Die Gartenlaube (1893)/Heft 32

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 32.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
 (18. Fortsetzung.)

Eine Weile blieb es still in dem üppigen Speisegemache des Wildenfelsers. Da endlich that der Strieger den Mund auf zu den Worten: „Wir gedenken Euch nicht lange zur Last zu fallen, Herr. Ich hätt’ auch gar nicht vorgesprochen, wenn nicht –“ jetzt schien ihm etwas in der Kehle zu stecken, was er aber überwand, in die einigermaßen gewaltsame Frage ausbrechend: „Wie wär’s, wenn Ihr uns beritten machtet, damit wir rascher vom Flecke kämen? Hierherzu war mir’s nicht ums Reiten zu thun, der Herr von Nievern weiß es. Aber jetzt ist es ein anderes. Um Euere Pferde brauchtet Ihr nicht zu sorgen, der Junker da versteht soviel davon wie nur einer. Und ich – je nun, ich habe zwar in meinem Leben nicht oft einen Gaul zwischen den Beinen gehabt, aber – sitzen bleiben werde ich wohl auch, denk’ ich.“

Der Kanonikus strich sich nachdenklich ums Kinn. Dann ruhten seine Blicke wieder prüfend auf dem wunderhübschen Jungen im langen Weiberrock und es zuckte verdächtig um Augen und

Die neue kaiserliche Jacht „Hohenzollern“.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Stoltenberg.

[534] Lippen. „Und willst Du in dieser Kleidung zu Pferde sitzen, mein Sohn? Sie wird Dich beim Reiten hindern und das wird nicht das Einzige sein.“ Und nun brach das Lächeln wirklich durch: „Ein so schmuckes Mägdlein auf offener Heerstraße pflegt die Augen auf sich zu ziehen, mehr als Euch lieb sein muß.“

Lutz hatte ihn kaum ruhig zu Ende zu hören vermocht; er zerrte an dem langen Rocke, der ihn auf dem Leibe zu brennen schien, und rief: „Flehentlich bitt’ ich Euch, gebt mir ein Wams und Buxen, und wenn’s von Eurem letzten Stalljungen wäre! Zu verwünscht dünkt mich die Mummerei, wenn ich sie auch nicht schelten sollte, denn ohne sie wären wir schwerlich hier. Nicht fünfzig Schritte von der Mauer, über die ich geklettert war, trafen wir auf den ganzen Zug der Winzer, die unseren Vätern die Tage der Weinlese hindurch gefrondet hatten. Wir gingen hart an ihnen vorbei . . . für Landfahrer mögen sie uns gehalten haben, und ein frecher Gesell kniff mich in die Wangen, so daß ich ihm eins versetzte – aber mäßig, denn er lachte nur – und sie hatten alle kein Arg daraus. Doch wir verschwatzen hier die Zeit . . . wollt Ihr uns wirklich helfen, Herr, wie ich von Eurem adligen Sinn erhoffe, so schafft, daß wir heute noch weiter kommen!“

„Und unterwegs liegen bleiben, ausgehungert wie der Hase um Lichtmeß?“ fagte der Strieger. „Wir betteln nicht, Herr; hier –“ und er fuhr in sein Wams und wies dann in der verschrumpften Klaue mehrere große Silbermünzen – „der Herr von Nievern hat mir den Beutel gespickt, er hat es dem Junker gerne vorgestreckt – aber wir haben uns nicht unterstanden, einzukehren heute; der Boden schien uns allenthalben noch zu heiß, zum Mittagbrot und zur Vesperkost haben wir den Riemen nur immer ein Stück fester gezogen. Ich ausgedörrter Schlauch spüre das wenig, aber ...“

„Ich wollte, Ihr schwieget,“ schalt ihn der Junker, dem diese sehr deutlichen Winke die Schamröthe in die Wangen trieben. Doch der Domherr sagte gütig: „Das Geld soll Euch mein Hausmeister einwechseln gegen kleinere Münze, damit Ihr unterwegs keine Neugierde erregt mit Euerem schweren Gelde. Je weniger man Euch nachfragt, desto besser. Und nun, alter Fuchs – denn das müßt Ihr sein, dem dies Stücklein gelungen ist – setzt die Schüssel dort vom Kamin auf den Tisch ... so! Greift zu, mein Sohn, und auch Euer Getreuer möge sich letzen! Hunger thut weh in Eueren Jahren. Ihr versäumt nichts, denn vor der Nacht darf ich Euch nicht entlassen.“

Herr Engelbrecht selber setzte sich in seinen breiten Armstuhl in die Nähe des Tisches, so daß er den Wein zur Hand hatte, und machte in eigener Person den Mundschenk der beiden. Er war nicht karg, sah auch dem Verschwinden seiner Rebhühner mit bestem Humor zu. Einmal gab er ein leises Klingelzeichen, und richtig erschien auch anstatt der anderen der umsichtige Haushofmeister allein. Der Domherr nickte ihm zu – die beiden verstanden einander – und gab ihm eine halblaute kurze Weisung. Und nicht lange, so kehrte jener zurück, auf behenden leisen Sohlen, trotzdem er kein junger Mann mehr war, und setzte stillschweigend einen ansehnlichen Schinken auf die Tafel; auch köstliches Weißbrot fand sich dazu.

Der Haushofmeister schnitt auf und die Stücke verschwanden, wie die Feldhühner verschwunden waren. Der Kanonikus, so herzlich er auch besonders dem armen jungen Schelme da die Mahlzeit gönnte, konnte sich doch eines leisen Bedauerns nicht erwehren. Er empfand es gleichsam als eine Beleidigung der ungewöhnlich feisten und zarten Vögel, daß Junker Lutz in seinem Heißhunger von ihren Vorzügen offenbar nichts verspürt hatte und den zähesten und fadesten alten Hofhahn ganz ebensogern zwischen seinen gesunden Zähnen gehabt haben würde.

Indessen war der Haushofmeister hinter seinem Herrn stehen geblieben und sah wohlwollend mit zu, wie es diesen ungewöhnlichen Gästen schmeckte. Er war weiter nicht verwundert, als der Domherr alsbald noch einen vertrauliche Auftrag für ihn hatte, „Das Fräulein da“ – Herr Engelbert wies mit den Augen auf den tapfer kauenden Lutz, sah dann aber seinen Getreuen bedeutsam an und wiederholte, leise nickend: „Das Fräulein – wenn jemand im Hause fragen und schwatzen sollte – will in der Nacht noch weiter, da sie Nachstellungen von bösen Widersachern fürchtet. Sie ist aus edlem Hause, mir wohl empfohlen und ihr Schicksal derart, daß wir in christlichem Erbarmen unsere Hilfe ihr nicht weigern können. Du lässest alles im Hause zu Bette gehen, geleitest zuvor die Fremden zum Scheine nach dem Kloster der Grauen Schwestern, schwenkst am Brühl links ab und klopfst, ob er wolle oder nicht, den Jost Heinevetter, den Brauer, heraus. Ich hab dem Kerl abermals Frist gegönnt für Zinsen und Kapital; er selber schwört, ohne unsere Milde wäre er längst von Haus und Hof – dafür heisch’ ich nun auch einen Dienst von ihm. Der Jungfrau da wird ein Gelaß gegönnt, um sich der Kleidung, die sie trägt und die sie für gefährlich hält, zu entledigen; sie mag sich in ein Wämslein von des Jost ältestem Sohne staffieren. Zwei von seinen vier Gäulen, und das die besten, werden gesattelt und den Fremden überlassen. Heischt der Alte da Auskunft über Weg und Steg von Dir, so unterweis ihn, so deutlich Du vermagst, und wisse, es geschieht mit dem allem dem Herrn Oberjägermeister aus Birkenfeld ein Gefallen, an dem Du ja auch einen Narren gefressen hast. Daß der von Nievern nicht undankbar und kein schäbiger Filz ist, weißt Du ohnedies. Also mach’ Deine Sache gut! Für Kleider und Pferde komme ich dem Jost Brauer auf, das versteht sich. Er mag sagen, er hätte mit den Gäulen einen fortgeschickt auf den Hopfenhandel. Gäbe ich unsere Pferde her, so hätten wir morgen das Gerede darüber. Ich denke, es ist besser so.“

„Das gebe Gott, Hochwürden,“ sagte der Mann, der doch etwas bedenklich schien über den verwickelten Auftrag, und entfernte sich.

Als die Flüchtlinge ihre Mahlzeit vollendet hatten, heischte der Domherr von ihnen mit vorsichtig gesenkter Stimme einige Auskunft, nicht nur über die verwegene Flucht des Knaben aus dem Stifte, sondern mehr noch über die Umstände, die den jungen Ludwig zum widerwilligen Zögling der frommen Väter überhaupt gemacht hatten. Und da vernahm er seltsame Dinge. Die Entdeckung des jungen Herrn von seiten des Strieger, das Einverständniß der beiden, das Entkommen – abenteuerlich, wie das alles gewesen war, gab es ihm doch weit weniger zu denken als die sehr unvollkommenen Aufschlüsse, welche der Junker über den wunderlichen Schicksalswechsel, der ihn plötzlich zum Jesuitenzögling gemacht hatte, zu erzählen wußte.

Sollte man ihm glauben – und der Knabe sah nicht wie ein Lügner aus – so hatte er eines Tages im alten Grasgarten zu Hause am Wasser gestanden, als gerade die jenseitige, ganz in der Nähe vorbeiführende Landstraße entlang eine vornehme Kutsche mit zwei stattlichen Grauen gekommen war. Der Reisewagen irgend eines großen Herrn, wie es schien, denn nach Birkenfeld gehörte das Fuhrwerk nicht, noch einem von Adel aus der Nachbarschaft. Neugierig hatte der Junge, für den schöne Pferde zudem eine besondere Anziehungskraft besaßen, das Abenteuer näher betrachten wollen und war deshalb hastig auf den Steg gesprungen, der aber aus weiter nichts als einem quer über den Mühlgraben gelegten schlüpfrigen und dazu morschen Balken bestand. Und nun ergab sich eine große Lücke in seinen Erinnerungen. Daß der treulose Balken, den er schon hundertmal als Brücke benutzt, gerade dies eine Mal schmählich nachgegeben hatte, das wußte er wohl und auch, wie ihm zu Muthe gewesen, als derselbe drüben am anderen Ende absplitterte und sich unter ihm senkte. Sein Schrecken war nicht allzu groß gewesen – er hatte sogar in dem kurzen Augenblick Zeit gehabt, vornehmlich an seine nassen Kleider zu denken und wie Polyxene schelten würde, die ihm diesen Uebergang schon oft verwiesen hatte. Dann aber wußte er nichts mehr, als daß er, während das Wasser über ihm zusammenschlug, einen scharfen Schmerz am Kopfe gefühlt hatte, so heftig, daß ihm darüber wohl die Sinne vergangen sein mußten.

„Ihr seid auf den Balken im Wasser aufgeschlagen,“ warf der Domherr dazwischen, der dem Bericht mit ernster Aufmerksamkeit gefolgt war. Der Strieger, dessen ebenfalls scharf horchendes Gesicht er dabei mit den Blicken streifte, ergriff die Gelegenheit, ihm bestätigend zuzunicken; das war auch seine Erklärung für dasjenige, was Lutz sich noch kaum die Mühe gegeben hatte, zu begreifen, „Ich muß lange bewußtlos gewesen sein,“ erzählte der Junker weiter, „und als ich endlich wieder etwas von mir merkte, lag ich gar weich und das war mir gerade recht, denn ich kam mir wie an allen Gliedern zerschlagen vor. Einmal brachte ich die Hand an den Kopf, und so dumm war mir zu Muthe“ – trotz des Ernstes der Lage lachte hier Ludwig kurz auf bei der Erinnerung – „daß ich damals glaubte, ich sei es nicht, sondern ein anderer, weil ich statt meines Haarschopfs nur Tücher und Binden spürte. Sehen konnte ich auch nicht – nur hören, und das schlecht genug; der Kopf war mir dumpf wie in einem Schraubstock. Da haben sie an mir gedoktert und kuriert, [535] und nicht weiß ich, wo ich lag. Und daß ich dann fortgebracht worden bin in einer Kutsche, ist mir nicht minder wie ein Traum. War ich einmal halb wach, so entschlief ich doch immer bald wieder, und mein Schlaf war nicht wie sonst, sondern bleischwer lag es auf mir, und das Aufwachen und bis ich diese Schwere abgewälzt hatte, das war greulich“ – er schüttelte sich – „ich möchte es nicht wieder erleben.“

„Und wo erwachtet Ihr zu vollem Bewußtsein?“ fragte der Domherr gespannt.

Lutz lachte verlegen. „Nennt mich einen Schelm, wenn ich’s weiß,“ sagte er. „Wir fuhren, fuhren, fuhren und ich war so schwach im Kopfe damals, daß ich, bei Gott, ich glaube es, damals gedacht habe, es gebe gar nichts anderes auf der Welt. Neben mir in der Kutsche saß einer – er muß die Ordenstracht der Väter getragen haben, aber ich habe ihn später in St. Menehould nicht mehr gesehen.“ Es schien fast, als ob Lutz jetzt erst dazukomme, sich dieses Umstandes bewußt zu werden und sich darüber zu wundern. „Er versorgte mich gut, und als ich nun endlich zu fragen begann, da schien er erstaunt über meine Verwunderung. Wir seien nun nicht weit mehr von St. Menehould – damals hörte ich den Namen zum ersten Male, und als ich ihn danach fragte, sah er mich groß an: das sei ja doch der Aufenthalt, den meine Freunde für mich gewählt hätten, wie ich wohl wisse. Ich wußte nichts – mich schmerzte der Kopf, sobald man lange zu mir redete . . . ja, Herr, und bis heute weiß ich nicht mehr als damals. – In St. Menehould kam ich zuerst in den kleinen Krankensaal, und an Kraftbrühen fehlte es nicht, noch auch an Braten und Wein und dem schönsten Weißbrot, als mein Magen wieder ungebärdig wurde wie ein bellender Hund. Aber es fehlte an der Hauptsache. Ich hatte meine Freiheit verloren und zugleich die Heimath und meine Polyxene. Meinen Fragen darüber wichen sie aus – was geschehe, sei zu meinem Besten. Einmal sagten sie, mein Bäschen, der Vormund und andere Gönner wüßten um diese meine Reise, und daß ich geistlich würde, sei ihr Wunsch und Wille – aber nicht dem Erzengel Gabriel hätte ich das geglaubt – und dann blies der Wind auch wieder ganz wo anders her ... dann redeten sie so, als sei der Herr von Gouda ein ungetreuer Verwalter meines Erbgutes gewesen und man habe mich ihm fortgenommen, um zu verhüten, daß mir Schaden geschehe. Zuletzt verwiesen sie mir das Fragen ganz und niemand sollte mir mehr antworten, bei schwerer Strafe sogar, obwohl sie sonst milde genug waren. Was draußen, jenseit des Gitters sei, sollte uns nicht kümmern; wir hatten es ja auch nicht übel drinnen, und so, dachten sie, würde auch ich mich nach und nach an den Käfig und an das Futter gewöhnen. Aber, Herr, ich gewöhnte mich nicht“ – und Lutzens Blauaugen sprühten und füllten sich zugleich mit Thränen – „ich hätte nicht ein Leyen sein müssen, wenn ich’s gethan hätte! Vielmehr habe ich Tag und Nacht an nichts anderes gedacht, als wie ich mich wieder herausbrächte. Als ich den Herrn von Nievern vorbeireiten sah und merkte, daß er mich nicht erkannte, dachte ich von Sinnen zu kommen. In der Nacht habe ich mir mein Betttuch in den Mund gestopft und hineingebissen, um nicht zu schreien vor Jammer wie ein Weib ... am anderen Tage sagten sie, ich hätte das Fieber. Ich kam wieder in den Krankensaal und das war mein Glück. Der Doktor sagte, sobald ich wieder bei Kräften sei, müsse ich viel im Freien spazieren, mehr als die anderen. Der gute Bruder aber, der mich begleitete, war ein gelehrter Mann, vertiefte sich in die Reden des Cieero, die er stets in der Tasche trug und hervorzog, sogar wenn er draußen wandelte, und so kriegt’ ich die Botschaft des Alten hier zu Händem, wie wir Euch erzählt haben.“

