaufen weiter. Wir Nachlebenden aber, die wir mit unsagbarem Mitleid auf die Opfer einer wahnsinnigen Justiz zurückblicken, schulden doch jenen Männern, welche, wenn auch zunächst noch erfolglos, es wagten, dem fanatischen Treiben entgegenzutreten, Dank und Anerkennung.

Bis vor kurzer Zeit hat man als denjenigen, dem dieses große und weltgeschichtliche Verdienst zukomme, zumeist den Jesuiten Friedrich von Spee bezeichnet. Und in der That gebührt Ruhm und Anerkennung im höchsten Maße diesem Manne, der, in den Gesinnungen eines wie kein zweiter der kirchlichen Autorität ergebenen Ordens aufgewachsen, gleichwohl den Muth fand, einer von allen kirchlichen Autoritäten in gleicher Weise getragenen Verirrung entgegenzutreten. Aber die Ehre, der erste in diesem geistigen Kampfe, der nach seinem Tode noch über ein Jahrhundert vergeblich weiter gekämpft wurde, gewesen zu sein, kann ihm nach den neuesten Forschungen nicht mehr zuerkannt werden. Vielmehr ist man durch die verdienstlichen Forschungen eines Mediziners, des Bonner Professors Binz, auf zwei Vorkämpfer gegen den Hexenwahn aufmerksam geworden, welche erheblich vor Spee den gefährlichen Kampf gegen jenen Irrwahn aufgenommen haben: es sind das der niederrheinische Arzt Johann Weyer (geb. 1515 oder 1516) und der Heidelberger Professor der Mathematik Hermann Wittekind (Pseudonym Augustin Lercheiner, geb. 1522).[1]

Wie sehr der Hexenwahn in der Zeit seines Auftretens alle Geister, auch die erleuchtetsten und mildest denkenden, beherrschte, geht am klarsten daraus hervor, daß die genannten beiden Männer, welche zuerst mit unerschrockenem Muthe der grausamen Justiz entgegentraten, doch das Dasein von Hexen und Zauberern selbst nicht zu leugnen wagten, vielmehr in dem theologischen Glauben an den „Herrscher der Finsterniß“ vollkommen Kinder ihrer Zeit waren. Auch die Gründe, welche sie gegen die Verbrennung der Hexen geltend machen, entstammen keineswegs ausschließlich allgemeiner Menschenfreundlichkeit, bewegen sich vielmehr im wesentlichen auf dem Boden ihrer Gegner, d. h. sie sind in der Hauptsache nicht naturwissenschaftlicher, sondern theologischer Natur. „Der Teufel kann nichts ohne die Zustimmung Gottes“, das ist der Satz, den Weyer in seinem 1563 erschienenen epochemachenden Werke über das Hexenwesen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Damit ist der Teufel selbst unbedingt zugegeben und nur seine unmittelbare praktische Einwirkung auf das Thun der Menschen bestritten. Wie wollte man, so sagt Weyer, mit der Güte und Allmacht Gottes die Meinung vereinbaren, daß kindisch gewordene alte Weiber, welche man Hexen oder Zaubrerinnen nennt, Menschen und Thieren Böses anthun könnten? Dieser Wahn habe, so fährt er fort, mehr Unheil über die Christenheit gebracht als alle die vielfachen religiösen Streitigkeiten und Parteiungen. Und mit bitterer und inniger Klage ruft er aus: „Fast alle Theologen schweigen zu dieser Gottlosigkeit, die Aerzte dulden sie, die Juristen behandeln sie, in alten Vorurtheilen befangen: wohin ich auch höre, niemand, niemand, der aus Erbarmen mit der Menschheit das Labyrinth uns öffnet oder die Hand zum Heilen der tödlichen Wunde erhebt.“

Die logische Folgerung aus dieser Anschauung wäre nun offenbar gewesen, daß Weyer, seiner Zeit um volle zwei Jahrhunderte vorauseilend, das Vorkommen von Hexen schlechthin hätte leugnen und demgemäß jedes gerichtliche Verfahren gegen sie hätte verwerfen müssen. Soweit ist aber weder Johann Weyer gegangen noch sein unmittelbarer Nachfolger auf diesem Gebiet, Hermann Wittekind, der im Jahre 1585 mit einem Werke ähnlichen Inhalts an die Oeffentlichkeit trat. Aber sehr weit davon entfernt ist namentlich Weyer nicht geblieben, während Wittekind sich noch in höherem Grade von der allgemeinen Volksanschauung abhängig zeigt. Die Zugeständnisse, die der erstere dem Zeitgeist macht, sind nicht sehr erheblich. Das wirkliche Vorhandensein von Hexen, welche mit dem Teufel in Verbindung stehen und von diesem die Fähigkeit erlangen, alle möglichen und unmöglichen übernatürlichen Frevelthaten zu begehen, leugnet er fast völlig, dagegen giebt er die Möglichkeit einer auf Verblendung durch den Teufel beruhenden Selbsttäuschung zu, auf Grund deren gewisse Personen sich einbilden, übernatürliche Kräfte zu besitzen und dieselben zum Vortheil oder Nachtheil ihrer Mitmenschen ausüben zu können. Diese Selbsttäuschungen aber ist er in den meisten Fällen auf Störungen der leiblichen Gesundheit zurückzuführen geneigt. An manchen Stellen ist er geradezu der Ansicht moderner Naturforscher und Aerzte, die in der ganzen Bewegung in erster Linie eine geistige Störung sehen wollen, sehr nahe gekommen. Die einzelnen Beispiele aus seiner eigenen langjährigen Erfahrung, die er in seine Erörterungen einflicht, sind zuweilen außerordentlich charakteristisch und nicht selten von drastischer Derbheit. Sie bieten sehr bezeichnende Bilder aus dem Kulturleben seiner Zeit. Hie und da behandelt er den Aberglauben, welcher in den von ihm berichteten Fällen zu Tage tritt, mit offenbarem Spott, den man bei Wittekind nie oder nur selten begegnet. Worin sie aber beide einig sind, das ist der heilige Eifer und die sittliche Entrüstung, mit denen sie gegen die grausame Behandlung vorgehen, die man diesen Unglücklichen bereitete. So verlangt Weyer, daß die Zauberei nur dann bestraft werden solle, wenn sie einen wirklich nachweisbaren Schaden gestiftet habe. Im übrigen solle man die alten Mütterchen, die sich behext oder besessen wähnen, im Glauben unterrichten, nicht aber in den Thurm werfen oder gar verbrennen. Hauptsächlich sei bei allen Prozessen wegen Hexerei und Zauberei ein tüchtiger Arzt zuzuziehen, der untersuchen möge, ob es sich nicht um Geistesverwirrung oder um Giftmischerei handle; denn nirgendwo hätten mehr als hier menschliche Leidenschaften ein freies Feld: Aberglauben, Aufregung, Haß und Tücke.

Wir sagten schon, daß das um 20 Jahre spätere Buch Wittekinds, welches sich in vielen Hauptpunkten auf das Weyersche stützt, do[c]h in manchen Einzelheiten weit mehr als jenes dem Aberglauben der Zeit seinen Zoll entrichtet. Von den vielen, hie und da anekdotenhaft eingestreuten Erzählungen, die das Buch enthält, sind manche so sehr vom Geist der Zeit erfüllt, daß man sich wundert, wenn der Verfasser dann doch sich gegen eine Verfolgung der von ihm selbst als wirklich geschehen bezeichneten Dinge erklärt. Wie tief seine Befangenheit in den Anschauungen seiner Zeit geht, sieht man u. a. daraus, daß er eine Geheimschrift des Abtes von Sponheim, von welcher er erfährt, sich nicht anders als durch Einwirkung des Teufels zu erklären vermag und selbst ein harmloses Kartenkunststück eines Taschenspielers auf übernatürliche Einwirkungen zurückführt. Unter den zahlreichen Geschichtchen von allerhand Zaubereien, die er als vollkommen wahr, weil durch gute Zeugen überliefert, hinnimmt, befindet sich auch eine ganze Reihe solcher, die von dem sagenhaften Doktor Faust erzählt wurden. Wir stoßen da u. a. auf jene von Goethe verwerthete und nach Auerbachs Keller zu Leipzig verlegte Erzählung von den aus einem Tische hervorwachsenden Weinreben; auch der geheimnißvolle zauberische Pudel spielt eine Rolle.

Man wird den Schriften der beiden wackeren Männer eine geradezu weltgeschichtliche Bedeutung zuerkennen dürfen, weil sie zum ersten Male einen umfassenden und planmäßigen Angriff auf einen Wahn unternahmen, der in seinen unsinnigen Folgen ein fast unabsehbares Unglück für die Welt gewesen ist. Zum ersten Male erscheint in ihren Werken nicht eine gelegentliche Mahnung zur Milde und Vorsicht in dem Verfahren gegen die Hexen, sondern eine grundsätzliche Verwerfung des Prinzips, auf dem die Hexenprozesse beruhten. In die scheinbar unüberwindliche Feste eines verhängnißvollen Irrthums ist durch sie zum ersten Male eine deutlich erkennbare Bresche gelegt worden, die durch die gewaltigen Stöße, die der Bau später durch Spee und seine Nachfolger erlitt, allgemach vergrößert werden konnte. Zunächst freilich flammten noch zwei Jahrhunderte lang nach wie vor Tausende von Scheiterhaufen um die Opfer des unseligen Irrwahns. Die Nachwelt aber ist darum nicht weniger verpflichtet, das Andenken der beiden Männer in Ehren zu halten, die zuerst mit heiligem Eifer die Wahrheit der Lüge und dem Irrthum entgegenzuhalten und dem wüthenden Hasse der Mehrheit ihrer Zeitgenossen zu trotzen wagten. Die Geschichte der menschlichen Kultur und Gesittung ist mit den bis vor kurzer Zeit so gut wie völlig verschollenen Namen der beiden edlen Menschenfreunde um so mehr untrennbar verbunden, als alle die, die nach ihnen den Kampf aufnahmen und endlich doch zum Siege durchkämpften, auf den Schultern jener beiden standen, indem sie sich aller der von jenen zuerst aufgestellten Beweisgründe bedienten.


