Die Gartenlaube (1893)/Heft 33
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Nr. 33. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
„Um meinetwillen!“
Die verwitwete Generalin von Guttenberg, Excellenz, saß ganz allein in ihrem Wohnzimmer und strickte an einem Wohlthätigkeitskamisol. Sie wunderte sich darüber, daß sie da so ganz allein saß; denn die alte Dame bekam sehr viel Besuch, sie hatte einen ungewöhnlich großen Umgangskreis, und jedes Mitglied desselben verwöhnte sie durch Rücksichten und Aufmerksamkeiten aller Art. Mein Gott, die alte Excellenz! Der mußte man schon ein wenig den Hof machen – sie war so sehr reich, so sehr wohlthätig, gab so prachtvolle Gesellschaften, war gastfrei über die Maßen und hatte eine ganz reizende Enkeltochter! War’s ein Wunder, daß die gute, die beste Gesellschaft der mitteldeutschen Garnisonstadt B. so viele schätzenswerthe Eigenschaften auch anerkannte und über manche kleine Marotte ein Auge zudrückte? Es war ja ein bißchen komisch, wie weit die alte Dame in ihrer Vorliebe für das Militär ging, wie sie eigentlich ihren ganzen Verkehr nur dort suchte und Leute vom Civil in ihrem Hause mehr nur duldete, wie sie emsig die Rang- und Quartierliste studierte, überall Bescheid wußte und von ihren „Adjutanten“ verlangte, daß sie ihr von jeder Versetzung, jeder Beförderung, jedem Abschied oder „Wink von oben“ sofort Rapport abstatten sollten … aber man mußte es ihr verzeihen! Der ganze Staat hatte kaum noch eine so durch und durch militärische Familie aufzuweisen wie die der Generalin von Guttenberg. Ihr Vater war ein hoher Offizier gewesen, seine Vorfahren hatten samt und sonders des Königs Rock getragen, ebenso wie seine Söhne, die frühverstorbenen Brüder der Excellenz – und bei den Guttenbergs war es ähnlich gewesen. Was wunder also, wenn es auch jetzt im Hause der Witwe tagüber fast nur von Säbeln rasselte und von Sporen klirrte und wenn die willkommenen Gäste dem Militärfanatismus der Excellenz willig Rechnung trugen! Daß die Enkelin die Ueberlieferung des Hauses Guttenberg nicht Lügen strafen und nur einen Offizier heirathen durfte, stand bei allen fest, welche die Verhältnisse nur einigermaßen kannten, und seit kurzer Zeit glaubte „man“ auch bereits zu wissen, wer der Auserkorene sei, der den beneidenswerthen Posten eines „allerersten Adjutanten“ der Generalin und des Gatten ihrer Enkeltochter zu erhoffen habe
Inzwischen saß nun aber die alte Dame immer noch in aufrechter, ehrfurchtgebietender Haltung auf ihrem Sofa und strickte an ihrem Kamisol. Sie hätte sich dabei recht gut unterhalten können – aber es war niemand dazu da.
Die Generalin schüttelte mißbilligend den Kopf, legte die Strickerei beiseite und schraubte an der Lampe. Es wurde nun heller in dem großen Raum mit den glänzenden Mahagonimöbeln, die methodisch aufgereiht an den Wänden umherstanden. Die Excellenz setzte einen Trumpf darauf, daß sie sich jeden Luxus der neuesten Mode gönnen könnte und es dennoch nicht thue. Nichts von Erkern, Butzenscheiben, schräg gerückten Causeusen und Eichenschnitzerei! „Meine Eltern haben mir diese Möbel als Ausstattung mitgegeben, und damals galten sie für schön; mein seliger Mann hat gern auf den Stühlen und Sofas gesessen, und meine Gäste können dasselbe thun. Wem es nicht elegant genug bei mir aussieht, der kann da bleiben, wo er ist!“ Die geräumigen Zimmer mit den blumigen Tapeten und den alten Bildern an den Wänden schreckten aber niemand zurück, die Jugend fand im Gegentheil, es lasse sich bei der Generalin vortrefflich tanzen.
[550] Wollte man dem tonangebenden Zeitgeschmack huldigen, so konnte man sich zu der Enkelin begeben, die drei Zimmer besaß, die sie nach ihrem Sinn ausgestattet hatte. Hierin ließ ihr die Großmutter ganz freie Hand. Die beiden Damen bewohnten das große, etwas nüchtern und alltäglich aussehende Haus, an das sich ein hübscher alter Garten anschloß, ganz allein – wozu sich mit Miethern herumplagen, wenn man es nicht nöthig hat! Es war sehr still da draußen. In die vornehme Villenstraße verirrte sich nur selten ein Miethwagen, und die Pferdebahn führte gar nicht hindurch; höchstens rollte rasch und leicht einmal eine Equipage vorüber.
Ein unfreundlicher Novemberabend, der nassen Nebel und schauernde Kälte mit sich brachte, senkte sich rasch herab. Die Exeellenz läutete zweimal mit einem altmodischen silbernen Glöckchen. Eine robuste, grauhaarige Person mit weißer Faltenschürze und einem Brusttuch von schneeigem Batist trat ins Zimmer – sie war vor langen Jahren bei der jungen Frau Major als Jungfer gewesen, hatte dann einen Kunstschlosser geheirathet und war nach beiderseits erfolgter Verwitwung als Haushälterin zu ihrer einstigen Herrin zurückgekehrt.
„Exeellenz befehlen?“
„Eigentlich gar nichts, Kanapé“ – diesen merkwürdigen Namen hatte der verblichene Kunstschlosser geführt. „Ich wundere mich, daß heute niemand kommt. Sie können sich mit Ihrer Arbeit hierher zu mir setzen – ich langweile mich!“
„Wenn Exeellenz etwas lesen möchten –“
„Nein, will ich nicht! Diese neuen Bücher sind nichts für mich – und meine Palzow und meinen Gutzkow kann ich beinah’ auswendig! So wie die schreibt heutzutage kein Mensch mehr! Kommen Sie nur mit Ihrer Handarbeit!“
„Zu Befehl!“
Frau Kanapé machte Kehrt und kam nach einer Minute mit einer aus Streifen gehäkelten Bettdecke wieder.
„Noch immer die ewige Decke? Sie kommen immer nicht damit vom Fleck! Für unsere Armen arbeiten Sie gar nichts, Kanapé!“
„Das thun Frau Generalin ja schon! Die Decke ist für mich.“
„Christlichen Sinn haben Sie nicht für einen Pfennig!“
„Excellenz haben so sehr viel – dagegen komm’ ich doch nicht auf!“
Die alte Dame richtete sich noch gerader auf und strickte geschwind an dem Kamisol weiter. Das Wohlthätigkeitsthema war ein streitiger Punkt zwischen ihr und der braven Haushälterin.
Längeres Schweigen. Im Zimmer nebenan verkündete eine Kuckucksuhr die sechste Stunde.
„Wundern Sie sich denn nicht, Kanapé, daß heute kein Mensch kommt?“
„Gar nicht, Exeellenz. Unsere jungen Herren und Damen, die sind heute alle auf der Polterabendprobe, wo auch unser gnädiges Fräulein ist, und die alten Herrschaften – ja, denen ist das Wetter zu schlecht. Draußen hängt alles dick voll Nebel, und naß fällt es – und windig ist es auch – und schmutzig ist es auch!“
„Pfui, das ist ja eine widerliche Schilderung! Aber um halb acht soll mein lieber Divisionsprediger zu mir kommen, und der hält Wort, da sei das Wetter so schlecht, wie es wolle. Sagten Sie etwas, Kanapé?“
Die Hanshälterin hatte etwas von „Geldholen“ gemurmelt, verneinte aber die Frage entschieden.
„Schlag sieben muß Martin mit dem Kutscher hinfahren, um das gnädige Fräulein aus der Probe abzuholen!“
„Sehr wohl Excellenz! Martin weiß das schon.“
Die Generalin seufzte. Die Unterhaltung mit der Kanapé erwies sich wieder einmal bedenklich unfruchtbar. Manche Leute priesen ja so sehr die Stille und Einsamkeit, aber sie, die Excellenz, war eine gesellige Natur, sie konnte das Alleinsein nicht vertragen. Doch jetzt – schellte es da nicht draußen? Die alte Dame hob den Kopf und lächelte ganz hoffnungsvoll. Gottlob, da kam jemand!
Martin klopfte diskret und kam auf leisen Sohlen ins Zimmer. „Herr Professor Gregory bitten um die Ehre –“
„Sehr erfreut, lasse bitten! Kanapé, verschwinden Sie!“
Es war nun zwar niemand vom Militär in Sicht, sondern nur ein Civilist, einer von den „Geduldeten“, aber immerhin einer von denen, welche die Generalin gern sah. Sie hatte eine ihr sehr liebe Kousine besessen, die einen Oberstabsarzt geheirathet hatte und mit ihm weit wegversetzt worden war. Nach langen Jahren kam die Nachricht ihres Todes, dann starb auch ihr Gatte und hinterließ einen einzigen Sohn, Paul, der alte Sprachen studierte und ein strebsamer junger Mensch war. Vor ungefähr sechs Jahren hatte er sich in B. an der Universität als Professor habilitiert. Man sagte in wissenschaftlichen Kreisen Gutes von ihm; er hatte weite Reisen unternommen, ein ganz tüchtiges Buch, „Beiträge zur koptischen Grammatik“, herausgegeben und betheiligte sich jetzt an einem Wörterbuch, von welchem die Eingeweihten mit großer Anerkennung sprachen. Der Generalin von Guttenberg hatte er bald nach seiner Ankunft in B. seinen Besuch gemacht und war von der Taute freundlich empfangen worden, aber zu einem herzlichen Verkehr hatte es nicht kommen wollen. Die beiden Naturen blieben einander innerlich fremd – die Anschauungen und Interessen des Professors wurzelten in der Wissenschaft, und für das vorwieged militärische Element im Hause der Tante fehlte ihm jedes Verständniß. Die alte Excellenz wiederum fand es jammerschade, daß ein so stattlich aussehender, leiblich wie geistig gut beanlagter Mensch nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen habe; sie konnte es der Kousine wie dem Oberstabsarzt nicht verzeihen, daß sie diesen einzigen Sohn nicht zum Offizier gemacht hatten – er könnte jetzt schon Hauptmann erster Klasse sein, dicht vor dem Major! Statt dessen trug er nun den schwarzen Gelehrtenrock! Doch selbst in diesem hätte Gregory bei den zahlreichen Gesellschaften im Hause der Generalin eine Rolle spielen können, wenn dies irgendwie seine Absicht gewesen wäre. Aber nichts davon! Nachdem er sich ein paarmal diese an sich so amüsanten und lustigen Feste angesehen hatte, schlug er jede Einladnug zu größeren Zusammekünften beharrlich aus und erklärte auf Befragen ganz offen, er finde kein besonderes Vergnügen an solchen Gesellschaften und ziehe es vor, dann und wann allein zur Tante Excellenz zu kommen. Allzu oft geschah auch das nicht; doch herrschte bei dieser Gelegenheit stets ein freundlicher Ton zwischen der Generalin und ihrem Neffen – sie hatten beide ein gewisses, ein wenig herablassendes Wohlwollen füreinander, das völlig entgegengesetzten Stimmungen entsprang. Im übrigen war der Professor durchaus kein Stubenhocker und Bücherwurm, er hatte in einigen Familien Verkehr, war dort ein gern gesehener Gast, besuchte zuweilen Konzerte und Theater und konnte, falls ihn jemand anzuregen oder zu fesseln verstand, ein recht brauchbarer Gesellschafter sein. Heute nun, an diesem unerfreulichen Novemberabend, waren ihm seine Unterlassungssünden gegen die Generalin schwer aufs Gewissen gefallen; er konnte sich gar nicht entsinnen, wann er zuletzt bei ihr gewesen war, und wußte nur noch, damals war’s prächtiges Wetter gewesen und man hatte miteinander im Garten gesessen. Wenn die alte Dame jetzt böse war, hatte sie allen Grund dazu.
Auf seinem Wege zum Sofa der Tante wurde der Professor durch Frau Kanapé aufgehalten, die rasch aus dem Zimmer wollte und in ihrem Eifer, fortzukommen, zuert das Baumwollknäuel, dann den Häkelhaken, endlich die ganze Bettdecke zur Erde fallen ließ. Der neue Gast bückte sich einmal über das andere und hob alles ritterlich auf, die Haushälterin stammelte Entschuldigungen und Dankesworte, die Generalin trommelte ungeduldlg mit den Fingern auf den Tisch.
Endlich waren Tante und Neffe allein.
„Also Du lebst wirklich noch, mein lieber Paul?“ fragte die alte Dame in ironischem Ton und litt es etwas ungnädig, daß der Professor ihr die Hand küßte.
„Ich lebe, liebe Tante, aber ich ersterbe in Ehrfurcht angesichts Ihrer strengen Miene. Ich müßte untröstlich sein, wenn ich mir nicht sagen würde, daß diese Ihre Entrüstung etwas Schmeichelhaftes für mich hat.“
„Schmeichelhaft? Laß doch hören!“
„Ich bin sehr lange nicht bei Ihnen gewesen, Sie sind mir deshalb böse. Sie wären mir aber nicht böse, wenn Ihnen nicht einiges an meiner Person liegen würde, und wenn das der Fall ist, kann ich Sie auch leicht versöhnen.“
„Eine sehr bequeme Logik! Gegen Deine Professorenberedsamkeit kommt eine alte ungelenke Frau wie ich freilich nicht auf. Also setz’ Dich dahin und sage, was Du solange getrieben hast!“
[551] „Ich habe gearbeitet, liebe Tante.“
„Immer?“
„Fast immer.“
„Du bist in acht Wochen nicht bei mir gewesen! Dein letzter Besuch datiert vom dreiundzwanzigsten September.“
„Daß Sie sich so genau den Tag gemerkt haben, Tante –“
„Du willst wohl wieder geschmeichelt sein? Nichts da – mir ist gerade danach zu Muth! Wärst Du nicht heute endlich erschienen, dann hätte ich die Kanapé zu Dir geschickt und um Deinen Besuch bitten lassen, denn ich habe mit Dir zu reden. Das scheint Dich sehr in Erstaunen zu setzen, wie?“
„Gewiß, liebe Tante! Sie haben soviel junge und alte Freunde, die Ihnen näher stehen als ich –“
„Deine Schuld allein! Du hättest den Posten eines nahen Freundes sehr gut bei mir haben können, aber Du wolltest ja nicht. Schlugst alle meine Einladungen beharrlich aus, verschmähtest meine Gesellschaften –“
„Ich bin kein Tänzer, Tante, wenigstens kein leidenschaftlicher, ich passe auch nicht zu all den Offizieren –“
„Aha, nun kommt es! Sind Dir meine Lieutenants etwa nicht gut genug?“
„Bin ich es ihnen denn?“
„Du würdest es sein, wenn Du ein wenig entgegenkommender wärest!“
„Ich warte darauf, daß die Herren Militärs dies mir gegenüber sind!“
„Da kannst Du allerdings lange warten, mein guter Paul! Wie in aller Welt kannst Du verlangen, daß ein Offizier einem Civilisten entgegenkommt?“
„Liebe Tante, wir kommen vom Thema ab. Ich könnte Ihnen allerlei antworten, allein ich weiß, meine Ansichten würden Sie nicht in den Ihrigen irre machen und Ihnen persönlich keine Freude bereiten. Ich bin aber nicht hierhergekommen, um Ihnen unangenehme Dinge zu sagen. Sie wollten gern mit mir sprechen ...“
„Ja – über eine Sache, welche Du als gänzlich Unbefangener besser beurtheilen wirst als alle meine Adjutanten, die mehr oder weniger persönliches Interesse daran haben. Es betrifft meine Enkelin!“
„Soll sie sich verloben?“
„O ja, sie soll schon – wenn sie nur will! Das ist’s eben. Wie beurtheilst Du sie eigentlich?“
„Wenn ich offen sein darf – gar nicht, Tante. Ich habe sie meist nur in größerer Gesellschaft und äußerst flüchtig gesehen. Ich habe kein Studium aus ihr gemacht, ich kenne sie nicht!“
Die Generalin sah den Sprecher unwillig an. Konnte das ein Mann über ein reizendes junges Mädchen sagen?