Der Domherr nickte. Er war bei dem Bericht immer nachdenklicher geworden; wie er sich ihn jedoch zurechtlegte, davon ließ er nicht allzuviel merken. Jetzt sagte er: „Aber ist Euch denn gar keine weitere Erinnerung geblieben von der ersten Zeit nach dem Falle? Nichts, was Euch vermuthen lassen könnte, wo Ihr damals gelegen habt? Es war doch wohl in Birkenfeld? Denn schwerlich kann man Euch dazumal, schlimm verletzt, wie Ihr gewesen sein müßt, weit transportiert haben.“

Lutz dachte nach. „Ich sagte Euch schon, hochwürdiger Herr, sehen konnte ich damals, als ich gleichsam erwacht war, nicht, wohl aber hören. Und da ist mir’s –“

„Nun?“ mahnte der Domherr, nachdem er eine Weile geduldig auf ein weiteres Ergebniß gewartet hatte. „Ihr glaubt, eine bekannte Stimme gehört zu haben, nicht wahr?“

Lutz sah ihn an, erstaunt über den Scharfsinn, der vorwegnahm, was er sich selber kaum klar gemacht hatte, und fuhr zögernd fort: „Es war eine Frauenstimme, die ich da hörte, gewiß mehr als einmal, so daß mir endlich sogar ein Name dabei einfallen konnte – eine Frau von Méninville, dünkt es mich fast, müsse es gewesen sein, eine Dame unserer Frau Pfalzgräfin. Aber die wohnt im Schlosse; unsere Pfalzgräfin hält viel auf sie, und“ – er brach ab; wie einer, dem es überflüssig scheint, noch ferner etwas für eine an sich unglaubliche Sache beizubringen.

„Aber jene Dame – auch ich erinnere mich, von ihr gehört zu haben – könnte ja in das Haus, darin Ihr laget, besuchsweise gekommen sein,“ meinte der Wildenfelser. „Nun, sei dem, wie ihm wolle, jetzt liegt mir daran, Euch heil und so rasch, wie Pferdebeine laufen können, meinem liebwerthen Vetter Nievern zuzusenden. Denn zu ihm muß Euer Weg zuerst gehen, und zwar um jener Euerer Base Polyxene willen, an der Euer Herz zu hängen scheint. Ich verlasse Euch auf ein Viertelstündchen, um dem Herrn von Nievern ein Brieflein zu schreiben, welches Ihr, Alter, bei Euch tragen sollt, so wohl verborgen, wie man es Euch zutrauen mag nach allem, was meine staunenden Ohren kürzlich gehört haben. Bis dahin ist es dann auch Zeit, daß Ihr Euch auf den Weg macht.“

Die beiden waren nun eine Weile allein in dem schönen weiten Gemach, dessen anheimelnde Pracht dem Knaben sogar in diesen Augenblicken nicht ganz entging. Je länger je mehr aber behauptete die Erregung der Lage ihr Recht. Unruhig stand er bald und saß dann wieder. „Ach, wären wir erst so weit, daß wir den Heidenkopf sähen, Strieger,“ seufzte er ungeduldig. „Mir würde noch banger sein, als mir ist, wenn ich nicht eins wüßte: fingen sie mich auch wirklich wieder, sie behielten mich nicht lange, wenigstens nicht lebendig. Glaubt Ihr, daß sie uns verfolgen werden?“

Der alte Waldwart zuckte die Achseln. „Thun sie’s, dann glaub’ ich, daß der, der den Auftrag hat, an keinem glücklichen Tage von seiner Mutter geboren worden ist und unter einem Stern, der ein vorzeitiges Ende bedeutet.“ Dabei putzte er bedächtig an der langen Pistole herum, die er aus dem Wams gezogen hatte. Er betrachtete sie nur halb beifällig. „Wer seine gute Büchse gewohnt ist wie ich, dem kommt so ein Ding vor, als sollte man’s eher einem an den Kopf schmeißen denn damit schießen; auch dem, der uns etwa zu nahe käme, eine herzhafte Maulschelle zu langen, hier mit dem dicken Ende, scheint es handlich genug. Aber seid unbesorgt“ – und nun hob er die Pistole schußgerecht und die verschrumpfte Greisengestalt stand da wie festgewachsen und der Arm, der die Waffe hielt, war wie von Eisen, während die scharfen Angen das Ziel maßen – „fehlen thut der Strieger seinen Mann deshalb nicht.“

„Ich wollte, ich hätte auch eine Waffe,“ meinte darauf Lutz unzufrieden. „Tragt Ihr nichts weiter bei Euch, Strieger? Es ist, als hätte man keinen Arm, wenn man nichts spürt, womit man sich im Nothfall wehren könnte.“

Der schlimme Alte mochte gerade dieser Vorstellung zugänglich sein. Er griff in den Hosensack, zögerte, griff tiefer und brachte dann ein derbes Jagdmesser in einer alten Lederscheide zum Vorschein. Als aber Lutz mit einem kurzen Freudenruf danach greifen wollte, wich er aus: „Seit ein Jahrer fünfzig – es können auch sechzig oder siebzig sein – hat niemand die Finger an dem Griffe hier gehabt als ich. Der Griff ist in meine Hand gewöhnt und die Klinge zieht tüchtig Blut ... nicht jedem gäb’ ich’s – ich will’s Euch anvertrauen für unsere Reise, aber es bleibt mein“ ... und da der Junker hier eine stolze Bewegung machte, fuhr er dennoch ungerührt fort: „Denkt auch nicht, es sei mir jemals feil – nicht für sein Gewicht in Gold. Da, nehmt es wohl in acht!“ Unwillkürlich barg Lutz von Leyen die Waffe im Gewande, als jetzt der Domherr wieder eintrat, seinen Brief in der Hand. Auch der Strieger hatte sich in seinen Kleidern zurecht geschüttelt und dabei die Pistole außer Sicht gebracht; die beiden Reisenden sahen jetzt harmlos genug aus: eine Jungfer wie Milch und Blut und ein uralter Greis.

„Es ist Zeit,“ sagte Herr Engelbrecht von Wildenfels und seine Blicke ruhten nicht ohne Antheil auf dem seltsamen Paare, suchten auch noch einmal mit Wohlgefallen das schöne offene Gesicht des Knaben. „Ein schlechter Confrater bin ich den frommen Herren da drüben in

[536]

Vor dem Erntefest.
Nach einem Gemälde von L. Blume-Siebert.

[537] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [538] St. Menehould, wenn ich Euch jetzt wohl zu reiten wünsche und thue, was an mir ist, damit es Euch mit der Flucht gelinge. Dem Nievern mögt Ihr sagen, mein Junker von Leyen, daß er mir diesen Dienst heute schwerlich je wett machen wird; alles übrige, was ihm zu wissen frommt, steht in dem Briefe hier. Ich halte Euch nicht länger – geht mit Gott, obwohl Ihr ihm davonzulaufen scheint, mein Sohn! Und Ihr, Alter – seht Ihr mir auch nicht aus, als ob Ihr Euch allzu oft die Messe lesen ließet unter einem Kirchendach, Ihr habt vielleicht doch Euern Patron unter unseren vielen wunderlichen Heiligen – der möge ein Wort der Fürbitte für Euere Heimfahrt einlegen! Daß Ihr schweigt über Euern Besuch bei mir, daran brauch’ ich Euch wohl nicht zu mahnen!“ Und als Lutz unter warmem Danke nach seiner Hand griff, um sie an die Lippen zu führen, rief er: „Schon gut, schon gut!“ und legte seine Rechte zum Abschied auf des Knaben Schulter und blickte ihm ins Gesicht. „Seid Ihr auch jetzt ein so schmuckes Jungfräulein, wie man es sich nur an einem Feiertag zu sehen wünschen kann – ich glaube doch etwas vom Mann in Euch zu spüren! Das beweist, indem Ihr Euere Zunge hütet in Betreff alles dessen, was Euch mit dem Domherrn in Malmedy begegnet ist.“

Der Diener von vorhin war indessen unter die Thür getreten, und von dem Hausherrn entlassen, folgten ihm nun die Flüchtlinge. Trotz der späten Stunde schienen von dem Hausgesinde noch nicht alle zur Ruhe zu sein. „Es geht nach St. Annen zu den Grauen Schwestern,“ raunte der Haushofmeister einem Bedienten, welcher ihnen wie von ungefähr auf der Treppe begegnete, ziemlich vernehmlich zu. „Dorthin sendet Hochwürden die Jungfer zu ihrem Schutze – schade, daß wir sie nicht herbergen dürfen, wie?“ worauf die beiden lachten und der Angeredete nicht eben das ehrbarste Gesicht zog.

Gleich nachher aber war der Begleiter Lutzens und seines alten Gesellen wieder ernsthaft genug. Durch enge dunkle Seitengassen der ohnehin schon nächtlich stillen Stadt führte er sie. Es war als sie endlich an dem Gehöft jenes Brauers angekommen waren, der die Pferde stellen sollte, kein leichtes Stück, diesen aus dem Bett zu holen durch Rütteln und Pochen an Thür und Fenster, ohne zugleich die ganze Nachbarschaft auf die Beine zu bringen. Doch war der Mann am Fenster, ehe die Geduld derer draußen eine allzu harte Probe hatte bestehen müssen, und bald genug in den Kleidern und an der Thür, als er den Haushofmeister des Domherrn erkannt hatte.

Und dann ging alles glätter, als man hätte hoffen dürfen. Nachdem er sich erst hinter den Ohren gekratzt hatte, war Jost Heinevetter denn doch willig und zeigte sich als einen umsichtigen, um nicht zu sagen verschlagenen Gesellen. Niemand weiter im Hause wurde geweckt. Er selber kam nach kurzer Frist aus der Kammer mit einem Arm voll Kleider; und während zwei kräftige Gäule zu ihrem ungemessenen Befremden in aller Stille gesattelt und aus dem Stalle gezogen wurden, ging im Gemach neben dem großen Kachelofen die Verwandlung vor sich, welche aus dem anmuthigen Mägdlein einen jungen Burschen machte, der aufs Haar so aussah – zur schlauen Verwunderung des Brauers – als sei er sein Lebtag nichts anderes denn ein Junge gewesen.

Die Ehrfurcht des alten Strieger vor allem, was sich geistlich nannte, war stets gering gewesen. Wenn er aber jemals vor einem Menschen Respekt gehabt, so war es vor dem Domherrn von Wildenfels, und zwar in dem Augenblick, als der Alte gewahr wurde, was es mit dem Bündel, so der Haushofmeister vorhin mit sich genommen, eigentlich für eine Bewandtniß habe. Dasselbe zeigte sich jetzt als ein Quersack, bequem über den Sattel zu legen, und enthielt außer wackerer Reisekost für zwei, drei Tage – einem ganzen Schinken, dem Gefährten dessen, der abends auf dem Tische gestanden hatte – auch ein paar Krüglein Wein. Dies überantwortete ihm der Hausmeister nun und trat, nachdem der Strieger das Pferd erklettert hatte, an sein Knie heran und gab ihm Anweisung über den Weg. In den offenen Gegenden sollten sie lieber während der Nacht reiten, die, bei zunehmendem Mond, jetzt nicht allzu dunkel sein würde. Durch die engen Bergthäler aber und auf den abgelegenen Waldwegen, auf denen sie sich dann zuletzt der Heimath näherten, würde auch am Tage wenig Gefahr für sie sein.

Das Gehöft des Brauers stieß an die Stadtmauer und aus seinem Garten führte ein Pförtchen durch dieselbe, welchen Umstand der kluge Domherr nicht außer acht gelassen hatte. Also durch den dunklen Garten und unter dem Pförtcheu hinweg, das zu brechen vormals in ruhigen Zeiten einem Bürgermeister vergönnt worden, damit er leichter zu seinem Krautacker gelangte! Hier nahmen die zwei Fremden Abschied, mit kurzem Gruße. Der Junker ließ noch die von seinem harmlosen Standesgefühl erfüllten Worte vernehmen: „Den Dank, Ihr Leute, bleiben wir, will’s Gott, niemand hier schuldig!“

„Schon gut, edles Fräulein! Ihr reitet wohl nicht zum ersten Male bubenweis,“ murmelte Jost Heinevetter in seinen Bart und nickte ihnen nach.

„Nahmt Ihr des Alten wahr?“ meinte dagegen der Haushofmeister seiner Hochwürden ablenkend. „Ein wunderlichcr Kautz! Wie der im Sattel hockt!“

„Sagt lieber: wie er auf dem Gaul klebt – wie eine Schmeißfliege!“ meinte Jost.

Der andere lachte. „Wird wohl auch ebenso schwer abzuschütteln sein wie eine solche. Kommt, Jost – Zeit, daß Ihr wieder in die Federn kriecht! Ich bin’s eher gewohnt, einmal eine Stunde länger zu wachen. In eines vornehmen Herrn Dienste erlebt man mancherlei, wie?“

(Fortsetzung folgt.)




Für die Veteranen und Invaliden der Feder.

Es ist ein altes Bestreben der deutschen Journalisten und Schriftsteller, eine Einrichtung zu schaffen, welche ihnen im Kampfe ums Dasein einen festen Rückhalt gewähren könnte. So ideal der Beruf des Schriftstellers ist, so gewichtig seine Aufgabe als Führer seines Volks, als Verwalter und Vermittler des geistigen Besitzthums der Nation sich darstellt, so ist seine wirthschaftliche Stellung doch nicht von der Art, daß es ihm erlaubt wäre, frei von aller Sorge um das Heute und Morgen ganz den schöpferischen Trieben seines Herzens, seiner Phantasie, seines Verstandes sich hinzugeben. Wohl die Mehrzahl unserer „Helden der Feder“ lebt von der Hand in den Mund, die Arbeit von heute muß das Brot des andern Tages schaffen. Wie der Handarbeiter von der Kraft seines Körpers, so ist der Schriftsteller von der Kraft seines Geistes abhängig, versagt sie, so ist er wehrlos, und in dem Maße der Geist empfindlicher ist als der Körper, wächst auch die Gefahr dessen, der ganz auf die Arbeit seines Geistes angewiesen ist. Von welch tiefem moralischen Einfluß muß es unter solchen Verhältnissen sein,, eine Zuflucht hinter sich zu wissen, die den Ermattenden aufnimmt! Immer wieder tauchte darum in dem Kreise der deutschen Schriftsteller das Verlangen nach einer gemeinsamen Pensionskasse auf, die es dem einzelnen Theilnehmer ermöglichen sollte, durch regelmäßige Einzahlungen in den Zeiten seiner Erwerbsfähigkeit seine Zukunft sicherzustellen. Und endlich hat der langgehegte Wunsch die Erfüllung gefunden. In den ersten Julitagen dieses Jahres wurde zu München der Schlußstein in das Gebäude eingefügt, das, so ist zu hoffen, gar manchem Veteranen und Invaliden der Feder eine leidliche Versorgung, einen schützenden Unterschlupf gewähren wird.

