Die Gartenlaube (1893)/Heft 34
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Nr. 34. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
„Um meinetwillen!“
Annaliese nickte, als die alte Excellenz verschwunden war, dem Professor mit einem etwas boshaften Lächeln zu. „Ordre pariert, Herr Gevatter! Aber das kommt Sie heillos sauer an!“
„Sehe ich so sauer aus?“
„Ein bißchen – ja! Aber schadet nichts! Ich hab’ heute so viele Männer anschauen müssen, die süß aussahen, daß das Gegentheil einen gewissem Reiz für mich hat. Und wenn Sie die Großmama mitsamt ihrem Auftrag ins Pfefferland wünschen –“
„Auftrag?“
„Glauben Sie denn, ich hab den Blick nicht bemerkt, den sie Ihnen zuwarf – so bedeutungsvoll, so beredt! Sie will irgend etwas haben, was mit mir in Zusammenhang steht – was es sein kann, weiß ich nicht. Und dazu kam ihr der Divisionsprediger eben recht. Und nun sitzen Sie da und denken: was soll ich mit diesem aufgeputzten Ding in seiner unmöglichen Zigeunertracht anfangen? Ich kenne sie nicht, sie kennt mich nicht – ich bin hier ganz und gar nicht an meinem Platz und wollte, ich säße wieder zwischen meinen vier Wänden! Dachten Sie das nicht?“
Der Professor wiegte lächelnd den Kopf ein wenig hin und
[566] her, sah dann mit einem offenen freien Blick, der seinem angenehmen Gesicht sehr gut stand, das junge Mädchen an und sagte: „Ungefähr so!“
Annaliese bog sich ein wenig vor und reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. „Das ist recht, Sie sind ehrlich. Ach, wenn ich wüßte, daß Sie wirklich ganz, ganz ehrlich sind, dann möchte ich wohl –“
„Nun? Dann möchten Sie wohl?“
„Bitte, lassen Sie mich ein kleines Weilchen in Frieden! Ich muß erst nachdenken, ob das, was mir da eben durch den Sinn fuhr, auch geht.“
Sie lehnte sich tief in den Sessel zurück und drückte von neuem die Augen halb ein. Es blieb eine Zeitlang ganz still im Zimmer, nur ab und zu knisterte der Atlas an Annaliesens Kleid, wenn sie eine leichte Bewegung mit ihrem geschmeidigen Oberkörper machte. Aus dem Kabinett nebenan hörte man deutlich eine gedämpfte Männerstimme, sowie den sonoren Alt der Generalin.
„Ja, ich denke, es wird doch gehen,“ sagte endlich Annaliese langsam, aus ihren Gedanken heraus. Sie stützte den Ellbogen auf die Tischplatte und schaute den Professor mit einem langen prüfenden Blick ganz unbefangen an. „Warum sollte ich auch nicht? Was ist’s denn weiter? Und gerade, um Ihnen zu zeigen, daß Ihr Wort mir etwas gilt, trotzdem Sie kein sogenannter Kavalier sind! Dieser Unsinn übrigens! Als ob es das thäte! Aber Ihr Wort müssen Sie mir natürlich geben. Es ist so schlimm für mich: ich möchte jemand haben, der mir mit seinem Rath und Urtheil in einer sehr wichtigen Sache hilft, und da finde ich niemand, weder unter meinen Freundinnen, noch unter meiner ‚Garde‘ – ach, Sie wissen nicht, wer das ist – das sind Großmamas Hausfreunde, ihre Adjutanten – die sind alle zu sehr betheiligt, zu persönlich in ihrer Auffassung . . . es muß ein ganz Unbefangener sein, dem ich Vertrauen schenken soll!“
„Gerade wie die alte Excellenz!“ dachte Gregory für sich. „Freuen wir uns unserer Unpersönlichkeit und Unbefangenheit!“ Laut setzte er hinzu: „Und Sie haben von mir die gute Meinung, meine gnädigste Gevatterin, daß ich Ihnen mit meinem Rath und Urtheil nützen könnte?“
„Ich denke! Sie sind doch ein erfahrener Mann! Wie alt sind Sie?“
„Ich bekenne mich zu dem ehrwürdigen Alter von sechsunddreißig Jahren.“
„Sechsunddreißig? Das ist noch gar nicht ’mal so sehr alt. Und Erfahrungen werden Sie doch auch haben!“
„Es käme darauf an, was Sie darunter verstehen.“
„Ach!“ Annaliese zuckte ungeduldig die Achseln, „Menschenkenntniß und das alles!“
„Hm! Vielleicht nicht so viel, als Sie glauben. Ich lebe im ganzen ziemlich still für mich –“
„Soll das heißen, daß Sie also nicht wollen?“
„Nein, das soll es nicht heißen. Ich will ganz entschieden – nur möchte ich nicht, daß Sie sich übertriebene Vorstellungen von meiner Weisheit machen.“
„Ich werde mir Mühe geben – aber nun, wann und wo? Jetzt ist keine Möglichkeit dazu, Großmama kann jede Minute ins Zimmer zurückkommen, und die darf nicht einmal ahnen, um was es sich handelt.“
„Habelt Sie kein Vertrauen zu ihr?“
„Ich? Zu Großmama? Jetzt kommt es mir selbst so vor, als hätten Sie wenig Erfahrung und Menschenkenntniß, Herr Gevatter! Großmama hat nie mein Vertrauen haben wollen, sie wüßte überhaupt gar nicht, was damit anfangen – sie wäre die Letzte, der ich damit käme!“
„Aber sie hat Sie doch lieb.“
„Ganz lieb – ja – wie man solch ein verwaistes Enkelkind nicht umhin kann, liebzuhaben. Aber ich möchte einmal in meinem Leben ganz anders geliebt werden, als wie Großmama mich liebt!“
Ehe der Professor dazu kam, zu dem letzten Satz, der ihm sehr einleuchtete, seine unbedingte Zustimmung zu geben, öffnete sich die Thür und die Generalin sah herein.
„Annaliese, der Herr Divisionsprediger hat die Liste zu Unterschriften für den Kirchenbau in Unjamwesi gebracht. Wieviel soll ich in Deinem Namen zeichnen?“
„Nach Deinem Belieben, Großmama! Soviel Du willst!“
Es hatte sehr gleichgültig geklungen, Annaliese sah ungeduldig aus.
„Thun Sie das nicht gern?“ fragte Gregory, als sie wieder allein waren.
„Nein; gar nicht! Diese Art von Wohlthätigkeit läßt mich ganz kalt. Ich bitte Sie: Kirchenbau in Unjamwesi! Was hab’ ich davon? Ich werd’ ihn nie zu sehen bekommen. Wenn Großmama mich machen ließe, wie ich wollte, ich würde andere Wohlthaten ausüben, ganz andere. Ich wollte selbst zu Leuten gehen, die ich kenne, und denen Geld bringen und Sachen und ihre Kinder beschenken. Aber ich darf das nicht. Da heißt es, es sei unsauber und häßlich bei den armen Menschen – ja, ich glaub’ das schon, wie soll es denn anders sein in ihrer Noth? Und für die Enkelin der Excellenz von Guttenberg schicke sich das nicht, in solche Stuben zu gehen – höchstens erlaubt Großmama, daß ich ’mal unserer Wäscherin und unserer ehemaligen Köchin etwas bringe, aber die wissen dann im voraus, daß ich komme, und haben sich sanber angezogen und ihre Wohnung aufgeräumt. Die sind auch gar nicht so arm, die verdienen ein ganz gutes Stück Geld und kennen kein Elend, und wenn ich da mit dem Wagen vorfahre, das paßt mir nicht und paßt auch nicht für die Armen – zu Fuß aber darf ich nicht. Und nun kommt mir Großmama mit dem Kirchenbau in Unjamwesi! Ich bin vor einem Vierteljahr mündig gesprochen worden – Großmama hat das durchgesetzt, es handelte sich um allerlei dumme Vermögensgeschichten – nun fragt sie mich der Form halber; aber sie weiß recht gut, wie einerlei mir das ist. Ich klage meine Großmutter nicht an bei Ihnen, das denken Sie nur ja nicht – sie ist nur aus einer anderen Zeit wie ich und auch aus einem andern Stoff. Warum sehen Sie so verwundert aus? Sagen Sie offen, was Sie eben dachten; ich will das wissen!“
„Ich dachte, daß Sie ganz anders seien, als ich annahm.“
„Und was nahmen Sie – nein, nein, die Antwort erlasse ich Ihnen, ich kann sie mir gut genug vorstellen! Aber nun unsere Unterredung! Morgen ist der berühmte Polterabend, die Hochzeit übermorgen, also Sonnabend – was meinen Sie? Großmama hat da ihre Kartenpartie von alten Damen, und Sie kommen auf ein Stündchen in meine kleine Wohnung hinüber!“
„Wenn Tante Excellenz nichts dagegen hat –“
„Wie sollte sie? Ich habe oft drüben Besuch – Sie kennen ja auch meine Zimmer noch gar nicht. Können Sie abends sieben Uhr da sein?“
„Sie haben nur zu befehlen!“
„Das glauben Sie ja selbst nicht – warum sagen Sie es also? So feierlich und ironisch waren Sie schon vor Jahren zu mir, als ich noch ein kleines Mädchen war, und das hat mich immer geärgert.“
„Es thut mir jetzt sehr leid, Sie geärgert zu haben. Werden Sie mir das glauben?“
„Wenn Sie dieses Gesicht dazu machen – ja! Doch da kommt Großmama! – Ich habe Deinen Neffen, Herrn Prosessor Gregory, ersucht, Sonnabend meine Wohnung in Augenschein zu nehmen und ein Stündchen mit mir zu plaudern. Du hast nichts dagegen?“
„Durchaus nicht, mein Kind. Ihr trinkt dann abends den Thee mit mir und meinen Gästen. Du willst fort, lieber Paul?“
„Es ist die höchste Zeit für mich! Auf Wiedersehen, verehrte Tante – Sonnabend um sieben Uhr, meine gnädigste Gevatterin!“
Die Generalin lächelte dem Professor huldvoll zu, als er ihr die Hand küßte, und flüsterte ein kaum vernehmbares: „Das trifft sich günstig!“
Annaliese hob ihr Tamburin vom Teppich auf und summte ein Liedchen vor sich hin.