  1. Vergl. die beiden vortrefflichen Werke von Carl Binz über Johann Weyer und Hermann Wittekind (Augustin Lercheiner), deren erstes 1885 in Bonn, deren zweites 1888 in Straßburg erschienen ist. Beide enthalten zugleich neue Ausgaben der Schriften Weyers und Wittekinds gegen das Hexenwesen.

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Münchener Künstlerfesttage.

Entzückende Sommertage waren es, während deren die Münchener Künstlergenossenschaft ihr fünfundzwanzigjähriges Bestehen feierte. Wohl thürmten sich am 3. wie am 4. Juli Gewitterwolken mitunter auf, aber nur, um die Landschaftsbilder zu verschönen und ab und zu aus weiter Ferne her einen kühlenden Hauch zu senden. – In vier lose zusammenhängende Festakte gliederte sich die Gesamtfeier. Der erste dieser Festakte bestand in der Grundsteinlegung zum neuen Künstlerhause, die am 2. Juli vormittags stattfand. Seit Jahrzehnten wurde gearbeitet, um die Mittel für ein Künstlerheim aufzubringen; jetzt endlich konnte auf einem der schönsten Plätze Münchens der Grund zu diesem Heim gemauert werden. Ueberragt von den alten Thürmen der Frauenkirche, angesichts der schönen Synagoge und des prachtvoll emporstrebenden Justizpalastes, umrauscht vom Grün der benachbarten Anlagen, wird dieses Künstlerheim wohl für alle Zukunft eine Stätte werden, an welcher künstlerischer Geist und schaffenslustige Phantasie frohe und ernste Gedanken reifen können.

Am Abend dieses Tages fanden sich gegen zweitausend Menschen in den weiten Hallen des Salvatorkellers zusammen, wo durch kunstfertige Hände in fliegender Hast eine reiche und anmuthige Dekoration geschaffen war. In der Tiefe des Saales war eine Bühne errichtet. Als nach einigen einleitenden Musikstücken und nach einer kurzen Begrüßung der Versammlung durch den Präsidenten der Kunstgenossenschaft der Vorhang sich hob, sah man in ein uraltes zertrümmertes Kellergewölbe, in verworrenes Gerank und winkeldüsteres Gemäuer, wo zerfallende Fässer umherlagen. Waldkobolde beginnen ein spukhaftes Spiel und erwecken den seit Jahrhunderten verwünschten Kellergeist aus seinem Schlafe; ein irrendes Kunstgenie erlöst ihn aus seiner Verbannung. Unter den Klängen geisterhafter Musik erscheinen, über die zerfallenden Treppen herabschwebend, sieben Kunstmusen und erbitten sich das finstere Gewölbe von dem Kellergeiste für das Stiftungsfest der Genossenschaft. Nach einigem Sträuben wird ihnen dies gewährt; sie rufen ihren viellieben Gast: jenes schmucke Kind im Mönchsgewande, welches das Wappenbild der Stadt München ist. Aus Dampf und Lichtglanz steigt es herab, grüßt das Künstlervolk, füllt den Keller mit einem bunten Gefolge von Herolden, Bannerträgern, Pagen und altbekannten Münchener Originalgestalten, worauf unter den Klängen des Walhallaliedes das Festspiel zu Ende geht.

Nach einer durch Gesang und Deklamation ausgefüllten Pause kam noch ein zweites, musikalisches Festspiel, eine launige Magistratsversammlung in mittelalterlicher Gewandung, die durch das Eindringen des Humors in köstlicher Weise unterbrochen wird. Ein Zwiegesang zwischen dem gestrengen Bürgermeister und dem Schalksnarren entspinnt sich, durchflochten mit mancherlei Beziehungen zu schwebenden Fragen, und endet mit dem weisen Rathe des Humors, daß einem alles „Wurst“ sein müsse. Dieser Rath wird denn auch sogleich in eine imposante That umgesetzt, indem der Schalksnarr eine etwa fünfzig Meter lange Göttinger Wurst vom Umfang eines ausgewachsenen Eichbaumes durch den Saal tragen läßt. Musik und Tanz folgten. Erst spät nach Mitternacht lichteten sich die Räume.

Der zweite Festtag begann wieder mit einer ernsten Feier, mit der Enthüllung des Denkmals für Moritz v. Schwind, worüber die „Gartenlaube“ schon an anderer Stelle berichtet hat (Nr. 30). Die großartigste Festpracht aber entfaltete sich am Nachmittage des 4. Juli bei dem Sommerfeste zu Feldafing. Am Westufer des Starnberger Sees, gegenüber der blüthenduftenden Roseninsel, auf die unsere Anfangsvignette einen Blick verstattet, liegt eine breite Wiesenterrasse; dort wollte einst der unvergeßliche König Maximilian II. ein Schloß erbauen und seine Grundmauern sind heute noch vorhanden. Mit dem Herzschlag des edlen Fürsten aber hat auch der Bau aufgehört: üppige Gräser wiegen sich wieder auf der verlassenen Stätte. Diese war zum Festplatze gewählt. Berückend schön ist der Blick von hier hinab auf den See, über dessen fernen Ufern wie Märchenbilder die Felszinnen am oberen Isarthal aufragen.

Das Fest auf dem Starnberger See: Die Grotte des Seegeistes
Nach einer Originalzeichnung von V. Schramm.

[526] In ihr sonnigstes Festgewand hatte sich die Landschaft gekleidet, den Tausenden zu Ehren, die mittags in langen Wagenzügen herausgefahren waren, Männer aus allen Kreisen der Münchener Gesellschaft, dazu ein reicher Kranz von Frauen und Mädchen in duftigen Sommergewändern. Um vier Uhr verkündeten Böllerschüsse die Ankunft der Galeere, welche den Prinzregenten und sein Gefolge brachte. Kaum hatte der Hof das für ihn erbaute Prachtzelt erreicht, als weithinschallende Fanfaren den Beginn des eigentlichen Festes einleiteten. Und nun bewegte sich wie eine lebendig gewordene Sage ein ganz eigenartiges Bild über den See herbei. Von einem riesigen Seeungeheuer gezogen, schwamm eine zerklüftete Felseninsel, eine haushohe Grotte daher. Korallen rankten um sie; Seesterne und andere Meergebilde hingen an ihr, an ihrem Fuße bewegten sich langmähnige Wasserweiber und fischschwänzige Nixen. Auf dem höchsten Punkte des Felsens aber stand der Seegeist in ehrwürdigem Weißbart. Athemlos still standen die Tausende von Zuschauern, als der Alte vom See mit dröhnender Stimme seinen Festgruß ans Land herüber rief. Dann wandte sich das Ungeheuer wieder prustend und schnaubend seewärts; die „Nixen“ – lauter jüngere Kunstschüler – sprangen jauchzend und plätschernd in den See, schwammen neben der Insel her, und langsam verschwand das Märchengebilde hinter den bergenden Baumgruppen eines Landvorsprunges, während die Menge in lauten Jubel ausbrach. Der war kaum verhallt, als unbeschreiblich zarte Töne sich vernehmen ließen. Vom Ufer der Roseninsel her zog eine reichgeschmückte Galeere mit vergoldetem Mast und gerefftem Purpursegel. Sie trug die Rosenkönigin und ihr Gefolge: etwa fünfzig oder sechzig Mädchen in hellen vielfarbigen Gewändern, welche einen eigens komponierten Chorgesang mit Harfenbegleitung sangen. Ruderknechte in alterthümlichen Gewändern bewegten das wunderbare Fahrzeug; hoch auf dem ragenden Hinterdeck aber stand, den Lauf des Schiffes leitend, die Rosenkönigin in wehendem weißen Kleide. So landete das Fahrzeug, die Mädchen stiegen aus, tausendstimmig begrüßt, überschütteten die Gäste mit einem Blumenregen und brachten auch Blumenkörbe und Kränze hinauf in den Kiosk der Prinzessinnen. – Damit aber neben den Geistern des Sees und der Insel auch der Wald vertreten sei, zog gleich nachher auf einem von Einhörnern gezogenen Wagen „Waldmeister“ ein, geführt von einem ehrwürdigen Klausner, begleitet von einem entzückenden Gefolge kleiner Mädchen, die als Insekten und Blumenelfen erschienen, mit buntschillernden Flügeln und schwankenden Fühlhörnchen, Später, als diese kleinen Waldgeisterchen auf einer benachbarten Wiese zu spielen und zu tanzen begannen, konnten sich die Zuschauer kaum satt sehen an dem liebenswürdigen Anblick dieser kleinen Elfen, die mit kindlichem Jauchzen sich haschten und durch das Gras tollten. Reizend war’s aber auch, als nach einiger Zeit die Rosenmädchen wieder in ihr Prunkschiff stiegen und mit dem gleichen Gesange wie bei der Ankunft langsam in den See hinaus steuerten. Und als sie mit ihren Tüchern und Fächern zum Abschied winkten, flogen, als wär’s verabredet gewesen, Tausende von Taschentüchern und Hüten grüßend in der Luft; schien es doch, als wollte das schöne Fahrzeug hinausgleiten in unendliche blaue Fernen, bis zu den Inseln der Seligen, beglänzt von den letzten Strahlen der Abendsonne.