„Du wirst doch einen Eindruck von ihr gewonnen haben! Du kennst sie seit fast sieben Jahren –“
„Ich habe sie oft gesehen, aber ich muß wieberholen: ich kenne sie nicht. Natürlich habe ich einen Eindruck von ihrer Persönlichkeit, ob sie jedoch eine Individualität ist, weiß ich nicht. Mir ist sie als eine lebhafte, übersprudelnd heitere und genußfähige Natur erschienen.“
„Genußfähig – das ist das Richtige!“ rief die Generalin, das Wort beifällig herausgreifend. „Das war sie, wie selten ein junges Mädchen! Es konnte ja nicht ausbleiben, daß die Kleine als einziges Kind, das sie war, und so früh schon elternlos, gehörig verwöhnt wurde; sie hörte von allen Seiten, sie sei eine Erbin, sei hübsch, begabt, liebenswürdig, und was weiß ich sonst noch alles! Ich habe immer gezittert, ihr könnte der Kopf verdreht werden. Aber nein, das geschah nicht. Ebenso, wie das kleine Ding von sechs Jahren sich über seine Puppe, seinen Weihnachtsbaum freute und ausgelassen vor Glück im Zimmer herumtanzte, genau in dem Maß konnte das erwachsene Mädchen über ein neues Ballkleid, über eine Schlittenfahrt, über einen hübschen Theaterabend jubeln. Nichts Blasiertes, nichts Uebersättigtes in ihr! Das sprühte und loderte nur so von Jugendübermuth und Lebenslust! Sie hat das von ihrer Mutter geerbt. Leider war diese nur keine Militärfrau – sie klagte oft über den Zwang, den der ganze Zuschnitt des in unseren Kreisen herrschenden Verkehrs ihr auferlegte, sie fügte sich gar nicht mit guter Art hinein – und auch hierin ist ihr bedauerlicher Weise die Kleine ähnlich. Wenn es nicht unerhört klänge, ich würde sagen, sie wage es zuweilem sogar mir gegenüber, sich über das Ceremoniell, das unter dem Militär herrschst und über die dort regierenden Standesrücksichten lustig zu machen!“
Die Excellenz sah den Neffen herausfordernd an und wünschte sichtlich eine kräftige Mißbilligung dieses Frevels. Seine Lippen zuckten ein wenig unter dem starken braunen Schnurrbart, aber er sagte nichts.
„Offen dürfte sie mir mit solchen Kindereien natürlich nicht kommen, ich würde das aufs strengste rügen – ich habe sie mehr im bloßen Verdacht damit als Tochter ihrer Mutter. Im ganzen konnte man mit der Kleinen zufrieden sein, sie wirbelte immer wie ein hübscher Schmetterling um mich herum –“
„Nun – und jetzt wirbelt sie nicht mehr?“
Die Generalin seufzte.
„Sie hat sich verändert, sie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Vieles, was ihr bis vor kurzem noch die größte Freude bereitete, ist ihr jetzt gleichgültig, sie macht zuweilen Bemerkungen von einer Bitterkeit, die mich förmlich erschreckt – ich bitte Dich, dies harmlos frohe, glückliche, verwöhnte Kind, das jeder liebt und hätschelt, und Bitterkeit! Sie hat früher gar nicht gewußt, was das war, und jetzt spricht sie zuweilen in einem Ton, mit einem Gesichtsausdruck, daß es zum Erschrecken ist. Dann wieder eine fieberhafte Lustigkeit, ein Jagen nach Unterhaltung, ein Taumel von einem Vergnügen ins andere! Und immer, ob ich nun die Apathie oder die Aufregung rüge, dieselbe Antwort: ‚Ach, es ist ja doch alles eins, Großmama! Es ist ja alles gleichgültig – so oder so!‘ Was kann das zu bedeuten haben, Paul?“
Dem Professor war diese Auseinandersetzung ziemlich einerlei – was gingen ihn launenhafte junge Mädchen an?
„Nehmen wir an, sie hat sich verliebt!“ sagte er kaltblütig und strich sich den Bart.
„Verliebt? Paul, ist das ein Ausdruck, den man auf ein wohlerzogenes junges Mädchen, die Tochter aus gutem Hause, anwendet? Verlieben kann sich die nächste beste Mamsell – eine Freiin von Guttenberg thut so etwas nicht! Allerdings dachte auch ich, Annaliese hätte vielleicht ein ernstlicheres Interesse, aber –“
„Nun, aber?“
„Aber ich bitte Dich, wer kann es sein? Ich beobachte sie scharf; sie hat gegen all die jungen Herren dasselbe unbefangene offene Wesen, das eine tiefe Neigung durchaus ausschließt – und wenn sie eine Zeitlang jemand ein wenig vorzog, dann war es höchstens Steinhausen.“
„Wer ist Steinhausen, Tante?“
Die alte Excellenz sah ihren Neffen halb mitleidig, halb entrüstet an. „Ist es möglich, Paul, daß Du wirklich so wenig in der guten Gesellschaft bewandert bist, um nicht zu wissen, wer Steinhausen ist?“
„Auf die Gefahr, mir Ihr Wohlwollen zu verscherzen, verehrte Tante, muß ich bekennen: ich weiß nicht, wer Steinhausen ist!“
Die Generalin ließ das gestrickte Kamisol aus den Händen gleiten und setzte sich mit Würde zurecht. „Konstantin Werner von Steinhausen ist aus sehr alter und guter Familie – noch älter und besser als die der Guttenbergs, was nicht wenig sagen will. Der Vater war Generalmajor, wäre noch höher gekommen, starb aber verhältnißmäßig jung; ein Onkel war Gouverneur des Prinzen Gisbert, der Großvater Generalfeldmarschall. Die Steinhausens sind ausgezeichnete Soldaten und fähige Köpfe gewesen, ich weiß ihre ganze Stammtafel auswendig, sie ist hochinteressant und sehr rein, die ersten Geschlechter des Landes sind mit ihnen verschwägert. Ein Steinhausen, Ernst Eugen, hat eine Gräfin Neumark, sein Bruder sogar eine Fürstin Doßberg –“
„Und was ‚hat‘ nun der in Rede stehende Herr?“
„Der hat,“ fuhr die alte Aristokratin vollkommen ernst und unbeirrt fort, „die allergünstigsten Aussichten für die Zukunft. Mein alter Freund, Oberst von Heß, sagt, Steinhausen habe ganz das Zeug zum Generalstäbler; es dauert nicht lange, so wird er zum Generalstab abkommandiert. Er ist arm, aber das hat nichts auf sich, die gute Karriere ist ihm sicher. Ueberdies ein bildhübscher Mensch von den besten Manieren, vorzüglicher Gesellschafter und Tänzer – dichtet ganz reizend, ist ungemein beliebt bei allen Kameraden, die jungen Damen streiten sich um ihn –“
„Und Ihre Enkeltochter streitet nicht mit?“
„Sie schien ihn gern zu haben, bevorzugte ihn wenigstens vor den übrigen – und das ist kein Wunder; mit Steinhausen [552] hält keiner den Vergleich aus. Es ist wahr, er hat meine Kleine erst in letzter Zeit ausgezeichnet, eine Zeitlang hat er der Erna von Torsten stark den Hos gemacht – nun, das war der helle Wahnsinn, die Erna ist ja blutarm, eine von sechs Schwestern, der Vater pensionierter Major, und zwei Söhne – lächerlich! Ein schönes Mädchen sonst, und nichts gegen sie zu sagen! Steinhausen hat sich da vielleicht etwas fortreißen lassen, aber wie man mir von glaubwürdiger Seite berichtet hat und ich auch mit eigenen Augen gesehen habe . . . seit einiger Zeit ist das abgethan, und er wirbt mit einem Eifer, mit einer Hingabe um Annaliese . . . wirklich, ein reizender Mensch, ich würde ihm die Kleine gern geben. Aber es muß da irgend etwas dazwischen gekommen sein – früher sprach sie gern von Steinhausen, es gefiel ihr, wenn ich ihn lobte, sie stimmte mit ein; jetzt, sobald ich seinen Namen nenne, bricht sie kurz ab, und es ist ihr offenbar unangenehm, daß sie bei dem Polterabend der kleinen Wilma Frankenheim – sie heirathet ihren Vetter, den Frankenheim bei den blauen Husaren, die früher in Mainz standen – ja, daß sie also bei diesem Polterabend mit Steinhausen die Hauptrollen hat. Er dichtet und arrangiert die ganze Geschichte, und natürlich hat er es so einzurichten gewußt, daß er bei all den Aufführungen von Annaliese beinahe unzertrennlich ist. Anfangs war sie damit sehr einverstanden, jetzt scheint es ihr zuwider zu sein – aus welchen Gründen, mag Gott wissen!“
„Hat Ihre Enkelin kein Vertrauen zu Ihnen, Tante?“
„Gott, lieber Paul, Du hast doch auch keine Ahnung von jungen Mädchen, keine Spur von Verständniß! Wie wird denn ein dummes kleines Geschöpf von kaum zwanzig Jahren eine alte Frau von siebenundsechzig zu ihrer Vertrauten machen? Fällt ihr ja nicht im Traum ein! Sie würde eher mit jedem beliebigen anderen darüber sprechen als mit mir!“
„Wenn Sie Annaliese von ihrer frühesten Kindheit an gewöhnt hätten, alles mit Ihnen zu theilen, wenn Sie sich in ihre Anschauungen hineingelebt hätten, wäre es ganz und gar nicht unmöglich, daß sie Ihnen offen ihre Gedanken sagen würde.“
„Du bist als Professor der alten Sprachen ohne Zweifel ganz an Deinem Platz, lieber Neffe, man hört ja nur Gutes von Dir, wenn man sich nach Dir erkundigt – aber, ich muß wiederholen: was junge Mädchen betrifft – nein, ist das nun wieder eine Idee von Dir! Ich hätte mich in die Anschauungen eines siebenjährigen Kindes hineinleben sollen, denn so alt war Annaliese, als sie zu mir ins Haus kam! Wie sollte ich denn das angreifen?“
„Wenn Sie es nicht wissen, liebe Tante, kann ich es Ihnen nicht sagen – aber darf ich wohl fragen, warum Sie mir all diese Eröffnungen machen, wenn Sie doch meiner Kenntniß der Verhältnisse und meinem Verständniß dafür so ganz mißtrauen?“
„Himmel, ich wollte es mir vom Herzen herunter reden, und ich sagte Dir ja schon, mit meinen Offizieren kann ich das unmöglich besprechen; die sehen die Kleine immer mit Steinhausen zusammen, und es wäre des Beobachtens und Spionierens kein Ende, abgesehen davon, das die Männer immer indiskret und plauderhaft sind.“
„Sollte das nicht eine ganz neue Behauptung sein?“
„Mir ist sie nicht neu, ich spreche aus Erfahrung.“
„Und ich soll eine schmeichelhafte Ausnahme bilden?“
„In diesem Fall, ja! Du bist in keiner Weise persönlich betheiligt, Du gehörst nicht zu den Anbetern der Kleinen und willst gar nichts von ihr haben, daher bist Du unbefangen . . . fährt nicht ein Wagen vor? Das wird sie sein! Wundere Dich nicht, sie ist im Zigeunerkostüm, es ist heute Generalprobe zu dem Polterabend gewesen. Acht Paare bilden ein Zigeunerlager, singen aus ‚Preciosa‘, führen einen phantastischen Tanz auf, dann tritt eins von den jungen Mädchen – eben Annaliese – an die Braut heran und wahrsagt ihr aus der offenen Hand. Alles Steinhausens Idee, er hat auch das Gedicht verfaßt – ganz reizend, sage ich Dir! Ja ja, das ist die Kleine! Sitz’ still, Paul, beobachte sie, frag’ sie, wenn Du kannst, unbefangen aus über Steinhausen – ich hoffe, ich kann Euch nachher allein lassen –“
Die letzten Sätze sprach die Generalin hastig; mit halber Stimme, die Augen gespannt nach der Thür gerichtet, die in den Gang führte. Der Professor war unruhig auf seinem Sessel hin- und hergerückt, ihm war nicht behaglich zu Muth. Was sollte ihm das? Wenn er es nicht verstand, junge Mädchen zu beurtheilen – und er glaubte das der Tante aufs Wort – warum zog sie ihn denn bei einer Gelegenheit, wie diese es war, heran? Das Gebiet war ihm fremd, der Gegenstand interessierte ihn nicht, er wünschte, er säße zu Hause bei seinen Büchern.
Inzwischen hörte man im Gang einen lauten Schlag auf ein Tamburin und feines Schellenklingen, dazu eine lachende Mädchenstimme.
Dann flog die Thür auf.
Professor Gregory kam viel schneller von seinem Sitz in die Höhe, als er beabsichtigt hatte, er sprang geradezu auf, Das war denn doch ein ganz eigenartiges lebendes Bild.
In ihrem blitzenden funkelnden Gewand, aus schweren Seidenstoffen und Stickereien zusammengesetzt und reich mit Steinen und Flittern übersät, stand das junge Mädchen einen Augenblick im Rahmen der Thür. Die Bezeichnung „Kleine“ stimmte nicht zu der hochgewachsenen, ein wenig schmächtigen Gestalt, und doch hatte Annaliese von Guttenberg ein Kindergesicht – ein elfenbein- blasses süßes Gesichtchen war’s, mit großen, länglich geschnittenen Augen von unbestimmt schillernder Farbe und einem üppigen Mund, der sehr übermüthig lächeln konnte, wie eben jetzt. Eine feine Stirn, ein kurzes Näschen und dunkles Haar – alles in allem ein Typus, der an Gesichter erinnert, wie Gabriel Max sie zu malen liebt.
Wenn die Generalin davon gesprochen hatte, die Stimmung ihrer Enkelin wechsle zwischen großer Apathie und fieberhafter Ausgelassenheit, so sah man auf den ersten Blick: heute herrschte die letztere vor! An dem jungen Geschöpf sprühte alles, die Augen lachten mit den weißen Zähnchen um die Wette, und der Anblick des Professors schien diese Lustigkeit noch zu steigern.
„Mein Herr Gevatter, gewiß und wahrhaftig! Es geschehen Zeichen und Wunder! Was bedeutet unserem armen Hause diese seltene und unerwartete Ehre? Darf die arme Zingarella sich die Freiheit nehmen, dem hohen Gast die Zukunft zu weissagen?“ Sie glitt mit demüthig gesenkten Augen, die Hände über der Brust gekreuzt, ins Zimmer und blieb vor dem Professor stehen, der das reizende Geschöpf mit offenkundigem Wohlgefallen ansah. Der Tausend, Steinhaufen, oder wer es sonst war, hatte Glück! Mochte sie nun launisch oder verwöhnt oder kokett sein . . . bildhübsch war sie auf alle Fälle!