Am nächsten Tage spielte der Novembermonat den guten Einwohnern von B. bös zum Tanz auf. Am Himmel erschienen drohende dunkle Wolken, die sich alsbald in einem schweren Hagelwetter entluden. Die weißen Schloßen sprangen hoch empor auf dem Straßenpflaster und hüpften lustig klappernd auf den Fenstersimsen, zum Jubel der Kinder, die gar zu gern die langsam schmelzenden Körnchen einfingen; Auf den Hagelschauer folgten heftige Regengüsse, die der sausende Nordost eisig und scharf wie Stahl den Leuten [567] ins Gesicht peitschte. Ein trübes Dämmerlicht hüllte Menschen und Dinge in ein unerfreuliches Grau, die Dachrinnen sandten ganze Bäche trüben Wassers auf die Straßen und die Köpfe der Vorübergehenben herab, die Regenschirme troffen, und auf dem Asphalt hatten sich Hagel, Nässe und Staub zu einem zähen Brei vermischt, der das Gehen erschwerte und sich den Damen zudringlich an die Kleidersäume hing. November!
Paul Gregory hatte ein freundliches Quartier in der Weinbergstraße im Hause einer ältlichen Witwe, die ihm das Essen schickte und ihrem Mädchen gestattete, ihn zu bedienen. Sie waren beide wohl miteinander zufrieden, namentlich pries der Professor sein Geschick dafür, daß die Witwe vorzüglich kochte und durchaus nicht redselig war. Sie hatte schwere Schicksale gehabt und war eine stille, gedrückte Frau, die mit ihrem Miether nur gerade die nothwendigsten Fragen und Antworten austauschte, natürlich im allerhöflichsten Ton, und dabei waren beide durchaus befriedigt.
Heute hatte der Professor sich einen Arbeitstag vorgesetzt und sich selbst einen feierlichen Eid gelelstet, daß ihn bei diesem Wetter keine zehn Pferde aus dem Hause brächten. Er mußte an die Tante Excellenz und ihre Enkelin denken, die heute zum Polterabend mußten – aber sie besaßen ja Equipage, und wenn einer zu bedauern war, so konnte das höchstens Martin auf dem Kutschersitz sein. Wie reizend das junge Mädchen in dem phantastischen Zigeunergewand ausgesehen hatte! Paul konnte sich nicht denken, daß irgend eine der Mitwirkenden sie überstrahlte. Das war gestern eine rechte Augenweide für ihn gewesen. Und mit diesem Gedanken setzte er sich an seinen Schreibtisch und nahm sein Wörterbuch vor. Die Arbeit ging ihm gut von statten, sein Geist erlaubte sich keine Nebensprünge, und die Zumuthung, Mittag essen zu sollen, erschien ihm als eine störende Unterbrechung. Sein Arbeitszimmer war ebenso wie sein Schlafgemach sehr hoch und geräumig, dagegen der Salon, in welchem er Besuche empfing, nur klein und lange nicht so behaglich ausgestattet. Das kennzeichnete recht Gregorys Gesinnung: er hielt es für seine Gesundheit zuträglich, in einem großen Raum zu schlafen und für seine Arbeiten war ihm das beste Zimmer nur gerade gut genug, Besuche aber empfing er nicht allzu oft, er hielt das für eine Art Zeitverschwendung, da dabei selten etwas Förderliches oder Anregendes gesagt wurde – mochten die Leute mit dem engen Salon vorlieb nehmen!
Von hohen Büchergestellen sahen ihm die Klassiker alter und neuer Zeit bei seinen Arbeiten zu – ein kleines Exemplar des Homer lag, mit vielen Zeichen versehen, jederzeit handgerecht auf einem bestimmten Platz seines Schreibtisches. Er behauptete, er könne besser denken und schreiben, wenn er sich von Zeit zu Zeit eine Seite dieses seines Lieblingsschriftstellers halblaut vorlese. Ein vorzüglicher großer Stich der Rafaelschen „Schule von Athen“ hing zwischen zwei Bücherrepositorien, ihm gegenüber das „Abendmahl“ van Lionardo. Das Arbeitszimmer lag nach einem stillen Hof hinaus; kein Laut von außen störte die Sammlung des Gelehrten. Seinen Studenten, die er sehr liebte, that er die Ehre an, sie hier in seinem Allerheiligsten zu empfangen – Wein und Cigarren standen jederzeit für sie auf einem kleinen Nebentisch bereit. –
Am Tage nach dem Unwetter strahlte eine goldene Sonne hernieder; der Himmel leuchtete in prachtvollem Blau, als schämte er sich seines gestrigen Ungestüms, und ein mildes Lüftchen, das ganz und gar nicht an den November erinnerte, fächelte sanft die Gesichter der Menschen, wie eine schmeichelnde Abbitte.
Auch Gregory fand, er habe gestern fleißig genug gearbeitet, um sich heute seinen gewöhnlichen weiten Spaziergang zu gönnen, den er mit großer Regelmäßigkeit festhielt und ungern aufgab. Seine Weinbergstraße lag ein wenig abseits vom großen Verkehr, ein Vorzug, den der Professor sehr zu schätzen wußte.
Als er jetzt ein Stück Weges gegangen war, traf er einen seiner Studenten, einen nicht mehr ganz jungen Menschen, der ihm vermöge seines sicheren Wesens und seines hingebenden Eifers für die Wissenschaft besonders angenehm war. „Nun, wohin?“ redete er ihn an und faßte ihn pertralltich unter den Arm. „Haben wir vielleicht denselben Weg?“
„Ich – ja – ich weiß nicht, Herr Professor.“ – der Student war etwas verlegen – „nämlich, ich wollte in die Kirche –“
„Der Tausend! Das ist ja ein ungewöhnliches Ziel für einen Philosophen!“
„Ja, es ist dort eine Trauung – ein Offizier heirathet, und unter den Brautdamen sind Bekannte von mir, lauter hübsche Mädchen, die sieht man nicht alle Tage so beisammen –“
Gregory erinnerte sich nicht mehr des Namens, den ihm seine Tante genannt hatte, allein da dieser eben erwähnte Bräutigam ebenfalls Offizier war, ebenfalls heute getraut werden sollte, so war zehn gegen eins zu wetten, daß es dieselbe Hochzeit war, bei der Annaliese von Guttenberg eine Rolle spielte.
Zum großen inneren Erstaunen des Studenten erklärte sein Lehrer sich bereit, mit ihm zu gehen. –
Vor der Schloßkirche war eine große Menschenmenge versammelt. Am Hauptthor wimmelte es schwarz, und wie ein einziger Blick belehrte, war es ein auserlesen feines Publikum, das sich hier, der guten Sache zuliebe, geduldig stoßen und drängen ließ.
Gregory hatte bei diesem Anblick Lust, sofort wieder umzukehren, aber sein Begleiter, der hier gut Bescheid wußte, führte ihn gewandt nach einer schmalen, wenig beachteten Seitenthür, durch ein paar Nebengänge der gewaltigen Kirche und eroberte glücklich mit ihm zwei gute Plätze in ziemlicher Nähe des Altars. Auf die geflüsterte Frage des Studenten: „Ich kenne fast alle, darf ich ein wenig den Cicerone spielen?“ nickte der Professor, und gerade jetzt setzte auch die Orgel ein, und der Brautzug bewegte sich, blumenstreuende Kinder voran, vom Eingang nach dem Altar.
Offiziere, nichts als Offiziere! Und die Damen, alt und jung, meist feine aristokratische Gesichter! Viel Orden, viel echter alter Familienschmuck – große Perlen und funkenwerfende Brilllanten, antik gefaßt, modern gefaßt, in die Locken gestreut, an den Schultern blitzend! Ein eigenes raschelndes und zischendes Geräusch, das die vielen schweren Schleppen auf dem Fliesenboden machten – und wie sie die armen Blumen mit sich fegten, welche die Kinder hingestreut hatten!
Die Braut war ein niedliches Persönchen mit einem halb lustigen, halb neugierigen Vogelgesicht; jetzt freilich schritt sie mit sittsam gesenkten Wimpern und langsam feierlichen Schritten, die ihr bei ihrem sonst munter hüpfenden Gang sehr sauer werden mußten, am Arm des Vetters und bereits standesamtlich angetrauten Gatten einher. Dieser sah recht unbedeutend aus, trotz seiner hübschen blauen Husarenuniform, er hatte gleichfalls ein Vogelprofil – es war dies der Frankenheimsche Familientypus – und schaute fast grimmig ernst drein. Der rauschende Orgelklang, die Kirchenluft und der jetzt aus dem Chor vollstimmig einsetzende schöne Gesang ergriffen ihn sehr, er wollte aber seine Rührung unterdrücken und seiner kleinen Wilma ein Beispiel männlicher Selbstbeherrschung geben.
„Die erste Brautdame ist die Schwester des Bräutigams mit Hauptmann Schönhoff!“ fing Gregorys Begteiter seine geflüsterten Erklärungen an. „Dann der Bruder der Braut mit Komteß Witte. Drittes <paar: der Lieutenant von Steinhausen mit der jungen Baroneß Guttenberg – für mich sieht dies Paar eigentlich am besten aus – dann kommen die beiden Töchter des Oberst von Heß mit ihren Kavalieren – –“
Er fuhr fort, zu sprechen, und der Professor hörte ihm zu und ließ die Fluth all dieser Namen und Titel an seinem Ohr hingleiten. Annaliese von Guttenberg konnte er gut sehen, Steinhausen gleichfalls. Eine wirklich außergewöhnlich gute Erscheinung, dieser Steinhausen. Sein hoher Wuchs überragte alle übrigen, die Haltung war vornehm, die Brust breit, der Kopf klein, die ganze lichtblonde Schönheit sprach von der Rasse dieses Sprossen aus edlem Blut, und im Blick lag offenbar Intelligenz. Seine Dame war ganz in Weiß gekleidet, es gefiel dem Professor sehr, daß sie in einem so einfachen Kleide erschien – er wußte ja nicht, daß diese Schlichtheit für ein geübteres Auge den Stempel großer Kostbarkeit trug. Sie hatte keinen Schmuck, nur eine Ranke von blaßrothen Heideröschen tief von der linken Achsel quer über die Brust, und im dunklen Haar lag ein kleines Kränzlein von den gleiche Blüthen. Ihr Gesichtsausdruck war weder der ausgelassen fröhliche, noch auch der träumerisch liebliche, den Paul neulich an ihr beobachtet hatte. Sie trug heute den Kopf hoch und sah entschieden hochmüthig aus, eine Eigenschaft, die dem Professor immer zuwider war, mochte sie haben wer wollte, und von der er Annaliese gern freigesprochen hätte . . . er konnte sich aber den Ausdruck ihres Gesichtes nicht anders deuten, und es tröstete ihn wenig, daß sie dabei doch so reizend aussah. –
Auch seine alte Tante Excellenz entdeckte er, in starrem
[568][569] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [570] violetten Brokat, das Kleid oben mit einer wundervollen Brosche geschlossen – ein Stück aus dem berühmten Guttenbergschen Diamantschmuck, der nun schon die vierte Generation sah. In der Nähe der alten Dame, die noch würdevoller als sonst dreinsah, bemerkte Gregory einen sehr schönen jungen Mädchenkopf; mehr als eben diesen Kopf vermochte er nicht zu sehen, es schoben sich zuweilen Uniformen dazwischen, aber es war der Mühe schon werth, dies Gesicht zu studieren. Es war tiefbrünett, mit prachtvollen sammetdunklen Augen, in denen ein ergreifender Ausdruck voll stiller Schwermuth lag, eine ganz selbstvergessene Trauer, die hier, inmitten all des Glanzes, um so rührender wirkte.