Und als endlich der Sommertag ganz zur Neige gegangen war und eine laue Nacht sich über Wald und See hereinsenkte, da blitzte es allerwärts auf von bunt funkelnden Lichtern; Feuergarben schossen über den See und in lohender Pracht zeigte sich noch einmal, wie ein Phantom aus dem Dunkel auftauchend, die Felseninsel der Seegeister, um gleich einem sprühenden irrenden Gestirn wieder zu verschwinden. Tiefe Nacht verschlang das zauberische Bild, während unzählige Boote heimwärts eilten und oben unter Musikbegleitung die Gäste auf breiter Waldstraße zum Bahnhofe hinaufzogen.

Diese Tage reihen sich würdig dem Schönsten an, was die Münchener Künstlergenossenschaft während ihres fünfundzwanzigjährigen Bestandes schuf. Ist auch der Festjubel verbraust: die reinen und poesievollen Anregungen, die er nach allen Seiten hin gab, sie bleiben als holdes Vermächtniß bestehen. M. H.     


Der Sänger.

Roman von Karl v. Heigel.

 (4. Fortsetzung.)

Der Fürst stand im Rokokosaal mit dem Arzt im Gespräch. Durch die offene Thür sahen sie in eine Reihe erleuchteter Zimmer, aus dem letzten klang Klavier und Gesang.

„Der Aufenthalt an der See,“ sagte eben Doktor Walter, „hat leider nichts gebessert; doch steht es auch nicht schlimmer als vor der Reise.“

„Und jede Stunde kann unser Geheimniß verrathen. Wir wandeln immer an einem Abgrund.“

„Und warum wollen Hoheit nicht einer so grausamen Entdeckung zuvorkommen?“

„Wie meinen Sie das?“

Muß es Geheimniß bleiben? Ein Sprichwort sagt: ,am Geheimniß ist kein Segen.‘“

„Ich verstehe Sie jetzt. Ich soll der Welt, der schnöden Welt freiwillig unser Unglück, das Ansehen meiner Tochter, das Andenken ihrer Mutter preisgeben? Zu diesem Schritt fehlt mir der Muth – nichts mehr davon! – Aber das Konzert ist zu Ende, die Gesellschaft bricht auf. Was ich Sie fragen wollte: kennen Sie den Musiker, der auf Ernas Wunsch hierher kommt, genau?“

„Robert Lenz ist mein bester Freund; ein Ehrenmann, Hoheit, und wie ich von Sachverständigen gehört habe, in seinem Fache sehr tüchtig. Ich sehe in der Nähe der Prinzessin sehr viel lieber ihn als den Opernhelden Leisewitz.“

„Sie haben ein Vorurtheil gegen den Sänger. Die Prinzessin hält ihn hoch, und ihrem Urtheil in künstlerischen Dingen vertraue ich unbedingt. Ueber sein Privatleben hört man nichts Nachtheiliges. Freilich, er ist eitel, aber das sind sie alle.“

Damit wandte sich der Fürst von Walter ab und ging in das anstoßende Zimmer, der Gesellschaft entgegen. Erna kam auf ihn zu und ergriff seinen Arm. „Du hast sehr viel versäumt, Papa,“ sprach sie. „Leisewitz hat das Lied von Schumann wundervoll gesungen.“ Flüsternd setzte sie hinzu: „Bitte, sag’ es ihm jetzt, bevor Aschau fortgeht.“

„Warum bleibt Aschau nicht zum Thee?“

„Ach, seit er Intendant ist, ist er unausstehlich. Er behauptet, er müsse die Nächte hindurch Manuskripte lesen.“

Leisewitz, ein Notenheft in der Hand, trat zuletzt in den Saal.

„Sie haben uns wieder einen großen Genuß bereitet, lieber Leisewitz,“ redete der Fürst ihn an. „Wir stehen bei Ihnen in der Schuld.“ Der Sänger verneigte sich; jetzt kommt die Ueberraschung, dachte er. „Meine Tochter und ich wünschten längst, Ihnen einen Beweis unserer Dankbarkeit zu geben, der Ihrem Werth und Wesen entspricht. Ein Künstler wie Sie lächelt über die üblichen Auszeichnungen. Wir sannen hin und her; meine liebe Erna fand das Richtige. Sie hat mir von dem Erstlingswerk eines Musikers erzählt, von Ihrem herrlichen Vortrag einer Arie –“

„Von Tassos Lied, lieber Leisewitz!“ sagte Erna.

„Kurz, meine Tochter wünscht Ihnen Gelegenheit zu einer neuen künstlerischen That zu geben. Ihr Freund, Herr Robert Lenz trifft in diesen Tagen als unser Gast hier ein, und Excellenz von Aschau wird für eine in jeder Weise glänzende Aufführung der Oper ‚Tasso‘ Sorge tragen.“

Wieder verbeugte sich der Sänger, nicht aus Dankbarkeit, sondern um seine Verwirrung zu verbergen. In ohnmächtiger Wuth zerknitterte er das Liederheft. Er haßte in diesem Augenblick nicht diejenigen, welche ihm diese Enttäuschung bereiteten, sondern Robert Lenz. Etwas von diesem Haß funkelte in seinen Augen, als er sich wieder aufrichtete. „Sind Sie mit mir zufrieden?“ fragte hastig die Prinzessin.

„Ueberglücklich!“ erwiderte er mit gepreßter Stimme, „Wenn die Hoheiten keine Befehle mehr haben –“

„Wollen Sie uns schon verlassen?“

„Ich bitte um die gnädigste Erlaubniß.“ Er richtete die Augen auf die Prinzessin. „Wie der Zufall spielt – ich habe Besuch aus Wörde – Herrn Hagemann –“

„O, unsern Hauswirth!“ rief Erna und lachte fröhlich.

„Herrn Hagemann und seine Tochter, meine Braut.“

Eine neue Enttäuschung! Die Prinzessin rief, offenbar angenehm überrascht:

„Das schöne blonde Mädchen ist Ihre Braut? Und ich erfahre das erst heute?“

„Ich dachte nicht, daß ein so unbedeutendes Ereigniß wie meine Verlobung –“

„Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück! Ihre Braut und Herr Hagemann bleiben hoffentlich länger hier?“

„So lange, bis mir eine untertänigste Bitte von Seiner Hoheit dem Fürsten gewährt wird.“

„Eine Bitte, lieber Leisewitz?“ fragte dieser. „Die wäre?“

„Die unterthänigste Bitte um meine Entlassung. Herr Hagemann willigt in unsere Verbindung nur unter der Bedingung, daß ich der Bühne entsage und in Wörde lebe.“

„Leisewitz, Sie wollten –“ rief der Fürst.

„Mein Lebensglück hängt von der Großmuth Eurer Hoheit ab.“ Und jetzt war er befriedigt – die Prinzessin stand blaß, fassungslos.

„Sie verlassen uns?“ rief sie.

[527] „Es wird mir nicht leicht, indes –“ Er sah Thränen in den Angen Ernas schimmern – er hatte sie ins Hcrz getroffen! Das brach seinen Zorn. „Hoheit, ich bin zerknirscht, ich –“

Der Fürst fiel ihm ins Wort. „Dem Glück eines Menschen hinderlich zu sein, liegt mir ferne,“ sprach er kalt. „Ordnen Sie Ihre Angelegenheit mit Herrn von Aschau! Von meiner Seite steht Ihrer Entlassung nichts entgegen.“ Er sah auf Erna und erschrak über ihre Blässe, die Verzweiflung in ihren Mienen. „Nicht, als ob ich Ihren Entschluß nicht bedauerte,“ setzte er einlenkend hinzu. „Vielleicht ist er nicht unwiderruflich, vielleicht Herr Hagemann nicht unerbittlich. Wie gesagt, besprechen Sie die Sache mit Ihrem Chef! – Liebe Erna, Excellenz von Aschau will sich Dir empfehlen.“

Leisewitz ging wie betäubt aus dem Saal. Während er im Vorzimmer auf Aschau wartete, sammelte er sich. Das war der dümmste Streich seines Lebens – oder auch nicht. Er brütete vor sich hin. Hatte er nicht jetzt den deutlichen Beweis dafür, daß das Herz der Prinzessin – ihre Blässe, ihre Thränen – konnten sie etwas anderes bedeuten?