„Ach, Kleine, nun laß Deine Faxen sein – setz’ Dich noch ein Weilchen zu uns, bevor Du Dich umkleidest, und erzähl’, wie es gewesen ist!“
Die alte Excellenz rief das halb ermahnend, halb lachend – ihr Blick weidete sich auch an dem liebreizenden Wesen.
„Liebe Excellenz-Großmama, wie soll’s denn gewesen sein? Immer derselbe Zauber! ‚Himmlisch, entzückend – Annaliese, Du siehst zum Küssen aus!‘ – ,Mein guädigstes Fräulein, Sie überstrahlen wieder einmal alle!‘ – ‚Gnädigste Baroneß sprechen die Verse weitaus am besten!‘ – ‚Fräulein von Guttenberg führt ihre Pas am graziösesten aus!‘ – ‚Das herrlichste Kostüm ist doch wieder das Ihrige‘ – ach Gott, genug, genug, ich hab’s satt bis hier!“ Sie fuhr rasch mit dem Zeigefinger an den weißen Hals. „Und dazu nichts zu essen, nichts, nichts!“ fuhr sie in kläglichem Ton fort und machte die Augen weit auf, wie jemand, der mit Gewalt etwas entdecken möchte; „Horndorffs, bei denen die Probe war, haben so viele schöne Sachen und Bilder – ach, und Meißener Porzellan und Silber und Majolikaschalen, und nichts zu essen drauf, nicht das kleinste Schinkenbrötchen, nicht die dünnste Theewaffel – und uns hat gehungert, gehungert! Einer hat immer heimlich den anderen gefragt, ob er denn nicht zufällig was zu essen mit hätte, und wie der kleine Hansi von Stumpf zwei kleine Chokoladetäfelchen in seinem Ueberrock entdeckt hat, da haben wir uns fast geprügelt um die zwei Täfelchen und haben den kleinen Hansi beinahe zerrissen. Und wie’s dann noch ans Tanzen ging, und es kam immerfort noch nichts zu essen, da sind wir alle so hoch gesprungen vor Hunger!“
„Annaliese!“ rief die Generalin ermahnend.
’s ist doch wahr, Großmamachen! Und der Ballettmeister hat uns so gelobt und hat gesagt, ’s wär’ eine Verve diesmal in unserem Tanz und ein Schwung wie noch nie! Hat gut reden! Federleicht waren wir schon, und mit dem leeren Magen ist gut springen – wie ein Gummiball!“
„So laß Dir doch die Kanapé etwas zu essen besorgen!“
„Ist schon bestellt! Was denkst Du denn? Ich hab’ statt ‚Guten Abend‘ zur Kanapé ‚Butterbrot‘ gesagt!“ Sie ließ sich
[553][554] erschöpft in einen Stuhl sinken und benutzte ihr Tamburin als Fächer, um sich Kühlung zuzuwehen.
Der Professor sah das Mädchen mit einem ganz neuen Interesse an. Es war ihm bisher nie eingefallen, die Großtochter seiner Tante Guttenberg zum Gegenstand seiner Beobachtung zu machen. Sie war ihm wie ein hübscher Luxusgegenstand erschienen, der selbstverständlich in den Besitz irgend eines Offiziers übergehen würde, das war alles gewesen. Als er vor mehr als sechs Jahren nach B. gekommen war, hatte Annaliese knapp dreizehn Jahre gezählt – ein kleines schnippisches Ding, das sich um keinen Preis dazu verstehen wollte, ihn Onkel zu nennen, wie die Generalin es wünschte. Paul seinerseits hatte sofort den Ton ihr gegenüber verfehlt, er wußte mit kleinen Mädchen nichts anzufangen, nannte Annaliese mit feierlicher Ironie „mein gnädiges Fräulein“ und machte ihr seine tiefste Verbeugung, was die Kleine, die längst klug genug war, aus diesem Benehmen den Spott herauszufinden, sehr ungnädig stimmte. Fragte Gregory sie gar nach ihren deutschen Aufsätzen, oder erbot er sich, ihre Rechenaufgaben nachzusehen, so nahm sie das vollends übel und drehte ihm ohne Antwort den Rücken. Es kam bald dahin, daß sie davonlief, sobald er erschien, und daß, wenn der Zufall ihn dennoch in ihre Nähe führte, er das verwöhnte kleine Fräulein gar nicht beachtete. Als Annaliese erwachsen war, hörte dieser Kriegszustand auf, sie trafen hin und wieder in einer Gesellschaft zusammen, und einmal hatte jedes von ihnen in einer bekannten Familie ein Pathenamt. Von dieser Taufe, die einen sehr lustigen Verlauf genommen hatte, stammte die Bezeichnung „Herr Gevatter“ und „Gnädigste Gevatterin“ her, mit der sie sich seitdem gegenseitig beehrten. Doch kam es sehr selten dazu, da der Professor das lebenslustige junge Dämchen fast nie bei seiner Tante antraf; jetzt vollends war fast ein Jahr verstrichen, seitdem er sie zuletzt gesprochen hatte – sie war ihm nur zuweilen auf der Straße „unter militärischer Bedeckung“, wie er das nannte, begegnet. Er hatte sie dann jedesmal sehr hübsch aussehend gefunden – aber heute, heute –
„Herr Gevatter, worüber grübeln Sie so angestrengt? Ich hoffe, Sie sind nicht hergekommen, um hier an Ihr entsetzliches Lexikon zu denken!“
Gregory lachte.
„Nein, gewiß nicht! Und ich kann Ihnen mein Ehrenwort geben – wenn Sie anders dasjenige eines Mannes, der kein Kavalier ist, gelten lassen – daß das, was ich dachte, weit entfernt von einem Lexikon war.“
„Warum sollte ich Ihr Ehrenwort nicht gelten lassen? Halten Sie mich doch nicht ohne weiteres für dumm und abgeschmackt – Sie kennen mich ja gar nicht!“
„Annaliese, ist das ein passender Ton für ein junges Mädchen?“
„Entschuldige, Großmama – mit einem Menschen, der am Verhungern ist, muß man nicht zu streng rechten. Kommen Sie, Kanapé, stopfen Sie mir den losen Mund!“
Die Haushälterin näherte sich mit einer Tablette, auf der eine Flasche Wein und ein Teller mit appetitlich belegten Brötchen stand.
„Halten Sie mit, Herr Professor? Allein bewältige ich das nicht!“
„Wenn Sie gestatten! Liebe Tante, darf ich Ihnen ein Glas Wein eingießen?“
„Danke, Paul! Es ist nicht meine Zeit; Du weißt ich lebe nach der Uhr. Eßt und trinkt nur ohne mich!“
Annaliese warf das Tamburin auf den Teppich, daß die Schellen laut klingelten, und biß hastig in ein Kaviarbrötchen. Die Großmutter fragte sie in kurzen Pausen nach verschiedenen Dingen, die heutige Kostümprobe betreffend, die Enkelin antwortete, und der Professor spielte den Beobachter.
Er stellte zunächst fest, daß die alte Excellenz recht gehabt hatte mit ihrer Behauptung, das junge Mädchen schwanke beständig zwischen bitterer müder Gleichgültigkeit und flackernder Erregung hin und her. Schon jetzt in der kurzen Zeit ließ sich das feststellen. Die sprühende Lebendigkeit, die sie bei ihrem Eintritt zur Schau getragen, erlosch ganz plötzlich, ein kleines nachdenkliches Fältchen schob sich zwischen die dunkeln geraden Brauen, die quecksilberne Beweglichkeit ließ nach – lässig schmiegte sich der Körper in das Polster des Sessels, das Lachen verstummte, und selbst die Stimme klang anders als zuvor, leiser und tiefer. Es war ersichtlich, irgend ein Erlebniß beschäftigte das junge Wesen innerlich ganz und gar und nur durch Zwang, indem sie sich selbst einen Ruck gab, kam sie in ihren alten Ton, in die Außenwelt zurück. Annaliese hatte eine Art, die großen Augen halb zu schließen, die ihrem jungen Gesicht einen seltsam weichen, träumerischen Reiz gab, und gerade das bildete einen anziehenden Gegensatz zu ihrem sonst so lebhaften Mienenspiel. Ihre langen, sehr dichten Wimpern warfen einen geheimnißvollen Halbschatten auf die blassen Wangen – sie hatte ein ganz neues Antlitz, wenn man sie so sah.
Eine ganze Weile blieb sie so, während die Generalin, durch irgend eine Bemerkung des jungen Mädchens angeregt, lebhaft sprach; offenbar beging Annaliese die Sünde, gar nicht hinzuhören, sie ließ die alte Dame einfach reden und träumte tiefsinnig vor sich hin – worüber? Es war dem Professor doch nicht mehr so ganz einerlei, er hätte es schon wissen mögen. Ihn reizte dieser auffallende Gegensatz zwischen der anfänglichen übermüthigen Lustigkeit und diesem nachdenklichen Ernst. Er verglich die beiden weiblichen Gesichter miteinander. War eine Aehnlichkeit da? Er fand keine heraus. Die alte Excellenz, wie sie dasaß mit ihrem eisgrauen, schlicht gescheitelten Haar und den regelmäßigen, etwas strengen Zügen, mußte in ihrer Jugend ein ganz anderer Typus gewesen sein. Sie hatte ihm oft gesagt, ihr verstorbener Sohn, Annaliesens Vater, sei ganz ihr Ebenbild gewesen – also glich das Mädchen wohl ihrer Mutter, und diese hatte sich schwer in die vorgeschriebenen Formen des militärischen Lebens gefügt – hm, ja!
„Herr Divisionsprediger Berghold!“ meldete Martin mit seiner leisen ehrerbietigen Stimme.
„Sie haben ihn nebenan in mein Arbeitskabinett geführt, wie ich Ihnen sagte?“
„Zu Befehl, Excellenz!“
„Es ist gut. Ich bin bald wieder da, unsere Unterredung wird nicht lange dauern. Paul, Du leistest wohl meiner Enkelin solange Gesellschaft?“
Der Professor verbeugte sich stumm. Die Generalin warf ihm noch einen verständnißinnigen Blick zu und rauschte würdevoll – sie trug stets Schleppkleider aus dem Zimmer, dessen Thür sie sorgfältig hinter sich schloß.
Karl Braun-Wiesbaden.
Es war im Mai des Jahres 1880. Der alte Freiheitskämpfer Corvin, der sich seit einiger Zeit in Leipzig niedergelassen hatte und dort in stiller Zurückgezogenheit seinen geschichtlichen Studien lebte, trat in mein Arbeitszimmer und sagte mir, ehe ich noch seine Begrüßung erwidern konnte, mit der ihm eigenen Beweglichkeit: „Klappen Sie jetzt ’mal die Bücher zu und kommen Sie mit! Wir fahren zu Bonorand. Dort sollen Sie eine Bekanntschaft machen – first rate! Ersten Ranges!“
„Sehr liebenswürdig!“ versetzte ich etwas ungläubig, denn Freund Corvin war trotz seiner siebzig Jahre ein Enthusiast, der sich ganz außerordentlich rasch begeisterte und seinen Stimmungen stets einen sehr gesteigerten Ausdruck verlieh. Aber die Maisonne strahlte so himmlisch, und Corvin-Wiersbitzki war auch ohne den Zuschuß neuer Bekanntschaften ein so anregenber, unterhaltender Kamerad, daß ich sofort Schicht machte und ihm hinab in die bereitstehende Droschke folgte.
Frau Helene, die aufopfernde Gattin Corwins – beiläufig gesagt, eine der seltensten Frauenerscheinungen, die mir jemals begegnet sind – wiederholte mir nun das begeisterte „first rate“ ihres Gemahls, so daß ich jetzt wirklich in einige Spannung gerieth. Die Spannung ward zur lebendigsten Freude, als ich erfuhr, es handle sich um den politischen „Schwarm“ meiner Studentenzeit, um Karl Braun-Wiesbaden.
Ich glaube, daß ich mit dieser vollkräftigen Schwärmerei unter meinen Altersgenossen nicht eben vereinzelt dastand. Die schneidige, witz- und humorsprühende Art, mit der Karl Braun in der Zwischenzeit von 1866 bis 1870 den Kampf wider die bösen Dämonen des reichsfeindlichen Sondergeistes aufnahm, [555] hat vornehmlich auf das jüngere Geschlecht einen begeisternden Einfluß geübt und so nicht wenig zum endgültigen Siege des Einheitsgedankens beigetragen. Jedenfalls war uns der eigenartige Charakterkopf des Wiesbadener Rechtsanwaltes vor allen übrigen Reichsboten anziehend und sympathisch, und seine kostbaren Schriften über die Jammerwirthschaft der Kleinstaaterei gehörten zu den gelesensten Stücken unserer sonst nicht allzu reichhaltigen Bibliothek. Das waren gesunde klare Gedanken in flotter bestrickender, oft hinreißender Form, Schilderungen von überquellender Lebenskraft, das Ganze durchfluthet vom Strom einer mannhaften furchtlosen Ueberzeugung. Braun philosophierte nicht, sondern er zeigte; die Eigenart seiner schriftstellerischen Begabung setzte das Theoretische und Allgemeine überall ins Praktische und Besondere um. Schon hieraus erklärt sich die ausgeprägte Vorliebe des Mannes für das Individuelle und Anekdotische, für jene kleinen und kleinsten Züge, deren Bedeutung dem Alltagskopfe nicht immer einleuchten will . . .
Als wir bei Bonorand vorfuhren, saß Karl Braun mit seiner Gattin und seinen Töchtern bereits unter den Lindenbäumen und schaute mit unverkennbarem Wohlgefühl dem farbig bewegten Treiben zu, das an sonnigen Nachmittagen im Frühling und Vorsommer für diesen Lieblingsort der Leipziger so bezeichnend ist. Man sah ihm an, wie gern und mit wie jugendlich frischer Theilnahme diese Augen beobachteten, wie liebevoll dies warmherzige Humoristengemüth alles umfaßte, was Mensch und menschlich war.
Corvin stellte mich vor. Wir wechselten einige Worte der Höflichkeit. Hieraus entspann sich ein etwas minder förmlich geführtes Gespräch. Alsbald hatte ich das Gefühl, als sei dieser Mann seit Jahren schon mir ein lieber vertrauter Freund gewesen. Unter zehn Fällen ist man neunmal enttäuscht, wenn man einer politischen oder litterarischen Größe, die man aus der Entfernung schätzen gelernt, nun von Antlitz zu Antlitz begegnet. Hier aber deckten sich Wirklichkeit und Phantasiebild so volldtändig, daß dieser Eindruck der ersten Stunde während des nachmaligen lebhaften Verkehrs mehrerer Jahre in keiner Weide verändert wurde.