Der Prosessor legte seine Hand leise auf den Arm des Studenten. „Wer ist die junge Dame dort links am Pfeiler, in der Nähe der Generalin Guttenberg?“
„Ich nannte sie Ihnen schon, Sie haben es wohl überhört – die schöne Erna von Torsten, leider ebenso arm wie schön, und man sagt, diese Armuth soll sie um ihr Lebensglück bringen. Sie und Steinhausen sollen eine leidenschaftliche Liebe füreinander gehabt haben – Genaues weiß freilich niemand darüber.“
Ah, Erna von Torsten! Paul entsann sich jetzt. Eben diesen Namen hatte ihm die Generalin genannt, eben diese kleine traurige Geschichte ihm erzählt. Armes schönes Geschöpf! Und auch Steinhausen sah ernster aus, als ein so gefeierter glänzender Offizier es sonst, selbst in einer Kirche, zu thun pflegt – war es auch ihm schwer ums Herz? Er hatte unrecht gethan, dem jungen Mädchen, dessen Armuth ihm doch nicht unbekannt war, sein Gefühl zu zeigen . . . aber verzeihlich war es immerhin! Es muß hart sein, bei soviel Jugendreiz sein aufflammendes Herz streng im Zügel halten zu sollen, zumal, wenn man merkt, daß auch die Geliebte von der Leidenschaft ergriffen ist! Aber wie grausam dann für sie, verzichten zu müssen, wie grausam auch für ihn, der noch dazu hinzugehen hatte und um eine andere zu freien! Um welche andere? Um Annaliese von Guttenberg!
Der Professor faltete unmuthig die Stirn. Dazu ist die nun aber auch hundertmal zu schade! sagte er sich. Die könnte wohl ein ganzes Mannesherz zu besitzen verdienen, nicht bloß das Bruchstück, das eine andere für sie übrig läßt und das sich nothgedrungen ihr zuwendet, weil sie Vermögen hat und jene andere nicht! Und doch, trotzdem die alte Tante Excellenz das alles weiß, hat sie nichts dagegen, wenn dieser Steinhausen ihre Enkelin heirathet, im Gegentheil, es würde sie freuen, denn er hat ja einen alten Namen, ist hübsch und begabt, wird Karriere machen . . . was thut da das kleine Zwischenspiel mit dem armen schönen Mädchen, das er unglücklich gemacht hat? Die einzige Sorge der guten Großmama ist nur die, ob ihr Enkelkind auch nichts weiß und nichts glaubt von dieser „fatalen Liebesaffaire“ – hätte sie noch diese Gewißheit, so wäre sie sicher ganz glücklich! Ob Annaliese wirklich nichts davon wußte?
Es waren keine sehr heiligen Gedanken, die Gregory während des Orgelspiels und des Gesanges fesselten, aber ihm waren sie heilig. Denn nichts konnte doch wichtiger und ernster sein als das Lieben und Leiden von Menschenherzen, und darüber nachzusinnen schien dem Professor durchaus mit dem Ort, an dem er sich befand, im Einklang zu stehen. Immer von neuem schweifte sein Blick von Steinhausen zu dem schönen brünetten Mädchen, von diesem zu Annaliese von Guttenberg mit dem stolzen Gesicht, um zuletzt finster auf der alten Excellenz haften zu bleiben, die ihm mit ihren Standesideen und Vorurtheilen ganz mittelalterlich erschien.
Als die Feier beendet war, unternahm der Professor mit seinem Schüler noch einen weiten Spaziergang beim schönsten Wetter, und der junge Mann vertraute ihm unter anderem an, daß er eine adlige Kousine habe, die heute auch mit im Brautzug gewesen sei und der er seine Kenntniß der aristokratischen Kreise verdanke. Diese Meta von Thielen schien ihrem Vetter nicht ganz ungefährlich zu sein, er sprach längere Zeit lebhaft von ihr und erwähnte auch, daß sie eine Freundin von Annaliese von Guttenberg sei. Das sei ein reizendes, geist- und lebensprühendes Geschöpf – die alte Excellenz ziehe nur ihrem Jugendübermuth und ihrer Eigenart viel zu enge Schranken – Kousine Meta sage oft, es sei kläglich, zu sehen, wie Annaliese darunter leide und umsonst gegen alle die aufgezwungenen gesellschaftlichen Rücksichten und Fesseln ankämpfe, und es sei noch ein Glück, daß ihr Humor ihr immer von neuem darüber hinweghelfe.
Der junge Mann hatte keine Ahnung, daß der Professor ein Neffe der so scharf kritisierten alten Dame sei, und dieser that auch nichts dazu, ihn über den Sachverhalt aufzuklären. Die beiden kamen dann von diesen weltlichen Dingen auf ein neu erschienenes philosophisches Werk, das viel von sich reden machte, und Gregory lud seinen Schüler ein, ihn des Abends für ein paar Stunden zu besuchen, sie wollten dann einige Abschnitte des Buches gemeinsam lesen und den Inhalt durchsprechen.
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Am nächsten Tag um sieben Uhr abends saß die junge Baroneß Guttenberg einsam in ihrem Salon und wartete auf den Professor. Die alten Damen hatten sich pünktlich um halb Sieben bei der Generalin zur Kartenpartie eingefunden, es war aber Sitte, daß Annaliese erst zum Thee um Acht erschien, um sich drüben zu zeigen, falls sie nicht auswärts war, was sie am Tage des Kartenkränzchens mit Geschick und Vorliebe einzurichten wußte.
Anstrengende Tage lagen hinter ihr. Die Proben, das Besorgen und Anprobieren der verschiedenen Kleider, der Polterabend, die Hochzeit, heute vormittag eine lange Debatte über die genossenen Vergnügungen bei den Töchtern des Oberst von Heß, die alle an den Festlichkeiten Betheiligten zu einem solennen „Damenfrühstück“ eingeladen hatten, bei welchem es so lärmend und aufregend zugegangen war wie auf dem polnischen Reichstag im „Demetrius“.
Aber einer so jugendfrischen Natur, wie Annaliese von Guttenberg es war, machten ein paar durchtanzte Nächte nichts, und wenn sie jetzt regungslos dasaß und, die Hände im Schoß, vor sich hinsann, so war es keineswegs körperliche Ermüdung, die sie so gebannt hielt. Sie dachte darüber nach, ob es nicht doch übereilt von ihr gewesen sei, sich heute den Professor Gregory herzubitten, um ihm Dinge mitzutheilen, die sie nicht einmal ihren Freundinnen anvertraute. Sie kannte ihn doch so wenig! Aber eben weil sie ihn wenig kannte, hatte sie gerade ihn gewählt – er würde ihr am besten unparteiisch rathen, vielleicht helfen können, und schließlich hatte sie ihm ja kein zartes Herzensgeheimniß zu beichten, höchstens eine begangene Indiskretion. Und was sie von fremden Angelegenheiten in ihrer Erzählung berühren mußte . . . lieber Gott, das wußten so viele, darüber sprach die halbe Stadt – da konnte es auch noch der Professor erfahren! Annaliese wußte sich nicht zu sagen, wie es kam, aber sie vertraute ihm ganz und gar. Er sah aus wie die verkörperte Ehrenhaftigkeit! Sie vergegenwärtigte sich seine statttiche Gestalt, den kühn getragenen Kopf mit dem vollen schlichten Haar, dem hübschen braunen Bart und den blauen Angen – wenn solch ein Mann einmal sagte: „Ich verspreche es“, oder: „Ich will Ihnen helfen“, dann hielt er auch Wort, es komme wie es wolle! Eigentlich hatte sie sich nie recht um ihn bekümmert, als Kind und Backfisch ihn sogar nicht leiden können – aber was that das? Er war nicht kleinlich, er trug ihr das schnippische Benehmen in keinem Fall nach, sie fühlte das. Sie hatten sich jetzt zusammengefunden – aus dem naseweisen kleinen Mädchen war eine vernünftige junge Dame geworden, da konnte man doch gut ein ernstes Wort miteinander reden. Außerdem war Annaliese ein wenig gespannt, zu erfahren, was denn die Großmama mit Paul Gregory über sie zu verhandeln gehabt hatte. Daß dem so war, darauf hätte sie schwören mögen, die alte Excellenz hätte es ihr sonst sicher nicht gestattet, den Professor in ihren Zimmern zu empfangen, während sie selbst drüben mit ihren Damen Karten spielte. Freilich hielt sie den Neffen wohl für ganz ungefährlich – ein Mann, der kein Offizier war, nicht den Adel besaß und die Grenze der Dreißig bereits seit einigen Jahren überschritten hatte, kam für die alte Generalin ihrer jungen Enkelin gegenüber gar nicht in Betracht. Aber herausbekommen mußte sie ein Komplott, das zwei so verschiedene Naturen, wie ihre Großmama und Professor Gregory es waren, gegen sie schmiedeten! Und ihm dies zu entlocken, schien ihr nicht schwer – er war kein Diplomat und augenscheinlich in gesellschaftlichen Ausflüchten und Kniffen, um nicht Lügen zu sagen, gänzlich ungeübt ... Gott sei Lob und Dank!