Als er mit Aschau im Wagen saß, begann dieser: „Ich sage wie Heines Kapitän: ,Doktor, sind Sie des Teufels?‘ Ich soll mit Ihnen die Angelegenheit ordnen; was heißt das? Wenn der Fürst Sie entläßt, wie kann ich Sie halten! Und wo find’ ich sofort Ersatz? Leisewitz, das war nicht schön von Ihnen! Meine Nerve sind für solche Sturzbäder nicht mehr stark genug.“

„Haben Excellenz mich auf diese Ueberraschung mit der tollen Oper des Kapellmeisters vorbereitet? Nach Ihren Andeutungen durfte ich anderes erwarten.“

„Die Prinzessin hat mich ja selbst erst kurz vor Ihrer Ankunft eingeweiht. Das ist noch der einzige Trost in meiner schrecklichen Lage, daß mir die Oper erlassen bleibt. Tasso! Alte Hofgeschichten! Das liest sich in Goetheschen Versen ja recht schön, liest sich! Aber als Oper! Wie soll ich das Stück ausstatten? Weder Turnier noch Tarantella, kein Sturm, kein feuerspeiender Berg oder dergleichen! Dieser Robert Lenz – wie Herr Walter mein Studiengenosse – war als Schüler herzlich unbedeutend, nun wird er plötzlich zum Genie gestempelt. Das haben Sie auf dem Gewissen! Wenn Sie das Lied nicht so verrückt schön gesungen hätten, würde dieser Lenz nie zur Blüthe gekommen sein!“

„Die Oper sei gut oder schlecht, ich will nicht darin singen. Und da ich der Prinzessin das nicht sagen konnte, blieb mir kein anderer Ausweg –“

Aschau beugte sich vor, um dem Sänger ins Gesicht zu sehen. „Deshalb, deshalb! Ihr Künstler bleibt mir ewige Räthsel. So viel Talent und so wenig Lebensklugheit! Ich bitte Sie, wenn wir zwei einig sind, kann der Mann auf die Aufführung warten bis zum jüngsten Tag!“

„Und die Prinzessin, der Fürst?“

„Ja, glauben Sie, daß unsere Herrschaften ihr Herz an eine Komödie hängen? In acht oder vierzehn Tagen denken sie nicht mehr an ,Tasso‘, und wenn Sie vier Wochen lang nicht singen, auch nicht mehr an Sie! Das Gute für Sie bei der Sache ist: man hat Ihre Verlobung nicht ungnädig aufgenommen. Morgen beim Vortrag werde ich ja sehen, ob nicht jetzt der Fürst auf Ihrem Abschied besteht.“

„Ich komme nicht in Verlegenheit. Für eine zweite Kunstreise in den Vereinigten Staaten sind mir außer freier Reise – und ich reise wie ein Fürst – hunberttausend Mark zugesichert.“

„Und was sagt Papa Hagemann zu dieser Hochzeitsreise?“

„Da sein ältester Sohn in Chicago lebt –“

Aschau wurde ärgerlich. „Also, Sie wollen fort.“

„Ich bleibe, wenn ich nicht den Tasso singen muß.“

„Lasseil Sie doch die Toten ruhen, oder richtiger – lassen Sie mich für das Begräbniß sorgen! Wegen Herrn Walters Schützling wollen wir uns nicht entzweien ... wo verbringen Hagemann und Ihre Braut den Abend?“

„In ihrem Daheim, Schillerplatz Nummer sieben. Sie werden mich kaum mehr erwarten. Dennoch –“

Aschau zog an der Schnur und sagte dem Bedienten, der den Kutschenschlag öffnete: „Schillerplatz Nummer sieben!“

Dort erfuhr Leisewitz vom Zimmermädchen, daß sich die Herrschaften bereits zurückgezogen hätten. Der alte Herr gehe früh zu Bett, das Fräulein sei bis vor einer halben Stunde allein im Lesezimmer gesessen ...

„Sagen Sie morgen früh, daß ich dagewesen bin! Sie kennen mich doch?“

„Aber,“ erwiderte die Donna mit verschämtem Lächeln, „wer wird Herrn Leisewitz nicht kennen!“

„Also vergessen Sie nicht, morgen früh!“

Der Schillerplatz strahlte in elektrischem Licht; Droschken kamen an und fuhren ab. Dazwischen wimmelten die Fußgänger. Alle Durstigen der Stadt schienen sich hier ein Stelldichein zu geben, denn in den vielen Bier- und Weinstuben hätte kein Apfel zur Erde fallen können. Der Lärm in den Schenken und auf dem Platz war groß. In der Pilsener Bierhalle war Blechmusik, beim Müncher-Bräuwastel hielten Studenten, die ersten Winterschwalben, ihre Antrittskneipe:

„Brüder, zu den festlichen Gelagen
Hat ein guter Gott uns hier vereint!“

klang es herüber. Der Artushof war eine aufgezogene Spieldose mit geschlossenem Deckel. Man hörte aus dem Innern Walzerweisen, jetzt Brummbaß und Geigen, dann Paukenwirbel und Trompeten – alles aber gedämpft, heimlich. Im großen Saal war Ball.

„Die arme Emma!“ sagte sich Leisewitz, als er in das Freie trat, „sie wird nicht schlafen können. Ich habe an den Nachtlärm nicht gedacht. Aber die Wohnung liegt so bequem – nur fünfzig Schritte, und ich bin daheim.“


8.0 Rückgang.

Die Gesellschaft in Solitude hatte sich längst zerstreut; Erna war mit der Gräfin Casasola allein. Im Kamin brannte ein Feuer; der Flammenschein und das ruhige Licht aus dem anstoßenden Schlafgemach leuchteten ihnen allein. Die beiden waren Freundinnen, sobald sie sich unter vier Augen befanden.

„Seine Verlobung ist Dir also gleichgültig, Erna?“

„Nicht gleichgültig, mich freut es, daß jenes liebe Mädchen, das meine ganze Zuneigung besitzt, aus der Enge herauskommt und eine gute Partie macht.“

„Aber dann bist Du mir noch wunberbarer: Du schwärmst für die Braut und bist unglücklich, weil sie uns den Bräutigam entführt!“

„Ja, unglücklich! Ihn singen hören war meine einzige, meine letzte Freude.“

„Uebertreibst Du nicht seinen Werth? Niemand ist unersetzlich. Das gilt wohl auch von Tenoristen!“

„Nicht zweimal spielt der Zufall so wunderbar!“

Die Gräfin nahm die Hand der Freundin „Ach, Erna, Erna! Nicht wegen seiner Geburt, seines Standes – in meinem Vaterland denkt man milder darüber – nicht deshalb mißgönn’ ich ihm den Sieg –“

„Welchen Sieg?“

„Ja, glaubst Du denn, Deine Thränen heute hätten dem eitlen Manne nicht alles verrathen?“

„Was verrathen?“ fragte Erna erstaunt, dann schlug sie ein helles Gelächter auf. „Du hältst mich doch nicht für verliebt in Herrn Leisewitz?“

„Erna – ich weiß nicht, was ich sagen soll – aber man weint doch nicht um den Verlust eines Sängers, sondern höchstens um den eines – Freundes!“

Erna blickte mit schwärmerischer Miene in die Flammen. „Ich schon, ich schon,“ sagte sie in singendem Ton. „Ja, das war bisher mein einziges Geheimniß vor Dir, mein süßes Geheimniß. Ich glaube, jeder hat einen Wunsch oder eine Erinnerung, die er vor der Welt verbirgt – auch Du! Warum entziehst Du mir so hastig Deine Hand? Verrathe mir nichts! O, ich kenne die Seligkeit, ganz allein mit seinem Traum zu sein! Höre mich an, und dann, und dann, meine Livia, hilf mir ihn fesseln!“

Sie blickte von den Flammen auf die Freundin, die vom Widerschein des Feuers, vor Neugier und im Bewußtsein des eigenen Geheimnisses glühte.

„Hast Du Eueren Wintersitz am Gardasee noch im Gedächtniß? Euer Wohnhaus hatte einen zweiten Eingang von der stillen Straße her. Man trat durch einen Mauerbogen auf einen Vorplatz, auf dem eine Platane stand, und wandte sich dann links in das Haus. Eine alterthümliche Steintreppe, mit Aloën besetzt – [528] erinnerst Du Dich? – führte im Zickzack in den Garten hinab, wo nahe dem See das zweite, prächtigere Haus, meiner armen Mutter letzter Wohnsitz, stand. Das Gitterthor vor jener Treppe blieb immer verschlossen – Du weißt, warum! Zur Rechten vom Eingang lag eine Art Laube, ein altes Gemäuer, von Epheu überwuchert, mit einer Bank hüben und drüben. Inmitten schaute der Himmel durchs morsche Dach herein; ein Brunnen plätscherte dem Eingang gegenüber. Man konnte sich in einem Kloster denken. Von der einen Bank sah man auf die Wipfel des Gartens, von der andern ein Stück von der Straße und die jenseitige Mauer und drüber Hügel über Hügel, zu höchst eine schroffe Bergwand.“

„Nach Deiner genauen Beschreibung mußt Du oft dort gewesen sein. O, Dio! Dio!“ rief Livia und rang die Hände, „früher saßen die Armen meiner Mutter dort und warteten auf die Suppe und das Glas Wein, das man ihnen reichte!“

„Früher,“ sagte die Prinzessin bitter, „früher saßen die Armen dort und dann ich, die allerärmste. Ja, es war mein Platz. Wenn mich über den häßlichen Auftritten im Hause, über der Angst vor dem Schrecklichsten die Verzweiflung packte, lief ich durch Euer Haus die Treppe hinauf und verbarg mich vor den Meinigen in der verlassenen, gemiedenen Ecke. Einmal floh ich wieder hin; ich stahl mich über den Flur, an Euren Thüren vorbei, und hörte Dich und Deine Geschwister. Ihr waret so fröhlich, denn es war der Tag der Santa Lucia, Euer Christfest. Die Luft war sommerlich mild, die Welt so heiter. Ich aber duckte mich in meine Ecke und weinte bitterlich. Da ergriff jemand meine Hände, zog sie mir sachte vom Gesicht und sagte – in Eurer Sprache: ‚Warum weinen Sie, liebe Kleine? Hat Sie Papa ausgezankt oder haben Sie eine schlechte Schulnote bekommen oder ist Ihre Lieblingspuppe heiser?‘“