Die Anregungen, welche von den verschiedensten Seiten zusammenliefen, führten im Laufe des vorigen Jahres dazu, daß der Münchener Journalisten- und Schriftstellerverein die Vorarbeiten in die Hand nahm. Es wurde Material gesammelt, wobei insbesondere die Satzungen verwandter Vereinigungen von großem Werthe waren, so diejenigen der „Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehöriger“, der „Allgemeinen deutschen Pensionsanstalt für Lehrerinnen und Erzieherinnen“, des „Allgemeinen deutschen Musikerverbandes“ und der Entwurf einer Renten- und Pensionsanstalt für deutsche bildende Künstler. Ein namhafter Versicherungstechniker, Dr. Wolf, lieh seine sachkundige Unterstützung, und so konnte Ende Februar dieses Jahres ein vollständiger Statutenentwurf, von L. Viereck ausgearbeitet, vorgelegt werden, der denn auch nsch reiflicher Erwägung die Billigung des hierfür eingesetzten Ausschusses, bald darauf auch diejenige einer erweiterten Versammlung zu Leipzig und endlich die des Münchener Schriftstellertages im Juli d. J. fand. Die grundlegende Frage, ob man ein eigenes selbständiges Unternehmen schaffen oder den Anschluß an eine bestehende Versicherungsanstalt vorziehen sollte, ward darin zu Gunsten des ersteren entschieden, in der Erwägung, daß auf diesem Wege nicht nur namhafte Ersparnisse erzielt, sondern auch der ideale Zweck der Gründung, die Hebung des gesamten Schriftstellerstandes, am besten erreicht werde.

Keine Frage hat wohl größere Schwierigkeiten verursacht, als die über die Mitgliedschaft, weil es dabei galt, schnurstracks einander zuwiderlaufenden Auffassungen gerecht zu werden. Meinten die einen, es dürften ausschließlich Schriftsteller und Journalisten aufgenommen werden, welche dies ihrem Berufe nach sind und von dieser Thätigkeit allein oder doch vorzugsweise ihren Lebensunterhalt ziehen, so hofften die andern das Gedeihen der Anstalt von einer möglichst breiten Grundlage, die nicht nur allen ehrenhaften Schriftstellern und Journalisten ohne Unterschied, sondern auch Verlegern, Beamten einer Redaktion ober eines Verlags, überhaupt zu Litteratur und Presse in fördernder Beziehung stehenden Personen den Beitritt freistellen würde. Und in der That hat die letztere [539] Ansicht vieles für sich. Mußte es schon bedenklich erscheinen, eine Anstalt für deutsche Schriftsteller zu gründen, welche z. B. einen Goethe, einen Schiller, einen Lessing, einen Virchow und Helmholtz, einen Wildenbruch und Wichert ausgeschlossen hätte, so kam dazu, daß die bestehenden örtlichen Schriftstellervereinigungen überall die Grenzen ihrer Zugehörigkeit weiter ausgedehnt haben, ohne dadurch in ihrem Charakter als Berufsvereine beeinträchtigt zu werden. Auch der „Augustinusverein zur Pflege der katholischen Presse“ umfaßt außer den Redakteuren und schreibenden Mitarheitern noch Verleger und Redaktionsbeamte. Und schließlich war nicht zu unterschätzen, daß durch die Erweiterung des Rahmens der Mitgliedschaft nicht bloß die Zahl der Beitragleistenden erhöht wurde, sondern auch die Zahl derjenigen, welche an der Herbeiführung außerordentlicher Einnahmen mitzuarbeiten sich verpflchteten. So hat denn auch diese Auffassung den Sieg davongetragen. Daß auch Frauen eintreten dürfen, darüber bestand kein Zweifel.

Die Pensionsanstalt ist in erster Linie dazu berufen, ihren Mitgliedern die das 60. Lebensjahr überschritten haben, oder solchen, die früher erwerbsunfähig werden, ein Ruhegehalt zu sichern. An eine Versorgung der Hinterbliebenen soll erst dann herangetreten werden, wenn sich das Vermögen der Anstalt genügend gekräftigt haben wird. Wie die Beiträge der Mitglieder einerseits, die Leistungen der Anstalt andererseits geregelt sind, das hier auseinanderzusetzen, würde zu weit führen. Jeder, den die Sache näher angeht, wird sich ja die Satzungen der „Pensionsanstalt deutscher Journalisten und Schriftsteller“ mühelos verschaffen können. Ein Punkt aber verdient besondere Erwähnung: man könnte ihn den „Vergnügungszwang“ nennen. Ein Abschnitt des § 4 bestimmt nämlich: „Jedes Mitglied übernimmt die Pflicht, nach Kräften zur Veranstaltung von Festlichkeiten und Vergnügungen beizutragen, durch deren Erträgnisse außerordentliche Einnahmen für die Anstalt erzielt werden. Erreichen in einem Jahre diese Einnahmen nicht eine Summe, die einem Betrage von 10 Mark für jedes am Jahresschlusse vorhandene Mitglied gleichkommt, so ist der Fehlbetrag durch Umlage zu decken.“ Die deutschen Schriftsteller haben also zur Sicherstellung ihres Alters nicht bloß zu sparen und zu zahlen sondern auch vergnügt zu sein, und da sie im allgemeinen ein Völkchen sind, das des Lebens heitere Seite gern betrachtet, so wird ihnen diese Verpflichtung nicht allzu bedrohlich erscheinen, noch weniger, wenn sie erfahren, welche Summen auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen, aber immer noch lustigen Wege „gemacht“ werden können. Der wenig zahlreiche Verein „Dresdener Presse“ verdankte ihm in sieben Jahren eine Einnahme voll 40000 Mark, der Münchener Journalisten- und Schriftstellerverein einem einzigen Feste 11000 Mark u. s. f. Es ist also zu hoffen, daß aus dem Gesamtvergnügen der deutschen Schriftstellerwelt und der ihr nahestehenden Freunde und Gönner ein recht erklecklicher Betrag herausspringen werde, zur Freude derer, welche die Waffen haben niederlegen müssen. Wenn sich dann auch noch die anderen Hoffnungen erfüllen, welche auf die Erschließung außerordentlicher Einnahmequellen gesetzt werden – Beiträge der Verleger, Freiexemplare, Lotterien, Reklamesteuer u. dgl. m. – dann dürfen die künftigen Pensionäre der neuen Anstalt beruhigt sein, dann wird auch für manchen Akt außerordentlicher Wohlthätigkeit ein Scherflein übrig bleiben.


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die Wengernalpbahn im Berner Oberland.

Von Alexander Francke.

Wer ein fremdes Land bereisen will, sollte sich nach einem Ausspruch Riehls zu Hause so gut vorbereiten, daß er den Einheimischen über ihr eigenes Land und dessen Bewohner Auskunft geben könnte. Ebenso sollte der Beuncher des Berner Oberlandes nicht geradeswegs ins Herz desselben, nach Interlaken, fahren, sondern einen oder zwei Tage in Bern Halt machen, um von hier aus mit spähendem Auge die Gebirgszüge zu gliedern, die den südlichen Horizont so unvergleichlich schön begrenzen. Alle die Größen, die uns im Oberland in ihrer Einzelwirkung oder in kleinen Gruppen imponieren – von Bern aus erscheinen sie als ein harmonischer Gesamtbau, wie von schöpferischer Künstlerhand angeordnet. Vorberge, die, vom Thunersee aus gesehen, so hoch ragen, daß die viel höheren Eisberge völlig hinter ihnen verschwinden, rücken für den Berner Beobachter in ihr richtiges Größenverhältniß und schmiegen sich bescheiden an den Fuß des Riesenwalles, der die Grenze zwischen Bern und Wallis bildet. Wer von einem der zahlreichen schönen Punkte in Berns Umgebung, der Kleinen oder Großen Schanze, dem Schänzli, der Enge oder gar von dem tausend Fuß über der Stadt gelegenen Gurten dieses Alpenpanorama genießt und an einem wolkenlosen Sommerabend das Glück hat, jene wunberbare Farbenskala zu sehen: das Grün der nahen Matten, das Blauschwarz der bewaldeten Höhenzüge, das lichte Braun der Vorberge und endlich das immer tiefer werdende Roth der Firnen und Gletscher, der wird diesen Anblick zu den erhebendsten Naturgenüssen zählen, die ihm je zu theil geworden sind, aber er wird auch ein unwiderstehliches Verlangen spüren, die Berge, die sich ihm so herrlich gezeigt, aus der Nähe kennenzulernen.

Vor allem ist es die Mittelgruppe, welche die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Jungfrau, Mönch und Eiger. Während am Westende Altels, Dolbenhorn und Blümlisalp, im Osten Wetterhorn, Schreckhorn und Finsteraarhorn jedes einzeln zum Himmel aufstreben, bilden die genannten Drei ein zusammenhängendes Ganzes von majestätischer Ruhe und vollendetem Ebenmaß der Linien. Von dieser dreizackigen, alles überragenden Krone aus ergiebt sich die Gliederung der Gebirgszüge und Gipfel, deren Zahl dem Fremden anfänglich verwirrend groß erscheint, fast von selbst. Rechts die nahezu senkrecht erscheinende, mächtige Eiswand ist dieselbe, welche man in Mürren zum Greifen nahe vor sich hat: von dem Einschnitt des berüchtigten Lawinenthors bis zur Kuppe des Breithorns, welches das Lauterbrunner Thal abschließt. Etwas vorgelagert, erheben sich die nur dem Kletterer zugänglichen Thürme des Gspaltenhorns, die blendend weißen Schneemassen der Blümlisalp, das seinen Fuß im Oeschinensee badende Doldenhorn und ganz im Osten das Balmhorn mit der Altels, deren mächtiges Schneedreieck bis auf den Gemmipaß hinunterreicht. Die schöne dunkle Pyramide zur Rechten der Blümlisalp ist der Niesen, dessen im Albristhorn bei Adelboden gipfelnde Kette das Kandel- und Simmenthal voneinander trennt. Er wetteifert an Schönheit der Aussicht mit seinem Nachbar, dem Stockhorn. Diesseit vom Niesen weitet sich das Becken des Thunersees. Jener Felskamm, der Sigriswyler Grat, über den die Zacken der Höhen von Beatenberg, das Gemmenalphorn, hervorlugen, steht bereits am Nordufer des Sees, während die beiden unter der Jungfrau sichtbaren Höhenzüge seine südliche Einfassung bilden. Der höhere derselben, das breite Dach der Sulegg, die wilde Schwalmeren und das Schilthorn, bergen an ihrem Südabhang auf grüner Terrasse über jäher Felswand die Aussichtsjuwele Eisenfluh und Mürren; der niedrigere, der Leissigergrat, trägt auch zwei Berühmtheiten auf seinem Rücken, den Abendberg und die Heimwehfluh, die, von Interlaken aus leicht zugänglich, einen köstlichen Ausblick auf das Böbeli, die beiden Seen und das Hochgebirge gewähren.

Ich merke es schon, der geneigte Leser möchte nun, unversehens am Eingang des Lauterbrunner Thals angelangt, schnurstracks hinauf „zu der Berge dunkelschattiger Wand, wo sie blüh’n, die Alpenrosen“. Nur noch einen Augeblick Geduld, damit wir auch im östlichen Theil des Oberlandes uns schnell orientieren können. Hier auf dem Aussichtshügel der Großen Schanze bei Bern, zu unseren Füßen die ehrwürdige Zähringerstadt mit ihrem machtvoll aufwärts strebenden Münsterthurm, verlohnt sich’s wohl, noch etwas zu weilen und, wiederum von der Jungfraugruppe ausgehend, die Augen links hinüberschweifen zu lassen. An zwei Eiszacken den Viescherhörnern, vom Eiger herunterkletternd gelangen wir zum höchsten der von Bern aus sichtbaren Berge, dem Finsteraarhorn (4275 Meter) und zu dem ebenso unnahbar aussehenden Schreckhorn, neben welchem das Wetterhorn einen schier gemächlichen Eindruck macht. Ganz im Osten schimmert es weiß über den Brienzergrat herüber: das Triftgebiet, die Grenze des Kantons Bern gegen Uri bezeichnend. Die dunkle Linie vor dem Wetter- und Schreckhorn ist die Faulhorngruppe mit dem Gipfel gleichen Namens und dem Schwarzhorn und WIldgerst. Von dieser Höhe stürzt, durch den vorgelagerten Brienzergrat für uns verdeckt, der Gießbach in sieben tannenumrahmten Absätzen in den Brienzersee, den träumerischen Genossen des Thunersees, die miteinander, ein seelenvolles Augenpaar, dem Oberland Reiz und Leben verleihen.

Folgt man mit den Blicken der schräg nach links verlaufenden Linie des Eiger, so würde man, auf den Thalboden gelangt, nach Grindelwald kommen, und steigt man am Westabsturz der Jungfrau über das sogenannte „Rothe Brett“ senkrecht in die Tiefe, so befindet man sich in Lauterbrunnen. Lauterbrunnen und Grindelwald, das sind Ausgangs- und Zielpunkt einer Fahrt, zu der ich heute den Leser einladen möchte. Ganz so schnell wie soeben mit den Blicken wird es zwar nicht gehen, aber doch viel schneller und müheloser, als es bisher möglich war. Zwischen beiden Orten liegt nämlich [540] ein breiter Bergrücken von mehr als 2000 Metern Höhe, den man bisher entweder umgehen oder umfahren oder im Schweiße seines Angesichts übersteigen oder überreiten mußte. Wer hätte nicht schon von diesem Bergrücken gehört! Wengernalp und Kleine Scheidegg sind Namen, an die jeder Schweizerreisende mit Entzücken, jeder, der Reisepläne macht, mit Sehnsucht denkt. Und doch vielleicht nicht alle mit Entzücken. Die erste Stunde Wegs, von Lauterbrunnen nach Wengen, ist einer der steilsten Zickzackpfade weit und breit, heiß beim Hinansteigen, eine „Kniebrechete“ beim Herunterkommen, und auch die dann folgenden anderthalb Stunden bis zur Wengernalp auf vom Regen ausgewaschenen Wegen waren manchmal recht mühsam. Und erst auf der Grindelwalder Seite, unterhalb Alpiglen! Bei trockenem Wetter ging es allenfalls noch an, bei Regenwetter aber betrachteten sämtliche Rinnsale den grabenartigen Fußweg als ihren Hauptabzugskanal, den der Wanderer nun mit dem Wasser und schiefrigem Schlamm theilen mußte, Für das stärkere Geschlecht bis zu einem gewissen Alter sind das zwar nur kleine Leiden, die vielleicht zur Kategorie der angenehmen Strapazen gerechnet werden können. Aber eben so groß, wenn nicht noch größer, ist wohl die Zahl derer, denen durch Mühseligkeiten dieser und anderer Art der Einblick in die Großartigkeit der Hochgebirgswelt, das Einathmen der belebenden Bergluft verwehrt war. Sagt der Naturfreund mit einer gewissen Berechtigung: die jungfräuliche Schönheit der Natur soll nicht durch den Rauch und Lärm der Lokomotive entweiht werden, so darf der Menschenfreund dem entgegenhalten, daß auch dem Schwachen und Erholungsbedürftigen die körperliche und geistige Erfrischung ermöglicht werden soll, welche der Gesundbrunnen der Alpen in unversieglicher Fülle ausströmt.