„Herr Professor Gregory, Baroneß!“
„Ich bitte!“.
Alle Rechte vorbehalten.
Wüstenpilger.
Das „große Fest“ ist vorüber; vorüber sind jene ungeheuren Schlachtopfer von Hämmeln, welche Zehntausende von Pilgern in nächster Nähe der heiligen Stadt darbringen, Jahr für Jahr an derselben Stelle, und deren Blut, indem es den Sand weithin durchfeuchtet und in der Gluthhitze sich rasch zersetzt, den besten Nährboden für die Cholera abgiebt, die trotz aller Quarantäne fast immer mit den Mekkafahrern als unheimlicher Gast zurückkehrt. Schmunzelnd zählt der schlaue Mekkaner – schlau und unheilig sind ja meist die Bewohner der „heiligen“ Städte – das Geld, das er den weniger klugen Glaubensgenossen abgenommen hat. Diese selbst treten die Heimreise an, viele mit gemischten Gefühlen: der eine hatte seinen Beutel überhaupt nur für die Hinreise gespickt, jener hat ihn im Festtrubel allzu stark angreifen lassen, ein dritter – und diese sind nicht wenig zahlreich – hatte auf hohen Gewinn bei dieser größten aller Weltjahresmessen gerechnet und sich verrechnet; alle aber ziehen ab mit jenem unerschütterlichen Vertrauen auf Allahs Hilfe, das den Muslim auszeichnet und ihn immer vergnügt erscheinen läßt. Offizielle und private Telegramme – es versteht sich, daß der Draht längst das heilige Mekka erreicht hat – melden den Lieben in Damaskus, Kairo, Stambul, daß man auf der Heimreise ist, oder bereits, daß man sich in Dschidda, dem Hafen von Mekka, eingeschifft hat.
Daheim rüstet man sich, die Zurückkehrenden würdig zu empfangen, und kommen sie, so werden sie mit mehr oder minder großem Aufwand von Prunk und Ehren eingeholt. Nur eine Schar ist es, die von allen Klassen der Bevölkerung mit gleicher Begeisterung bei der Heimkehr begrüßt wird, deren Einholung gleichsam als eine religiöse Pflicht, sicher als ein allgemeines Fest betrachtet wird: es ist die Schar, die das Mahmal begleitet, jenes riesige, von einem Kamel getragene, pyramidenförmige Holzgestell, das, mit schön gestickten Stoffen behangen, als der offizielle Vertreter der ägyptischen Regierung in der Pilgerkarawane angesehen wird. Birgt es doch bei dem Auszuge nach Mekka die kostbare Decke in seinem Innern, welche alljährlich zur Verhüllung der Kaaba, des Allerheiligsten im Tempel, zur Stadt des Propheten gebracht wird! Bei der Rückkehr ist es freilich leer, aber es bleibt eben das Symbol der Herrscherwürde, das von hohen Würdenträgern und einem Trupp Soldaten ehrfurchtsvoll geleitet wird. Mit ihm kommt auch die offizielle Mekkakarawane, der Haupttheil der Pilger, meist solche, die nicht die Mittel haben, von Suez aus, bis wohin auch das Mahmal zur See gelangte, die Fahrt mit der Bahn zu machen.
Dieses Fest ist es, das der Künstler auf unserem doppelseitigen Bilde vorführt. Der Zug befindet sich auf einem großen Platze außerhalb Kairos, etwa zwischen den Kalifengräbern und dem Bab en nasr, dem Thore, durch welches der Einzug in die Hauptstadt zu erfolgen pflegt. Händler aller Art haben sich eingefunden, zahlreiche Personen der mittleren und niederen Klassen sind herbeigeeilt, die ankommenden Verwandten oder Freunde zu begrüßen, es fehlt nicht an jener Menge der Gaffer, der Tagediebe, die im heiteren sorglosen Süden noch viel zahlreicher sind als in dem geschäftigen ernsteren Norden. Das lebhhafteste Treiben entwickelt sich. Zwar brennt die Sonne glühend; die sich drängenden Menschen und Thiere – im Hintergrund ist die berittene Eskorte sichtbar – wühlen den Boden auf, so daß die Luft in ein höchst unangenehmes dunstiges Meer von Staub verwandelt ist, dazwischen giebt es heftige Windstöße, welche das wüste Treiben in der Luft noch vermehren, die langen dünnen Kittel der dürftig Bekleideten nach allen Richtungen auseinanderfliegen lassen und die Armen, welche die schweren, mit frommen Sprüchen bestickten nun wild flatternden Fahnen tragen müssen, wie Trunkene hin und her taumeln machen – das alles aber stört das Vergnügen nicht, so wenig wie der Gedanke an die tödliche Seuche, welche vielleicht verderbenbringend mit eben diesem Menschengewimmel ihren Einzug hält. Man gafft, man feilscht, man schwatzt – ein, wenn auch nicht gerade anmuthiges und wohlduftendes, doch lebensvolles und interessantes Bild, das der Künstler mit großem Geschick wiedergegeben hat.
In eine andere Welt versetzt uns das zweite Bild auf S. 565. Der Mekkapilger, besonders der, der den ganzen Weg zu Lande macht, hat wohl Mühseligkeiten zu erdulden, aber er bildet einen Theil einer größeren Gemeinschaft, die in ihrem Zusammenhalten einen Schutz hat und mancherlei Annehmlichkeiten bietet durch den Austausch kleiner Dienste, die vor allem aber unter dem Schutze einer Regierung dahinzieht, welche, mag sie sonst so schwach sein wie sie will, die glückliche Heimkehr der Pilger herbeiführen muß, will sie nicht allen Kredit im Laude verlieren. Anders die armen Teufel, die für einen kärglichen Lohn den Transport einer größeren Warensendung nach einem fernen, weitab vom Kulturland in der Wüste gelegenen Ort übernommen haben: sie haben niemand, der sie bei räuberischem Ueberfall schützt, ihr Weg ist nicht eine regelmäßig von Karawanen durchzogene Straße, auf welcher die Regierung in angemessenen Zwischenräumen Kastelle mit Brunnen und Wachtposten unterhält: sie sind ganz und gar auf sich angewiesen und, da sie alle derselben Klasse, demselben Stamme angehören, so ist auch ihr Zusammenwandern eintönig, stumpf, nur durch den Austausch von Worten über die allernächsten Bedürfnisse unterbrochen. Im Winter, in der Regenzeit, da geht es wohl noch. Da zieht die Wüste oder vielmehr die Steppe – denn eine solche, nicht eine ewig einfarbige Sandfläche ist ja die Syrische Wüste, in die wir hier versetzt werden – ihr grünes Kleid an: üppige Futterkräuter entsprießen dem von dem Naß des Himmels befeuchteten Boden, ja bunte Blumen zieren den Teppich, der sich nach den ersten kräftigeren Regengüssen ausbreitet: da belebt sich alles: sie strömen herbei, die den Sommer und Herbst in höheren Gegenden, in der Nähe eines Stromes, am Rande der Wüste gegen das Kulturland gezeltet hatten, und lassen die Thiere sich weiden an dem kräftigen Futter, das die Natur jetzt hier verschwenderisch bietet. Die über die Steppe zerstreuten Tränkorte sind mit Wasser gefüllt, und der Sohn der Wüste kann im reichlichen Genuß dieses von ihm so geschätzten Lebenselementes schwelgen. Das ist seine schönste Zeit. Aber auch sie erreicht ihr Ende. Kaum ist der Mai angebrochen, so beginnt die glühende Sonne ihr Werk, und sehr bald fegt auch in kurzen Zwischenräumen der verderbliche „Schlůk“, der Scirocco, über die weiten Ebenen, sein Zerstörungswerk übend. Das Grün verschwindet; kahl starren die dürren Kräuterstengel in die öde bleierne Luft; die Tränkeplätze zeigen anstatt der Wassertümpel sumpfige Stellen, anstatt der gefüllten Brunnen ausgetrocknete Schachte. Und wo sind sie hin, die noch eben froh sich hier tummelten? Fortgezogen ins Sommerquartier, in dem sie freilich das nicht finden, was sie hier genossen! Und durch solche Landschaft ziehen die Armen, die wir auf unserem Bilde sehen, denn sie können sich die Zeit nicht wählen; es sind nicht freie Söhne der Wüste, welche kommen und gehen, wie es ihnen gefällt – das zeigt die Ladung ihrer Kamele, welche nicht das bunte Allerlei des beduinischen Hausrathes samt dem Hause selbst, dem Zelte, tragen, sondern wohlverschlossene Kisten, wie sie in gleicher Größe und Schwere zur Warenversendung auf Kamelsrücken gebraucht werden. Diese Leute gehören einem jener Stämme an, welche am Rande der Wüste ihren Wohnsitz haben, im Uebergang vom Nomadenleben zur Seßhaftigkeit begriffen und namentlich als Frachter den Großhändlern nützlich sind, welche den Vertrieb der Aus- und Einfuhrware für die größeren Wohnplätze der Wüste in Händen haben.
Meisterlich versetzt der Künstler den Beschauer in die Situation: da sehen wir rechts im Vordergrunde so ein vertrocknetes Steppenkraut seine dürren Arme in die Luft strecken, da sehen wir, wie jeder Schritt der wandernden Menschen und Thiere Staubwolken vom Boden aufwirbeln läßt, während die öden Kalksteinhöhen im Hintergrunde die brennenden Sonnenstrahlen abprallen lassen, das Auge blendend; noch mehr aber sagt uns der Ausdruck, der diesen Gestalten in Haltung und Gesicht aufgeprägt ist: sie wissen, in welch peinliche, ja gefährliche Lage sie kommen, wenn sie wieder in ihrer Hoffnung getäuscht werden, wie es eben der Fall war, wo der bekannte Brunnen, der sonst länger Wasser zu halten pflegte, erschöpft gefunden wurde.