„So unverschämt kann nur ein Mann sein.“

„Ach, wir Menschen! So gewiß ich Grund hatte, unglücklich zu sein, so gewiß ich unglücklich war, so gewiß empfand ich in jenem Augenblick nur noch die Kränkung, für ein Kind gehalten zu werden. Ich richtete mich kerzengerade auf, doch der Unbekannte überragte mich hoch. Stelle Dir Leisewitz älter vor, mit – ja, mit mehr Geist auf der Stirn und in den Augen! Der Zorn giebt uns immer das Lächerlichste ein. ‚Ich bin nicht Ihre liebe Kleine,‘ sagte ich, ‚ich bin Prinzessin Erna.‘ Und da – ja, es war ungewöhnlich, übertrieben, doch von ihm geschah’s mit solcher Anmuth, daß es natürlich schien – er ließ sich auf ein Knie nieder, und indem er meine Hand an seine Brust führte, sprach er: ‚Nicht weil Sie Prinzessin, sondern weil Sie unglücklich sind, bitte ich Sie, mir zu perzeihen.‘ ‚Und wer sind Sie?‘ fragte ich von oben herab. Da war er leicht wie eine Feder aufgesprungen und erwiderte mit einem Lächeln, das mich ebenso wie seine Rührung bewegte: ‚Ich bin nur zeitweilig Prinz. Noch einmal, vergeben Sie mir, und ich will Sie nicht länger stören!‘ Ich fühlte mich beim innigen Klang seiner Stimme erleichtert und bedauerte es schmerzlich, als er dann ging. Er grüßte noch einmal – wie Leisewitz, ein wenig zu schwungvoll – und dann war er verschwunden.“

„‚Bisweilen Prinz.‘ – sicherlich war er ein fahrender Künstler.“

„Mag sein, jedenfalls ein Mann mit warmem Herzen, ohne Falsch. – O, ich erinnere mich an jenen Tag besser als an das Gestern. Ihr fuhret nachher in große Gesellschaft; meine arme Mutter schlief; in unserem Hause, im Garten war es totenstill. Ich saß in meinem Zimmer am Kaminfeuer, dann sah ich vom Fenster aus in die sinkende Nacht. In einem Dorfe läuteten die Glocken; der Dampfer mit rothen Lichtern glitt über den schwarzen See – die Einsamkeit legte sich über die Welt. Da stieg der Mond über den jenseitigen Höhen auf, groß, eine tote Sonne, und der See begann zu athmen, zu leuchten. Ein Boot fuhr in die glitzernde Bahn. Ein Fischer oder Träumer stand aufrecht darin und bewegte sacht die Ruder. Ich glaubte – ich dachte –“

„Nun kommt der Unbekannte als Prinz – natürlich als Märchenprinz im Sammetwams, mit einem Federhut.“

„Ich öffnete das Fenster. Der Ruderer wandte das Boot und verschwand hinter den Bäumen des Gartens. Und dann ertönte Gesang – o, Livia, das war die Stimme des Unbekannten, die mir den Abend lang im Ohr geklungen hatte, aber jetzt im Gesang! Die ganze Welt mit Leid und Lust war in dieser Stimme. Er sang – was galten mir die Worte? – er sang mir meine verlorene Jugend!“

Livia drückte die Freundin an sich. Nach einer Pause sagte sie: „Ich kann Dir nicht ganz nachempfinden, aber ich kann mit Dir fühlen. Nur in einem Punkt gieb mir recht: es mußte nicht gerade Leisewitz kommen, um Dich an jene Zeit zu erinnern. Es sind seitdem – einige Jahre vergangen, und diese Brüder in Apoll sehen sich alle mehr oder minder ähnlich!“

Da zuckte Erna wie ein Blitz empor. „Glaubst Du, weil ich eine Deutsche bin, hätte ich kein Ohr für Stimme, Vortrag, Kunst? Es giebt auf der Welt nur zwei solche Stimmen, heute vielleicht nur noch eine! Aber Du bist ebenso kalt wie die anderen! O, hätte ich geschwiegen! – Geh’, verlaß mich! – Marie! Marie!“ Eine Kammerfrau erschien mit verschlafenem Gesicht in der Thür. „Begleiten Sie die Gräfin nach ihrem Zimmer!“

Gräfin Casasola kannte ihre Herrin. Sie machte einen tiefen Knicks. „Hoheit, gute Nacht!“ Da lag ihr die Freundin am Halse. „Sei gut, Livia! Ich will ihn ja nur hören, will nur den Trost, das Leid vergessen, das mir einzig diese Stimme gewährt – giebt es einen bescheidneren Wunsch, ein unschuldigeres Glück? Was sollen wir thun, daß er bleibt? Wenn wir mit seiner Braut redeten –“

„Das geht nicht an.“

„Was sollen wir also thun?“

Livia zog einen rothen Shawl über den Kopf und schwang die Enden über die Schultern. „Beruhige Dich, liebe Erna!“ sprach sie, „wir werden ihn halten. Er ist sehr eitel, und eitle Menschen sind so leicht glücklich zu machen!“ – –

Eitel war Siegfried Leisewitz – dieser Wahrheit konnte sich sogar seine Braut nicht ganz verschließen, als sie mit ihrem Vater am folgenden Tag den Verlobten in seinem Daheim besuchte. „In Wörde würde das nicht angehen,“ meinte Hagemann, „aber hier und in meiner Begleitung – ich bin wirklich neugierig.“ Und wie neugierig war erst Emma! Sie erwartete eine Art Museum, Kunstschätze, gesammelt in all den Ländern, die der große Mann bereist hatte, Gruppen von Palmen, eine vielleicht verschwenderische, doch gediegene Pracht. Was sie fand, war ein Leisewitz-Museum. Die Möbel hatten wahrscheinlich mehr Geld gekostet als diejenigen in ihrer Gastwohnung, doch sie waren im gleichen Geschmack. Unwillkürlich dachte Emma an den Ladengehilfen, der in Wörde die Schaufenster mit den Fruchtkaffeedüten schmückte – so ungefähr würde auch der die Zimmer eingerichtet, die Möbel gestellt haben. Ein Steinwayflügel und ein altpersischer Teppich im Arbeitszimmer – beides Geschenke – waren allerdings sehr kostbar. An allen Wänden hingen vertrocknete Lorbeerkränze mit ellenlangen Atlasbändern, photographische Bildnisse in allen Größen, Bildnisse in Oel- und Wasserfarben, gute und schlechte: Leisewitz in allerlei Operntrachten, Leisewitz mit und ohne Schnurrbart, Leisewitz im Frack mit allen seinen Orden und Leisewitz im Schlafrock. Im Speisezimmer stand an der einen Schmalseite seine Marmorbüste, an der anderen seine überlebensgroße Büste in Gips, beide mit olympischem Gelock, das Peppi Purzel niemals ohne Lächeln betrachtete; an den Langseiten waren auf Sockeln und unter Glasstürzen alberne Lorbeerkränze, Becher und ähnliche Ehrengeschenke aufgestellt.

Gegen den frischen Blumenschmuck der Tafel stach das welke Zeug an den Wänden, das an einen Kirchhof erinnerte, häßlich ab.

Beim Begrüßungsmahl entfaltete Leisewitz großen Aufwand. Er sagte sich, daß dem Schwiegervater seine Sparsamkeit gefalle, aber eine Ausnahme zu seinen Ehren schmeicheln werde. Purzel war heute nur Handlanger; die beiden gemietheten Aufwärter sahen wie Engländer aus und sprachen französisch. Der dritte Kellner, der als Haushofmeister mit steifer Würde neben dem Anrichttisch stand, sprach überhaupt nicht; er lenkte den Gang der Ereignisse mit seinem Mienenspiel, mit einem Wink seiner Augen, einem Zucken der Brauen. Da er eine schwere goldene Kette um den Hals trug, hielt ihn Hagemann anfangs für einen eingeladenen Rathsherrn, später, als ihm die Erscheinungen im Raume nebelhaft verschwammen, für den Geist Segebergs. Herr von Aschau war der dritte Gast, für Emma ebenso unwillkommen wie unverhofft. Ihr Vater fühlte sich durch die Anwesenheit eines alten Bekannten, der inzwischen einen so schönen und mundgerechten Titel gewonnen hatte, angenehm gekitzelt; das Leisewitz-Museum fand seinen Beifall, das Mahl entzückte ihn. Vom feurigen Estremadura nach der Suppe

[529]

Nach einem Gemälde von F. Armin.

Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten rothen Astern trag herbei,
Und laß uns wieder von der Liebe reden
Wie einst im Mai! 
  Hermann v. Gilm.