Darum hat man, meiner Ueberzeugung nach, alle Ursache, sich des Unternehmungsgeistes zu freuen, der die finanziellen und technischen Mittel fand, um über die Kleine Scheidegg einen Schienenweg zu legen. Bereits im vergangenen Herbst war der Bahnbau so weit vollendet, daß am 1. Oktober eine Probefahrt ohne Unterbrechung von Lauterbrunnen bis Grindelwald ausgeführt werden konnte, und jetzt, im Juni 1893, ist die Linie dem öffentlichen Verkehr übergeben worden.[1] Um sich über die Bedeutung dieses Ereignisses klar zu werden, ist es nöthig, sich das Gelände zu vergegenwärtigen.

Damit wir eine ihrer vollkommensten Schöpfungen aus nächster Nähe bewundern können, hat die Natur selber zu Füßen der Jungfrau eine Art Aussichtswarte errichtet. Es ist der Höhenzug, der mit seinem Südende sich ans Hochgebirge anlehnt, im Norden schroff gegen Zweilütschinen abfällt. Am Fuße ein massiger Bau, verschärft er sich oben zu einem zackigen Grat, dessen Westseite von vielen Runsen durchfurcht ist. Drei aussichtsreiche Gipfel krönen den Kamm, das Lauberhorn, zunächst den Hochalpen, der wilde Tschuggen und der Männlichen. Letzterer ist einer der schönsten Punkte des Berner Oberlandes, ja vielleicht der Schweiz. Auf der Scheide zweier großartiger Thäler, des Lauterbrunner und des Grindelwalder Thales, stehend, überschaut man beide wie mit einem Blick. Den Silberbändern der schwarzen und weißen Lütschine folgend, schauen wir links in den grünen, häuserübersäten Thalkessel von Grindelwald, majestätisch überragt vom Wetterhorn, dem die Gletscher wie weiße Locken vom Haupte wallen, rechts in das von senkrechten Felsen eingefaßte Lauterbrunner Thal, in das aus den Tannenwaldungen vor Mürren der Staubbach hinabschwebt, dem im Hintergrunde, vom Gletscher des Breithorn genährt, der Schmadribach seine Wasser über die Felsen zuwälzt. Und gerade vor uns, da stehen die drei, deren Schönheit zu schildern meine Feder sich zu schwach fühlt, Altmeister Gottlieb Studer, der in seinem 86jährigen Leben soviel zur Ausbreitung und Vertiefung der Alpenkunde gethan, hat ein treffliches Panorama vom Männlichen gezeichnet, das deutlicher spricht. Und drei Genfer Maler, Furet, Baud-Bovy und Burnand, die den malerischsten Aussichtspunkt der Schweiz suchten, um ein Kolossal-Panorama für die Ausstellung in Chicago zu malen, entschieden sich für den Männlichen.

Der Schienenweg nun, der die Schönheiten dieses Bergrückens leichter zugänglich machen soll, läßt den Männlichen völlig unberührt. Am entgegengesetzten Ende, bei der Scheidegg, am Fuße des Eiger, ist die Station, wo man die Bahn verlassen muß, um nahezu ebenen Wegs zum Männlichen zu gelangen. Aber nicht einmal auf der Scheidegg oder auf der Wengernalp kann die Eisenbahn als ein störendes Element betrachtet werden. Wer es nicht gesehen hat, macht sich keinen Begriff davon, zu welcher Liliputerscheinung der Mensch und seine Werke im Hochgebirge zusammenschrumpfen, wie sie erst recht dazu dienen, uns einen Maßstab für die gewaltigen Größenverhältnisse zu liefern, von denen wir hier umgeben sind. Als ich im vorigen Jahre nach Mürren wanderte, da hatte ich beim Hinüberblicken nach der anderen Thalseite meine Freude an den schöngeschwungenen, soliden Steinbögen, welche an den Felswänden hin die neue Bahnlinie nach Wengen bezeichneten, und ich fragte mich, ob dieselben dereinst nach Jahrhunderten, wenn man nur noch im Luftballon Bergfahrten macht, ebenso sehr die Bewunderung unserer Nachkommen hervorrufen werden, wie wir heute z. B. die römischen Aquaedukte an den hohen Thalwänden des Val Tournanche bewundern. Plötzlich ein schriller Pfiff. Ein kleiner dunkler und ein etwas längerer heller Gegenstand bewegen sich langsam im Thal vorwärts, kriechen über eine Brücke, die ich früher nie gesehen hatte, und steuern gerade auf die Felswand los. Es ist ein Arbeitszug der Wengernalpbahn, eine Lokomotive und drei mit Balken beladene Wagen, von ersterer aufwärts geschoben. Sah das aber aus wie ein Bahnzug? Eine Ameise ist’s, die einen Holzsplitter oder sonst einen Fund dem Bau zuträgt, ein Spielzeug, welches das Riesenfräulein von Burg Nydeck gerade so vergnügt ihrem Vater in der Schürze heimbringen würde wie den Bauer mitsamt seinem Pflug Anno dazumal.

Lassen wir also unsere Vorurtheile zu Hause und steigen wir unbefangen in einen der hübschen luftigen Wagen, die zur Abfahrt von Lauterbrunnen bereit stehen. Giebt es etwas Herzerfreuenderes als dieses lachende Wiesengrün von Lauterbrunnen? Eben fuhren wir noch durch das enge Thal hin unter der dunklen Hunnenfluh, da plötzlich thut sich’s auf. Rechts aus luftiger Höhe schweben die aufgelösten Wellen des Staubbachs hernieder, umwoben von zarten Schleiern, in deren Wasserstäubchen sich ein Regenbogen wölbt, links steigen die Wellenlinien saftiger Matten vom Ufer der schnell dahinrauschenden Lütschine empor nach Wengen, übersät mit malerischen Wohn- und Vorrathshäuschen und schattigen Ahornbäumen, und oben drüber glänzt in wolkenloser Reinheit die Königin der Berge, die Jungfrau. Hinauf, zu ihr! Welch wohliges Gefühl, dem Staub und Getriebe der Straße entronnen zu sein und nun leicht wie ein Vogel aufwärts zu schweben in die Gefilde reiner Bergluft! Sogar dem leidenschaftlichen Fußgänger gefällt es nicht übel, einmal zur Abwechslung mühelos zu genießen, was ihm die Natur beut. Wie mag erst dem Schwachen, dem bisher solcher Genuß ganz versagt war, zu Muthe sein!

Unser Miniaturzug hat das Thal durchquert und rollt in gleichmäßig ruhigem Lauf unter einer senkrechten Felswand hin bergauf. Wir kreuzen den Zickzack des Fußweges. Noch einige Minuten und wir erreichen, in weitem Bogen nach rechts schwenkend, die Terrasse von Wengen. Das lieblich gelegene Dörfchen birgt verschiedene Pensionen, die von Schweizern und Deutschen gern zu längerem Aufenthalt benutzt werden. Die Gebäude im Thalgrunde haben schon das zierliche Format der Häuschen angenommen, wie man sie in den Schnitzereiläden ausgestellt sieht. Drüben auf der jenseitigen Terrasse schauen die Gasthöfe von Mürren behäbig ins Thal, Riesengebäude, und doch wahrscheinlich schon bald wieder zu klein, um alle die Gäste zu beherbergen, welche die Drahtseilbahn unermüdlich hinaufbefördert. Alle wollen hinauf, wenige wieder herunter von diesem entzückenden Punkt.

Unsere Maschine hat nach der steilen Anfahrt einen tiefen Zug aus dem Wasserreservoir gethan und setzt nun, vor Feuereifer schnaubend, ihren Weg fort. Einige mit Bergstöcken bewaffnete junge Leute sind ausgestiegen, um in unmittelbarem Anlauf die Warte des Männlichen zu erklimmen. Die meisten ziehen vor, erst der Wengernalp einen Besuch zu machen unb dann von [541] der Scheidegg aus zum „Rigi des Berner Oberlands“, auf dem ein Wirthshaus auch zum Uebernachten einladet, hinüberzuwandern. Die nun kommende Strecke ist vielleicht die schönste der ganzen Bahn. Das dieser Schilderung beigegebene ganzseitige Bild (S. 545) ist etwas unterhalb Wengen aufgenommen und zeigt vorwiegend den Charakter des Lieblichen. Oberhalb Wengen kommen schon einige ernstere Linien in dieses Bild. Von dem Felskamm, der dem Gebirgszug entragt wie der Kiel eines gescheiterten Schiffes, sind vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden mächtige schwarze Blöcke herabgestürzt, hoch und fest genug, um jetzt Ziegenställen, die sich zwischen ihnen angesiedelt haben, als Schutz gegen neue Geschosse zu dienen. Dunkler Tannenwald nimmt uns auf. Auf seinem Untergrund erscheint der Firnschnee der Jungfrau noch weißer und die Pyramide des Silberhorns strahlt so blendend am tiefblauen Himmel, daß unser Auge den Glanz kaum zu ertragen vermag. Ist es nicht merkwürdig? Je höher wir kommen, desto höher erscheint die Jungfrau! Der Tannenwald lichtet sich. Im Wettlauf mit der Lokomotive bleibt ein Baum nach dem anderen zurück. Nur die kleinen haben noch eine Zeitlang Athem genug. Dann bleiben auch sie ermattet am Wege sitzen, und siegesgewiß stößt der Dampfhahn einen schrillen Jauchzer aus: wir sind auf der Wengernalp! – – Ist das die bräutliche Jungfrau, die wir von Bern aus bewunderten, rosig erglühend im Kuß der Abendsonne? Wohl ist es die Jungfrau, aber im Helm und Panzer Minervas, eine hehre, Achtung gebietende Göttin. Furchtbare Felswände warnen vor der Annäherung und droben in den Schießscharten blinken überhangende Eisstücke, bereit zum Schuß. Horch, was ist das? Am ganzen Himmel kein Wölkchen und doch unverkennbares Donnerrollen. Es nimmt zu, wächst von Sekunde zu Sekunde – seht ihr denn nicht? Da drüben, dort an der hohen, senkrechten Wand! Alles folgt mit den Augen der angegebenen Richtung: eine Lawine! Breit und schwer wie ein Wasserfall stürzt es herab, immer neue Massen folgen nach – Schnee mit Eisstücken untermischt – lagern sich auf der mittleren Terrasse, wachsen auf dieser an, bis sie gefüllt ist, und stürzen noch eine Stufe tiefer, bis sie endlich im Trümletenthal anlangen und hier den Bach nähren, der, in einem Spalt verschwindend, eine halbe Stunde von Lauterbrunnen mit wahrhaft höllischer Gewalt aus den Felsen hervorbricht: der berühmte Trümletenfall.

  Eiger.   Mönch.   Jungfrau. 0 Silberhorn.

Blick auf die Jungfraukette bei der Station Scheidegg.

Hier sollte man mindestens einige Stunden Rast machen. Gemächlich auf der Terrasse vor dem Gasthof sitzend, kann man ohne Erhitzung, ohne Anstrengung die Großartigkeit eines Hochgebirgspanoramas aus nächster Nähe genießen. Ebenso sehr wie die Jungfrau verdienen 1hre Nachbarn Mönch und Eiger mit ihren Gletschern Bewunderung. Besonders der Eiger zeigt von hier aus einen überraschend kühnen Bau, und es gehört gar nicht zu den Seltenheiten, daß man hier eine Besteigung dieser herrlichen Pyramide von A bis Z mit dem Fernrohr verfolgen kann. Noch ist aber unser Sehnen nicht ganz gestillt. Die Kleine Scheidegg (2069 m), der Scheitelpunkt zwischen Lauterbrunnen und Grindelwald, liegt so verlockend nahe, daß wir keine Ruhe haben, bis wir droben sind. In einer guten Viertelstunde ist die Höhe erreicht, und nun hegen wir wirklich für den Augenblick keinen Wunsch mehr als: hier bleiben. Zu dem bisher Geschilderten ist mit einem Ruck eine mächtige Erweiterung der Aussicht hinzugekommen. Unser Berg, der auf der Lauterbrunner Seite so schroff abfällt, dacht sich nach der Seite, die sich nun aufgethan hat, sanft ab. Nur der unterste Theil ist etwas steiler und verdeckt noch den Thalgrund von Grindelwald, während es drüben ebenso allmählich wieder ansteigt zur Großen Scheidegg, der Wasserscheide zwischen Grindelwald und Meiringen. In einer Reihe mit dem Eiger halten der Mettenberg, der Fuß des Schreckhorns, und das Wetterhorn gegen Süden und Osten Wacht, während im Norden die Faulhornkette das Thal gegen rauhe Winde schützt.

Welche Bedeutung man hier oben der Wengernalpbahn beimißt, mag man daraus ersehen, daß im vergangenen Herbst das noch sehr gut erhaltene Scheidegghotel niedergerissen und durch ein neues größeres ersetzt wurde. Und in der That, wenn man bedenkt, daß schon bisher eine förmliche Völkerwanderung zu Fuß, zu Pferde und mit Sänfte auf diesem Saumpfad einherzog, so darf man wohl erwarten, daß infolge des neuen, angenehmeren und billigeren Verkehrsmittels der Besuch ganz außerordentliche Verhältnisse annehmen wird. Für diejenigen, welche es vorziehen und vermögen, die Berge auf eigenen Füßen zu ersteigen, giebt es noch bahnlose Gipfel genug, ja sogar hier oben winken ihnen noch solche von verschiedenster Höhe und Schwierigkeit: die Spaziergänge auf das Lauberhorn und den Männlichen, die schon Uebung erfordernde Besteigung des Tschuggen, die Wanderungen zu der interessanten Eishöhle des Eiger und zur Klubhütte am Guggigletscher und endlich die nur unter guter Führung und bei genügender eigener Leistungsfähigkeit anzurathenden Touren auf Eiger, Mönch, Jungfrau oder Silberhorn. Die Jungfraubesteigung ist von dieser Seite außerordentlich schwierig und gefährlich. Man lese die Beschreibung von Güßfeldts Abstieg („In den Hochalpen“, S. 170 u. ff.). Spräche der Erzähler nicht in der Ich-Form, so würde man kaum glauben, daß er aus solchen Fährnissen lebend davongekommen ist.