„Wasser! Wasser!“ ist jeder Gedanke in ihnen, ruft jede Fiber in ihnen und doch nützt es nichts, sich in Ungeduld und Sorge aufzureiben: das Lastkamel schreitet weiter in dem gewohnten regelmäßigen Schritt, dem der Mensch sich anpassen muß; dieser kann nichts thun als ausharren, schweigen, seine Sache Allah anheimstellen, dessen der Orient und der Occident ist: „Nord und südliches Gelände, ruht im Frieden seiner Hände“. Auch unsere Wanderer werden in seiner Hut das erstrebte Ziel erreichen; wir wünschen es ihnen von Herzen – schon deshalb, weil ihre augenblickliche Noth dem Künstler den Gedanken dieses Bildes eingegeben, welches beim ersten Anblick das in uns weckt, kraftvoll und packend, was wir vom Künstler vor allem anderen in uns geweckt haben wollen: Stimmung. Martin Hartmann.
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Der Artushof der Kurländerinnen.
Das bescheidene Herrenhaus des Gutes Löbichau, unweit Altenburg, an der Straße nach Ronneburg gelegen, war in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem ansehnlichen Schlosse ausgebaut worden. Ein schöner Park umgab es, der Hauptreiz der sonst landschaftlich nicht eben hervorragenden Gegend; Feld, Wald und Wiesen rings umher trugen das Gepräge sorgfältiger Kultur, die zugehörigen Dorfschaften glänzten durch Anstand und Sauberkeit. Die neue Landstraße von Altenburg her wurde zur Sommerszeit selten leer von Wagen, alle besetzt mit frohen Gästen, die nach dem Schlosse eilten; sehr viele von diesen Ankömmlingen waren eingeladen, sehr viele auch nicht, und doch durften auch diese überzeugt sein, die liebenswürdigste Aufnahme zu finden. Hundert Betten standen stets für Gäste bereit, und ging es auch ein oder das andere Mal etwas eng her, so verdarb das niemand die gute Laune. In der Welt draußen mochte der Krieg toben, mochte ein zu Boden getretenes Volk nach Erlösung seufzen, in diesem abgeschiedenen Winkel herrschte die reinste Idylle. Hier gaukelte in Garten und Park verliebter Sinn um lockende Blumen, schwärmte die Schöne am Arm ihres Verehrers, vergnügte sich jung und alt bei ländlichen Festen oder lauschte wohl auch im Salon dem Vortrag einer literarischen Berühmtheit.
Dieser Sitz der Grazien und Musen war die Residenz der [572] Herzogin Dorothea von Kurland, den sie 1796 käuflich erworben hatte. Bis zum Jahre zuvor noch hatte sie mit ihrem Gemahle Peter Biron den Thron des baltischen Herzogthums Kurland eingenommen, da aber hatte Rußland diesen Thron umgestoßen und den Herzog aus dem Lande vertrieben. Der enterbte Potentat tröstete sich mit den Millionen, die er wohlweislich vorher aus russischem Machtbereich gebracht und in schlesischen und nordböhmischen Gütern angelegt hatte; ihm gehörte unter anderem die Herrschaft Sagan, einst Wallensteins Besitz, und der König von Preußen verlieh ihm als Pflaster auf seine Wunden den alten Titel eines „Herzogs von Sagan“. Noch fünf Jahre führte der bejahrte Herr ein von künstlerischen und anderen Genüssen angenehm ausgefülltes Leben, dann starb er 1800 und hinterließ sein großes Vermögen seiner Gemahlin Dorothea und seinen vier Töchtern.
Die Herzogin Dorothea war bei dem Tode ihres Gemahls, dessen dritte Frau sie gewesen war, noch nicht vierzig Jahre an. Dem angesehenen Geschlechte der Reichsgrafen von Medem entsprossen, hatte sie dem Herzog Peter mit neunzehn Jahren die Hand gereicht. Jetzt war die sprudelnde Heiterkeit ihrer Jugend einer gütigen Freundlichkeit gewichen; mit der Würde einer vornehmen und an Huldigungen gewöhnten Dame des „ancien régime“ verband sie große Liebenswürdigkeit und Herzensmilde. Noch immer besaß sie Temperament und weiblichen Reiz genug, die Männer für sich persönlich einzunehmen; ein vollkommener Wuchs und eine anmuthige Fülle zeichneten sie aus, und daß sie vom Schminken und Haarefärben nicht lassen wollte, konnte ihr unter Kindern ihrer Zeit nicht schaden, da sie damit doch nur der Mode des Tages folgte. Ihr verständiger Rath galt auch bei politisch gewiegten Männern; ihre treue Anhänglichkeit in der Freundschaft, ihre gastliche Bereitschaft, den ererbten Reichthum auch von anderen mitgenießen zu lassen, sammelten und erhielten ihr einen großen Kreis von Verehrern und Verehrerinnen, wo immer sie ihre Residenz aufschlug.
Denn nicht das ganze Jahr war sie in Löbichau. Bald weilte sie auf Schloß Sagan in Schlesien oder auf ihren böhmischen Gütern, dann wieder in Karlsbad, wo sie ein Haus besaß, oder – zumal während der Winterszeit – in Berlin oder Paris. Merkwürdig! Sie schwärmte für die Königin Luise und doch gleichzeitig für den Kaiser Napoleon! Sie sah anfänglich in diesem ein großes Werkzeug der Vorsehung, und als sie erst Josephine, dann den bewunderten Cäsar selbst persönlich kennenlernte, war sie überglücklich. Sie hätte ihn heirathen mögen, äußerte sie.
Löbichau war Sommersitz. Dort hielt sie sich in der schönen Jahreszeit kürzere oder längere Zeit auf, und ihre anmuthigste Gesellschaft bildeten stets ihre Töchter. Allerdings waren drei derselben bald nach dem Tode des Vaters vermählt worden, nach kurzer Frist aber an den mütterlichen Hof zurückgekehrt. Die älteste, Wilhelmine, durch Erbschaft Herzogin von Sagan, hatte einen Prinzen von Rohan geheirathet, sich jedoch bald wieder von ihm scheiden lassen, um mit dem russischen Fürsten Trubetzkoi eine zweite Ehe einzugehen und auch diese nach kurzer Zeit wieder zu lösen. Eine derartige leichte Auffassung der ehelichen Bande war damals leider etwas Alltägliches in den Kreisen der vornehmen Welt, und wenn man je aus Anstandsrücksichten oder um äußerer Vortheile willen eine förmliche Trennung unterließ, so gaben sich doch die Gatten beiderseitig volle Freiheit der Person zurück. So war es bei den beiden anderen verheiratheten Töchtern der Herzogin geschehen. Die eine, Pauline, im Gegensatz zu ihrer Mutter eine Gegnerin des Korsen, grollte ihrem Gemahl, dem regierenden Fürsten von Hohenzollern-Hechingen, weil er sich mit einer ihr widerlichen Aufdringlichkeit um die Gunst des Franzosenkaisers bewarb und im Jahre 1806 gegen sein eigenes Geschlecht die Waffen trug; die andere, Johanna, faßte gegen den ihr angetrauten Herzog Acerenza aus dem Hause Belmonte-Pignatelli aus anderen Gründen Mißachtung – kurz, beide Frauen lebten in völliger Ungebundenheit ihren Neigungen.
Alle drei aber waren jung und reizend genug, alten und jungen Männern die Herzen und die Köpfe zu verwirren, und sie liebten es, Schmachtende zu ihren Füßen zu sehen. Vor allem galt dies von Johanna von Acerenza. Sie war eine zarte Erscheinung, mit einem holden, von reichen blonden Locken umflossenen Gesichtchen, die feine Nase stark gebogen über einem lieblichen kleinen Mund, so daß sie aussah „wie ein Papagei, der eine Kirsche ißt“. Gentz, der verhätschelte Liebling der Damen, kam 1806 mit ihr in Prag zusammen und verliebte sich derart in sie, daß er an seinen Freund Adam Müller schrieb: „Die Reize dieser Frau machten mich ganz vergessen, daß es jenseit der Höhen um Prag eine Sonne und Sterne gebe.“
In dem ehemännerlosen Frauenkreise von Löbichau wuchs auch die vierte Tochter, Dorothea, auf und entwickelte sich zu einer nicht minder berückenden Schönheit. Ein Zeitgenosse schildert das damals dreizehnjährige Mädchen, dessen dunkle unergründliche Augen besonders wundersam wirkten. Stirn und Nase waren von vollendetem griechischen Ebenmaß, die Lippen von klassischem Schnitt, das Oval des Gesichts hatte die feinste Zeichnung; das schwarze seidenweiche Haar trug sie einfach gescheitelt und hinten in einen Knoten geschürzt. Und bald fand sich denn auch für sie ein vornehmer Bewerber.
Im Jahre 1808, nach dem Kongreß von Erfurt, erhielt die kurländische Familie in ihrem Sommeridyll Löbichau plötzlich einen überraschenden Besuch. Es war der Kaiser Alexander I. von Rußland in eigener Person mit glänzendem Gefolge. Die Herzogin schwelgte in der Ehre dieses hohen Besuchs, der für sie um so bedeutsamer war, als Alexanders Großmutter Katharina erst vor 13 Jahren den Kurländer seines Thrones entsetzt hatte. Bald sollte sie denn auch erfahren, daß der Zar nicht ohne politische Absichten nach Löbichau gekommen war, wenn sie auch nach einer anderen Seite zielten, als Dorothea vielleicht vermuthet hatte. In Erfurt hatte nämlich der einflußreiche Minister Napoleons, der geriebene Staatsmann Talleyrand, den russischen Kaiser um den Freundschaftsdienst gebeten, für den Grafen von Perigord, Talleyrands Neffen, sich bei der Herzogin Dorothea um die Hand ihrer jüngsten Tochter zu verwenden. Der Kaiser von Rußland als Freiwerber, die Aussicht auf eine nahe Verbindung mit dem allmächtigen französischen Hofe – die Herzogin hätte kein Kind ihrer Zeit sein müssen, wenn sie einer solchen Lockung widerständen hätte. Rasch wurde denn auch die Sache in Ordnung gebracht und die nunmehr fünfzehnjährige Dorothea dem französischen Grafen versprochen. Im Januar 1809 traf derselbe mit seinem Vater in Löbichau ein und schon im April wurde die Trauung zu Frankfurt a. M. durch den Fürstprimas von Dalberg vollzogen. Die Mutter begleitete dann die Neuvermählte nach Paris, um sie mit eigener Hand in die große Welt einzuführen, die ihr bis dahin denn doch noch fremd geblieben war.