[530] bis zum duftigen Schiras beim Nachtisch waren ihm alle Weinmarken unbekannt; es gab Gerichte, deren Namen er nie gehört hatte, Eßwerkzeuge, womit er nicht umzugehen wußte. Wie Leisewitz vorhergesehen hatte, wurde der wackere Pommer dadurch nicht in Verlegenheit gesetzt, sondern höchlich unterhalten. „Wenn Du täglich solche Tafel hieltest,“ sprach er, „würde ich Dir meine Emma nicht geben, denn dazu reicht Dein und mein Geld nicht aus.“

„Bewahre, 1ch esse jahrein jahraus an der Wirthstafel im ‚Berliner Hof‘. Nur bei außerordentlichen Gelegenheiten geht es aus der heutigen Tonart. Sonst wär’ es bald vorbei mit meiner Stimme. Ach, Ihr habt von den Opfern, von der Arbeit, die mich mein Ruhm kostet, keine Ahnung! Jeder verlorene Tag rächt sich. Eiserner Fleiß, weise Vorsicht, üben, lernen, die großen Meister studieren, den kleinen unter die Arme greifen –“

„Ja, ja - dem Robert Lenz und so weiter.“

Emma, von dem hämischen Ton dieser Worte Aschaus betroffen, wandte sich an ihren Verlobten: „Du hältst doch unseren Freund für ein großes Talent?“

Der Sänger wiegte den Kopf „Mit hundert anderen verglichen, ja; mit Richard Wagner verglichen, nein.“

„Mein liebes Fräulein,“ sagte Aschau mit der Miene eines unfehlbaren Kunstrichters, „da ich der Studiengenosse des Herrn Lenz gewesen bin, kann ich die Tragweite seiner Kraft besser als Leisewitz beurtheilen. Es geht ihm zu schwer von der Hand. Seine Arbeiten riechen nach der Lampe.“

„Hat er denn schon als Student komponiert?“

„Halt!“ rief der Sänger. „Weil wir soeben von Richard Wagner sprachen, will ich Euch den Brief zeigen, den mir Verdi geschrieben hat.“

„So kann es einem ergehen,“ sagte der Intendant, als Leisewitz das Zimmer verlassen hatte, „ich muß froh sein, wenn mir Verdi auf meine Briefe antwortet; an Leisewitz schreibt er aus freien Stücken. Ihr Bräutigam ist ein weltberühmter Mann, liebes Fräulein, halten Sie ihn fest! Sie haben Neiderinnen in den höchsten Kreisen.“

„Ich fürchte nichts, Excellenz – Siegfried und ich lieben einander, das ist die beste Bürgschaft.“

Ihre Zuversicht giebt mir Muth. Erinnern Sie sich der russischen Fürstin im ‚Deutschen Kaiser‘ zu Wörde? Sie hält sich gegenwärtig hier auf. Nun erwartet sie heute zum Fünfuhr-Thee hohe Persönlichkeiten aus Petersburg, und da beauftragte sie mich – ach, Sie werden mir zürnen! – kurz, wenn Sie Leisewitz erlaubten, sagen wir, um Sechs erlaubten, in die erlauchte Gesellschaft zu gehen und ein Liedchen oder zwei zu singen, würden Sie die Fürstin und mich zu ewiger Dankbarkeit verpflichten. Natürlich wird morgen die Juwelensammlung unseres Freundes um ein schönes Stück reicher werden.“

„Das hängt ja einzig von meinem Bräutigam ab,“ erwiderte Emma kleinlaut, „Wenn er uns verlassen will –“

„Verlassen! Das Wort ist zu hart, Der Wagen der Fürstin holt ihn um sechs Uhr ab und bringt ihn nach einem Stündchen zurück.“

„Gestern schon war es ebenso – doch wenn Siegfried wünscht –“

„Wie wird er nicht!“ sagte Hagemann. „Für ein Liedchen eine diamantene Busennadel! Warum bin ich nicht Sänger geworden!“

„Nun ja, wenn Du glaubst, daß Siegfried selbst damit einverstanden ist –“

„Bewilligt, bewilligt!“ rief Aschau dem Zurückkehrenden zu. „Ihre liebenswürdige Braut giebt Ihnen Urlaub.“

Leisewitz zuckte die Schulter. „Ein Schwager der Fürstin, Marchese Ruspolli in Rom, war mir allerdings dort sehr gefällig, dennoch – wenn ich gehe, gehe ich nur Excellenz zulieb.“ Er nahm Platz. „Dieser Marchese Ruspolli – kennen ihn Excellenz?“

„Ich? Nein! Aber vergessen Sie nicht den Brief!“

„Richtig, der Brief – da ist er!“

Das schmeichelhafte Schreiben des großen Tondichters machte unter diesen Umständen nur geringen Eindruck auf Emma; sie ließ den Kopf hängen. Endlich faßte sie sich. „Wir besuchen morgen vormittag die Gemäldesammlung, Siegfried,“ begann sie.

„Schade, daß ich da Probe habe. Uebrigens würde Euch meine Begleitung wenig nützen. Die alten Bilder lassen mich kalt. Es ist soviel Wahn dabei! Wir versinken vor einem Raphael in halbstündige Andacht, und ein Jahr darauf erweist sich der angebliche Raphael als grobe Fälschung! Aber nun muß ich Euch doch vom Marchese Ruspolli erzählen! Ich war ihm, ich weiß nicht mehr von wem, empfohlen worden. Er ist ungeheuer reich und nebenbei berühmter Kunstkenner. Mit ihm besuchte ich die verschiedenen Kirchen und Paläste und – und – kurz, ich sah alles. Es war keine leichte Arbeit. Doch schließlich wurde ich von seiner Begeisterung angesteckt. Die Größe Roms ging mir auf. Eines Tages fuhren wir in zahlreicher Gesellschaft nach Tivoli. Nachdem wir des Wassers genug gesehen hatten, tafelten wir im Freiem im Schatten eines heidnischen Tempelchens, und als der Abend nahte, gab ich den Bitten nach und sang, Weltliches und Kirchliches von alten und neuen Meistern bunt durcheinander: zuletzt vor einem großen Publikum, denn alle Umwohner waren herzugeströmt – meist Bauernvolk, aber von einer Andacht, einem Verständniß – nach jedem Stück lohnte mir ein Entzücken, ein Jubel – dem alten Tempelgötzen ist schwerlich jemals so gehuldigt worden! Und dann die Abfahrt – das Volk um meinen blumenbekränzten Wagen – ah! ah! Ich hielt jenen Abend für den höchsten Triumph meines Lebens, bis ich in Wörde –“ Leisewitz sprang auf und schwang sein Glas. „Gebenedeit sei das Lied, mit dem ich mir meine Braut gewann!“ Und er begann:

„O wie sehn’ ich mich nach Süden,
Nach der Sonne Gnadenfülle – –“

Er sang das Lied zu Ende, und wer konnte ihm böse bleiben, wenn er sang! -

Leisewitz stellte die Versöhnte auf eine harte Probe. Um sechs Uhr waren Vater und Tochter in die Gastwohnung zurückgekehrt, aber aus dem von Aschau verheißenen Wartestündchen wurden Stunden. Schwarzer Kaffee und düstere Nachrichten hatten Hagemann ernüchtert. Auf dem kurzen Heimweg waren sie vom Geschrei, mit dem die Abendblätter ausgeboten wurden, erschreckt worden: „Krieg in Sicht – Marschbereitschaft – letzter Vorschlag“ und ähnliche Schlagworte hatten das Paar umschwirrt. Daheim las Emma die neuesten Berichte über die Händel und Verhandlungen der Mächte vor; sie las noch, als tiefe Glockentöne zu summen begannen. Sie zwangen Emma zu schweigen und verschlangen sogar das Straßengetöse; so groß und volkreich die Stadt war, wenigstens sekundenlang verstummte sie vor dieser ehernen Stimme. Es war nur eine Glocke, doch mit schönem mächtigen Ton. „Nun,“ sagte Hagemann zu seiner Tochter, die durch das Geläute geängstigt wurde, „da ist nichts zu erschrecken. Wir sind eben in einer katholischen Stadt.“ Allein in demselben Augenblick trat die Hauswirthin aufgeregt herein. Ob sie die Stadtglocke gehört hätten, die alte gewaltige Glocke im Rathhausthurm, die nur bei ungewöhnlichen Ereignissen und zu außerordentlichen Rathssitzungen geläutet werde – dos sei gewiß der Krieg!

Fritz Hagemann erschrak. „Wir reisen morgen nach Hause,“ sagte er, sobald sie wieder allein waren.

Emma entfärbte sich. „Aber Vater!“

„In solcher Zeit muß jeder Bürger auf seinem Posten sein.“ Er war in Gedanken schon bei Segeberg.

Das Vorgefühl der jähen Trennung machte Emma beredt, sie suchte dem Vater mit aller Spitzfindigkeit zu beweisen, daß alles übertrieben sei – das freche Geschrei der Zeitungsverkäufer habe die Gefahr vergrößert, die Gemüther verwirrt. Sie redeten hin und her, und dabei dachte Emma unablässig: kommt er noch nicht? O, wenn er doch käme!