Die Sonne rüstet sich zum Untergang. Wer nicht auf der [542] Scheidegg übernachten will, muß Abschied nehmen. In demselben ruhigen Geleise wie die Auffahrt vollzieht sich die Niederfahrt. Alpenrosen schmücken die Hänge. Die Baumregion naht wieder. Aus der tief eingerissenen Schlucht zu unserer Linken tauchen Arven auf, jene malerische, wetterfeste Kiefernart, die leider in unseren Alpen immer seltener wird. Hier finden sie sich noch in großer Zahl. Auch der Ahorn erscheint wieder. Wir fahren zwischen Obstgärten und den freundlich dreinschauenden Bauernhäusern von Itramen hindurch, überschreiten die schäumende Lütschine, noch ein letztes Pusten der Lokomotive, um die Höhe des jenseitigen Ufers zu erreichen, und wir sind in Grindelwald, dem grünen Gletscherthal. Diese beiden Worte bezeichnen die Lage: nach allen Seiten üppig grüne Matten und unmittelbar daneben die Hochgebirgswelt im ewigen Eiskleide. Hier ist es gut sein. Aus dem Schutt des großen Brandes, der im vorigen Sommer einen Theil des blühenden Dorfes vernichtete, erheben sich neue Wohnungen. Die schwer heimgesuchte Bevölkerung hat den Muth nicht sinken lassen und hofft, daß die neue Bahn den Verkehr und ihren Verdienst vermehren werde.

Wie nun der Leser seine Weiterreise einrichten, ob er nach Interlaken fahren oder über die Große Scheidegg nach Rosenlaui und Meiringen wandern oder ob er vorläufig gar nicht weiter will, das muß ich ihm überlassen. Schön ist’s im Oberland überall, wenn man vom Landregen verschont bleibt. Glückliche Reise!


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der Sänger.

Roman von Karl v. Heigel.

 (Schluß.)

9.0 Die Eumeniden.

Herbststürme entrissen den Bäumen das letzte Laub. Aus den Fenstern in Solitude sah man auf windgepeitschtes schwarzes Geäst unter einem schweren Wolkenhimmel. Es war noch Tag und in den Zimmern doch nicht Tag. Aber daß die Mienen der Prinzessin nichts Gutes verhießen, sahen ihre Begleiterinnen dennoch. Sie lag, in einen Pelz gehüllt, den Kopf auf die Hand gestützt, auf dem Sofa. Wangen und Lippen waren blutlos, dabei glänzten ihre Augen fieberhaft.

Frau von Schönfeld hatte zwar ein für sie selbst sehr angenehmes Ereigniß, ihre Verlobung mit Herrn von Aschau, angezeigt, dennoch saß sie in dem seidenen Sessel gegenüber der Prinzessin unbehaglich, kerzengerade und auf der Kante, bereit, bei der ersten Beleidigung zu fliehen.

„Ihre Beziehungen zu Aschau, liebe Schönfeld, waren mir längst kein Geheimniß. Glauben Sie ja nicht, daß ich Ihnen deshalb zürne. Warum soll eine junge Witwe sitzen bleiben gleich einer alten Jungfer wie ich! Aschau ist jetzt Excellenz und das Haupt einer nach Friedrich Schiller moralischen Anstalt. Bei Ihren beiderseitigen strengen Grundsätzen kann Ihr Einfluß auf die Primadonnen, Primaballerinen und so weiter nur heilsam sein. Ich wünsche Ihnen und Ihrer zweiten Ehe alles Gute. Aber ich befehle Ihnen, sich deutlicher darüber auszudrücken, inwiefern bestimmte Persönlichkeiten und Verhältnisse an meinem Hofe für Sie unerquicklich, warum sie für Ihre schmerzliche Trennung von mir maßgebend geworden sind! Die Ihnen mißliebige Persönlichkeit kann nur Leisewitz sein. Singt er Ihnen noch nicht genug Wagner?“

„Als Künstler schätze ich ihn heute ebenso wie früher.“

„Am Menschen liegt Ihnen hoffentlich ebenso wenig wie mir.“

Frau von Schönfeld zwinkerte unwillkürlich mit den Augen. „Es würde doch unnatürlich sein, wenn ich den Mann ohne Widerwillen sehen könnte, der meinem Verlobten das Leben verleidet. Herr Leisewitz behandelt seinen Vorgesetzten ebenso schroff wie seine Kollegen; er ärgert, kränkt, ängstigt ihn auf jede Weise. Herr Leisewitz ist die Geißel unseres Hoftheaters. Mit dem Drohwort: ,Ich werde mich bei der Prinzessin beklagen!‘ – so und nicht anders drückt er sich aus – mit dieser Drohung schüchtert er jeden ein, denn wem wird nicht die Ungnade Ihrer Hoheit als das schwerste Unglück erscheinen!“

„Er beruft sich auf mich? Was weiß ich von seinen Launen!“

„Ja, wie sollte ich – selbst verlobt – einem Manne nicht gram sein, der seine Braut, ein braves tugendhaftes Mädchen, vernachlässigt!“

„Das wird wohl Schuld der Braut sein . . . aber ist diese denn nicht unser blonder Engel aus Wörde? Wie man vergeßlich ist! Dann begreife ich wirklich nicht, wie er sie vernachlässigen kann.“

„Herr Leisewitz beruft sich auch in diesem Fall aus Ihre Hoheit.“

„Ach, gewissermaßen hat er da recht. Ich nehme seine freie Zeit stark in Anspruch. Allerdings wird er dafür bezahlt.“

„O, die ganze Stadt spricht von der Großmuth Ihrer Hoheit; die ganze Stadt kennt die wahrhaft fürstlichen Geschenke, mit denen ihn die gnädigste Prinzessin überschüttet.“

„,Ueberschüttet‘ ist stark, meine liebe Schönfeld. Das würde mir schon mein Hofsekretär nicht erlauben. Es ist aber sehr thöricht von Leisewitz, mit meiner Großmuth zu prahlen; er zwingt mich, künftig sparsamer zu sein. Uebrigens, woher wissen Sie etwas über die Vernachlässigung der Braut?“

„Man spricht überall davon. Herr Leisewitz ist bedauerlicherweise sehr unvorsichtig in seinen Aeußerungen und – Einbildungen.“

Frau Schönfeld sprach den zweiten Satz kaum hörbar, allein Erna saß im Nu aufrecht und sagte mit entstellter Stimme: „Jetzt verstehe ich Sie und bin Ihnen dankbar! Als glückliche Braut werden Sie sehr beschäftigt sein – auf Wiedersehen morgen oder übermorgen! Wenn ich Ihrer bedürfen sollte, werde ich Sie bitten lassen.“

Sobald Erna mit der Gräfin Casasola allein war, überließ sie sich ihrer Leidenschaft; sie zerriß ihr Spitzentuch in Stücke und schritt wie rasend im Zimmer hin und her. „Ein Schurke,“ sagte sie mit wutherstickter Stimme. „Ein Geck und ein Schurke!“

„Hoheit,“ bat Livia, „Sie schaden sich! Darf ich Doktor Walter rufen?“

Dieser Name wirkte wie immer. „Nein; ihn nicht!“ Dann fiel sie der Freundin um den Hals. „O, Livia, fühlst Du denn nicht, wie schmachvoll dieser Leisewitz mich erniedrigt! Jetzt verstehe ich seine Blicke, seine Seufzer, so manches dunkle Wort! Ich hielt ihn für einen Schwärmer, und er prahlt mit meiner Gunst!“

„Hoheit!“

„Sage das Wort nicht mehr! In dieser schnöden Welt ist nichts mehr hoch und hehr! Und das arme schöne Mädchen, dem ich so gut bin, denkt, glaubt – Aber er soll es büßen, tausendfach büßen! Setze Dich und schreib’!“

Livia sah sie verwundert an und ließ sich dann am Schreibtisch nieder, nahm einen Briefbogen und tunkte die Feder ein.

„Herr Doktor Walter!“

„Aber, liebe Erna, Doktor Walter ist wahrscheinlich in seinem Zimmer. Wenn wir Brausewein –“

„Schreib’! ‚Herr Doktor Walter! Sie genießen das Vertrauen des Fürsten. Benachrichtigen Sie Ihren Herrn, daß ein Unwürdiger Ihren Schützling, Prinzessin Erna –‘“

Livia setzte die Feder ab. „Theuerste, warum das schreiben? Das sagt sich doch besser! Doktor Walter verdient auch Dein Vertrauen.“

„Daß er mir mit seiner gewohnten unverschämten Gelassenheit erwidert: das hab’ ich vorausgesehen? Nein! Alle Welt zetert über anonyme Briefe, aber alle Welt legt Gewicht auf sie.“

Livia warf entschlossen die Feder hin. „Erna, ich schreibe keine anonymen Briefe. Wenn Du willst, werde ich mit Doktor Walter reden. Was soll er?“

„Der Fürst und er sollen Zeugen sein, wie ich den Elenden vernichte. Ich könnte diesem Menschen gegenüber, der meinen Ruf vergiftet, meine Würde vergessen, ich könnte – den Männern sei es überlassen, die Beleidignug zu sühnen. Er ist auf heute abend neun Uhr befohlen, nicht?“

„Erna, Erna, was willst Du?“

[543] „Mich vom Wahnsinn dieses Menschen überzeugen, Geh’ zu Deinem Freunde – Du brauchst nicht roth zu werden, er ist es doch – geh’ und sag’ ihm, er möge um zehn Uhr zur Stelle sein.“

Livia ließ den Arzt in den anstoßenden Saal rufen und entledigte sich ihres Auftrags. Er hörte ihr aufmerksam zu und bat sie dazwischen, ihm das eine und andere genauer zu sagen. Dann nickte er und rief: „Jetzt hab’ ich ihn!“

„Herrn Leisewitz?“

„Nein, entschuldigen Sie meine Unschicklichkeit, ich meine den Fürsten. Wenn mich nicht alles täuscht, stehen wir an einem Wendepunkt. Ich gehe sofort zum Fürsten.“

Livia hielt ihn erschrocken zurück. „Was werden Sie dem Fürsten sagen? Sie wollen mein Vertrauen mißbrauchen?“

„Vertrauen Sie mir – ich handle zum besten Ihrer Freundin. Ahnen Sie denn nichts? Haben Sie nie für Ihre Freundin gefürchtet?“

Livia ließ erblassend seine Hand fahren. „Jetzt versteh’ ich Sie. Das Los ihrer Mutter! O, mein Gott! Aber ich will fort! Solitude war niemals fröhlich, jetzt wird es ein Kerker!“

„Und ich bin der Kerkermeister, meinen Sie? Nein, theuerste Gräfin, fassen Sie Muth. Solitude wird sich nicht verändern und nur für mich ein Kerker sein, wenn Sie gehen –“

Livia fiel ihm ins Wort. „Ich werde nicht gehen. Ich kann erschrecken, bin aber nicht feige. Was auch kommen mag, ich bleibe bei Erna.“

Walter ergriff ihre Hände. „Dank, herzlichen Dank! Nicht nur um die Leidende, auch um den Arzt erwerben Sie sich unendliches Verdienst, denn –“

Wieder kam sie seiner Erklärung zuvor. „Doktor, Doktor – Sie sind ein guter Mensch – versprechen Sie mir, meine Freundin zu retten –“

„Ach, Gräfin, wenn es in meiner Gewalt stünde –“

„Geben Sie mir zum Trost nur ein schwaches Vielleicht, und Ihre Wünsche sollen erfüllt werden!“

„Sie stellen meine Redlichkeit auf eine harte Probe, denn was ich wünsche, wissen Sie.“ Er drückte ihre Hände ungestüm an seine Brust. „Dich wünsche ich, Dich! Aber Ihre Stellung, Ihre Familie wird Sie hindern –“

Sie lächelte unter Thränen, „Meine Familie! Sie Heuchler wissen ebenso sicher, daß ich mündig, wie daß ich Ihnen gut bin.“

„Livia!“ Er zog sie, die nicht widerstrebte, an sich und küßte sie.

*  *  *

Fritz Hagemann hatte in den drei Wochen, die seit der „Tannhäuser“–Aufführung vergangen waren, Großes geleistet; er war dabei stets von bezaubernder Liebenswürdigkeit, beim Geschäft wie beim Vergnügen, in den verschiedenen Kaffeehäusern unter Tags wie am Stammtisch im „Artushof“ bei Nacht. Es war ihm geglückt, in der großen Stadt eine Art von Sonnenbrüderschaft um sich zu sammeln, und der Kreis dieser neuen Freunde vergrößerte sich täglich. Seine seemännischen Ausdrücke, die er nach der Meinung der Wörder nicht auf der See, sondern auf dem Hafenplatz gesammelt hatte, heimelten seltsamerweise diese Landratten an, und so entwickelte sich bei ihnen eine feuchtfröhliche Zuneigung, die Hagemann schönstens erwiderte. Dabei erging es Hagemann wie so vielen: über dem Guten draußen bemerkte er den Schatten im Hause nicht. Leisewitz erschien in Nummer sieben nur nachmittags und auf kurze Zeit, und sein künftiger Schwiegervater ließ seine Entschuldigungen gelten – Studien, Proben, Aufführungen und vor allem der Hof nahmen ja den Aermsten Tag und Nacht in Anspruch! Um so besser, dachte Hagemann, so kann ich mich ungestörter Behaglichkeit hingeben und werde meine Tochter für mich haben. Emma verbarg ihren Kummer vor dem Vater, nicht aber vor Robert Lenz, Der gute Mensch wurde ihr in ihrer Verlassenheit vertraut wie ein Bruder. Er hätte wohl selbst des Trostes bedurft, denn so sehr der Intendant und Leisewitz aufeinander erbost waren, so hielten sie doch an ihrem Uebereinkommen bezüglich der neuen Oper fest, Sie wurde auf den Nimmermehrstag verschoben und ihr Schöpfer auf die nächste „Saison“ vertröstet. Lenz war zu stolz, die vergeßliche Prinzessin an ihr Versprechen zu erinnern, er mied Solitude, und Doktor Walter verließ das Schloß nicht mehr. Dabei waren die Mittel Roberts knapp. In der Freude, sein Werk aufgeführt zu sehen, dem heimlich geliebten Weibe für immer nahe zu bleiben, hatte er seine Schiffe verbrannt, seine feste Stellung in Wörde aufgegeben. „Für mich sind die friedlichen Aussichten nicht tröstlich,“ klagte er in düsteren Stunden, „draußen im Felde hätte ich gewußt, was thun, und wenn ich gefallen wäre, würde ich etwas Ganzes und Rechtes gewesen sein!“ Doch diese verzweifelten Stimmungen gingen vorüber. Er war ein Sonnenkind. Die Enttäuschung in der einen Hoffnung machte ihm die Erfüllung der anderen um so süßer. Er war ja der Geliebten nah, war ihr Freund! Ein Sonnenkind! Wie ihn in Wörde das wogende Meer für die Entbehrungen der Kleinstadt entschädigt hatte, so ersetzte ihm jetzt das Gewühl, das tausendgestaltige Leben der Großstadt die Natur. In jeder Brust dieser Hunderttausende wühlt die Leidenschaft wie in der meinen, dachte er. Welch ein Sturm, wenn sie entfesselt wären! Aber frommer Glaube, Pflichttreue, Schaffensfreude streiten dagegen und stellen die schöne Ordnung her. An die Arbeit also! Und er arbeitete. –

An jenem rauhen Tage, an dem Frau von Schönfeld in Solitude ihre Verlobung anzeigte, machte Herr von Aschau auf dem Schillerplatz seinen ersten Besuch. Er traf Hagemann nicht zu Hause an, aber die Tochter im düsteren kalten Lesezimmer. Die Unterhaltung währte nicht lange, doch Emma hatte genug gehört und errathen, um die bis jetzt mühsam behauptete Ruhe unwiederbringlich zu verlieren. Die Gunst der Prinzessin lockte Siegfried! Darum war es ihm lieb, daß sie ihre Opernbesuche eingestellt hatte – die Gegenwart der Braut störte ihn in seiner Romantik, in dem Bewußtsein, für die Hohe, Hehre zu singen! Darum ließ er sich nur noch auf kurze Augenblicke bei seiner Braut sehen, darum ließ er sich so gerne nach Solitude berufen! Thränenlos, mit geisterhaften Augen saß sie da und starrte vor sich hin.