Eine merkwürdige Genossin des in reichem Wechsel sich immer neu ergänzenden Gesellschaftskreises der Kurländerinnen war die ältere Schwester der Herzogin Dorothea, Elisa von der Recke. Auch sie war in jungen Jahren in Kurland unglücklich vermählt worden und hatte von ihrem Manne nichts als den Namen behalten. Zumeist lebte sie in Dresden und führte da ein bescheidenes, doch streng vornehm geordnetes Hauswesen. Ihre mystischen Neigungen, denen sie als junges Weib gehuldigt und mit denen einst der berühmte Cagliostro sein Spiel getrieben, hatte sie durch ihre Klugheit mehr und mehr überwunden und auf das Aufsehen, welches sie durch eine 1787 herausgegebene Schrift „Der entlarvte Cagliostro“ erregt hätte, that sie sich nicht wenig zu gute. Einer herrschenden Geistesrichtung ihrer Zeit folgend, versenkte sie sich in eine fromme Romantik, gab Reisebeschreibungen heraus und dichtete geistliche Lieder. Ihr Auftreten trug stets den Stempel [573] majestätischer Würde, immer sprach sie mit Pathos, immer fühlte sie sich aus der Prosa des Lebens entrückt in höhere reinere Sphären – die „hohe Elisa“ nannte man sie unter den Freunden.
Da sie keine eigenen Kinder hatte, so hielt sie es für ihre Christenpflicht, Pflegetöchter anzunehmen, und sie entsprach damit überdem einer vornehmen Mode ihrer Zeit, Kinder aus guten Familien, die vielleicht verarmt waren, zu sich zu nehmen, zu erziehen und später möglichst gut zu verheirathen. Nicht weniger als sechzehn solcher Pflegetöchter soll Frau von der Recke auf diese Weise nach und nach an den Mann gebracht haben. Fromme Theologen, ernste Philosophen, sittsame Dichter erfreuten sich ihres Umgangs und ihrer Huld. Unter den letzteren war es der brave Tiedge, der schließlich ihr besonders bevorzugter „Seraph“ wurde. Immer war er in ihrem Gefolge, in ihrem Hause zu finden, aber nie hätte man sich ein erdenmenschliches Liebesverhältniß denken dürfen zwischen ihr, der Hehren, Erhabenen, und dem stillen bescheidenen Dichter der „Urania“ und der vielgesungenen sentimentalen Liedchen „An Alexis send’ ich dich“ und „Schöne Minka, ich muß scheiden“. Alt und grau wurde die „hohe Elisa“, alt und grau ihr Minnesänger, der zeitlebens neben ihr hinging mit der Leier am blauen Bande und ihre zarten Saiten für seine Herrin ertönen ließ. So sah man diese beiden auch monatelang in Löbichau als Genossen der kurländischen Kolonie, so schwebten sie selbander dem Greisenalter zu, bis er 1833 an ihrer Bahre seine Trauergesänge anstimmen mußte. Acht Jahre lebte er dann noch allein von seinem verblassenden Dichterruhm und von der Jahresrente, die sie ihm ausgesetzt hatte.
Mit einem ganz eigenartigen Geschick verstand es die Herzogin Dorothea, geistig hervorragende Menschen an sich zu ziehen und so ihre Tafelrunde zu einer Art schöngeistigen Artushofes zu gestalten. Schriftsteller, Gelehrte, Künstler wurden von ihrem Zauber gefesselt, ja selbst die damals noch nicht für gesellschaftsfähig geltenden Schauspieler waren bei ihr zu Gast. An ihrem Theetisch plauderte sie mit Iffland, unter ihrem Dache schlief gar manche Nacht der junge Feuerkopf Theodor Körner, ihr Pathenkind, mit dessen Familie in Dresden sie schon lange Bekanntschaft geschlossen hatte. Theodor Körner war überhaupt ihr Liebling; sein erblühender Ruhm als dramatischer Dichter entzückte sie, seine sprudelnde Unterhaltung, seine gewandten Stegreifgedichte, die Vorträge seiner dramatischen Erstlinge hatten ihr manchen Tag in Löbichau verschönt. Als der Befreiungskrieg ausgebrochen und Körner als freiwilliger Lützowscher Jäger auf einem der ersten Streifzüge im Juni 1813 schwer verwundet worden war, ließ sie ihn zur Pflege in ihr Haus nach Karlsbad schaffen; er erholte sich dort überraschend schnell, um sogleich von neuem für die Befreiung des Vaterlandes ins Feld zu ziehen – diesmal dem Tode entgegen.
Mit Dorotheas Segen war er gegangen. Denn seit dem russischen Feldzuge haßte sie in dem einst bewunderten Eroberer einen Feind der Menschheit. „Tausend und tausend unschuldig Unglückliche sehe ich untergehen in dem allgemeinen Verderben, welches von dem Willen eines Einzigen, eines Sterblichen ausgeht, der die Erde mit Blut färbt. Ich begreife die Heldennatur nicht. Ein Mann, dem die Macht verliehen ward, der Segen der Menschheit zu sein, wie kann er nach dem Fluche greifen, um ihn von einem Ende der Welt zum andern zu tragen?“ So schrieb sie in ihr Tagebuch.
In jenem schwülen Sommer 1813 hielt sich die Herzogin Dorothea auf ihrem Schlosse Ratiborschitz in Böhmen auf. Als Preußen und Rußland während des Waffenstillstands mit Oesterreich unterhandelten, um es zum Anschluß an die Verbündeten zu bewegen, da setzte die Herzogin alle Hebel ein, Metternich für das Bündniß zu gewinnen; ihre Briefe an ihn glühten von Begeisterung für die Befreiung der Völker von Napoleons Tyrannei. Ratiborschitz wurde eines der Hauptquartiere der Verhandlungen, Kaiser Alexander, preußische, russische, österreichische Bevollmächtigte fanden sich ein, Kuriere und Ordonnanzen flogen ab und zu. Gentz, der Vertraute und Sekretär Metternichs, schrieb am 23. Juni 1813 an Rahel Varnhagen: „Die vier größten Souveräne Europas mit ihren Kabinetten, Ministern, Höfen und sechs- bis achtmalhunderttausend Mann Truppen sind hier auf einem kleinen Strich Landes konzentriert, und in diesem Augenblick versinken Paris, Wien, Berlin, Petersburg gegen Gitschin, Reichenbach, Ratiborschitz, Opotschna in nichts. Jetzt eben hat der Kaiser Alexander mit uns in Ratiborschitz bei der Herzogin gespeist; hier haben die ganze vorige Woche bald Metternich, bald Stadion, bald der Staatskanzler Hardenberg bald mehrere zusammen gehaust. Hier sind große Dinge getrieben worden. Humboldt ist mit Hardenberg hierhergekommen, hat sich ebenfalls hier fixiert und bleibt, bis das Weitere zur Reife kommt.“
Und „das Weitere“ kam zur Reife. Der große Krieg brach aus, Oesterreich stand an der Seite der Alliierten. Und als das Napoleonische Kaiserreich zusammengebrochen war, als die Völker aufathmeten nach dem ungeheuren Druck, der zwei Jahrzehnte lang auf ihnen gelastet, da versammelte sich zu Wien jener Kongreß von Fürsten und Staatsmännern, um über die neue Ordnung Europas zu berathen, aber auch, um in einem Strudel von Lustbarkeiten sich auszutoben. Feste reihten sich an Feste bei Kaisern, Königen, Fürsten und hohen Diplomaten. Die wahren Königinnen dieser Feste aber waren die vier kurländischen Prinzessinnen, während die Herzogin Mutter in Paris sich aufhielt, um dort am neuen Hofe der Bourbonen ihre weibliche Diplomatie zu entfalten.
Als nach der Rückkehr Napoleons von Elba Kongreß und Festgesellschaften in Wien jählings ein Ende nahmen, wartete die ganze kurländische Familie – auch die Mutter war aus Paris herbeigeeilt – in Karlsbad den Verlauf der Dinge ab. Ein Jahr später stattete Dorothea mit ihrer Schwester Elisa der preußischen Königsfamilie in Berlin einen Besuch ab, und wie vom Hofe, so wurde sie auch von der Bevölkerung als eine der gefeiertsten Frauen ihrer Zeit mit großer Auszeichnung empfangen.
Dann wieder sammelte sich der Artushof auf Schloß Sagan, wo die reizendsten Feste, häufig mit Aufführungen von Opern und Schauspielen verbunden, gegeben wurden. Auf dem prächtigen Theater, das hier schon der kunstliebende Herzog Peter hatte einrichten lassen, spielte wie einst zur Rokokozeit auf den französischen Edelsitzen die Familie des Hauses selber mit in der Komödie. Die Fürstin Pauline von Hohenzollern sang mit ihrer schönen Altstimme und bewies sich auch als Schauspielerin ersten Rangs. Wie sie die Maria Stuart so ergreifend spielte, daß die Zuhörer tief erschüttert in Thränen schwammen, so konnte sie wieder in Operetten durch ihre Drolligkeit alles in Entzücken versetzen.