Karl Braun besaß eben vor allem eine scharf ausgeprägte Persönlichkeit. Schon seine äußere Erscheinung hatte etwas Ueberraschenbes. Er selbst rühmte sich, der Abkomme urdeutscher Bauern zu sein. Die imponierende hohe Gestalt, der breite Kopf mit dem ungewöhnlich mächtigen Nacken und die derb frische Gesichtsfarbe erinnerten in der That an die Kernhaftigkeit des Landmanns, der in Wetter unb Wind seine Scholle baut. Die zunehmenden Jahre hatten ihm eine gewisse Fülle verliehen, die sich indeß wesentlich von dem Embonpoint aufgedunsener Rentiers unterschied. Lachend erzählte er einst, sein „Marchand-Tailleur“ habe erklärt: „Für Sie, Herr Justizrath, Röcke zu fertigen, ist ein wahrer Genuß; bei Ihnen ist alles von oben bis unten so prächtig egal.“ Das war nicht übel gesagt; die derbe „Egalheit“ erinnerte an die Stämmigkeit eines Eichbaums.
Trotz dieser Wucht der Erscheinung hatte Karl Braun etwas außerordentlich Vornehmes. Jede Bewegung verrieth den vollendeten Kavalier; die Gebärdensprache war maßvoll aber beredt und von gewinnender Eigenart. Gewinnend im höchsten Maß war überhaupt so ziemlich alles an diesem Manne: die freien ansprechenden Züge, die tieftönige volle Stimme, der Blick der feurigen Augen, das wohlwollende, liebenswürdige Lächeln. Niemals, und wenn die Geister noch so urwüchsig aufeinanber prallten, verließ ihn die maßvolle Selbstbeherrschung; er, dem alle Waffen des Witzes und der vernichtenden Satire schlagfertig zur Hand waren, hat diese Waffen – das müssen ihm seine erbittersten Gegner einräumen – niemals in unedler Weise gebraucht.
Von der Macht, die Karl Braun über die Gemüther des Volkes, insbesondere seiner rheinländischen Landsleute ausübte, kann sich nur der ein Bild machen, der ihn etwa als Sprecher auf einer Volksversammlung oder auch nur als Erzähler und Plauderer im Kreis dieser Heimathgenossen beobachtet hat. Welches Verständniß für die innersten Regungen der Menschennatur, für alles, was da ergreift und bewegt, und – für den Zauber der funkelnden Gottesgabe im Becher! Denn neben so vielen großen und kleinen Vorzügen besaß Karl Braun eine Weinzunge, die, „glänzend veranlagt unb glänzend geschult“, mit Leichtigkeit nicht nur die engere und engste Heimath des Tropfens, sondern meist auch den Jahrgang mit unfehlbarer Sicherheit augenblicklich herausschmeckte. Wie alle Weinkenner leugnete er den Vorzug des Champagners; er hat über dies Thema sogar eine geharnischte Schrift veröffentlicht, die ihm den Zorn der Witwe Cliquot und ihrer Berufsgenossen für ewige Zeit auf den Hals lud. Bezeichnend für seine Freude am Rebensaft waren die Worte, die er an seinem sechzigsten Geburtstage sprach: „Die besten Trunke sind nun gethan!“ In den Augen des Biographen wird diese „Feuchtfröhlichkeit“ nicht eben schwer wiegen, aber das Volk liebt solches Zechverständniß; dem ewig nüchternen Wassertrinker bringt es kein rechtes Vertrauen entgegen . . . Und nun vollends der Anwohner jener gesegneten Gaue, wo der Rüdesheimer im Gold der Sonne reift und der Johannisberger!
Brann verstand seine Heimathgenossen! Jedes Wort, das er zu ihnen sprach, hatte gleichsam den Erdgeruch der nassauisch-preußischen Rebengelände. Mit Recht bezeichnete ihn ein großes politisches Blatt als das vollendete Urbild einer echten vollsaftigen Rheinländernatur, eines westdeutschen Volkstribunen. Wie er aber auch ohne die Hilfsmittel rednerischer Kunst und humorsprühender Agitation wirkte, dafür möchte ich hier einen bezeichnenden Zug beibringen. Ich entsinne mich, daß eine Dame, die eine Reihe schwerer Schicksalsschläge erfahren hatte, nach einer kurzen Begegnung mit Karl Braun plötzlich in Thränen ausbrach und mit bewegter Stimme ausrief:
„Wie geborgen muß die Familie sich fühlen, die einen solchen Vater besitzt!“
Die Familie hat diesen Vater nunmehr verloren. Am 14. Juli ist Karl Braun – schon seit Jahren von schwerer Krankheit heimgesucht, von seiner treuen Gefährtin bis zuletzt mit aufopfernder Hingebung gepflegt – zu Freiburg im Breisgau gestorben. Ein Herzschlag hat diesem reichgesegneten Dasein plötzlich ein Ende gemacht.
Wenn man die Männer nennt, die an der Wiege der deutschen Einheit gestanden, die mitgearbeitet haben an dem
gewaltigen Werke des Fürsten Bismarck und des glorreichen ersten Kaisers, so wird man auch Karl Brauns – und nicht unter
den Letzten – gedenken müssen. In wehmuthsvoller Ergriffenheit legen wir dieses bescheidene Blatt auf die Schlummerstätte des
Heimgegangenen. Er ruhe in Frieden! Ernst Eckstein.
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Wir freuen uns, unseren Lesern, von denen sich vor allem die älteren des Verstorbenen treuer Mitarbeiterschaft an der
„Gartenlaube“ dankbar mit uns erinnern werden, diesen herzlichen Nachruf aus Freundesmund bringen zu können. Es ist wohl
kaum nöthig, dem lebendigen Bilde Karl Brauns, das hier gezeichnet ist, den äußeren Rahmen hinzuzulegen: wie der
sechsundzwanzigjährige Anwalt als Mitglied der nassauischen Kammer im stürmischen Jahre 1848 seine politische Thätigkeit begann,
wie er dort bis zur Einverleibung seines engeren Vaterlandes in Preußen die Sache der Freiheit und deutschen Einheit gegen die
Engherzigkeit und den Sondergeist der Kleinstaaterei glänzend verfocht, wie er dann von 1867 an erst im Norddeutschen
und nachher im Deutschen Reichstag das große Feld für seine hervorragende Thätigkeit, zugleich in Berlin eine neue Heimath
fand – das alles ist noch unvergessen. So schließen denn auch wir mit dem Wunsche, den das Gedenkblatt des Freundes
dem wackeren Manne als den letzten gewidmet hat: Er ruhe in Frieden! Die Redaktion.
[556]
Bilder vom Buttstädter Pferdemarkt.
Die meisten bekannteren Städte Thüringens haben Erwerbsquellen, deren Anfänge bis in uralte Zeiten zurückreichen und aus denen heraus sich mit der Zeit recht bedeutende Industrien entwickelt haben. Zu diesen bevorzugten Orten gehört auch die achtzehn Kilometer nördlich von Weimar, zwischen dem Ettersberg und der Finne gelegene Stadt Buttstädt. Zwar eine Industrie kann man es gerade nicht nennen, was dieser Stadt Bedeutung unter ihren Schwestern verliehen hat. Der Klang ihres Namens geht aus von ihren altberühmten Roßmärkten, welche als eine Centralstelle für den Pferdehandel in Thüringen und Mitteldeutschland in bestem Rufe stehen und auch von Käufern aus entfernteren Gegenden zahlreich besucht werden. Sie stammen in der That aus unvordenklichen Zeiten und ihre Entstehung läßt sich mit Gewißheit gar nicht mehr feststellen. Eine Urkunde aus dem Jahre 1408, in welcher der Stadt ihre Marktgerechtigkeit bestätigt wird, besagt, daß diese Märkte „wie von alters her“, so auch künftig abgehalten werden dürfen; wir werden also in eine sehr ferne Vergangenheit zurückverwiesen.
So standhaft nun diese Märkte alle Zeitenstürme überdauert haben, so ist doch in einem Punkte eine wesentliche Wandlung mit ihnen vorgegangen.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß in früheren Jahrhunderten das Pferd ein Luxusgegenstand war, dessen Besitz sich nur wohlhabende Leute gestatten konnten, daß die Felder nur von Ochsengespannen bestellt und Wagenlasten bei dem fast gänzlichen Mangel an Kunststraßen ebenfalls vorwiegend von den gehörnten Zugthieren fortbewegt wurden, so dürfen wir uns nicht wundern, daß die Buttstädter Märkte in älterer Zeit weniger mit Pferden, als mit Ochsen beschickt wurden. Der Antrieb war aber ein so bedeuteter, oft bis zu 20 000 Stück, daß die Stadt, die einen großen Theil ihrer Felder zur Abhaltung der Märkte einräumen mußte, aus der Abgabe von zwei Pfennig für das Stück eine nach dem damaligen Werth des Geldes recht bedeutende Einnahme erzielte.
Aber nicht die Stadtkasse allein, sondern auch der größte Theil der Bürgerschaft betrachtete die Märkte als eine willkommene Gelegenheit zu einem stattlichen Verdienst, denn die zahlreich zusammenströmenden Menschen, Viehbesitzer, Treiber, Käufer und fahrendes Volk aller Art brauchten Wohnung, Verpflegung, Futter für das Vieh und allerlei andere nothwendige Gegenstände, welche denn auch in der Stadt reichlich zu haben waren. Aus diesem Bedürfniß heraus haben sich ansehnliche Industrien, wie Gerbereien, Seilereien, Sattlereien, vor allen Dingen aber Logier- und Gastwirthschaften entwickelt.
Nach alledem ist es sehr erklärlich, daß die Stadt eifrig bemüht war, sich ihre Privilegien zu erhalten und gegen nachbarlichen Wettbewerb nachdrücklich zu vertheidigen. Wiederholt wurde der regierende Herzog, einmal sogar Kaiser Karl V. angerufen, daß er einigen Nachbarstädten, welche es den Buttstädtern gerne nachmachen wollten, den Vieh- und Pferdehandel untersage. Und da Buttstädts Vorrecht, zwischen Saale und Unstrut allein derartige Märkte abhalten zu dürfen, über allen Zweifel erhaben war, so hatten diese Einsprachen in der Regel Erfolg; die Buttstädter besaßen damit eine recht bequeme Quelle der Wohlhabenheit und brauchten für den folgenden Tag keine sonderliche Sorge zu tragen.
Der Dreißigjährige Krieg aber machte, wie so vielen anderen, auch den Buttstädter Märkten ein Ende, denn die Ochsen waren während desselben im wahren Sinne des Wortes den Weg alles Fleisches gegangen und die Pferde von den Soldaten entführt worden. Es läßt sich lebhaft denken, daß die während des unseligen Krieges gänzlich verarmten Buttstädter mit Wehmuth ihrer früheren reichlichen, nunmehr versiegten Einnahmequelle gedachten und mit ihrem ganzen Sinnen und Trachten bestrebt waren, sich dieselbe wieder zu erschließen. Wie sie es gemacht haben, ist uns nicht überliefert, aber daß es ihnen gelungen ist, ihren Marktort nach und nach wieder in Aufnahme zu bringen, beweist die Gegenwart. Nur ist aus dem ehemals berühmten privilegierten Ochsenmarkt ein Pferdemarkt geworden, der sich trotz wesentlich ungünstigerer Bedingungen bis heutigen Tages erhalten hat.
Zu den drei uralten Märkten, zu Johannis, Michaelis und Allerheiligen, wurde der Stadt aus fürstlicher Gnade nach einem großen Brandunglück im Jahre 1684 ein vierter Markt, zu Fastnacht, gewährt; nach der Schlacht bei Jena-Auerstädt, welche auch der Stadt Buttstädt viel Schaden zugefügt hatte, bekam dieselbe das Recht, einen fünften Markt um Ostern zu veranstalten, und der neuesten Zeit war es vorbehalten, gleich zwei neue Märkte den fünf alten zuzufügen, so daß nunmehr jährlich sieben Pferdemärkte zu Buttstädt stattfinden, mit welchen fünf Krammärkte verbunden sind.
Wenn nun auch die jetzigen Roßmärkte mit den früheren Ochsenmärkten in Bezug auf die Zahl der angetriebenen Thiere kaum verglichen werden können, so sind sie in Anbetracht dessen, daß von Privilegien keine Rede mehr ist und daß auch in vielen anderen Städten Nord- und Mitteldeutschlands recht besuchte Pferdemärkte abgehalten werden, doch immer noch so [557] bedeutend, daß sie unsere Beachtung reichlich verdienen.
Für Pferdeliebhaber, oder wer sonst gezwungen ist, zu wirthschaftlichen oder gewerblichen Zwecken sich auf den Pferdehandel zu begeben, wird es immerhin von Werth sein, auf den Plätzen der Stadt 2- bis 3000 Pferde jeder Rasse und jeden Alters wohlgeordnet zum Verkauf aufgestellt zu finden. Da sind sie alle beisammen: das feurige ausdauernde ostpreußische Reitpferd, der elegante mecklenburger Karossier, das schwere dänische und das noch schwerere Ardenner Zugpferd, der gedrungene Percheron, der feingegliederte, langmähnige Russe und der ausdauernde, stahlsehnige Ungar, nicht zu gedenken der Unmasse einzelner Gebrauchspferde, welche aus der Nähe und Ferne von Privatbesitzern zu Markt gebracht werden. Es begegnen sich hier die Händler aus Belgien und Rußland, Dänemark und Ungarn, Ostpreußen und Mecklenburg, Holstein und Hannover, ein jeder mit der Absicht, nicht nur zu verkaufen, sondern auch zu kaufen, seine eigenen Bestände zu ergänzen und dann andere Plätze damit aufzusuchen. Und dies ist das eigentlich Bezeichnende an den Buttstädter Roßmärkten, sie sind eine große Pferdemesse, in welcher die Händler ganz stillschweigend unter sich Geschäfte machen, von denen das Publikum meist gar nichts gewahr wird. Es geschieht das meist schon vor dem eigentlichen Markt, da die größeren Pferdehändler oft schon acht und mehr Tage vorher mit ihren Koppeln anlangen, um ihren Pferden nach oft langer und anstrengender Eisenbahnfahrt einige Erholung angedeihen zu lassen und sie wieder ein wenig herauszufüttern. Die Besitzer von Fohlen, welche zu den Herbstmärkten in großer Menge aus Belgien, Dänemark und Holstein erscheinen, treffen oft schon mehrere Wochen vor dem Markte ein, pachten sich Wiesen und schicken die jungen Thiere auf die Weide, damit sie sich von der langen Reise erholen können und ein möglichst gutes Ansehen erhalten.
Da in früheren Jahrhunderten die Stadt bedeutend kleiner war als heute, zudem mit Mauern, Wällen und Gräben umgeben, so mußten die Massen zugetriebenen Viehes mit ihren Treibern und Wächtern im Freien lagern, und es mag Mühe genug gekostet haben, Ordnung in dieses Gewoge zu bringen. Heute ist das anders. Jeder Bürger der Stadt hat das Recht, während der Märkte Fremde aufzunehmen und Gastwirthschaft zu betreiben; und da von diesem Rechte hinreichend Gebrauch gemacht wird, so ist das Bedürfniß nach Wohnung und Stallung jederzeit vollkommen gedeckt. Unter diesen sogenannten „Jahrmarktswirthen“ giebt es Leute, die ihre Grundstücke ausschließlich zur Aufnahme der Marktbesucher gasthofartig eingerichtet haben und von denen einige Stallungen besitzen, in welchen fast zweihundert Pferde untergebracht werden können. Wenn nun auch der vorhandene Raum nicht an jedem Markte besetzt ist – denn es giebt gute und schlechte Märkte, wie die Zeit- und Witterungsverhaltnisse es mit sich bringen – so hat so ein Jahrmarktswirth doch sein gutes Auskommen, und es ist kein Wunder, wenn er sein eigentliches Gewerbe schließlich an den Nagel hängt und von seinen Markteinnahmen ein beschauliches und behagliches Dasein führt.