Als Hagemann nach Hause kam, erschrak er über ihre Blässe. Sie aß nichts. „Kind, was fehlt Dir? Du bist krank! Ich werde unseren Bekannten, den Hofmedikus der Prinzessin, rufen.“

„Den am letzten,“ erwiderte sie mit bitterem Lachen, „Wir haben mit den Hofbekanntschaften kein Glück! Herr von Aschau war da und beklagte sich über Siegfried, ich fürchte, mit Recht. Die Hofgunst macht ihn übermüthig.“

Hagemann wurde nachdenklich. „Ich habe auch schon dies und das gehört, aber man nimmt sich vor dem Schwiegervater in acht und ich sehe nicht klar. Neulich begegnete mir Stenzel, der Hoffourier, Ich fand ihn verändert, mißtrauisch, zugeknöpft. Purzel, der Hanswurst, ist Knall und Fall entlassen worden, weil er mit einem Lakaien der Prinzessin Streit angefangen hat, und setzt, wie mir mein Freund, der Bassist Brummer, erzählte, das Haarkräuseln jetzt im Laden auf dem Schloßplatz fort. I, sicherlich ist nicht alles klar! Im Artushof erscheint Leisewitz nie. Hat er ein schlechtes Gewissen oder schämt er sich meiner bürgerlichen Gesellschaft? Ich werde den Jungen ansegeln. Er soll die Flagge zeigen –“

„Laß mich mit Siegfried reden,“ versetzte sie mit Festigkeit. „Wenn er heute abend kommt – vielleicht kommt er – so laß mich mit ihm allein, nur ein paar Minuten lang. Vater, ich ertrage die Qual nicht mehr!“ rief sie mit ausbrechender Leidenschaft, „ich will mein Urtheil hören!“

„Das ist ja fürchterlich,“ rief Hagemann. „Das kam doch nicht erst heute über Dich. Und mich läßt man fröhlich und guter Dinge sein, während mein Kind –“

„Beruhige Dich, lieber Vater! Vielleicht wird noch alles gut.“

Hagemann sah Emma von der Seite an. Ob wohl Lenz etwas wußte. „Kommt Lenz heute?“ fragte er laut.

„Ich hvffe es; er hat eine stille Art, Antheil zu nehmen, die wohlthut.“

„Lenz ist ein guter Kerl. Ich werde ihn zum ‚Sonnenbruder‘ vorschlagen.“

Leisewitz kam spät abends. „Liebes Bräutchen, guten Abend!“ Er legte seinen rothgefütterten Radmantel ab. „Es weht heute ein häßlicher Wind. Wo ist Papa?“

„Er schreibt Briefe in seinem Zimmer.“

„Endlich, endlich sind wir also einmal allein! Liebes, theures Herz –“

Emma trat zurück und wies auf einen Stuhl. „Nimm Platz!“

Er stutzte. „Was ist mit Dir vorgegangen? Du blickst ja heute ganz anders. Wir haben uns freilich eine Ewigkeit nicht gesehen – aber –“

[544] „Wenn Du willst, daß wir allein bleiben, so nimm Platz!“ Ihre Stimme klang ihr selber fremd.

Nach einigem Zaudern folgte Leisewitz ihrer Aufforderung. Daß es einmal zur Aussprache kommen werde, hatte er sich längst gesagt, boch daß sie diesen Ton in der Kehle hätte – aber so kann man sich in seinen nächsten Bekannten irren!

„Kommst Du aus großer Gesellschaft oder wirst Du erwartet?“ fragte sie mit einem Blick aus seinen Frack.

„Ich gehe in Gesellschaft.“

„Nach Solitude?“

„Wohin sonst! Hofsänger – Hofsklave! Doch habe ich noch eine ganze halbe Stunde Zeit.“

„Siegfried, geh’ heute nicht nach Solitude, verbringe den Abend bei uns!“

„Das geht nicht, Kind – morgen, übermorgen, die ganze Woche stehe ich zu Deiner Verfügung, wenn Du willst, aber nicht heute.“

Sie faltete die Hände. „Ich bitte Dich!“

„Es schmerzt mich, aber ich kann nicht. Zur Absage ist es jetzt zu spät.“

„Mir gegenüber warst Du nie um Gründe zur Absage verlegen.“ Sie trat ihm näher. „Wenn Dn mich liebst, bleibst Du!“

„Niemand kann Dich mehr lieben als ich! Aber verlange nicht, daß ich meine Stellung gefährde! Der Fürst –“

„Lüge nicht!“ unterbrach sie ihn heftig. „Was liegt Dir am Fürsten! Es sind ganz andere Dinge, die Dich nach dem Schlosse ziehen. O, ich weiß, man spricht darüber in der Stadt, man spricht über mich und bedauert mich – wie Du siehst, bin ich unterrichtet. Mache Dich nicht durch Leugnen verächtlich!“

Er fuhr trotzig auf. „Nun ja, wir Künstler bedürfen der Anregung. Der Prunk und Glanz und Duft fürstlicher Gemächer regt mich an. Ich bin kein Alltagsmensch, dem das Gewöhnliche genügt – ich bin ein Künstler, und jene strahlende Welt belebt, begeistert, berauscht mich!“

„Und darum hast Du Dir die Braut aus einem Bürgerhaus gewählt? Sie sorgt für die Prosa des Lebens; die Poesie suchst Du Dir dann hinter Thüren, die ihr verschlossen sind! Diese Poesie! Robert Lenz ist auch ein Künstler, aber ich sehe nicht, daß er um Prunk und Glanz und Gunst buhlt.“

„Ha, daher weht der Wind?“ rief Leisewitz in eifersüchtiger Aufwallung. „Herr Lenz, ja freilich! Was würdest Du sagen, wenn ich von Dir verlangte, diesen Mann nicht mehr zu empfangen?“

„Ich würde sagen, Du seist ungerecht, aber mich Deinem Wunsche fügen.“

Er war geschlagen und schwieg. Emma sah ihn an, während er die Augen wegwandte. Er sah hübscher denn je aus; sogar im Mißmuth hatte sein Gesicht einen kindlichen Zug, der sie rührte. War es denn möglich, daß sie von ihm scheiden mußte, daß er sie verließ? Mußte es denn heute entschieden werden? Aber sie gab dieser Regung der Schwäche nicht nach. Mit einem Ruck stand sie wieder aufrecht und unnahbar wie bei Siegfrieds Eintritt.

„Wozu der Streit? Bleib’ und alles ist vergessen; geh’ und alles ist zu Ende!“

„Was soll das heißen? Du – Du? Klatsch, blinde Eifersucht könnten Dich dahin bringen –“

„Wie kann ich auf ein Phantom eifersüchtig sein! Denn einem Phantom jagst Du nach!“

Sie ahnte nicht, wie tief sie ihn damit kränkte! Seine ganze Eitelkeit bäumte sich auf und machte allem Schwanken ein Ende.

„Da ich einem Phantom nachjage – so laß mich jagen!“

„Du giebst also Deine Treulosigteit zu. Geh denn, aber für immer!“

Er wiegte sich hin und her. „Kann ich Deinen Vater sprechen?“

„Nein. Er ist einig mit mir.“

„Nun denn – Du willst es mit Gewalt – freilich, Herr Robert Lenz –“

Sie hob stolz abwehrend die Hand.

Er griff nach seinem Mantel. „Ich komme niemals wieder. Denn daß Du es nur weißt: wenn Du mich so verabschiedest, trennt uns binnen wenigen Tagen der Ocean.“

„Er ist nicht so tief wie die Kluft, die heute sich zwischen uns aufthat.“

Leisewitz schwang den Mantel über die Schulter, trat aber doch einen Schritt näher. „Auf Wiedersehen, Emma!“

„Nein!“

Er sah sie an, aber sein Blick war machtlos. „Ich werde Dir morgen schreiben.“

„Ich nehme Briefe von fremder Hand nicht an.“

„Also dann – lebwohl!“

Sie horchte, wie sein Schritt im Flur verhallte; er zauderte nicht, es war sein gewöhnlicher beschwingter Gang. Dann schlug sie die Hände über das Gesicht und stöhnte: „Verlassen!“

Wenige Minuten später fuhr Leisewitz durch die hellerleuchteten, aber menschenleeren Straßen. Der Sturm beunruhigte die Pferde; zuweilen mußte das Gefährt fast halten, doch Leisewitz dachte nicht daran, auszusteigen und in die Arme der verlassenen Braut zurückzukehren. „Ich jage nach einem Phantom?“ sagte er. „Wie beschämt wird sie sein! Es ist gut so. Wir würden eins dem andern zur Geißel geworden sein. Ihr fehlt der Schwung, der göttliche Leichtsinn. – Nein, nein, Fräulein Emma, ich jage keinem Phantom nach, ich gehe sicher! Die Welt wird staunen!“

Das windumbrauste Schloß stand unter den gepeitschten Bäumen in allen Fenstern hell, festlich wie ein lächelnder goldbetreßter Marquis. Leisewitz sprang aus dem Wagen und eilte die Treppe hinauf. Die Bedienten in der Halle verbeugten sich tief – er war ja in höchster Gnade!

Prinzessin Erna war heute verführerisch schön, allerdings nicht ohne einige künstliche Nachhilfen, doch Leisewitz war an solche Kunst gewöhnt. Sie empfing ihn in ihrem Musikzimmer; wie während der letzten Wochen immer war nur Gräfin Casasola bei ihr.

„Der Sturm hat Sie nicht abgehalten, das ist hübsch von Ihnen,“ sagte Erna und ließ ihm ihre Hand zum Kuß.

„Der Sturm? Mich würde kein Erdbeben zurückhalten!“

„Wirklich?“

Er legte die ringgeschmückte Hand auf die Brust. Sie sah ihn durchbohrend an. Sie will in meinem Herzen lesen, dachte er. Ein Diener brachte Thee; sie plauderten über Politik, über das Theater. Der Diener ging.

„Seine Hoheit der Fürst kommt nicht?“ fragte Leisewitz.

„Nein,“ antwortete sie rasch. „Papa würde uns ja nicht stören, aber es wird auch sonst niemand, niemand angenommen. Wir sind heute ganz allein, ganz unter uns.“

Und dann sang er. Er sang heute weniger gut als sonst; der Auftritt mit Emma hatte doch auf seine Nerven gewirkt – und dann das Kommende! Doch die Prinzessin fand seinen Gesang wundervoll. Die Zeit verflog ihm. Eine Uhr schlug mit feinem Silberstimmchen Zehn.

„Wie die Zeit vergehst“ sagte Erna. „Und Ihre arme Braut verbringt die Abende allein?“

„Ich habe keine Braut mehr; wir haben die Verbindung gelöst.“

Erna setzte sich aufrecht. „Sie haben das arme Kind geopfert?!“ rief sie.

„Ich würde – würde“ – das Wort Emmas war noch in seinem Gehirn und entschlüpfte ihm – „würde meinem Phantom Eltern, Freunde . . . alles opfern.“

„Hat sie geweint?“

Er erinnerte sich jetzt und wunderte sich, daß Emma auf das gewöhnliche Rührmittel der Thränen verzichtet hatte. „Ja,“ sagte er leise.

„Es giebt nur eine Erklärung, eine Entschuldigung: Sie lieben sie nicht mehr, Ste lieben eine andere!“

Er schlug die Augen auf und nickte.

„O, ich merkte sofort an Ihrem Gesang, daß Sie heute etwas sehr Trauriges, ein großes Leid erlitten haben. Sie sangen nicht so feurig, sieghaft wie sonst –“

„Der größte Schmerz steht mir bevor. Meine Verhältnisse hier sind unerträglich. Ich ziehe Hoheit ins Vertrauen: ich muß fliehen.“

„Haben Sie Schulden?“ fragte Gräfin Livia trocken.

Leisewitz blickte sie entrüstet an. „Ich bitte –“

„Wie prosaisch Sie sind, Gräfin!“ sprach Erna. „Die ganze Stadt weiß: Herr Leisewitz wühlt in Gold. Sie verdienen nicht sein schönes Vertrauen!“

„So werde ich mit Euerer Hoheit Erlaubniß mich während der Beichte in mein Zimmer zurückziehen.“ Livia schlüpfte durch

[545]

 Der „Schwarze Mönch“. Großhorn. Breithorn. Staubbachfall.

Ansicht der Wengernalpbahn bei Lauterbrunn.
Nach einer Photographie von A. Gabler in Interlaken.

[546] den Vorhang, der vor der einen Thür niederhing; zwei andere Thüren waren unverhangen und geschlossen. Sein Blick haftete an jenem Vorhang.

„Fürchten Sie keine Lauscher! Niemand wird uns stören. Fliehen Sie Ihrer Liebe wegen?“

„Ja.“

„Lieben Sie – ich kann es nicht glauben – lieben Sie hoffnungslos?“

„Ach, sie steht hoch über mir; dennoch, dennoch“ – seine Stimme klang leidenschaftlich, trotzdem er nur flüsterte – „dennoch hoffe ich, denn ich liebe sie glühend.“

„Und Sie thun recht damit.“

Nun war er doch betroffen. Er sah sie fragend an; ihre Augen glänzten sinnverwirrend. „Hoheit waren mit meinem Gesang unzufrieden – darf ich noch einmal singen? Mein letztes Lied oder – ach, mein Lied wird Ihnen alles sagen!“

Er ging an den Flügel und sang Heines Verse:

„Entflieh mit mir und sei mein Weib!“

Diesmal hatte seine Stimme ihren alten Zauber. Erna erlag ihm, ein Zittern ging durch ihren Körper, sie ließ sich auf das Kissen fallen und schluchzte. Da lag er ihr zu Füßen und sprach mit inbrünstigem Flehen:

„Ich soll für immer von Dir scheiden?
Unmöglich – Fieber – Wahnsinn –“

Sie richtete sich geisterhaft auf, er jedoch sah die Veränderung in ihren Zügen nicht, hörte nicht das Rascheln des Vorhangs. „Sprich!“ rief er,

„Scheiden ist Tod! Ich will ja leiden,
Doch leben, denn ich liebe Dich!“

Und er umschlang sie. Da fuhr sie wie eine Natter auf und schleuderte ihn mit einem Schrei von sich. Der gelle Ruf brachte den Taumelnden zur Besinnung. Er blickte um sich – der Fürst, der Arzt, die Gräfin eilten auf Erna zu. Sie war jetzt „Gorgonen gleich“; ihre Augen traten aus den Höhlen, bis in die Lippen bleich, hob sie die Arme nnb schrie: „Tötet ihn!“ Dann brach sie in den Armen des Vaters zusammen.

Doktor Walter wollte dem Fürsten die leichte Last abnehmen, doch der Fürst, der nur Augen für sein unglückliches Kind hatte, sagte: „Noch nicht! Zum letzten Mal lassen Sie mich für sie sorgen! Erna, mein Liebling – ah, ihr Herz schlägt!“

„Nur Erschöpfung, keine Ohnmacht; sie darf zunächst nur befreundete Gesichter sehen. Keine Gefahr, Hoheit! Ich bleibe in der Nähe.“

Der Fürst, ohne die Augen von dem Gesicht Ernas wegzuwenden, sagte kurz: „Ich rathe Herrn Leisewitz, seine Abreise zu beschleunigen!“ Dann schritt er mit seiner Last fest und aufrecht durch die Thür.