Löbichau aber blieb, was es seit zwanzig Jahren schon für die Kurländerinnen gewesen war, die anmuthsvolle Sommeridylle. [574] Alle Jahre traten da neue interessante Gäste in den geistreichen, dem Weltlärm entrückten Kreis. Man sah dort den jungen, aber schon in geistlicher Würde sich fühlenden Berliner Prediger Marheineke ernste Gespräche mit der Herzogin Dorothea und ihrer Tochter Wilhelmine führen, daneben einer schönen Französin seine feurigen Huldigungen erweisen, des Abends an der Tafel des Hauses mit seinem angenehmen Organ den heiteren Erzähler, bei den ländlichen Vergnügungen den regen Theilnehmer spielen. Der Staatsrath Körner, der Vater des Dichters, kam mit seiner Frau und mit Tante Dorchen Stock, der talentvollen und hübschen Malerin, welche es Goethe nicht vergessen konnte, daß er einst ihrem Vater gerathen, seine Töchter nur gute Köchinnen und nichts weiter werden zu lassen. Sodann der Präsident Feuerbach, der berühmte Kriminalist, der in Liebe für die Fürstin Pauline erglüht war. Auch der Landesvater stellte sich ein, der Herzog August von Gotha, dem Altenburg damals noch zugehörte, ein seltsames Original, dessen barocke Einfälle und Witze sein thüringisches Volk höchlich belustigten. Zu Hause ging er geschminkt und in Weiberkleidern, in Karlsbad erschien er in einem Schlafrock aus weißem Atlas am Brunnen und setzte die Damen durch seine Schnurren und Glossen in Verlegenheit. „Was machen Sie da für ein hübsches Nierenstück?“ sagte er zu einem Fräulein, das einen Torso nachzeichnete. Den Namen seines Kammerherrn „Seebach“ faßte er gern in die Charade: „Mein Erstes ist naß, mein Zweites ist naß und mein Ganzes ist trocken.“
Ein großer Tag für Löbichau war es, als Jean Paul dort einzog. Im Mai 1819 erschien er und mit ihm sein vielgeliebter Pudel. Der Dichter war damals ein Fünfziger, ein großer starker Mann mit einem gerötheten Gesicht und einer Brille auf der Nase. Er wurde von den Damen wie ein Gott empfangen und in sein Zimmer geführt, das mit Blumen überfällt war. Alle Tage, alle Abende wollte man von seinem olympischen Geist eine Portion haben, und er gab sie gern, schrieb des Nachts Aphorismen, um sie morgens den Fürstinnen vorzulesen. Abends beim Thee, den er nicht mochte, weshalb man ihm allein Geraer Doppelbier kredenzte, trug er der Gesellschaft Dichtungen von sich vor, mit einer gewissen Schwerfälligkeit des Ausdrucks und oft von jener geheimnißvollen Dunkelheit der Gedanken, welche auf die Frauen einen so unwiderstehlichen Reiz ausübt. Aus den Aufzeichnungen von Personen jenes Kreises erfährt man auch, daß er beim Lesen Erklärungen von Ausdrücken in der naivsten Art einzuflechten liebte, z. B.: „Ein goldbeschwingter Engel – das ist ein Engel mit goldenen Flügeln“, oder: „Die rosige Morgendämmerungsstunde – das ist die Zeit des Tagesanbruchs“. Marheineke und Feuerbach geriethen manchmal darüber in stille Verzweiflung.
Die Morgenvorlesungen fanden meist im Freien statt, ein halbes Stündchen von Schloß Löbichau vor dem reizenden Waldhause Tannenfeld. Dort saß der Dichter auf dem Vorbau an der offenen Thüre nach der Freitreppe, und die jungen Mädchen hatten die Stufen derselben besetzt. Er rührte immer ihre Herzen, und der Weihrauch, den man ihm freigebig spendete, machte ihn ebenso glücklich wie die feinen Wohlgerüche, welche ihm die Herzogin Wilhelmine in sein Taschentuch sprühte. Bei den ländlichen Spielen des Nachmittags war er der Aufgeräumteste von allen und ließ es sich beim Blindekuhspielen nicht nehmen, seine Gefangenen herzhaft abzuküssen. Tiedge besang ihn, die Fürstinnen ersannen allerlei Auszeichnungen für ihn, Gartenfeste, Komödien und einmal auch ein richtiges Artushoffest. Präsident Feuerbach gab sich mit Hilfe einer schwarzseidenen Schürze das Ansehen eines Ordenskapitelsmeisters, alle Damen trugen weiße duftige Kleider mit röthlichem Bänderschmuck, die Herzogin Dorothea ließ ihr fürstliches Diadem von ihrer schönen Stirne leuchten. So stellten sie sich im Hintergrunde des Schloßsaals auf, den drei Kronleuchter mit Helle und Glanz erfüllten. Unter feierlichen Musikklängen öffneten sich die Thüren, und aus der Tiefe des anstoßenden Zimmers kam der damals in der Gesellschaft gern gesehene Gelegenheitsdichter Schink mit reichem Gefolge hervorgeschritten. Die Musik schwieg. In stilvoller Festrede erklärte man ihm seine Ernennung zum Minnesänger „Frauenlob dem Zweiten“, überreichte ihm das Diplom, und kniend vor der Herrin des Hauses, empfing er aus ihrer Hand den Lorbeerkranz auf seine Stirn. Die ganze Gesellschaft sang dann Tiedges eigens zu diesem Zwecke gedichtetes Festlied mit den etwas damogogisch angehauchten Strophen:
„Der Lorrbeer ziert den edlen Meistersänger,
Geweiht von Frauenhand;
Ein solcher Kranz hält doch ein wenig länger
Als eitler Ehrentand!
Ein Ordensband, wenn’s einen Thoren zieret,
Was ist es mehr als Band?
Es macht ihn doch nicht weis’ und strangulieret
Ihm vollends den Verstand.
Was ist am Thron der Tyrannei zu finden?
Wenn ihr es recht beseht:
Ein goldner Zwang und hochgebor’ne Sünden
Und etwas Majestät.“
Am liebsten wäre Jean Paul anstatt des bescheidenen Schink selbst der gekrönte Frauendichter gewesen, und deshalb entschädigte man ihn durch eine noch schönere Huldigung. Die kleine Insel im Gartenpark ward mit vielen Lichtflammen „gleich feurigen Blumensternen“ erleuchtet, „eine Insel der Seligen mit zauberhaftem Geisterwald“, um mit Tiedges Worten zu reden, und hier wurde der wohlgenährte behäbige Dichter des „Hesperus“ seiner „Vergötterung“ zugeführt. Seine Wonne war groß, denn die Ueberraschung war vollständig gelungen. Kein Wunder, daß auch Jean Paul für Löbichau schwärmte. „Die dort verlebte Zeit,“ sagt er, „mißt mit einer Sanduhr, worinnen der Sand so fein und durchsichtig ist, daß man ihn nicht laufen sieht und hört, und man kommt eher zu jedem andern als zu sich selbst.“
Und nun noch ein letztes Bild aus diesem Kreise! Einmal fehlte es für einen geplanten Chorgesang an einer schönen Männerstimme. Ein vorurtheilsloser Freund des Hauses besann sich nicht lange und holte aus der Redaktion von „Pierers Encyklopädie“ zu Altenburg einen ihm bekannten jungen Schriftgelehrten herbei, der die Lücke ausfüllen sollte. Der Mann machte freilich, als er kam, einen eigenthümlichen Eindruck auf die aristokratische Gesellschaft, denn er trug sich in altdeutscher Burschentracht, turnermäßig, mit umgeklapptem breiten Hemdkragen, ein mächtiger Vollbart umrahmte sein Gesicht; kurz, er war eine jener Gestalten, wie sie seit der kurz zuvor erfolgten Ermordung Kotzebues durch den Jenenser Burschenschafter Sand das Entsetzen der Regierungen bildeten. Und der junge Holsteiner – August von Binzer hieß er – hatte zudem noch eine ganz staatsgefährliche Vergangenheit hinter sich. Er war 1817 mit dreißig Kieler Kommilitonen zum Wartburgfest gezogen gekommen, zu Fuß, nach Turnerweise, mit einer Guitarre an blauem Bande, das ihm seine Herzensdame mitgegeben. Er hatte ferner ein paar der kräftigsten und beliebtesten Burschenlieder gedichtet und sogar die Musik dazu gemacht: jenes feurige „Stoßt an, Jena soll leben“, und das bewegliche Grablied auf die aufgelöste Burschenschaft „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“. Aber die Herzogin von Kurland schlug doch keine drei Kreuze vor ihm, sie erfreute sich an seiner schönen Stimme, sie hörte seine Burschenlieder mit Entzücken, seine freisinnigen Bekenntnisse mit Theilnahme an und gewann ihn bei längerer Bekanntschaft so lieb, daß sie gern eine ihrer Pflegetöchter mit ihm vermählte.
So wurde auch Hochzeit auf Löbichau gefeiert. Ja, die Herzogin Wilhelmine von Sagan gab für ihre Person selber Veranlassung dazu, indem sie sich als eine schon alternde Dame noch in dritter Ehe mit einem Grafen von der Schulenburg vermählte, Bei solchen Gelegenheiten traten immer auch die Bauern der Herrschaft Löbichau auf die Bühne, hielten in weißen Röcken und Hosen ihren Aufzug und überreichten auf Atlasbändern selbstverfertigte Huldigungsgedichte, wie sie die Herzogin Dorothea besonders liebte und wofür sie sich allemal in herzlichen Anreden bedankte.
Als ihre älteste Tochter, die Gräfin von der Schulenburg, mehr auf ihrem Schlosse zu Sagan sich aufhielt, da ward es einsamer auf Löbichau, Auch begann die sechzigjährige Herrin des schönen Besitzes zu kränkeln, und überraschend erfolgte im August 1821 ihr Tod. Wie sie gewünscht, wurde sie in einem Hain bei Löbichau begraben. Die Feste hörten damit auf, das Feenleben versank. Keine Gesänge, keine Tänze, kein Frohsinn mehr, der mit Rosenflügeln über Löbichau schwebte und sein reiches Füllhorn über eine buntschillernde, sorgenlose Gesellschaft ausgoß. Den Herrensitz erbte die Herzogin Johanna von Acerenza, und sie behielt ihn bis in ihr Greisenalter. Aber was er in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gewesen war, das wurde er nicht mehr.
[575]
Schwertlilie.
(Schluß.)
Zu derselben Zeit, da im Kloster der Ursulinerinnen die neue Aebtissin gewählt wurde, trabten zwei Reiter von nordwärts am Hange des Heidenkopfes vorüber, in einem Hohlweg, der sie etwa zwei Büchsenschuß weit von der Herrenmühle auf die nach der Residenz Birkenfeld führende Landstraße brachte. Als sie diese Straße erreicht hatten, hielt der eine sekundenlang sein Roß an, wendete den Kopf links und schien gespannten Blickes die Dämmerung durchdringen zu wollen, die schon über dem Mühleugrund und dem alten Herrenhaus webte. Dann aber rückte er sich wieder im Sattel zurecht, griff in die Zügel und rechts ging es weiter, auf das Stadtthor von Birkenfeld zu.