Aber auch viele arme Leute aus der Stadt sehen der Wiederkehr des Marktes mit Sehnsucht entgegen, da ihnen daraus ein sehr willkommener Verdienst erwächst; die Männer treten bei den Jahrmarktswirthen als Hausknechte und Futtermeister ein, wobei, wenn das Glück günstig ist, recht ansehnliche Trinkgelder abfallen, während die Frauen zur Bedienung der Gäste angenommen werden oder sonst einen kleinen Handel auf eigene Rechnung treiben.
Merkwürdigerweise ist der Tag vor dem Markte, der sogenannte „Einzugstag“, für den Pferdeliebhaber der lohnendste. Ist das Wetter gut, dann bringen die Händler ihre Pferdekoppeln gegen Mittag auf den sehr geräumigen Marktplatz hinaus, der mit schönen alten Kastanienbäumen umgeben ist und genügend Schatten bietet, und hier hat man, da das Gedränge noch nicht so groß ist, hinreichend Muße und Gelegenheit, die schönsten Pferde aller Rassen zu betrachten und zu bewundern. Es ist dies eine Art Vorparade, bei welcher die Händler sich gegenseitig ihre Ware zeigen und viele Geschäfte untereinander abschließen.
Am frühen Morgen des eigentlichen Jahrmarktstages füllt sich der große Roßplatz und seine nächste Umgebung mit Pferdekoppeln und einzelnen zum Verkauf gestellten Pferden, alle nach Buttstädt führenden sieben Chausseen sind mit Wagen, Reitern und Fußgängern überfüllt, die alle einem Ziele entgegenströmen. Die an der Stadt vorüberführende Saale-Unstrutbahn hat Extrazüge eingelegt und führt Ströme von Menschen herbei, Geschäftsleute aller Art, Käufer und Verkäufer, Künstler und Schaulustige, harmlose Landleute und abgefeimte Taschendiebe aus den Großstädten, welche mit Vorliebe derartige Gelegenheiten mit Proben ihrer Fingerfertigkeit zu beehren pflegen.
Dieser gesamte Menschenmischmasch wimmelt nun durcheinander, ein jeder hat die beste Absicht, möglichst gute Geschäfte zu machen oder sich nach Kräften auf Kosten seines Geldbeutels zu belustigen.
Der Pferdehandel ist bereits im besten Gange. Die Koppeln, d. h. eine Anzahl aneinandergebundener Pferde, werden langsam im Kreise herumgeführt, in dessen Mitte eine Schnapsverkäuferin mit ihrem kleinen Tische Posto gefaßt hat; Käufer und Verkäufer trinken sich hier gegenseitig Muth zu, und ist ein Geschäft zustande gekommen, so wird hier der Kaufpreis erlegt, wovon natürlich für die Tischbesitzerin ebenfalls eine Kleinigkeit abfällt. Dort kurbettieren einzelne Reiter, um einen Kaufliebhaber anzulocken und ihm möglichst glaubhaft zu machen, der Gaul sei echtes Vollblut, während andere Verkäufer ihre Pferde vor einen Wagen gespannt haben und damit, soweit der Raum dies gestattet, wie toll umherjagen, um zu zeigen, was ihre Thiere leisten können.
Mit dem Pferdehandel ist das so eine eigene Sache, und wer damit zu thun gehabt hat, wird dies gewiß bestätigen können. Es giebt Leute, die sonst ganz ehrenwerth sein mögen, aber bei einem Pferdegeschäft sich nicht genieren, ihren eigenen Bruder übers Ohr zu [558] hauen – das ist eine alte Geschichte und sie wird wohl immer so bleiben; der Doppelsinn des Wortes „Roßtäuscher“, womit man in früheren Zeiten den Pferdehändler bezeichnete und das man ebensowohl von „tauschen“ wie von „täuschen“ ableiten kann, ist gewiß kein zufälliger. Freilich muß man hierbei einige Unterschiede machen; der große Pferdehändler, welcher oft mit einem Material im Werthe von 20- bis 30 000 Mark auf den Platz kommt, betreibt seinen Handel selbstverständlich anders als der Zigeuner, welcher mit drei bis vier auserlesenen Schindmähren antritt, die in ihrer frühesten Jugend vielleicht einmal ausrangierte Artillerie- oder Kavalleriepferde gewesen sind.
Aber jede Ware findet ihren Herrn – und selbst der Roßschlächter ist auf dem Platze, um seine Einkäufe zu machen.
Es kommt höchst selten vor, daß Verkäufer und Käufer unmittelbar miteinander verhandeln; das ganze Geschäft wird von Kommissionären, sogenannten „Schmusern“, besorgt, deren hauptsächlichste Tugend ein unbesiegbares Mundwerk sein muß, welches beide Theile genügend zu bearbeiten versteht. Es ist selbstverständlich, daß diese Leute, welche mit den Händlern von einem Markt zum anderen ziehen, stets zum Vortheil dieser reden und handeln; ihre Hauptaufgabe aber ist es, einen Ton der Treuherzigkeit und Unparteilichkeit anzuschlagen, der das Vertrauen des Opfers gewinnen soll, namentlich wenn dasselbe ein fremder und in derartigen Geschäften unbewanderter Mann ist. Dies gilt nicht nur beim Verkauf, sondern auch beim Kauf eines Pferdes, denn es handelt sich nicht immer darum, jemand ein Pferd aufzuschwatzen, sondern auch oft darum, es seinem Besitzer abzuschwatzen.
Das abgeschlossene Geschäft wird durch gegenseitigen Handschlag besiegelt, und es ist höchst spaßhaft, mit anzusehen, wie der Schmuser diesen Handschlag während des Handels zu erzwingen sucht. Er bietet oder fordert, je nachdem es sich um Kauf oder Verkauf dreht, einen gewissen Preis, bemächtigt sich der Hand des Gegners und versucht in dieselbe einzuschlagen, dieser aber, dem der Preis noch nicht zusagt, zieht seine Hand schleunigst zurück, und der eifrige Schmuser schlägt in die Luft. Und nun geht das Reden und Schwören und Bieten von neuem los – wieder ein Handschlag in die Luft, wieder nichts, bis endlich beide einig werden, an den Zahltisch treten und ihre durch die Anstrengung ihrer Redewerkzeuge erschöpften Lebensgeister durch einige Schnäpse wieder auffrischen.
Seit einer Reihe von Jahren gehören auch die Zigeuner zu den Stammgästen der Roßmärkte. Sie erschienen plötzlich in größeren Massen mit Weibern, Kindern und ihren mit allerlei Plunder beladenen Wagen und machten sich in ihrer bekannten höchst Unbefangenen und unverschämten Weise bemerklich, lagerten sich in der Nähe des Roßplatzes, auf den Feldern und Wiesen, zündeten ohne Rücksicht auf die Feuersicherheit der Umgegend ihre Feuer an, schickten Weiber und Kinder zum Betteln in die Stadt, trieben des Nachts ihre halbverhungerten Pferde auf Wiesen und Kleefelder und statteten den Kartoffeläckern ihre sehr unliebsamen Besuche ab. Es hat viel Mühe gekostet, diesen Horden klarzumachen, daß auch sie die Gesetze zu respektieren haben, aber sie sind nunmehr belehrt und betragen sich im allgemeinen ruhig und anständig. Ihr Haupterwerbszweig, der Pferdehandel, muß in der That sehr einträglich sein, denn sie zeigen bei jeder Gelegenheit viel Geld, behängen ihre Frauen mit auffallendem Geschmeide und Putz und vertrinken bei ihren Weingelagen, bei welchen es ihnen mehr auf die Menge, als auf die Güte des Getränks anzukommen scheint, oft große Summen.
Wer die Roßmärkte seit längeren Jahren kennt, findet stets alte bekannte typische Gesichter heraus. Da ist der schlaue Handelsmann, der alles kauft und verkauft, wobei etwas zu verdienen ist, und der auf keinem Markte fehlt; da wandert ferner der bankerotte ehemalige Cirkusbesitzer mit den Händen in den Hosentaschen umher und späht nach seinen ihm vor kurzer Zeit abgepfändeten Pferden. Ha, es ist alles vorbei! Da zieht ein Händler mit dem „unübertroffenen Springpferd Almansor“ von dannen und dort wandert mit gesenktem Haupte das Apportierpferd „Miß Cora“ hinter einem Roßschlächter her – sic transit gloria mundi! Da ist auch der „Herr Baron“, mit schäbiger Eleganz gekleidet, den Klemmer auf der Nase und die scheinbar mit Silber beschlagene Reitpeitsche in der Hand. Ach, er hat früher bessere Tage gesehen und seines Vaters „goldene Füchse“ wenn auch nicht, wie der lange Peter von Itzehoe, in einer einzigen Nacht, so doch in recht kurzer Zeit durchgebracht. Er träumt sich jetzt in seine schöne Vergangenheit zurück. Einst war er Pferdeliebhaber und hat wacker gekauft und verkauft – die Zeiten sind vorbei, die Passion aber ist geblieben. Und so handelt er fortgesetzt eifrig um Pferde, wird nur merkwürdigerweise niemals handelseinig und giebt schließlich kopfschüttelnd das Geschäft auf, indem er auf die heutigen hohen Pferdepreise schilt. So hat jedes Thierchen sein Plaisirchen!
Daß es auf diesen Roßmärkten an Schaubuden aller Art nicht fehlt, ist selbstverständlich, wie auch in den Gasthäusern die Muse des Gesanges in Kostümen aller Art, reichlich vertreten ist; dies hindert aber nicht, daß sich die im Freien befindlichen Resteurationsbuden, in welchen die Rostbratwurst als echtes Thüringer Kind vorherrscht, ebenfalls zahlreicher Gäste erfreuen. Weißt du, sehr geehrter Leser, was eine Rostbratwurst ist? Das ist eine Bratwurst, welche auf einem über glühenden Holzkohlen liegenden eisernen Rost gebraten wird und deren Zubereitung du, wenn der Wind danach steht, schon aus weiter Ferne zu ahnen vermagst. Wenn du einmal in einem Luftballon über die deutschen Länder dahinschwebst und du hast die Orientierung verloren und es steigt [559] dir von unten her ein qualmender Dampf und ein merkwürdiger brenzliger Fettgeruch in die Nase, dann kannst du mit Sicherheit darauf schwören, daß du dich oberhalb Thüringens befindest; Denn ein Jahrmarkt, eine Kirmes oder sonst ein Volksfest ohne Rostbratwürste gehört hier zu den Unmöglichkeiten.
Ob die Geschäfte gut oder schlecht gehen, das merkt der erfahrene Zuschauer sehr bald an der mehr oder weniger frühzeitigen Abnahme des Pferdebestandes auf dem Marktplatz, der häufig schon gegen Mittag sich zu leeren beginnt. Früher war dies nicht der Fall und der Markt wurde dann noch einen zweiten Tag fortgesetzt; die Menschheit hatte eben damals mehr Zeit als heute. Die leidige Eisenbahn aber mit ihren pünktlich abgehenden Zügen läßt ihre Lokomotiven ganz in der Nähe pfeifen und jeder Pfiff mahnt zur Eile, weshalb man denn auch bald die Koppeln der Händler dem Bahnhof zustreben sieht, um dort verladen zu werden. Gegen drei Uhr nachmittags ist der weite Platz, der noch vor wenig Stunden von Menschen und Rossen wimmelte, still und leer und nur noch in einigen abgelegenen Winkeln wird um einige Andalusier letzter Güte mit Wortschwall und heftiger Leidenschaft geschachert und geprachert. Endlich sind auch diese Geschäfte erledigt und, der erkauften Schätze froh, zieht alles von dannen, um in einem der vielen Wirthshäuser Erholung und Stärkung von des Tages Last und Arbeit zu suchen.
Der Buttstädter aber freut sich, wenn wieder ein guter Markt vorüber ist, und rechnet sich bereits in Gedanken aus, wann der nächste stattfindet, denn von den Märkten hängt ja sein ganzes Dasein ab – er lebt davon, wie seine Vorfahren davon gelebt haben. Und wenn dann am nächsten Tage der Bürgermeister mit dem Kämmerer Kasse macht und die für den städtischen Haushalt so nothwendige Einnahme feststellt, dann vereinigen auch sie sich in dem gemeinsamen stillen Wunsche für das fernere Blühen und Gedeihen ihrer altehrwürdigen Pferdemärkte.
Schwertlilie.
(19. Fortsetzung.)
Frau von Méninville hatte wohl oder übel dem Oberjägermeister Wort halten müssen. Sie hatte eine Unterredung mit dem Pater Gollermann gehabt, eine Unterredung ohne Zeugen, in dem einfachen Gemach des geistlichen Herrn. Und wenn diese Zwiesprache theilweise sehr seltsamer Natur gewesen, so möge dabei der Umstand erklärend ins Gewicht fallen, daß es die letzte war, welche diese beiden Personen je miteinander halten sollten. Trifft man aber auf dem Punkte zusammen, wo die Wege sich noch einmal kreuzen, Um dann für alle Zeitlichkeit auseinander zu laufen, so pflegt, was einer und der andere spricht, weniger mit Höflichkeit verbrämt als gehaltreich zu sein, und wenn dieser Gehalt auch bittere Nieswurz wäre!
Der Pater war durch die Mittheilungen der frommen Witwe, seiner vormaligen Schutzbefohlenen, erregt, ja aufgebracht worden; das Weib hatte seine höhnische oder verstockte Ruhe bewahrt, dem Spieler von Handwerk ähnlich, der stets damit zu rechnen gehabt hat, daß das Glück sich auch einmal gegen ihn wenden könne.
„Ihr habt uns in eine mißliche Lage gebracht,“ sagte der Pater, im Zimmer auf und ab schreitend, wobei er es vermied, sie, die am Tische stand, anzusehen … „in eine mißliche Lage! Und schlecht wird dem Orden durch Euch gedankt, daß er, Euerer scheinbar aufrichtigen Reue vertrauend, Euch durch seinen erneuten Schutz hier eine Stätte bereitete, wo Ihr, wie die Väter hofften, zum Besten der Religion wirken solltet.“
Frau von Méninville verschmähte es, ein Wort zu erwidern. Aber der Zug des Hohnes, der um ihre Lippen lag, verrieth, was sie in ihrem innersten Herzen von dem Versuch des Paters dachte, auch in dieser Stunde noch an der erbaulichen Redeweise festzuhalten.