Leisewitz hatte sich unterdessen gesammelt. „Alles Wahn!“ sagte er und blickte trotzig die Zurückbleibenden an. Doktor Walter zeigte auf einen Stuhl, auf dem der Klapphut Siegfrieds lag. „Ihr Hut liegt dort, Herr Leisewitz!“

„In diese Falle haben Sie mich gelockt,“ versetzte Leisewitz, noch bleich, aber mit fester Stimme. „Ich könnte Genugthuung verlangen, allein Narren sind wir beide nicht, obwohl Sie mich nach dem Vorausgegangenen vielleicht dafür halten. Wie auf der Bühne so im Leben: dem besten Schauspieler kann einmal eine Rolle mißlingen. Was thut das! In ein paar Tagen schwimme ich auf dem Ocean; die Kabelnachricht von meiner bevorstehenden Ankunft wird die Millionenstadt drüben in fieberhafte Aufregung versetzen. Sie halten sich jedenfalls für eine Leuchte, Doktor, aber gehen Sie hinüber, und ich kann Sie versichern, New-York wird ruhig bleiben. Herr Geheimer Hofmedikus, leben Sie wohl!“ Und er verbeugte sich mit dem Anstand eines Dragonerrittmeisters vor der Gräfin und schritt mit dem Stolz eines Hidalgos hinaus.


10.0 Die Friedens-Symphonie.

Der Sturm heulte viele Tage lang durch die Straßen und trieb unendliches Gewölk über die Dächer. Es regnete abwechselnd grob und fein, aber immer. Trotz des abscheulichen Wetters machte Robert Lenz täglich den weiten Weg von seiner Herberge in der Vorstadt nach dem Schillerplatz. Die Nachricht von der plötzlichen Abreise des Sängers war ihm in einem höflichen Schreiben Aschaus mitgetheilt worden; ihr zufolge sehe sich Seine Excellenz leider gezwungen, dem Komponisten die Partitur der Oper Tasso, diese „geistvolle Arbeit“, dankend anbei zurückzustellen.

Anfangs ging Lenz einige Male vergebens; Herr und Fräulein Hagemann, hieß es, seien unpaß und ließen sich entschuldigen. Bald aber entschloß sich Fritz Hagemann, den außer Kummer und Aerger in der Einsamkeit auch die Langeweile plagte, seinen alten Bekannten zu empfangen. Ueber den heiklen Punkt, den Rückgang der Verlobung, verlor er nicht viel Worte. „Ich hätte mir keinen besseren Ausgang wünschen können – kreuzunglücklich würde mein Kind mit Leisewitz geworden sein – er leidet am Größenwahn. Aber was soll ich thun? Der ,Artushof‘ ist mir vorläufig verleidet, und nach Wörde mag ich erst recht nicht zurück. Mein einziger Trost ist die italienische Weinstube unten. Die Wirthin und ihre fünf Töchter leisten mir Gesellschaft. Die Mädels sprechen ungefähr so viel deutsch wie ich italienisch – das ist lehrreich. Wenn Sie mitkommen – und Sie müssen mitkommen – werden Sie sich wundern.“

Endlich wurde Lenz bei seiner Ankunft auch einmal von Emma empfangen; Hagemann, der im Zimmer nebenan seine Geschäftsbriefe erledigte, rief ihm durch die offene Thür seinen Willkomm zu. Robert, welcher nur der Hoffnung, nicht seiner Liebe entsagt hatte, dünkte die Verlassene in ihrer Blässe schöner denn je. Ihre erste Frage war nach dem Schicksal seiner Oper; sein Gleichmuth über die Ablehnung befremdete sie und sie machte ihm Vorwürfe.

„Was liegt daran?“ erwiderte er nach einem Seufzer. „Jetzt bewegt alle nur ein Gedanke: kommt der Friede endgültig zustande? Die Verhandlungen ziehen sich unheimlich in die Länge.“

Emma erröthete. Ueber ihrem eigenen Weh hatte sie die große Völkerfrage vergessen; sie fragte und Robert erzählte, was sich inzwischen ereignet hatte. Dabei wurde er warm und Emma konnte die Arbeit seiner Gedanken, das Spiel seiner Empfindungen verfolgen. So hatte sie ihm zu Anfang ihrer Bekanntschaft in Wörde oft gelauscht; so hatte sich damals in der Stimme, im Blick die verhaltene Gluth seiner Seele zuweilen verrathen. Zum ersten Mal seit der Trennung von Leisewitz fühlte sie sich wieder wohl und belebt. Und als ihr Robert schonend mittheilte, daß die heutigen Zeitungen die Nachricht von dem schweren Gemüthsleiden der Prinzessin, wenn auch in schonender Form, enthielten, da beklagte sie die Unglückliche aufrichtig und war sogar fähig, an Leisewitz ohne Zorn zu denken – fast auch ohne Schmerz.

Unterdessen hatte sich das Wetter geändert. Einem starken Schneefall folgte Frost; der Winter war da, doch ein wolkenloser Himmel machte ihn erträglich. Eines Abends saßen Vater und Tochter im wohlerleuchteten Zimmer in Erwartung ihres neugewonnenen Hausfreundes; Hagemann heute in ungeduldigem Harren, denn er hatte beschlossen, seine freiwillige Verbannung zu beendigen und an der Tafelrunde im „Artushof“ wieder theilzunehmen. Die große Nachricht war Robert Lenz im Laufe des Tages zugestellt worden; er sollte Papa Hagemann begleiten.

„Robert läßt auf sich warten.“

„Wenn er nur nicht erkrankt ist! Findest Du nicht, daß er leidend aussieht?“

„Ist mir nicht aufgefallen.“

„Ich fürchte, ich fürchte, Herr Lenz hat Sorgen.“

„Wohl möglich.“

„Wir müssen ihm helfen!“ rief Emma warm.

„Willst Du mir sagen, wie? Mit Geld? Auf welche Art? Er ist empfindlich wie eine Nachtigall und stolz! Ich habe Erfahrungen mit ihm gemacht.“

„Wieso?“

„Ich hatte doch damals in Wörde, als er plötzlich ausblieb, eine lange Unterredung mit ihm. Ein seltsamer Mensch! Eigentlich that er mir leid.“ Die gespannte Aufmerksamkeit Emmas beunruhigte Hagemann. „Alte Geschichten,“ sagte er verdrießlich. „Wie lang die Abende sind!“

Allein damit gab sich Emma nicht zufrieden – er mußte beichten. Obwohl er sich so kurz wie möglich faßte, wurde Emma doch tief bewegt; ihr Gesicht glühte. „Warum hast Du mir diese Liebe verheimlicht?“ sagte sie mit gepreßter Stimme.

„Durfte ich sein Vertrauen mißbrauchen? Und was wäre damit geändert worden?“

„Es wäre doch besser gewesen, es mir zu sagen.“

Hagemann stutzte. „Denkst Du etwa – o, Du kennst seinen [547] Stolz nicht!“ erklärte er kühl, „‚Sie ist reich, und ich bin arm; schon das allein verschließt mir den Mund – ewig den Mund,‘ hat er gesagt.“

„Dann ist ihm freilich nicht zu helfen!“ versetzte sie und lachte. Das war das alte verschleierte und doch so herzliche Lachen! Der Fall Leisewitz ist abgethan, dachte der Vater erfreut.

Als bald darauf der Hausfreund erschien, saß Emma auf dem Sofa und beugte nach kurzem Gruße den Kopf wieder über ihre Stickerei. „Was?“ sagte Lenz, „bekomme ich heute nicht die Hand, Fräulein Emma?“

Sic blickte ihn aus tiefen Augen an, dann erhob sie sich rasch. „Ihnen ist heute Angenehmes begegnet!“

„So, sieht man mir’s an?“ rief er fröhlich, „Nun ja, ich habe eine neue Arbeit vollendet.“

„O, davon weiß ich ja gar nichts!“

„Glaubten Sie denn, daß ich müßig ginge? Aber ich verrathe nicht mehr, denn diesmal – zweite gute Nachricht – diesmal habe ich sichere Hoffnung, daß mein Werk aufgeführt wird.“

„Das erzählst Du uns, wenn wir vom ,Artushof‘ zurückkommen,“ fiel Hagemann ein. „Wenn wir nachher bequem sitzen wollen, müssen wir jetzt gehen.“

„Ihr Glück freut mich, freut mich unendlich!“ sagte Emma und gab Robert beide Hände. Welch wohlige Wärme durchströmte ihn bei ihrem Druck! Und wie schön war sie! Er bildete sich ein, heute einen neuen Zauber an ihr zu sehen. Und am Ende war es keine Einbildung! So strahlend waren ihre Augen, so lockend der rothe Mund! Wenn er sie jetzt ans Herz zöge, wenn er diese Lippen küßte – –

„Bitte, hilf mir in meinen Pelz, Emma!“

Sie ließen die Hände los und sprangen beide dem Vater zu Hilfe. „Wirst Du lange ausbleiben, lieber Vater?“

„In einer Stunde sind wir wieder da! Die Signora unten könnte uns dann noch einen Eierpunsch heraufschicken, und – wir lassen unseren Tondichter leben. Wie heißt denn die neue Oper?“

„Es ist keine Oper, sondern eine Symphonie.“

„So, so!“

„Sie wird herrlich sein!“ rief Emma. „Heute sind Sie wohl sehr glücklich?“ setzte sie leiser hinzu.

„Ach, um glücklich zu sein, fehlt mir viel. Ich bin kein Kopfhänger – das ist alles.“

„Das ist die Hauptsache!“ sagte Hagemann und zog Robert mit sich fort. –

Als Hagemann um Elf ohne Lenz nach Hause kam, trat ihm Emma vom Fenster entgegen. „Du bist noch auf?“ rief er. „Also hat Lenz doch recht gehabt; er wollte Deinen Schatten am Fenster sehen. Nun bist Du wohl übler Laune? Aber dieser Tondichter war nicht fortzubringen.“

„Ich bin ganz und gar nicht übler Laune – auch wenn Du Deine eigene Seßhaftigkeit dem armen Lenz aufbürdest.“

Hagemann schmunzelte. „Nun, die Wahrheit ist, ich wurde großartig empfangen – kurz und gut, wir trinken morgen erst den Eierpunsch. Und Du sollst in Zukunft nicht mehr so allein sein; wir sehen uns nach einer Gesellschafterin um.“

„Nein, nein, nein! Ich habe ganz andere Pläne!“

„Du siehst ja heute merkwürdig unternehmungslustig aus!“

„Froh bin ich, froh! Ich habe hin- und hergedacht, wie Lenz zu helfen ist!“ Sie lachte und schmiegte sich an Hagemann. „O, Vater, ich bin ganz und gar nicht übler Laune und glaube, ich werde nie mehr schwermüthig sein!“


Die Stadt unter einem stahlblauen Winterhimmel war festlich geschmückt. Von allen Thürmen und Häusern wehten Fahnen. Es wimmelte in allen Straßen und Gassen; überall klang Musik. Es schien keine Unglücklichen und Leidenden mehr zu geben. Die langwierigen Verhandlungen der Mächte hatten nun doch zum besten Ende geführt, zum Frieden. Es fügte sich, daß just am Tage des endgültigen Abschlusses ein Konzert im „Artushof“ stattfinden sollte, dessen erste Nummer, das Werk eines bisher unbekannten Tondichters Robert Lenz, den schönen Titel „Friedens-Symphonie“ führte.

Der Fürst war von Doktor Walter an den Schützling der Prinzessin erinnert worden. An eine Aufführung der Oper konnte man nicht denken, man hatte noch keinen Ersatz für Leisewitz, der unterdessen in New-York mit Pauken und Trompeten empfangen worden war. So wurde denn ein Konzert der Hofkapelle veranstaltet und das jüngste Werk des Tondichters, die „Friedens-Symphonie“, dazu einstudiert.

Kurz vor der Aufführung ging Lenz zu den Freunden. Emma war schon im Mantel, sie drückte Robert aufgeregt die Hand und war ängstlich bei aller Freude, ihm aber gab ihr Anblick Muth. Hagemann war beinahe ebenso aufgeregt wie seine Tochter; er hatte alle seine Freunde aufgeboten, und dennoch bangte er für den Ausgang. „Eine Symphonie,“ hatte er zu seiner Tochter gesagt, „weißt Du, eine Symphonie ist Kaviar für das Volk!“ Er lief im Zimmer aus und ein, trank sich in der Weinstube unten Muth, empfing von Freunden drüben Botschaften und schickte Botschaften hinüber. „Der Saal ist ausverkauft!“ rief er durch die Thüre den beiden zu. „Glänzende Gesellschaft!“

„Und nun,“ sagte Robert Lenz zu Emma, „bitte ich um Gerechtigkeit! Sie haben mir während der ersten leidvollen Tage einen schweren Vorwurf gemacht. Weil ich die Ablehnung meiner Oper gelassen ertrug, warfen Sie mir Gleichgültigkeit, Kälte, Mangel an Ehrgeiz vor. Liebste Freundin, ich steckte damals bereits tief in einer neuen Arbeit, wie konnte ich da über alte Geschichten unglücklich sein! Unglücklich war ich nur, weil ich Sie leiden sah, und meine Arbeit gab mir auch dafür Trost. Mir war, als müßten Sie in Ihren schlaflosen Nächten hören, was meine Seele sang, als müßte meine Musik Ihnen Genesung bringen!“

Emma sah gerührt und bewundernd zugleich in das männliche, geistig verschönte Gesicht ihres Freundes; ihr fiel ein Satz ein, den sie jüngst gelesen hatte: „Das Veilchen unter dem Gras, die Nachtigall im Gebüsch, die Tugend, die sich verbirgt, das Genie, das auf seine Stunde wartet – vier herrliche Dinge.“ Gewiß, seine Stunde wird kommen, aber wann? Wie viele Enttäuschungen, welche Kämpfe mögen ihn vorher noch erwarten! Vielleicht ergeht’s ihm wie seinem Helden, dem unglücklichen Tasso – man bekränzt den Sterbenden! Wer ihm sein Ringen erleichtern, den Sieg beschleunigen könnte! Wie viel tiefer war diese Natur, wie viel selbstloser als die jenes Treulosen – und wie viel schwerer wurde ihm der Erfolg gemacht! Ihr Blick streifte wieder sein Gesicht. Ja, sein Gemüth war unendlich reicher und tiefer als das des Sängers – er liebte und sehnte sich nach Liebe! Sie seufzte, daß sie das jetzt erst erkannte. Aber konnte sie, durfte sie ihn ermuthigen? Doch warum sollte sie nicht dürfen, warum sollte das häßliche Ende ihres Liebestraums der Inhalt ihres Daseins bleiben?