Endlich trat der Ersehnte ein, mit strahlenden Augen, fröhlich, als ob die Welt kein Kriegslager, sondern ein Festsaal wäre. Vater und Tochter sprachen aufgeregt zugleich auf ihn ein, er dagegen rief mit Gelächter dazwischen: „Marschbereitschaft, Kriegserklärung – ha, ha, ha! Unsinn! Der russische Gesandte hat mich aufs bestimmteste versichert, daß seit vierundzwanzig Stunden ein anderer Wind weht. Er erwartet mit Sicherheit die friedliche Lösung aller Wirren. Ihr wollt abreisen? Ganz verfrüht! Sollte es aber trotzdem zum Kriege kommen, so würde ich mit Euch gehen. Emma und ich lassen uns dann in Wörde trauen und retten uns vor dem Kriege nach Amerika. Der Vertrag über meine Kunstreise durch die Vereinigten Staaten liegt in meinem Pult. Ich brauche ihn nur zu unterzeichnen.“

[531] „Fahnenflüchtig?“ sagte Hagemann unwillig, „Im Unglück verläßt man sein Vaterland nicht!“

„Ich bin kein Soldat, auch nicht im geringsten für den Krieg verantwortlich – warum soll ich dafür leiden? Ich weiß, was Du mir entgegnen willst, lieber Papa Hagemann, aber gieb Dir keine Mühe! Wahn, alles Wahn! Streiten wir nicht um des Kaisers Bart! Es giebt keinen Krieg – ja doch, übermorgen den ‚Sängerkrieg auf der Wartburg‘!“

„Auf den freue ich mich,“ sagte Hagemann. „Doch was meinst Du mit dem Wahn?“

Emma trat ängstlich dazwischen. „Aber Vater, wir wollen uns wirklich nicht um Worte streiten und froh sein, daß der Krieg vermieden wird. Ende gut, alles gut! O Siegfried, Siegfried, der Abend begann so traurig – und nun! Du mußt uns alles genau erzählen.“

„Es ging sehr vornehm her,“ versetzte Leisewitz. „Auch die Hofdame unserer Prinzessin, die Italienerin war dort – sie hat sich nach Dir erkundigt. Alle waren sehr liebenswürdig gegen mich.“ Ein Seufzer entschlüpfte ihm. „Ach ja, jene Welt hat ihren Zauber!“ –

Am folgenden Tage wurden die Mittheilungen des Gesandten durch die Zeitungsnachrichten bestätigt. Es hatte den Anschein, als ob alle die Wolken, die Europa bedrohten, „in des Weltmeers tiefen Schoß“ begraben werden sollten. Hagemann dachte nicht mehr daran, die Stadt zu verlassen, deren Bevölkerung sich unter dem Eindruck der Friedensbotschaft von der besten Seite zeigte. Emma mußte den größten Theil des Tages ohne Siegfrieds Gesellschaft verbringen; sie sehnte sich nach ihm, und doch, wenn er gegenwärtig war, fühlte sie sich auch nicht glücklich. Ihr Bräutigam war hier in der Residenz ein anderer als in Wörde. Hier nahmen außer der Liebe hundert Angelegenheiten und Rücksichten sein Herz und seinen Kopf in Anspruch; es wurde ihr schwer, seinen Gedankensprüngen zu folgen, den Wechsel seiner Stimmungen zu begreifen. Jetzt schwärmte er vom Glück am häuslichen Herd, in der nächsten Minute plante er eine Kunstreise um die Welt. Er legte Werth auf den Gruß der Kleinen und Großen; er spielte eine Rolle, wenn er sich von Fremden beobachtet sah. Als einmal Hagemann von seinen Kunden sprach, da klopfte ihm Siegfried gönnerhaft auf die Schulter: „Laß nur gut sein, Alterchen; wenn ich erst Dein Schwiegersohn bin, werde ich Dein Reisender, und ganz Deutschland trinkt nur noch Hagedorn-Fruchtkaffee.“ Das war ein Scherz, aber Emma ward dadurch verstimmt. Und doch – er ist eben ein Künstler, dachte sie dann wieder, wenn sie in Nummer sieben unter den Klängen irgend einer aus der Nachbarschaft herübertönenden Militärmusik zur Ruhe ging; er hat mehr Saiten als ein gewöhnliches Menschenkind, und die Unrast der Großstadt fährt darüber her und entlockt ihnen auch falsche Töne. Aber sein Herz ist gut, und sein Herz ist mein.

Auf Hagemanns Wunsch, der auch der heimliche seiner Tochter war, wohnten sie der Aufführung des „Tannhäuser“ auf der Bühne bei. Purzel führte sie treppauf, treppab, durch lange Gänge, dann durch das Gewühl von reisigem Volk und Tänzerinnen bis an ihren Platz, eine Nische zwischen dem Rahmen des Vorhangs und der ersten Bühnenwand. Sie sahen einen großen Theil der Bühne, sahen in die jenseitigen Schiebewänbe und über sich in den schwindelnd hohen Hängeboden. Leute im Straßen- oder Arbeitskleid waren zahlreich genug auf der Bühne, um jede Täuschung zu verhindern. Eine weiße Gestalt mit aufgelösten Haaren saß auf einem rosenumrankten Pfühl und unterhielt sich mit Excellenz von Aschau. Es war die Venus! Uebrigens war sie wie eine Vestalin gekleidet, auch hielt sie keinen Taumelbecher in der Hand, sondern eine Papierdüte, wahrscheinlich mit Malzbonbons. Schon war mancher Minnesänger neugierig an unserem Paar vorbeigestrichen, der eine und andere mit feierlichem Gruß, einer aber war besonders keck, ein blasser Mann mit langen blonden Locken und blondem Vollbart; er trat dicht heran, verschränkte die Arme und maß das Fräulein unheimlich mit seinen schwarzumränderten Augen. „Was ist das!“ sprach er endlich, „meine Emma kennt mich nicht?“

„Siegfried!“ rief sie.

Da klatschte jemand in die Hände – husch, husch! Wer nicht in den Hörselberg gehörte, drückte sich beiseite. Die Tänzerinnen bildeten im Handumdrehen eine wohlgeordnete Gruppe. „Auf Wiedersehen!“ rief Siegfried. Ein blendendes Licht fiel aus der Höhe und Emma sah, wie sich Tannhäuser der holden Unholdin Venus zu Füßen legte. Draußen in der Tiefe spielten sie die Ouvertüre, allein Emma vernahm das Pochen ihres Herzens deutlicher als die Musik. Dann rauschte es in ihrer Nähe, ein Lufthauch strich über ihr Gesicht - der Vorhang ging auf.

Die ganze Vorstellung war für Emma mehr Pein als Genuß. Sicherlich sang Leisewitz so schön wie immer, aber er sang nicht für die kleine Nische, sondern für das große Haus. Und das blonde Haar und der wirre Bart! Und vor allem die bösen Choristen! Oft sah sie minutenlang nur Mäntel und Mützen und Federn. Als der Vorhang fiel, hörte Emma ein Summen und Klatschen im Hause; ihrem ungeschulten Ohr klang der Beifall schwach, und sie fühlte sich gekränkt. Sie wurde in ihrem Wahn bestärkt, als ihr Bräutigam in übler Laune zu ihnen trat. „Das Publikum ist durch den Zeitungstratsch rein des Teufels, eine Unruhe und Unaufmerksamkeit im Hause – hol’ sie der Kuckuck! Und was sagt Ihr zu dieser Venus? Sie thut, als ob sie von Glas wäre. Und mit solch einer Drehorgel muß man sich in den Beifall theilen! Das Haus ist ausverkauft. Unsere Prinzessin ist auch da, mit dem Kronprinzen von K. Ich würde Euch gerne Gesellschaft leisten, aber mein Giuseppe wartet auf mich mit dem Brenneisen. Adieu, adieu!“ Und er verschwand im Gewühl des Seitenganges.

Auf der Bühne war ein Hin und Her, ein Hämmern und Poltern, und von oben klangen scheltende Stimmen. Ach, und die Unterhaltungen in ihrer Nähe! „Noch immer im ‚Artushof‘?“ fragte der Landgraf den edlen Wolfram von Eschenbach. „Was wollt Ihr!“ erwiderte der. „Das Bier dort bekommt mir, und das Beefsteak ist eminent!“ Und dann nahm er eine Prise. Als der Vorhang zum letzten Mal gefallen war, sagte sich Emma: nie mehr, nie mehr! Siegfried, den Kragen seines Pilgermantels übergestülpt, eilte heran. „Es zieht jetzt fürchterlich - Purzel führt Euch hinunter, schickt ihn gleich wieder zurück! Auf Wiedersehen in Nummer sieben!“ Fort war er.

Im Freien sagte Hagemann: „Die Oper selbst hört sich auf einem Sperrsitz jedenfalls besser an aber putzig war es!“ Emma sagte nichts.

Im Flur von Nummer sieben stand ein Herr und grüßte. „Alle Hagel!“ rief Hagemann, „Robert Lenz! Das ist nett von Ihnen!“ Auch Emma freute sich; ein guter Mensch war ihr niemals so willkommen gewesen wie heute. Er war vor zwei Stunden angelangt, hatte seinen Freund Walter in Solitude begrüßt und dort die Wohnung Hagemanns erfragt. „Und Segeberg? Und die anderen ‚Sonnenbrüder‘?“ rief Hagemann.

„Heute, nach der neuesten Friedensbotschaft, werden sie wohl munter sein.“

„Und Ihre Oper?“ fragte Emma.

Ein Schatten flog über die Stirn Roberts. „Ich ging auf die Einladung der Prinzessin von Wörde fort, aber auch, um für den Kriegsfall – doch das war nun, Gott sei Dank, überflüssig.“

„Aber bei der Oper bleibt’s?“

„Ja; das heißt, Walter meint, alles hänge von Leisewitz und Aschau ab. Nun, Leisewitz ist mein Freund - aber Aschaus bin ich nicht sicher.“

Darüber waren sie in das Lesezimmer gelangt. „Leisewitz wird bald hier sein,“ sprach Hagemann zuversichtlich, „dann setzen wir uns im Weinstübchen drunten gemüthlich hinter eine Flasche, und Leisewitz muß ’ran und die Oper muß ’raus!“

Nach einiger Zeit erschien Giuseppe Purzel. Sein Herr lasse sich entschuldigen, er sei plötzlich nach Solitude befohlen worden. „Der Kronprinz von K. wünscht unsere Bekanntschaft.“

„Ja, ein Kronprinz hat freilich den Vortritt!“ sagte Hagemann verstimmt. „Aber die Flasche Policinello trinken wir doch!“ Emma bat, in ihrem Zimmer bleiben zu dürfen. „Verargen Sie mir es nicht, Herr Lenz,“ bat sie, „ich bin – ich bin so müde.“

„Aber, Fräulein –“

Hagemann sah seine Tochter an und begleitete sie dann, ohne ein Wort zu sagen, bis an die Zimmerthür.