„Zu groß ist jederzeit der weibliche Hang zu nutzlosen spielenden Ränken gewesen,“ klagte der würdige Herr zürnend weiter, „und zu groß die Schwachheit des Geschlechtes. Daß mir erst heute die Augen aufgehen mußten! Die äußere eitle Wohlgestalt dieses Herrn von Nievern ist es, die Euch verführt hat … Eifersucht hat Euch über das Ziel schießen, den ungeschickten, weil viel zu gewagten Zug thun lassen, diese Polyxene des Mordes ihres Vetters zu verdächtigen.“
„Ihr kennt das weibliche Herz. Hochwürden.“ sagte die Méninville darauf mit einem verzogenen Lächeln um die farblosen Lippen. „Dieser Nievern – möge es Euch nicht mißfallen, wenn ich es sage, und zwar in dieser Stunde – ist allerdings ein ganzer Mann, recht einer zum Verlieben, und keineswegs nur seiner hübschen langen Figur wegen …“
„Schweigt, Schamlose!“ herrschte Pater Gollermann sie an. „Ungeschickt war auch Euer Rath, den Junker, wenngleich die ärztliche Kunst der Unseren ihm damals das Leben gerettet hatte, im stillen fortzuführen, um ihn dem Einfluß des Irrglaubens seiner Base zu entziehen. Wenn dem Orden seine Vormundschaft verbleiben soll, so kann jene anfängliche Heimlichkeit nur dazu dienen, die Sache mißlich zu machen.“
„Damals schien Euch diese Heimlichkeit, wie so manche Maßregel des Ordens, des guten Zweckes wegen – alles in majorem Dei gloriam! – dienlich genug,“ höhnte sie. „Daß nun aber der Schlingel in Eueren Händen bleiben wird, jetzt, wo dieser Nievern wie ein Teufel für die Sache der Leyens ins Zeug geht, das scheint mir zum mindesten zweifelhaft. Und wäre Euch mein Rath nicht verleidet, so würde ich sagen: schafft den Buben auf der Stelle in eines Euerer Ordenshäuser in Spanien oder Italien – wenn es nicht schon zu spät ist.“
Pater Gollermann erwiderte mit Worten nichts auf diesen Vorschlag. Er schritt noch immer auf und ab, die Möglichkeiten ärgerlicher Verwicklungen in seinem Geiste erwägend. Und die Méninville schonte ihn nicht. Mit lauerndem Blicke begann sie von neuem: „Denn bedenkt, wenn der Junker zum Vorschein käme und man müßte sich einen Vers darauf machen, daß Ihr, hochwürdiger Herr, sehr wohl um seinen Verbleib gewußt habet, während Ihr die Polyxene, deren Hochmuth übrigens die Lektion verdient hat, wegen des an ihm begangenen Mordes in Haft hieltet – wie ständet Ihr da! Es sollte Euch dann, mein’ ich, doch einigermaßen schwer werden, wieder auf den alten Fuß bei der Pfalzgräfin zu kommen. Wie ich denn überhaupt guten Grund habe, diese Birkenfelderin für weit weniger von einer Gans zu halten, als sie mir anfangs scheinen wollte. Dabei hat sie ihre Tücken und Nücken – nun, der Herr, dem Ihr dient, wird sie Euch erleben lassen, um Euere christliche Geduld daran zu üben – dafern Ihr selber hier verbleibet.“
Der Pater sah die Dame jetzt endlich einmal an, und wenn Blicke Dolche wären, so hätte sie getroffen dahinsinken müssen. So aber weidete sie sich vielmehr an seinem stummen Grimm. Denn sie stand auf dem Boden, auf dem ein schlimmes Weib [560] auch einem braven Jesuitenpater überlegen ist – sie hatte verspielt, hatte nichts mehr zu verlieren, ihr blieb nur noch der Genuß an ihrer dämonischen Ueberlegenheit über alle diejenigen ihrer bisherigen Freunde, welche ihr gefährdetes Ansehen zu behaupten hatten.
„Ihr selber wißt, daß ich, als mir zuerst Kunde von dem Verschwinden des Junkers wurde, bei der Pfalzgräfin und gleich mit der Färbung, die Ihr der Sache zu geben für gut fandet, daß ich da von dem Verbleib des Knaben in der That noch nichts wußte,“ sagte er, als er sich endlich zu sprechen entschloß, mit tugendhafter Strenge. „Wäre es anders gewesen, ich hätte mich wohl gehütet, Euer verleumderisches Märchen auch nur mit einem Hauche meines Mundes zu fördern.“
„Da Ihr es sagt, muß es so sein,“ meinte die Dame mit einem beleidigenden Lächeln. „Schlägt überhaupt eine Sache erst einmal fehl, so erscheinen bei der plötzlichen Erleuchtung, die uns durch solchen Ausgang wird, alle Schritte verkehrt gethan, welche zum Ziele führen sollten. Hier nun hat der tückische Zufall eingegriffen und mir mein Spiel verdorben. Ich sehe es ein und lege die Karten nieder, obwohl ich wahrlich keine übeln in der Hand hatte. Oder wäre es kein schnöder Zufall, daß die läppische Beichte jenes Schwachkopfes gerade unserem Oberjägermeister hier in die Hände fiel? Jene Beichte, aus welcher zu ersehen, wieviel sündige Schwachheit in einem unwürdigen Gefäße“ – damit machte die Dame, leicht auf sich deutend, einen höhnischen Knicks – „der Orden noch mit dem weiten Mantel der Duldung zu decken vermag.“
Es war einer ihrer letzten Trümpfe, wenn nicht der allerletzte, aber gerade zu rechter Zeit ausgespielt, wie sie an den Mienen des hochwürdigen Herrn sehen konnte. Und in einem ganz anderen Tone, kurz und trocken, fuhr sie jetzt fort: „Enden wir nunmehr, Hochwürdigster, damit mein Anblick Euch nicht länger als billig ärgere. Noch haben wir genügend Zeit, aber nicht allzu viel. Das Fräulein muß frei werden vor Abend, will sagen, ehe es zur Vesper läutet, oder dieser Herr von Nievern ist zu allem fähig. Euch“ – wieder mit höhnisch verzogenen Lippen – „ist ja jede fleischliche Schwachheit fremd; glaubt daher mir, die ich etwas mehr davon verstehe, daß ein Mann, so verliebt wie jener, schon ganz andere Dinge gethan hat, als einen halben Birkenfelder Hof durch das unerhörteste Skandalum auseinander zu sprengen. Noch müßt Ihr mich schützen, Herr, so lange, bis ich mich in Sicherheit und leidlicher Ruhe davongebracht habe. Alsdann werdet Ihr mich fallen lassen oder Schlimmeres thun, dafern ich mich nicht hüte ... ha, ha, der Nievern kannte Euch wohl, da er mir dies sagte – hier preisgeben dürft Ihr die Person nicht, die auf Euere ausdrückliche Empfehlung in dies Nest gekommen ist. Doch was rede ich da! Als ob Euer Hochwürden so unbillig dächte und sich nicht vielmehr der Gelegenheit freuen würde, den Glaubenszustand jener schönen Unschuld alsbald gesund zu befinden!“
Sie schritt nach der Thüre, blieb aber noch einmal stehen und warf wie beiläufig die Mahnung hin: „Daß die Pfalzgräfin nicht umgangen werden darf, seht Ihr natürlich ein. Ihr Eigensinn könnte sonst alles verderben. Es ist fast Mittag – ehe sie speist, könnt Ihr sie nicht mehr sprechen, und jetzt, da ihr der Aerger über des Oberjägermeisters Entlassungsgesuch zu Kopfe gestiegen ist, pflegt sie ihre Vapeurs und zieht sich nach der Tafel zurück; das heißt, sie schläft oder mault in ihrem Kabinett. Ihr werdet aber doch gut thun, Euch dort Einlaß zu verschaffen, damit nicht allzu viel Zeit verloren geht. Wird ihr das Ding durch Euch mundgerecht gemacht, so wird sie sicherlich nicht anstehen, die Aufhebung der Klausur des Fräuleins ihrerseits zu bewilligen. War doch die ganze Sache ohnehin nicht recht nach ihrem Sinne. Wäre sie nicht selber eifersüchtig gewesen wie der Satan, sie hätte Euch und mir damals einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
Mit diesen wenig erbaulichen Worten entfernte sich Frau von Méninville; den Abschiedsgruß sparte sie sich. –
Erst volle drei Stunden später war es dem Pater Gollermann gelungen, Zutritt zu Frau Sabine Eleonore zu erhalten. Denn selbst in ihrem letzten oder vorletzten Stündlein hätte diese Dame ihren Beichtiger schwerlich empfangen ohne einiges vorherige Zurechtstutzen ihrer Toilette. Und da man ihr etwa eine Stunde nach der Tafel in ihrem Kabinette, dahin sie sich zurückgezogen hatte, das ehrfurchtsvolle Ansuchen des hochwürdigen Herrn um eine Zwiesprache zu melden wagte, da wurde er allerdings nicht zurückgewiesen, wohl aber hatte der Pater von den Geduldsproben, auf welche die boshafte Méninville gestichelt, gleich hier eine abzulegen gehabt. Denn bis die Pfalzgräfin umgekleidet und theilweise sogar neu „aufgesetzt“ worden war – wie man das Herrichten des Lockenbaues nannte – war viel Zeit ungenutzt verstrichen, zu gelindem Aerger und wachsender Unruhe des Paters, welcher doch der fleischlichen Anfechtung der Ungeduld kaum noch zugänglich sein sollte.
Mit welcher nagenden Rastlosigkeit aber trieben alle diese langsam dahinschleichenden Stunden jenen anderen umher, der über Schritt und Tritt der heute an diesem Handel Betheiligten scharf Wache halten ließ! Vor allem in der Zeit, da der Fortgang des Rettungswerkes, an dem seine ganze Seele hing, bei den Brennscheren und Haarschleifen der pfalzgräflichen Gebieterin zu stocken schien. Doch auch diese Stunden – sie gehörten unter die schlimmsten in seinem Leben – nahmen für den jetzt wahrlich geprüften Liebhaber Polyxenens ein Ende. Herr von Nievern hatte, gestiefelt und gespornt und wie zu einem Ritt über Land ausgerüstet – auch die Pistole im Gürtel fehlte nicht – sein weites Gemach so unablässig durchmessen, daß die Bedienten sich zuraunten, er müsse nun die Dielen schier durchgelaufen haben. Immer wieder hob er dabei den hübschen, scharf geschnittenen Kopf, auf jedes Geräusch horchend. Und so oft er den Fenstern nahe kam, bestrichen die Jägeraugen den innern Schloßhof und das Portal, durch welches die Standespersonen ihren Weg zu nehmen hatten, die zu oder von der Pfalzgräfin kamen. So wußte er denn, wann die Audienz des Paters Gollermann bei der Hoheit ein Ende genommen hatte – der Besuch selber war schließlich ziemlich kurz verlaufen – und nicht lange darauf trug ihm sein Kundschafter auch die Nachricht zu, Frau Sabine Eleonore habe die alsbaldige Ruckkehr des Fräulein von Leyen aus dem Hause der Ursulinerinnen in die Herrenmühle verfügt, nachdem der Pater Gollermann in christlicher Milde zu erkennen gegeben, daß zu des Fräuleins fernerer Befestigung und Unterweisung in Glaubenssachen eine Abwesenheit vom Hause ihres Vormundes nicht mehr vonnöthen sei. Es war sogar ein plötzlicher Antheil für des Fräuleins Gesundheit entsprungen, der, wie man nun fürchten wollte, die Klausnr im Hause der frommen Schwestern nicht eben förderlich gewesen sei.
Nievern hatte ingrimmig gelächelt, als er dies alles erfahren. Es war übrigens kein Geheimniß, sondern die Nachricht durcheilte alsbald den pfalzgräflichen Hof auf Hinter- und Vordertreppen. Es schien fast, als habe die Pfalzgräfin ihr absichtlich eine gewisse nachdrückliche Verbreitung geben wollen, da sie sich gleich nach dem Abgang des Paters öffentlich und ohne Ruckhalt über den Zweck seines Besuches ausgelassen hatte.
Jetzt mußte der Herr von Gouda jeden Augenblick eintreffen. Der Oberjägermeister hatte ihm eine Botschaft zukommen lassen; nicht lange, und vor seine Thüre würde die schwere Kutsche rasseln, in welcher der Oberst sein Mündel nach der stillen Herrenmühle zurückführen sollte – nicht auf lange, wie sich Nievern im stillen gelobte. Die Kutsche sollte nachher, wenn die Zeit herankam, in der Nähe der Klosterpforte warten; er selbst wollte sich dort zu Pferde einfinden, eine halbe Stunde vor dem Abendläuten. Denn eher, das war jetzt schon zu merken, ließ sich auf das Erscheinen Polyxenens nicht rechnen. Und wenn der Oberjägermeister äußerlich seine männliche Fassung bewahrte, so ersehnte er doch diesen Augenblick mit seltsam bebendem Herzen, mit unaussprechlichem Verlangen! Dem kräftigen Manne schwindelte, wenn er sich das süße Weib, das holdeste für ihn auf Erden, in seinen Armen dachte, so bald schon! Wirklich so bald? Wirklich heute noch? Gewiß, und in wenig mehr als einer Stunde! Doch was war das für ein kalter Zweifel, der ihm durch die Glieder kroch, so ungewohnt diesem Günstling des Glucks, dem alles stets gelungen war? Er hatte ja jede Minute berechnet! Jetzt mußte der Pater im Kloster sein – weniger Worte nur würde es bedürfen, um die geistlichen Jungfern zu verständigen. Dann aber würde allerdings noch ein Aufenthalt entstehen, denn der Herr von Nievern kannte seine Leute. Dann würde das Kloster erst noch seinem so übel gehaltenen Gaste sein anderes Gesicht zeigen. Mit Speise und Trank, dem besten aus Küche und Keller, würde man sie pflegen wollen bis zum Ueberdruß, um im letzten Augenblicke noch den Eindruck der öden Kerkerzelle in etwas wenigstens zu verwischen.
Das alles zog Nievern herbei vor seine Phantasie und füllte dergestalt die langsamen Minuten aus. Dennoch wollte die Angst nicht
[561][562] von ihm weichen. Die drei Tage waren lang, seit er Polyxene mit dem Bräutigamskusse verlassen hatte – doch wieder verlassen in ihrer Oede! Ach, daß er damals ohne sie ging! Die Last ihres Jammers war zu schwer gewesen vorher; spät, zu spät war er gekommen und flüchtig nur war seine Erscheinung, unglaubwürdig vielleicht für sie seine Verheißung der Rettung gewesen! Wie, wenn sie nach seinem Verschwinden doch noch zusammemgebrochen wäre?
Dem Herrn von Nievern drohte bei dieser Vorstellung das Herz stille zu stehen und er riß das Kollett auf, wie nach Luft ringend. So war es, gewiß – sein süßes Lieb war erkrankt und daher die Angst um sie, die ihm die Kehle zuschnürte. Aber Kranke können gesunden; sie gesunden meist, wenn kräftige reine Jugend der Natur hilft. Und wie sollte diese holde, diese unsäglich rührende Leidensgestalt gehegt werden! Nievern merkte plötzlich, wie sein Blick sich trübte bei diesen Gedanken. Seine Augen waren feucht geworden; bei Gott, zum ersten Male wieder, seit er als Knabe an den Knien seiner Mutter gestanden!
In dem Kloster der Ursulinerinnen ging es an eben jenem Tage vom frühen Morgen an nicht so stille zu wie sonst; eine verhaltene Unruhe, ein gedämpftes Hin und Her, hastiges Flüstern, erregte Mienen, hier offen, dort verkniffen, kaum verhehlter Triumph und hier und da etwas ehrliche Trauer waren an der Tagesordnung. Denn mit dem Asthma der Frau Aebtissin hatte es ganz plötzlich eine ernste Wendung genommen; sie lag schon den ganzen Tag im Sterben. Doch war vorauszusehen, daß Leib und Seele sich in diesem Falle nicht allzu leicht scheiden und der Todeskampf der armen Frau lang sein werde. Für die Nonnen aber war sie schon so gut wie tot. Einige wenige bedauerten sie und schickten sich an, sie zu betrauern; es waren die, welche Person und Umstände von jeder Hoffnung auf den Platz, der da frei werden sollte, und von jedem Einfluß auf dessen Besetzung ausschlossen. In dem Falle waren jedoch, wie gesagt, nicht viele, und die Mehrzahl der frommen Schwestern befand sich in nicht geringer Erregung.