Emma erschrak nicht über diese Frage. Sie hatte Siegfried geliebt – ach, was hatte sie seinetwillen gelitten! – aber über dem Leid war sie genesen; die Welt leuchtete ihr wieder, und ihr dünkte, nie schöner als heute. Sie hatte ein zärtliches Wort auf den Lippen, doch da steckte Hagemann den Kopf herein. „Minister, Generäle, alle sind an Bord – los!“

„Sie antworten mir nicht,“ sagte Robert, „vielleicht scheine ich Ihnen wiederum zu gelassen. Doch gelassen ist nicht das rechte Wort – nach all dem Kampf und Leid ergebe ich mich in mein Schicksal. Wie heiter Sie blicken, Fräulein Emma, ich nehme es als gute Vorbedeutung. Aber wie auch die Würfel fallen, ich bin zufrieden, denn die Welt und Sie, die Sie meine Welt sind, haben den Frieden!“

*  *  *

Die letzten Takte der Symphonie waren verhallt. Es war, wie jeder bekannte, ein schönes Werk, wie manche fühlten, das Werk eines edlen großen Künstlers. Der laute Beifall war verrauscht, da tönte in die Unruhe ein tiefer Glockenton und tiefe Stille trat ein: vom Rathhaus läutete die Glocke „Friede, Friede!“

Die Frauen schluchzten, Unbekannte umarmten sich. Da ging eine schlanke Mädchengestalt auf den gefeierten Komponisten zu, der auf der Bühne stand und dankbar, verzückt wer weiß was für neuen Klängen lauschte. „Herr Lenz – Robert!“

Und wenn er im siebenten Himmel jetzt bei Engelchören geschwelgt hatte, die Musik dieser Stimme rief ihn zurück.

Emma legte ihre Hand in die seine.

„Robert,“ sagte sie, „mein Freund, mein Geliebter – ich weiß, wir werden miteinander glücklich sein.“



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Blätter und Blüthen.

Zu Roseggers fünfzigstem Geburtstag. Vor wenigen Tagen, am 31. Juli, hat in der Stille seiner heimathlichen Berge ein Dichter seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, der, wenn irgend einer, aus der frischen unversieglichen Quelle des Volksthums die beste Kraft seines Schaffens genommen hat – P. K. Rosegger. Es bedarf an dieser Stelle keiner Wiederholung seines äußeren Lebensweges, denn es ist in aller Gedächtniß, wie eigenartlg das Schicksal dieses Dichterleben gestaltet, wie es den wissensdurstigen Sohn der Obersteiermark erst zum Schneider und dann durch die Vermittlung hilfsbereiter Freunde zum Poeten gemacht hat; auch hat ja die „Gartenlaube“ diesem Lebensgang „Von der Nadel zur Feder“ in Wort und Blld ein ausführliches Gedenkblatt gewidmet (1888, S. 357. und 365 ff.). So bleibt uns heute nur der herzliche Wunsch übrig: möge dem liebenswürdigen Schöpfer all jener Gestalten, in denen das kernige tiefe Gemüth, der Humor der Steiermärker so wahr und schlicht zum Herzen redet, die volle Frische zum Schaffen noch lange erhalten sein, möge er dem deutschen Hause noch manche echte Gabe seines Geistes schenken!

Akademische Berufsarbeit im Ausland. In dem Maße, als die Ueberfüllung der gelehrten Berufe in unserem Vaterlande überhand nimmt, mehrt sich die Zahl derjenigen, die sich draußen in der Ferne einen Platz zur Bethätigung ihrer Kräfte suchen möchte, da sie ihn daheim nicht finden können. Aber wohin sich wenden? Die Stellen für Aerzte, Apotheker, Chemiker, Ingenieure, Juristen und namentlich Lehrer sind auch im Auslande nicht so dicht gesät, daß man nur hinzugehen und zuzugreifen brauchte. Auch hier handelt es sich um eine sorgfältige Regelung von Angebot und Nachfrage. Gar mancher, der auf gut Glück hinauszog in die weite Welt, ist mit getäuschten Hoffnungen und schmalem Beutel wieder heimgekehrt – und doch hätte sich vielleicht auch für ihn Raum gefunden, wenn er nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort Nachfrage gehalten hätte!

Nun hat ein vornehmlich aus Professoren der deutschen Universitäten bestehender Ausschuß, dem u. a. Gneist, Haeckel, Esmarch, Klaus Groth angehören, es in die Hand genommen, hierin Abhilfe zu schaffen. Er erläßt einen Aufruf an die Deutschen im Auslande, in dem es heißt: „Sollen die überschüssigen Kräfte nicht hilflos und nutzlos in der Heimath bleiben oder, allein aufs Geratewohl hinausgezogen, in der Fremde an unrechtem Ort hilflos und nutzlos sich vergeuden, so bedarf es einer Nachweisstelle für akademische Berufsarbeit im Ausland. Nur von einer solchen Centralstelle aus läßt sich die Auswanderung von Angehörigen unserer gelehrten Berufszweige planmäßig regeln, Erkundigung einziehen, Auskunft ertheilen, Angebot und Nachfrage vermitteln. Vor Eröffnung einer solchen Nachweisstelle bedarf es der Uebersicht, in welchem Umfang das Bedürfniß nach akademisch gebildeten Deutschen im Ausland vorbanden ist. Wir richten deshalb namentlich an alle Deutschen im Ausland die dringende Bitte um Auskunft, ob sich an ihrem Wohnort lohnende Thätigkeit für deutsche Lehrer, Aerzte, Apotheker, Chemiker, Ingenieure, Juristen, Geistliche oder dergleichen bietet, sei es einzeln oder in größerer Zahl. Gleichzeitige Darlegung der einschlägigen Verhältnisse ist erwünscht. Wir hoffen auf die Bruderhilfe der Deutschen im Auslande. Alle Mittheilungen sind an Sanitätsrath Dr. Konr. Küster in Berlin SW., Tempelhofer Ufer 21, zu richten. Stellenbewerbungen sind bis auf weitere Veröffentlichungen zwecklos.“

Indem wir diesem Aufruf soweit es in unserer Macht steht, Verbreitung geben und ihn unseren Lesern im Ausland dringend zur Berücksichtigung empfehlen, hoffen wir, daß er gute Früchte trage und recht vielen unserer Landsleute zu einer ersprießlichen Wirkungsstätte verhelfe!

Das Kaiserschiff „Hohenzollern“. (Zu dem Bilde S. 533.) Die neue Kaiserjacht „Hohenzollern“ darf als ein Meisterstück neuzeitlicher Schiffsbaukunst angesehen werden. Trotz ihrer Größe erfreut sie durch anmuthige Formen das Auge des Laien wie des Seemanns. Sie erinnert ein wenig an den schwimmenden Palast des Zaren von Rußland, an den „Polarstern“, den man im vorigen Jahre in der Kieler Bucht gesehen hat; gleich diesem gewährt sie einen wahrhaft feenhaften Anblick, wenn sie die ganze Fülle ihrer elektrischen Lichter strahlen läßt, wie es jüngst aus Anlaß des Geburtstages des Prinzen Eitel Fritz geschah. Der gefällige Eindruck des 116 Meter langen und 44 Meter breiten Schiffes wird durch eine Reihe eigenartiger Einzelheiten in der Bauausführung gehoben, durch den scharfkantigen, schön geschweiften Vordersteven, an dessen Bug die deutsche Kaiserkrone in blitzendem Gold erglänzt, sowie durch das unbedachte, kräftig abgerundete Heck, dessen Außenseite das in Schwarz und Silber ausgeführte, von Lorbeerzweigen umrahmte Wappen der Hohenzollern schmückt. Zu den Umrissen des Schiffes passen vortrefflich die drei schlanken Masten, von deren mittlerem bei Anwesenheit des Kaisers die Kaiserstandarte grüßt; sie sind in mäßigem Winkel nach rückwärts geneigt gleich den beiden ziemlich weit auseinanderstehenden, hell schimmernden und in eigenartigem Gelb erglänzenden Schloten. Zu nachdrücklichem Schutze bei heftigem Seegang ist über dem Vordertheile des Schiffes ein Wellenbrecher erbaut, hinter welchem sich beiderseits je ein Thürmchen für die rothen und grünen Positionslaternen erhebt. Hinter diesen Thürmchen sind die schwalbennestartigen Vorbauten für die Geschütze der Jacht angebracht, die ja im Kriegsfalle auch als Aviso benutzt werden kann.

Die Räume für die kaiserliche Familie liegen in dem den Schwankungen am wenigsten ausgesetzten mittleren Theile des Schiffes. Derselbe wird von einem in der Kielrichtung laufenden, zu einem gemeinsamen Salon führenden breiten und hohen Gang durchschnitten, an dessen rechter Seite die Zimmer für den Kaiser und den Kronprinzen liegen, während die Thüren zur Linken in die Gemächer der Kaiserin und der übrigen kaiserlichen Kinder führen.

Diese sämtlichen Räume zeichnen sich bei reichlicher Lichtfülle durch auffallende Geräumigkeit und durch eine ebenso einfache wie gediegene Ausstattung aus, die man während der Mittagsstunden im Kieler Hafen in Augenschein nehmen durfte. Die Täfelung der Wände, die Thüren und Treppen sind ebenso wie die Tische, Schränke, Einfassungen aus ganz hellem, fast weißem Ahorn- und Sykomorenholz hergestellt, während die Wände selbst mit buntfarbigem Creton überzogen sind, dessen Muster und Farbe in den einzelnen Gemächern wechseln. Mit den Wandungen harmonieren die sämtlich in hartem Weiß mit Gold gehaltenen Decken sowie die im Rokokostil aus poliertem Nickel hergestellten Kamine. Für die Erwärmung der Schiffsräume in kalter Jahreszeit sorgt im übrigen die durch das ganze Schiff geführte Dampfheizung, während die Beleuchtung einer Menge von Glühlampen in tulpenförmigen Glocken obliegt. Von den unteren Wohnräumen führt eine bequeme Treppe zu dem an Deck liegenden großen und luftigen Speisesaal empor, der in weißem Grundton mit Gold gehalten ist. Ueber diesem Saal endlich befindet sich das geräumige Promenadendeck, das nach hinten in einem Rauchsalon, nach vorn in der Kommandobrücke seinen Abschluß findet. An die kaiserliche Wohnung schließen sich nach achtern Wohnräume, Arbeitszimmer und Messe für das kaiserliche Gefolge: sie haben ebenso wie die Offiziersmesse, die Kajüte des Kommandanten und die im Vordertheil gelegenen Offizierskojen eine Einrichtung und Täfelung aus hellem Eichenholz erhalten. Außerordentlich luftig und den weitestgehenden Ansprüchen genügend sind die ein Deck tiefer gelegenen, fliesenbelegten Küchen. Trotz dieser vielfachen Inanspruchnahme des Schiffsrumpfes bietet die Kaiserjacht bei einem Deplacement von 4200 Tonnen dennoch Raum genug für eine bequeme Unterbringung der Mannschaften und für die Aufstellung sämtlicher Schiffsgeräthe. Das Schiff führt zwei Schrauben, und seine Maschinen entwickeln nicht weniger als 20000 Pferdekräfte. Bereits hat es seinen Dienst angetreten, den deutsche Kaiser auf seine Reisen über Meer zu führen. Gustav Munk. 

Giftige Pflanzen. Alljährlich fast bringen die Zeitungen Berichte über Krankheitsfälle, die durch den Genuß giftiger Pflanzen, ihrer Früchte, Samen etc. herbeigeführt worden und nicht selten tödlich verlaufen sind. Bald enthielt eine Suppe das Gift, der man aus Unkenntniß statt der üblichen Küchenkräuter den Fleckschierling beigemengt hatte, bald hatte ein Kind von der bekannten Tollkirsche genascht oder die Schoten des Goldregens (Cytisus laburnum) gegessen, oder ein Gericht giftiger Pilze führte das Elend einer ganzen Familie herbei. Und doch könnten derartige Unglücksfälle häufig vermieden werden, wenn die Kenntniß unserer Giftpflanzen eine verbreitetere wäre. Zwar enthalten einzelne Schulbücher die Beschreibung einheimischer Giftgewächse, auch im Anschauungsunterricht lernen die Kinder dieselben kennen, aber wie bald wird dies wieder vergessen und die junge Hausfrau weiß höchstes noch, daß Schierling giftig ist; wie er aussieht, wie er sich von ähnlichen unschädlichen Gewächsen unterscheidet, das weiß sie meistens nicht mehr „ganz genau“. Darum muß sie, wenn sie sich vor verhängnißvollen Mißgriffen schützen will, ein zuverlässiges, knapp gehaltenes, übersichtliches Nachschlagebuch zur Hand haben, welches ihr über die gefährlichen Kräuter Klarheit verschafft.

Vor kurzem sind uns zwei neue Werke dieser Art zur Kenntniß gekommen, auf die wir aufmerksam machen möchten:

1. Die Pflanzenvergiftungen, ihre Erscheinungen und das vorzunehmende Heilverfahren von Dr. med. H. Schünemann, Stabsarzt a. D. Mit 18 Abbildungen. Braunschweig, Otto Salle.

2. Die bekanntesten deutschen Giftpflanzen nach ihren botanischen und medizinischen Eigenschaften von A. Alf. Michaelis. Mit 16 Tafeln in Farbendruck. Erlangen, Fr. Junge.

Beide Werkchen sind empfehlenswerth, sowohl als Leitfaden zur Belehrung der Kinder, wie als Rathgeber in zweifelhaften Fällen. Während das erstere erschöpfend sämmtliche einheimischen Giftpflanzen behandelt, bringt letzteres nur die bekanntesten deutschen Giftpflanzen, aber mit farbigen Abbildungen, was das Erkennen wesentlich erleichtert.

Die ersten Maßnahmen in Vergistungsfällen besprechen beide Werke, die vortreffliche Dienste leisten können, zumal auf dem Lande, wo ärztliche Hilfe oft erst nach Stunden zu haben ist. B. R. 


Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (18. Fortsetzung). S. 533. – Die neue kaiserliche Jacht „Hohenzollern“. Bild. S. 5. 533. – Vor dem Erntefest. Bild. S. 536 und 537. – Für die Veteranen und Invaliden der Felder. S. 538. – Die Wengernalpbahn im Berner Oberland. Von Alexander Francke. S. 539. Mit Abbildungen S. 541 und 545. – Der Sänger. Roman von Karl von Heigel (Schluß) S. 542. – Blätter und Blüthen: Zu Roseggers fünfzigstem Geburtstag. S. 548. – Akademische Berufsarbeit im Ausland. S. 548. – Das Kaiserschiff „Hohenzollern“. S. 548. (Zu dem Bilde S. 533.) – Giftige Pflanzen. S. 548. –


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Die Wengernalpbahn ist eine Zahnstangenbahn, Leitersystem Riggenbach nach Patent der Maschinenfabrik Bern, und hat 4½ Millionen Franken gekostet. Größte Steigung 25%. Spurweite 80 cm. Kleinster Kurvenradius 60 m. Fahrgeschwindigkeit 7 bis 9 km in der Stunde. Fahrzeit etwa 2½ Stunden. Stationen: Lauterbrunnen 799 m, Wengen 1277 m, Wengernalp 1877 m, Kleine Scheidegg 2069 m, Alpiglen 1618 m, Grund 946 m, Grindelwald 1037 m. Direktor der Bahn ist Hans Studer, derselbe, der auch die Oberländer Thalbahnen und die Mürrenbahn (Seilbahn und elektrische Bahn) leitet, ein um die Hehung seines engeren Vaterlandes sehr verdienter Mann. Der Bau selbst stand in der Hauptsache unter der Leitung des Ingenieurs Koller aus Interlaken.