Droben in ihrem Zimmer ließ sich Emma erschöpft auf einen Stuhl fallen. So, noch in Hut und Shawl, die Hände im Schoß gefaltet, saß sie lange in qualvollen Gedanken.

(Schluß folgt.)


[532]


BLÄTTER UND BLÜTHEN.

Kufstein. (Mit Abbildung.) Zwiespältige Empfindungen erweckt der Klang des Namens Kufstein. Ein liebliches Bild steigt vor uns auf, ein breiter, belebter Thalgrund, von bläulich milchigem Strom durcheilt, umrahmt von den waldreichen Höhen des Gebirgs, mitten inne auf luftigem Felsenthrone eine malerische Feste – dazwischen aber drängt sich die Erinnerung an einen unbehaglichen großen Raum mit Reisenden aller Nationen in allen Kostümen, aufgerissene, durchwühlte Koffer, befehlende Beamten- und aufgeregte Frauenstimmen, ein tolles Dnrcheinander, eingetaucht in jenen spezifischen Bahnhofduft von Ruß und kaltem Rauch – die Zollstation. Denn Kufstein liegt hart an der bayerisch-österreichischen Grenze, und wer aus dem Bayerischen kommt, der muß sich in Kufstein von den wachsamen Hütern des österreichischen Gesetzes auf Herz und Nieren, beziehungsweise auf Cigarren und anderes Zollpflichtige prüfen lassen.

Kufstein.
Nach einer Zeichnung von O. Strützel.

Heute machen wir eine Gedankenreise – und Gedanken sind bekanntlich zollfrei. Unbehelligt wandern wir daher vom Bahnhof auf der linken Seite des Inn und hinüber über die eiserne Brücke, die in zwei mächtigen Bogen den Strom überspannt. Und gleich hinauf zur trotzigen Feste Geroldseck. Sie hat ihren kriegerischen Beruf längst an den Nagel gehängt und öffnet dem Fremdling gastlich ihre Thore, sie nimmt ihn wie ein Kind auf ihre Schultern, um ihm die schöne Aussicht rings zu zeigen. Die Geschichte dieser Burg ist im wesentlichen die Geschichte der Stadt, obwohl diese älter zu sein scheint als jene. Man weiß, wie im Mittelalter und bis an die Pforten der neuesten Zeit heran Land und Leute die Besitzer wechselten. Erbschaft, Heirath, Schenkung und Krieg verschoben jahraus jahrein die Grenzen, Städte, Burgen und Landschaften fielen durcheinander wie die Steinchen im Kaleidoskop – immer wieder ein anderes Bild! So ist auch Kufstein viel zwischen bayerischen und tirolischen Herren hin und hergeworfen worden.

Etwas Dauer gewannen die Verhältnisse durch den Vertrag von Schärding (1369), der unseren Platz auf anderthalb Jahrhunderte in bayerische Hände brachte. Es war das eine Zeit tüchtigen inneren Aufschwungs für die Unterinnthaler Orte, so auch für Kufstein. Schon früher hatte diesem Kaiser Ludwig der Bayer einträgliche Zollrechte verliehen, unter Markgraf Ludwig von Brandenburg kamen allerlei Marktgerechtigkeiten dazu, und nun gewährte der Herzog Stefan von Bayern 1373 gar noch Steuerfreiheit! Kein Wunder, daß sich die so mit Privilegien gesegneten Bürger Schätze genug sammelten, um sich den Luxus einer festen Ringmauer gestatten zu können, denn eine solche muß gestanden haben, als Herzog Stefan in einer Urkunde aus dem Jahre 1393 den Ort Kufstein feierlich mit der Bezeichmlng „Stadt“ beehrte. Dieser Fortschritt in der Geschichte Kufsteins erschien wichtig genug, jetzt nach genau einem halben Jahrtausend durch festliche Veranstaltungen im Gedächtniß der Bewohner aufgefrischt zu werden.

Wir wollen die Geschichte Kufsteins nicht im einzelnen weiter verfolgen. Mehrmals noch ging es in den kriegerischen Jahrhunderten von Kaiser Maximilian I. bis zur Napoleonischen Zeit aus bayerischem Besitz in österreichischen, von diesem in bayerischen über, bis es nach der Neuordnung aller europäischen Verhältnisse durch den Wiener Kongreß dauernd bei Oesterreich verblieb und nun auch wieder die Ruhe fand, um die

schweren Schädigungen aus den Zeiten der Noth und Drangsal zu verwinden. Die mancherlei Belagerungsschrecken, wie die Hinrichtung des zähen Kommandanten Hans Pinzenauer und seiner Getreuen durch Kaiser Maximilian, die Explosion des Pulvermagazins der Burg im spanischen Erbfolgekrieg, sie bilden heute einen dankbaren Einschlag in die Erzählungen der einheimischen Cicerone. Zoll- und Mauthrechte der Stadt sind gefallen, aber ihre herrliche Lage ist ein unveräußerliches Privilegium, dem kein Kaiser und kein Staatsvertrag etwas anhaben kann. Jahraus jahrein sammeln sich hier in den Sommermonaten zahlreiche luftbedürftige Scharen, sie zerstreuen sich in die lieblichen Thäler, steigen hinauf auf die Zinnen des Kaisergebirgs, um erfrischt und gekräftigt heimzukehren an die Stätten ihrer Berufsarbeit. Und mancher wandert wohl auch hinaus zu dem stillen Friedhof am Fuße des Kalvarienbergs, dort das Grab zu besuchen, in dem „Deutschlands Friedrich List“ nach einem stürmischen Leben die letzte Ruhe fand.

Der neue Nachbar. (Zu dem Bilde S. 521.) „Aller Anfang ist schwer,“ sagt wohl das Sprichwort, aber nicht immer trifft es zu. Hier war der Anfang leicht: als Herr Peter Vorndran, dessen Verdienste als tapferer Feldhauptmann im großen Krieg nach dem Friedensschluß durch einen Adelsbrief belohnt worden waren, nun von dem neugeschenkten kleinen Gütlein seine Augen in die Runde warf und entdeckte, daß in dem stattlichen Herrensitz ihm gegenüber eine einsame adelige Witib in annehmbaren Jahren wohne, die Eigenthümerin all’ der schönen Felder und Wälder ringsnm, da strich er vergnügt seinen Schnurrbart und sagte: „Adelig sind wir auch. Die heirathen wir!“

Und nun steht er hier im neuangeschafften alamodischen Habit und fühlt etwas ganz Neues, Unbekanntes, daß ihm den runden Rücken beugt und ein verlegenes Lächeln auf sein feistes Gesicht malt. Teufel, Teufel – das ist ja alles ganz anders, als er sich’s gedacht! Die einsame Witib ist nicht einsam. Da steht ein vornehmer Oheim, dort am Fenster flüstern ein paar frisierte Junker und mustern geringschätzig den neugebackenen Standesgenossen, während die Gesellschafterin einen spöttischen Blick auf seine beginnende Glatze und die unbehilflichen Reiterbeine in Kniehosen und Strümpfen wirft. In den kühlen klaren Augen der verwitweten Freifrau steht aber vollends nichts geschrieben, was wie Ermunterung aussähe. Armer Herr von Vorndran! Ob er sich’s an diesem einen Tag in vornehmer Umgebung wird genügen lassen oder ob er dennoch bald eine tollkühne Werbung wagen und mit einem gewaltigen Korb heimreiten wird? . . . Darüber hat uns der Maler des hübschen Bildes im Zweifel gelassen – mögen sich die Leser diesen kleinen Roman aus dem siebzehnten Jahrhundert nach Belieben ergänzend ausdenken! Bn.     

Der Geruch. (Zu unserer Kunstbeilage) Mit diesem Blatte schließt die Reihe der Rößlerschen Allegorien auf die fünf Sinne. Wiederum ist eine ideale Frauengestalt der Mittelpunkt der Gruppe, mit ihrem Geleite von niedlichen Putten ist sie versunken in den Duft der Blumen, die in reicher Fülle sie umranken. Die fünf Bilder, die Rößlers Meisterschaft im Idealisieren des Sinnlichen alle in gleichem Maße erweisen, dürften wohl in der Sammlung unserer „Gartenlaube“-Kunstbeilagen einen bevorzugten Platz einnehmen. Für diejenigen, welche sich den ganzen Cyklus jetzt zusammenstellen wollen, sei hier noch beigefügt, daß die früher veröffentlichten Blätter bei den Nummern 20 und 43 des Jahrgangs 1892 und bei den Nummern 5 und 16 des Jahrgangs 1893 zu finden sind.


manicula 0Hierzu Kunstbeilage IX: Der Geruch. Von R. Rößler.


Inhalt: [ hier zur Zeit nicht dargestellt.]


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.