Vor allem aber eine. Zum zweiten Male schon stand das Ziel der Herrschaft im Kloster der Schwester Veritas in berückender Nähe. Als Subpriorin trug sie die Last der Klostergeschäfte nun bereits unter zwei Aebtissinnen und jetzt sollte sie eine dritte die Stelle einnehmen sehen, die ihr gebührt hätte! Denn sie war klug genug, zu merken, daß sie wenig Hoffnung habe, an die Spitze der Gemeinschaft befördert zu werden. Diejenigen, welche ihr anhingen unter den Nonnen, waren in der Minderzahl und dazu nicht die allgesehensten der Schwestern. Weltlicher Rang und Herkunft spielten auch in diese gottselige Abgeschlossenheit hinein. So schlossen sich jetzt beim Abscheiden der gräflichen Aebtissin die Nonnen, welche vornehmen Familien des Ländchens angehörten, eng aneinander. Waren sie sonst nicht immer verträglich, so schossen sie nun zusammen wie Quecksilber, das gerüttelt wird. Sie waren fest gewillt, es abermals nicht zu dulden, daß die Schwester Veritas zur höchsten Würde im Kloster gelange, und hielten sich danach. Eine Stunde nach dem Ableben der bisherigen Aebtissin mußte, so verlangte es des Klosters Regel, schon die neue aus der Wahl der Nonnen hervorgegangen sein, um dann nur noch von dem geistlichen Obern, dem Bischof von Trier, bestätigt zu werden. Woraus erhellt, daß die frommen Schwestern, was sie nicht vorher gethan hatten, das heißt, ehe ihrer derzeitigen Mutter und Oberin der letzte Seufzer entfuhr, nachher zu vollbringen schwerlich Zeit fanden.
Und so war denn der Name der Nachfolgerin der Mutter Marcella ein offenes Geheimniß und schwebte auf aller Lippen, als ungefähr anderthalb Stunden vor dem Vesperläuten der Pater Gollermann sich im Kloster einfand, um dort anzukündigen, daß man das Fräulein von Leyen sofort zu entlassen habe. Obgleich aber sein Auftrag und Gebot dringlich war, fand es doch in diesen Augenblicken kaum die nothwendigste Beachtung, denn soeben war die würdige Aebtissin verschieden, und im Kloster wimmelte es durcheinander wie in einem Ameisenhaufen, in den einer getreten hat. Auf allen Gängen lebte unb raschelte es; aus allen Zellenthüren schlürften die Nönnlein, um sich im Refektorium zur Wahl zusammenzufinden; niemand hatte Zeit für etwas anderes.
Doch war Pater Gollermann nicht der Mann, der seinem Willen nicht den gehörigen Nachdruck zu verleihen gewußt hätte. Die Schwester Veritas mußte vor ihm im Sprechzimmer erscheinen; er ließ keine Abhaltung gelten. Und hier, Auge in Auge mit der Nonne, deren meist nichtssagendes Alltagsgesicht heute seltsam fahl war und nicht völlig die wüthende Erregung bergen konnte, in der sie sich befand – hier ließ er sie begreifen, um was es sich handle.
Natürlich ahnte er, was unter dieser Oberfläche vorging und daß es in der Subpriorin wie in einem Schlammvulkan brodle. Aber Aebtissinnenwahl oder nicht – die Schwester Veritas mußte Zeit finden, das Fräulein auf seine Befreiung vorzubereiten und zuvörderst in einem besseren Gelaß zu erquicken, um sie dann anständig entlassen zu können. „Es gilt die Ehre, nein, die künftige Sicherheit und Wohlfahrt dieses Hauses,“ hatte er ihr mit Bedeutung gesagt, „also rechne ich auf Euch. Ich lasse Euch eine Stunde Zeit. Kurz vor dem Abendläuten bin ich wieder hier, um das Fräulein, dafern es ihr Vormund an sich fehlen läßt, selber in Empfang zu nehmen.“ Damit entfernte er sich.
Die Nonne schickte ihm einen höhnischen Blick nach und – sie konnte es nicht hindern – ihre gelblichen Hände ballten sich und krallten dann ein paarmal auf unb zu, als griffen sie eine Beute. Die Ehre, die künftige Wohlfahrt dieses Hauses! Dieses Hauses, das ihr jetzt, in dieser Stunde noch, den größten Tort, den unerhörtesten Schimpf anthun würde! Ha, ehrwürdiger Herr Pater, klug seid Ihr, aber doch nicht klug genug! Recht wie ein Mann! Was kümmerte die Ehre dieses Hauses sie, die Subpriorin! Wenn jetzt in einer halben Stunde die einfältige, lange, durch die Nase psalmodierende Schwester Walburg – eine Tochter freilich aus dem edeln Haufe Büdingen – zur Aebtissin gewählt sein wird, dann mag diese die Verantwortung tragen für das, was geschieht! Und wäre nachzuweisen, daß die neue Mutter des Klosters nicht darum gewußt haben könne – nun, so ist ein kleines Versehen mit der begreiflichen Verwirrung der Nonnenschar in solcher Stunde wahrlich genügend zu erklären, ja zu entschuldigen und darf ihr, der stets mit Geschäften belasteten Subpriorin, nicht hoch angerechnet werden!
Und nun tritt die Nonne in den schmalen langen Gang hinaus, auf den das Sprechzimmer mündet. Sie steht und horcht, alles ist schon fast still geworden im Hause. Hier und da geht noch eine Thür, schlürfen Tritte – aber in ziemlicher Entfernung, und alles in der Richtung nach dem Refektorium, wo die Nonnen sich sämtlich einzufinden haben. Die paar Laienschwestern, welche als Mägde dienen, dürfen in dieser Stunde bei strenger Strafe ihre Kammern nicht verlassen; die männlichen Zugehörigen des Klosters, der Gärtner und der alte Schaffner, halten sich ebenfalls gesondert im Hofhause neben den Ställen – sie ist also völlig sicher, so sicher, wie sie in keiner anderen Viertelstunde jahraus, jahrein gewesen wäre.
Und so gleitet sie denn in entgegengesetzter Richtung den Gang hinunter, unhörbar, wenngleich kein lauschendes Ohr in der Nähe ist, einem grauen Schatten ähnlich. Gut, daß sie Bescheid weiß mit allen Thüren; die zum Kellergeschoß ist unbehilflich schwer, aber unverschlossen, und sie taucht die schwarze Treppe hinab. Hier unten ist es tief dämmerig; sie läßt den Gang, an dem die wohlverwahrten Weinkeller liegen, rechts und ein links in einen Bereich, der etwas mehr Licht hat. Hier schlägt ihr eine merklich wärmere, ja heiße Luft entgegen, und ihre Lippen verziehen sich boshaft, da sie es merkt. Sie braucht nur ein loses Gatterthürchen aufzustoßen und ist an Ort und Stelle: in einem niederen gewölbten Raum, in dessen Hintergrund eine kleine viereckige Oeffnung glimmt und glüht und, ehe man sich zurechtgefunden hat, phantastisch aussieht wie das offene Maul einer schnappenden Bestie. Es ist aber weiter nichts als das Aschenloch des mächtigen Ofens, welcher die Rauchkammer des Klosters mit beizendem Qualme speist und allwinterlich einer stattlichen Zahl von Schinken und Würsten zu Dauerhaftigkeit und kräftigem Geschmack verhilft. Jetzt im Anfang des Winters, da das Kloster wie andere gute Haushaltungen erst ein gewaltiges Schlachten abgehalten und seine Räucherkammer mit fast unvertilgbarem Vorrath ausgerüstet hat, jetzt ist dieser Ofen Tag und Nacht in Thätigkeit. Der Schaffner versieht ihn und hält ihn in mäßiger Gluth. Schwester Veritas überzeugt sich davon, indem sie mit dem bereit stehenden eisernen Haken seine geräumige Thür aufsperrt.
Alles in Ordnung. Wenn ihre Pflichttreue sie hierher getrieben hat, um sich zu überzeufen, daß während der nächsten Stunden kein Unfall geschehen kann, so mag sie beruhigt sich [563] wieder davonheben. Das aber thut sie nicht; ihr Gebahren ist vielmehr jetzt seltsam. Sie schießt noch einmal an die Thür und späht rechts und links in die Kellergänge hinein. Dann kommt sie zurück, schürzt ihr schwarzes Gewand, so daß unter dem kurzen Kamisol ein Paar platter Entenfüße zum Vorschein kommt, sie streift auch die weiten Aermel auf, nestelt den störenden schwarzen Schleier zurück und greift mit beiden Armen in den Holzvorrath, der scheitweis säuberlich aufgeschichtet die ganze eine Wand des Gewölbes einnimmt. Und nun schiebt sie Armvoll nach Armvoll in den Ofen hinein, so daß bald ein majestätisches Brausen der lohenden Flammen den Raum erfüllt, denn es ist kerniges gut getrocknetes Holz, mit dem sie die Gluth speist. Nach einer Weile aber läßt die Nonne den queren Blick umhergehen; sie sucht etwas anderes. Richtig da in der Ecke liegt es zu Hauf – das Fichten- und Wachholdergestrüppe, noch grün und qualmerzeugend! Sie schließt einen der Züge des Ofens, damit die Gluth nachlasse und die Feuerung, die sie jetzt einlegt, schwele und desto mehr qualme. Und dann füllt sie die ganze große Feuerhöhlung mit dem Nadelreisig. Sie arbeitet nicht nur im Schweiße ihres Angesichts, nein mit Gefahr beinahe, denn so groß ist nunmehr die Gluth, die ihr aus dem Ofen entgegenschlägt, daß die Tannenreiser schon dorren und glimmen, ehe sie nur im Ofen sind, und die Gluth der Schwester, bevor sie es nur merkt, die fahlen Wimpern versengt hat. Das läßt aber nach, je mehr grünes Reisig sie einschickt. Sie hat jetzt den Ofen damit vollgestopft; nun giebt sie ihm unten etwas Luft und gleich beginnt ein Ziehen und dumpfes Sausen – das Feuer will sich neu emporarbeiten.
Wie gut die brave Subpriorin Bescheid weiß! Eine jede Tugend belohnt sich und die meisten schon hier auf Erden! Daß die Schwester Veritas, wie Uebelwollende sagen, die Nase überall hat in Haus und Stall, in Garten und Keller, das kommt ihr nun zu statten. Als sie neulich die Räucherkammer visitierte, ob dieselbe zur Aufnahme neuen Wintervorraths wohl imstande sei, da hat sie an der Wand in der Nähe des Fußbodens eine kleine schadhafte Stelle bemerkt. Achtsam, wie sie ist, hat sie den Schaden untersucht, ihn aber doch nicht ausbessern lassen. Denn sie ist bescheiden und ordnet gerne ihre Einsicht derjenigen früherer Geschlechter unter. Als sie sich daher überzeugt hat, daß jener anscheinende Riß in der Wand eine nur dünn beworfene regelmäßige Oeffnung ist, ein wahrscheinlich durch die dicke Mauer hindurchgehender Spalt in der Breite eines halben Backsteins, welcher leicht verschlossen werden kann, sonst aber einem beträchtlichen Theile des Holzqualms den Austritt in die anstoßende, selten benutzte Zelle im Glockenhause frei läßt – da schweigt sie über diese kleine Entdeckung so vollständig, wie man es nur von einer braven Klosterschwester erwarten kann. Ihr steht kein Urtheil zu über den Zweck, welchen die Einrichtung gehabt haben mag! Allerdings war augenscheinlich diese Oeffnung lange verschlossen gewesen, durch Schutt und Kalk, der aber im Laufe der Jahre herausgerutscht sein mochte. Was noch davon vorhanden war, hat die sorgsame Subpriorin bei ihrer Untersuchung herausgeräumt; das Luftloch ist jetzt frei. Und dann hat sie einen schweren Kasten an diese Stelle geschoben, welcher die Oeffnung in der Wand verdeckt, ohne sie abzuschließen.
Das war vor zwei Tagen, und die Nonne trägt seit einer halben Stunde den Vorgang unablässig in Gedanken mit wildem Frohlocken. Jetzt ist sie hier fertig; sie hat alle Züge des Ofens bis auf einen geschlossen; der Qualm fängt an, auch hier sich unangenehm fühlbar zu machen, und beizt ihr die matten Augen roth. Rasch läßt sie ihr Gewand herab, ordnet den Schleier und entfernt sich mit etwas ungeistlicher Hast. Sie ist die letzte, die im Refektorium zu den versammelten Nonnen stößt. Ihrer Bescheidenheit gemäß nimmt sie einen Platz weit außerhalb des engeren Kreises der Nonnen ein, welche gleich einer Schar eifriger Dohlen ihre schwarz umhüllten Häupter gegeneinander neigen. Die Berathung, deren Ergebniß freilich kaum einer Anwesenden zweifelhaft ist, soll jetzt ihren Anfang nehmen. Doch aber sind die zunächstsitzenden Schwestern nicht so hingenommen von der Erregung der Wahl, daß sie nicht wiederholt mit fast befremdetem Nasenrümpfen und Schnüffeln die Köpfe nach der Thür, wenn nicht nach der zuletzt eingetretenen Subpriorin wendeten. Diese verwünscht sie im stillen, sowie manche andere der guten Schwestern, die jetzt in ein merkliches Hüsteln verfallen, zugleich aber auch ihr eigenes Uebersehen: das hat sie nicht bedacht, daß der vermaledeite Holzrauch sich in ihre Kleider und Haare hängen und sie wie eine besondere Atmosphäre heute noch stundenlang begleiten würde! – –
(Schluß folgt.)
Blätter und Blüthen.
Die sächsische Arbeitermedaille. Schon in den vierziger Jahren war es in Sachsen üblich, Arbeitern, die Jahrzehnte hindurch auf der nämlichen Arbeitsstelle beschäftigt gewesen waren, entweder Geldprämien oder silberne Medaillen zu verleihen, und zwar von Staats wegen durch das Ministerium des Innern. Inzwischen hat man dort die Vertheilung von Geldprämien grundsätzlich den Arbeitgebern überlassen und sich seit l875 auf die Verleihung der Arbeitermedaille beschränkt. Diese Medaille hat einen Durchmesser von 52 mm bei 4 mm Stärke am erhöhten Rande und zeigt auf der Schauseite das Bildniß des Königs, auf der Rückseite die Inschrift „Für Treue in der Arbeit“. In der Regel wird sie bei Arbeiterjubiläen, Fabrikfesten etc. zuerkannt, sie ist eine sehr begehrte Auszeichnung und genießt große Volksthümlichkeit. Vom Ministerium wird sie erst nach genauer Prüfung und nur an solche Arbeiter verliehen, die nach zurückgelegtem 25. Lebensjahre ununterbrochen wenigstens 30 Jahre lang auf der nämlichen Arbeitsstätte oder bei dem nämlichen Arbeitgeber oder bei der nämlichen Familie beschäftigt waren. In jedem einzelnen Verleihungsfalle wird amtlich festgestellt, ob der vorgeschlagene Arbeiter gerichtlich oder polizeilich bestraft worden ist, ob er seine staats- und gemeindebürgerlichen Verpflichtungen regelmäßig erfüllt hat, in welchem Rufe er steht etc., damit nur würdige Leute ausgezeichnet werden. Um die Bedeutung der Medaille nicht durch allzu reichliche Verleihung abzuschwächen und sie nicht zu einem bloßen Dienstzeichen herabsinken zu lassen, pflegt das Ministerium seit einigen Jahren die Medaille nicht gleichzeitig mehreren Arbeitern derselben Fabrik und bei großen Anlagen nur in beschränkter Zahl zuzubilligen.
Solche Arbeiter gehören in Sachsen keineswegs zu den Seltenheiten. Nach den Berichten der sächsischen Fabrikinspektoren für 1892 waren in den Steinbrüchen von F. Zachmann zu Lüptitz, Heyda und Dornreichenbach 23 Arbeiter mit länger als je 25jähriger ununterbrochener Dienstzeit zu finden, in der Wagenfabrik Gebr. Pfitzer zu Oschatz 7 Arbeiter mit je 30jähriger und in der Baumwollspinnerei W. Whitfield u. Co. zu Kolditz der Spinner Ehrenfried Priemer mit 50jähriger Dienstzeit. Von der Arbeitermedaille gelangten im Jahr 1892 nicht weniger als 215 Stück zur Vertheilung. Amtlich wird dieselbe als Ordensdekoration nicht angesehen; sie bleibt unbeschränktes Eigenthum des Empfängers und wird im Todesfalle auf Wunsch der Erben zum Herstellungspreise von 14 Mark eingelöst.
Arbeitern, die längere Zeit an derselben Stelle treu gearbeitet haben, aber aus irgend einem Grunde die Medaille nicht oder noch nicht erhalten konnten, werden unter Umständen Belobungsdiplome ausgefertigt.
Mit der veränderten Aufschrift „Für langjährige treue Dienste“ wird die Arbeitermedaille vom Ministerium des Innern auch an geeignete Dienstboten verliehen, welche außerdem von den landwirthschaftlichen Kreisvereinen mit kleineren Medaillen oder Kreuzen ausgezeichnet werden.
Von einem Kreise bewährter Arbeiterfreunde soll demnächst die preußische Regierung ersucht werden, nach sächsischem Vorbild auch ihrerseits eine Arbeitermedaille zu schaffen, damit verdiente Arbeiter öffentlich ausgezeichnet, anerkannt und erfreut werden können.
Kardinal Richelieu vor La Rochelle. (Zu dem Bilde S. 553.) Als der Kardinal Jean Armand du Plessis, Herzog von Richelieu, im Jahre 1624 das französische Staatsruder in die Hände nahm, da war das erste Ziel, welches er sich steckte, die Unterwerfung der Hugenotten. Richelieu war nicht im eigentlichen Sinne unduldsam, vielmehr durchaus geneigt, auch den reformierten Unterthanen des Königs von Frankreich volle Gleichberechtigung mit ihren katholischen Mitbürgern zu gewähren. Aber ihre politischen und militärischen Verbindungen, durch die sie zu einer fast unabhängigen Gewalt wurden, sollten vernichtet, ihre politischen Versammlungen unterdrückt, ihre Festungen zerstört, ihre Heere aufgelöst werden. Sie sollten nicht ferner einen Staat im Staate bilden.
Der Kampf gegen die Hugenotten verdichtete sich schließlich in dem Kampf um La Rochelle, jene mächtige Seefeste an der Westküste von Frankreich, die den Hauptstützpunkt der Hugenottenmacht bildete. Ihre Eroberung war für das Königthum moralisch und politisch gleich wichtig. „So lange er Rochelle nicht innehat, ist der König nicht wahrhaft König von Frankreich,“ rief einmal Richelieu, und so bot er alles auf, diese Stadt in seinen Besitz zu bringen.
Die Belagerung hatte ihre großen Schwierigkeiten. Die Befestigungen waren außerordentlich stark, ja sie galten als uneinnehmbar, die Bevölkerung, die um ihr Alles, um Freiheit, Besitz und Religion kämpfte, war zum äußersten entschlossen, und die Verbindung mit England, die zur See immer noch offen stand, sicherte einen mächtigen Rückhalt. Nur wenn es gelang, diese Verbindung abzuschneiden, war Aussicht auf eine Bezwingung der Stadt vorhanden, und hier setzte denn auch Richelieu [564] der persönlich den Oberbefehl führte, im November 1627 den Hebel ein. La Rochelle liegt im Hintergrund eines verhältnißmäßig schmalen Meerbusens. Durch einen ungeheuren Steinwall, der von beiden Ufern aus gleichzeitig vorgeschoben wurde, schloß Richelieu die Mündung dieses Meeresarmes gegen die offene See hin ab, und nunmehr war die Aushungerung der Feste nur noch eine Frage der Zeit.
Wohl eilte im Mai 1628 eine englische Flottille herbei, um Lebensmittel in die Stadt zu bringen. Aber sie vermochte den von starken Streitkräften vertheidigten Steinwall der Belagerer nicht mehr zu durchbrechen, und ebenso wenig gelang dies einem zweiten Geschwader, welches im September desselben Jahres erschien. Die Bewohner von La Rochelle, mit ihrem unerschütterlichen Bürgermeister Jean Guiton an der Spitze, leisteten das Menschenmögliche im Ertragen der fürchterlichen Hungersnoth, endlich aber war ihre Kraft doch erschöpft, und am 30. Oktober 1628 ergab sich die Stadt dem Kardinal. Die auf wenig Köpfe zusammengeschmolzene Besatzung erhielt durch die Gnade des Königs freien Abzug, die Festungswerke und die Stadtmauern wurden geschleift, die municipalen Vorrechte vernichtet und die städtischen Güter zu den königlichen Domänen geschlagen. Die Macht der Hugenotten war aufs tiefste erschüttert, das Königthum aber triumphierte nicht bloß über sie, sondern auch über die Engländer, die ihnen nicht mehr hatten helfen können.
Mitten in diese weltgeschichtliche Belagerung hinein versetzt uns das Bild von A. A. Lesrel. In dem prunkvollen Gemache eines vor den Mauern von La Rochelle gelegenen Schlosses sitzt der Kardinal, Staatsmann und Feldherr an einem mit Büchern, Karten und Zeichnungen bedeckten Tische. Seine Hand zieht mit der Feder einen Strich in den vor ihm liegenden Plan – vielleicht ist es die Linie, die der verhängnißvolle Steinwall nehmen soll. Aber seine Gedanken sind noch mit anderem beschäftigt. Ein mächtiges Schiffsmodell im Hintergrunde deutet darauf hin, daß er gleichzeitig auf eine Verstärkung der französischen Flotte bedacht ist, denn nur so darf er hoffen, dem seemächtigen England dauernd die Spitze zu bieten.
Praktische Anleitung zur häuslichen Buchführung und Wohlfahrtspflege nennt sich ein vortreffliches Büchlein von Adolf Mang (Emmendingen, Dölter), dessen Verdienst der Großherzog von Baden dadurch ehrte, daß er eine halbe Auflage zur unentgeltlichen Vertheilung an alle Mädchenschulen von Karlsruhe ankaufen ließ. Die für den Minder- und Wenigbemittelten so wichtige Kunst des richtigen Sparens und Eintheilens, des Schonens und Erhaltens wird hier klar und einleuchtend gelehrt, außerdem aber noch der ganze Kreis der Wirthschaftsführung einer eingehenden Besprechung unterzogen.
Hierin liegt das Hauptverdienst des Buches, das auch noch die Anweisung für das häusliche Budget und die Kassenführung enthält.
Angehende junge Ehepaare, die mit kleinem Gehalt die Gründung eines Hauswesens unternehmen, sollten sich dieses Buch anschaffen, sie werden daraus sofort erkennen, wie viel Verzicht auf Luxus, wie viel häusliche Arbeit durchaus nöthig ist, um ohne Einbuße durch das Jahr zu kommen. – n.
Hüpfende und kriechende Früchte. Als die ersten Weltumsegler
unter Ferdinand Magalhães die Inseln des Stillen Oceans erreichten,
fanden sie auf denselben eigenartige Blätter. Laut den Berichten Pigafettas,
des Geschichtschreibers jener denkwürdigen Expedition, liefen
dieselben, wenn sie vom Baume abfielen, auf der Erde fort. Wir wissen
heute, daß jene Blätter wirkliche Thiere waren, blattähnliche Heuschrecken,
die durch diese Aehnlichkeit gegen Nachstellungen geschützt sind.
Die Thiere hatten somit nicht bloß ihre Feinde im Thierreiche, sondern
auch die naturwissenschaftlich nicht geschulten Seefahrer des 16. Jahrhunderts getäuscht.
Später entdeckte man in Amerika hüpfende Früchte, die noch heute die Naturforscher besonders interessieren. Dieselben sind unter dem Namen der „springenden Bohnen“ von Mexiko bekannt und stammen aus der Nähe der Stadt Alamos im Staate Sonora.
Es sind rundliche, 8 bis 11 mm lange und 9 bis 12 mm breite Früchte der Sebastiania pavoniana, einer zur Familie der Euphorbiaceen gehörigen Pflanze.
Auf eine ebene Fläche gelegt, springen sie 3 bis 5 mm hoch, ja manchmal gelang es ihnen, auf den Rand eines Dessert-Tellers zu springen. Nimmt man eine solche Frucht zwischen die Finger so fühlt man in deren Innerem ein äußerst kräftiges Pochen. Es ist nicht schwierig, die Ursache dieses Pochens und Hüpfens aufzufinden. Schneidet man eine springende Bohne auf, so sieht man in deren hohlem ausgefressenen Innern eine Larve des mexikanischen Kleinschmetterlings Carpocapsa saltitans. Das Thierchen stützt sich mit den Bauchfüßen gegen die Wand der Bohne, zieht sich zusammen und schnellt sich plötzlich los, so daß der Kopf gegen die Wand anschlägt, wodurch die Bohne in eine hüpfende Bewegung versetzt wird.
In derselben Weise bringt ein anderes Insekt Früchte eines in den Steppen- und Wüstengebieten des Mittelmeeres wachsenden Tamariskenstrauches zum Hüpfen, wobei die Höhe der einzelnen Sprünge sogar 2 bis 3 cm beträgt. Auch eine Gallwespe, Neuroterus saltans, die auf Eichen lebt, erzeugt in ähnlicher Weise das Forthüpfen der vom Blatte losgelösten Eichengallen.
In allen diesen Fällen springen nicht die Pflanzentheile von selbst,
sondern werden nur von den in ihrem Inneren eingeschlossenen Thieren
fortgeschleudert. Es giebt aber wohl Früchte, die auch ohne fremdes
Zuthun forthüpfen und fortkriechen, und diese Früchte sind durchaus
nicht selten; wer Augen hat, der kann sie bei uns auf Feld und Wiese
beobachten denn viele Gräser, Skabiosen und Korbblüthler bieten uns
dieses Schauspiel. Die Grannen und Kelchzähne der Früchte derselben
sind hygroskopisch: sie nehmen leicht Feuchtigkeit aus der Luft an, und
indem sie bei wechselnder Witterung bald feuchter, bald trockener werden,
strecken oder krümmen sie sich und versetzen dadurch die an ihnen haftende
Frucht bald in hüpfende, bald in kriechende Bewegung. Weite
Reisen können diese Früchte allerdings nicht unternehmen, sie legen aber
doch Strecken von einigen Decimetern zurück, bis sie
sich in eine Sackgasse verrennen und im Boden haften
bleiben um in günstiger Jahreszeit zu keimen.
Indem sie sich auf diese Weise vom Mutterstocke
entfernen, tragen sie bei zur Verbreitung ihrer Art, dringen langsam aber stetig
erobernd vor. *
Die Birke auf dem Kirchthurm in Aerzen. (Mit Abbildung.) Einen luftigen Standort hat sich die Birke ausgesucht, die eine Merkwürdigkeit des Dörfchens Aerzen im hannoverschen Kreise Hameln bildet. In der Höhe von ungefähr 13 Metern wurzelt sie in den Sandsteinquadern des Kirchthurms, ihr Gipfel erhebt sich 23 Meter über den Boden. Seit 37 Jahren steht sie da oben in ihrer einsamen Höhe und wächst lustig fort, ohne daß ihr irgend eine künstliche Pflege zutheil wird.
Beethovenreliquien. Eine ebenso eigenartige als ergreifende Reliquie wurde in neuerer Zeit durch Verfügung des deutschen Kaisers aus der königl. Bibliothek zu Berlin dem Beethovenhause in Bonn überwiesen: die vier Gehörmaschinen nämlich, welche der Hofmechaniker Mälzl, der berühmte Erfinder des Metronoms, in den Jahren 1813 bis 1814 für den schwerhörigen Beethoven fertigte. Es sind plumpe und wunderlich anzusehende Hörrohre, aus Messingblech zusammengesetzt; und es befinden sich daran auch noch die Messingspangen und Seidenbänder, mit welchen der unglückliche Meister sich diesen ungenügenden Gehörersatz am Haupte befestigte.
Das Ohrenleiden Beethovens, für ihn das furchtbarste aller Schicksale, begann sehr
früh. Schon im Jahre 1804, also in seinem 34. Lebensjahre, berichtet der ihm befreundete
Herr von Breuning an einen Dritten: „Sie glauben nicht,
welchen unbeschreiblichen, ich möchte sagen schrecklichen Eindruck die Abnahme
des Gehörs auf ihn gemacht hat!“ Beethoven suchte trotzdem
das unerbittliche Schicksal zu bekämpfen, so lange es anging, er stand
in der Oper ans Proscenium gelehnt, um noch die Tonempfindung zu
haben, er ließ sich ein starkes Klavier bauen, das heute noch erhalten
ist, mit doppelten, weiter hinauf mit vierfachen Saiten – umsonst! Die
unsichtbare Mauer legte sich dichter und dichter um sein Gehör und bald
schon mußte er zum letzten und traurigsten Aushilfsmittel greifen, zu
den gleichfalls noch erhaltenen „Konversationsheften“, vermittelst deren
er sich mit seiner Umgebung verständigte. Selten wird wohl die Wehmuth
über ein tieftragisches Schicksal stärker erregt werden als beim Anblick
dieser Beethovenreliquien! Bn.
Kleiner Briefkasten.
Politicus. Kartographische Darstellungen des Ergebnisses der letzten Reichstagswahlen liegen bereits mehrere vor. Ganz praktisch ist z. B. „Gustav Freytags Reichstagswahlkarte 1893 (G. Freytag u. Berndt, Magdeburg u. Wien). Die Namen der Abgeordneten sind in die Wahlbezirke eingeschrieben, ihre Parteistellung ist durch Farben kenntlich gemacht. Den verfügbaren freien Raum nehmen übersichtliche Zusammenstellungen der früheren Reichstagswahlen ein.
Somnium millitis. Schön gedacht, aber in der Form nicht zureichend.
10 Villach. Zum Lernen ist es nie zu spät, vollends nicht mit 35 Jahren. Ueber die Hilfsmittel sprechen Sie am besten einmal mit einem Lehrer.
Pegasus im Süden. Alle Hochachtung vor Ihrem Patriotismus, der Sie auch in weiter Ferne so enge mit der deutschen Heimath verknüpft. Ihr Gedicht hat uns gefreut, wenn wir es auch um formeller Anstände willen in der „Gartenlaube“ nicht veröffentlichen können.
Ausland. Jede Annoncenexpedition kann Ihnen die gewünschte Auskunft geben.
Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge in Heft 33/1893. ]