Er war ein guter Reiter, dieser Reisende, so jung er war, denn selbst jetzt verleugnete sich die kräftige Anmuth seiner Haltung nicht völlig, da er allem Anschein nach todmüde auf einem abgejagten Gaule hing. Sein Genosse, klein und alt, zierte dagegen den Sattel nicht sonderlich: er hockte dem Pferde gar seltsam auf, schien aber weniger ermüdet als der Knabe neben ihm. Jetzt lobte er diesen: „Ihr habt brav ausgehalten, Junker, für ein so junges Blut, wie Ihr seid. Nun noch ein Viertelstündchen, dann sind wir bei dem Herrn von Nievern und da könnt’ Ihr Euch strecken, seit dreimal vierundzwanzig Stunden einmal wieder. Wahrlich, Ihr habt es verdient!“
„Ich schäme mich, daß ich so müde bin,“ meinte darauf Lutz und es lag allerdings wie ein schläfriges Behagen in den Blauaugen, mit denen er jetzt die wohlbekannte Umgebung grüßte. In Wahrheit schlief er schon halb, nach der übermäßigen Anspannung aller Kräfte bis vor kurzem, und fast wie ein im Traume Redender fuhr er fort: „Ihr, Strieger, müßt doch so was von einem Waldkobold sein. Ihr braucht kaum Speise und Trank, keinen Schlaf und keine Ruhe – Ihr seid über die Neunzig, wie Ihr selber sagt – ich glaube, es ist mit Euch nicht ganz richtig –“
„Ist das mein ganzer Dank?“ meinte der Alte. Aber er lachte in sich hinein bei den Worten, die ihm nicht weiter mißbehagten. Daß er kein Geist war, wußte er selber am besten. Weit weniger fehl wäre der gegangen, der ihn an Schärfe der Sinne, an fast unglaublicher Ausdauer der zähen Sehnen und Muskeln mit dem Gethier seiner Wälder, dem Fuchse oder kräftigen Luchs verglichen hätte. Jetzt, in diesem Augenblick witterte er in die neblige Abendluft und ließ die kleinen Funkelaugen scharf umherschweifen. Noch aber sah er nichts, er roch nur. Wer von dieser Seite nach der Stadt kam, gewahrte alsbald linker Hand vom Thore und hart hinter der Stadtmauer das vielgiebelige Haus der Ursulinerinnen. Heute war es schon zu dämmerig, um mehr als die undeutlichen Umrisse seiner Dächermasse zu erkennen. Sowie aber der Strieger diese im Auge hatte, sah er auch noch etwas und stutzte leicht. Das Bild des Klosters stand nicht grau in grau als ein ruhiger Schatten da, sondern schien sich zu bewegen. Das war aber eine Täuschung, erzeugt durch den Streifen schwarzen Qualms, welcher unausgesetzt aus einer seiner Essen quoll und Giebel und Dächer wallend umzog, von der dicken Luft erst niedergehalten, ehe er ins Weite zerfloß.
Da stieß der Strieger dem Pferde die Fersen unsanft in die Weichen und packte zugleich Lutzens Arm. „Seht dort – sieht es nicht aus, als wollte das Dohlennest, das Kloster mein’ ich, in Rauch aufgehen? Vielleicht ist Feuer ausgekommem –“
„Fast sieht es so aus,“ sagte Lutz, nicht ohne Antheil, doch noch ruhig genug. Da krächzte ihm der Alte ins Ohr: „Dort unter dem Dache, aus dem es gualmt, halten sie das Fräulein, die Polyxene – kommt mir nach, wenn Ihr könnt!“ und fort stob sein Pferd, dem er aufsaß wie eine Bremse. Halb toll vor Angst machte er das Thier; es ging mehr mit ihm durch, als daß es ihm gehorchte, aber doch kamen Mann und Roß richtig ins Stadtthor hinein, an dem Thorwart vorbei, der sich bekreuzte, und weiter, unter Reißen und Stoßen und Straucheln des Thieres bis vor das große Thor des Residenzschlosses, durch das eben eine schwere Karosse hereingerollt war. Dem wunderlichen Reiter aber, der nachwollte, legte der Wachtsoldat barsch die Hand an den Zügel. Ungehindert jedoch behielt er den in der Hand und behielt auch das Pferd, das an allen Gliedern bebte. Der Reiter war unter dem Thor durch – die Wache hielt dafür, es sei der Gottseibeiuns gewesen. Wenige Minuten später aber stob der Oberjägermeister wie von Furien gejagt die Treppe aus seinen Gemächern herunter. „Laßt wenden und kommt mir nach!“ rief er dem Herrn zu, der eben ein gelbes langes Gesicht mit pechschwarzem Zwickelbärtchen aus dem Kutschenfenster bog. „Euer Mündel, der Junker Lutz, lebt und ist hier – aber das Fräulein – jetzt steh' uns Gott bei, oder –“
Die letzten Worte verschlang schon der Hufschlag seines Braunen, der an der Stallthür bereit gestanden hatte. Nur Minuten vergingen, bis er das Kloster in Sicht hatte und zugleich noch einen Reiter, der etwa dreißig Schritte von der Pforte gehalten hatte und nun auf ihn zukam. Es war Ludwig von Leyen. Der brave Junge hatte noch einmal seiner Müdigkeit vergessen, da er begriffen, daß sein Bäschen in Gefahr schwebe, und hatte sich besonnen gleich nach dem Kloster gewendet, um derer zu harren, die der Strieger zur Hilfe herbeirufen würde. Sie reichten einander die Hände, aber flüchtig und sorgenvoll; kaum dachte Nievern daran, daß dies das Wiedersehen eines Totgeglaubten war; eine neue Todesangst verzehrte jetzt alles. „Euer Vormund kommt hinter mir; zu dem haltet Euch – zeigt Euch nirgends sonst,“ raunte er dem Junker zu. Seine Augen brannten, die feinen Nasenflügel bebten und mit heiserer Stimme setzte er hinzu: „Zu dem Gange, den ich jetzt thue, brauch’ ich keinen, ich habe, was noth thut“ – wobei er wie nebenher nach dem Griffe der Pistole fuhr, die ihm im Kollett steckte. Dem Knaben war dies alles später wie ein Traum, denn da er nun seiner Polyxene den Freund nahe wußte und doch unthätig harren sollte, übermannte ihn noch im Sattel der Schlaf. In der alten Karosse hatte er sich wiedergefunden, neben dem Oheim; wie er dahin gekommen war, wußte er nicht.
Indessen hatte der Oberjägermeister an der Klosterpforte die Glocke gerissen und die Minuten, welche vergingen, ehe der Schaffner herbeischlürfte, der heute hier Pförtnerdienste versehen mußte, waren die schlimmsten seines Lebens gewesen. „Euer Haus brennt, Mann,“ herrschte er den Alten an, der ihn anstierte und dann auch gleich zu jammern begann, daß er es längst gerochen aber der Gärtner, sein Genoß, habe ihm nicht glauben wollen. „Ich komme aus dem Schlosse der Frau Pfalzgräfin – bald wird die ganze Stadt auf den Beinen sein – hört Ihr, eben läutet der Thürmer Sturm,“ rief ihm Nievern in die Ohren.
Was nun kam, spielte sich rasch und wüst ab wie ein böser Traum. „Feuerjo – Feuerjo!“ durchhallte der unheimliche Ruf die Klostergänge – es war, als ob der gespenstige Feuerreiter hindurch schnaube – die Thüren des Refektoriums sprangen auf, die Nonnen kreischten verstört und in plötzlicher Todesangst durcheinander - keine zweifelte an der Schreckenskunde, hatten sie doch alle den brenzligen Geruch längst wahrgenommen! Der Mann aber, dessen hohe Gestalt, mit dem Schauer des Unirdischen umkleidet, manch einer von ihnen bis an ihr Lebensende im Traume vorkommen sollte, hatte eine unter ihnen gepackt, mit sicherem Griffe; seine Eisenfaust umklammerte, Schleier und Gewand mit zusammenpressend, ihre Kehle, während er hervorstieß: „Du hast Unheil im Sinne gehabt – den Schlüssel zu des Fräuleins Zelle, Weib, oder ich erwürge Dich hier auf der Stelle!“
„Die Schlüssel – hängen dort – laßt mich!“ keuchte sie. Aber er ließ sie nicht; er lockerte seinen Griff, schleifte sie mit an die Wand, auf die sie gedeutet hatte, raffte alles von Schlüsseln was dort hing, zusammen und dann ging es hinaus und hinauf – wie vom Geier ein Huhn wurde die Schwester davon gerissen von diesem Fürchterlichen – sie mußte mit, Treppen hinauf und Gänge hinunter, bis an jene Thür, welche die Nonne ihm einst erschlossen hatte. Fast von Sinnen, durchschüttelt und durchrüttelt wie vom Sturme des jüngsten Gerichtes, kostete sie durch, was sie für ihre letzten Augenblicke hielt. Gelogen hat sie diesmal nicht – die Riegel weichen, die Schlösser fliegen auf – ein erstickender Qualm dringt den beiden entgegen. Stöhnend wie ein todwunder Hirsch stürzt Nievern hinein; er ruft – keine Antwort; blind tappt er vorwärts nach dem Fenster zu, von welchem jetzt, da der Rauch durch die offene Thür Abzug findet, ein matter Schimmer des
[576] Abendhimmels hereinfällt. Wie er ahnte – dürstend, schmachtend nach Luft hat das unselige süße Geschöpf hierher sich mit versagender Kraft noch geschleppt; sie lehnt halb kniend halb liegend unter dem Fenster mit der Stirn an der Mauer!
Daß sie nicht tot ist, nur todmatt und betäubt, weiß er; sie muß leben; rasch tödlich ist dieser Holzqualm nicht. Aber wie furchtbar, wie versengend fällt auch auf ihn die glühende Hitze des Raumes, nur während der Sekunden, die er braucht, um die kostbare Last in die Arme zu nehmen – ach, mit welchem unennbaren Erbarmen, mit welcher Zärtlichkeit! – und sie hinaus zu tragen.
Als er draußen an der Nonne vorüberkommt, die verstört neben der Thür am Boden kauert, zuckt sein Fuß; er möchte sie zertreten wie ein Gewürm. Oder ein Griff nur und er hat sie hineingestoßen in die höllische Gluth, der Riegel fliegt hinter ihr zu und sie mag da kosten, was sie einer anderen bereitet hat! Aber der Ekel hält ihn ab, sie auch nur zu berühren. Und während er Polyxene so trägt und an sich preßt daß er den matten, ganz matten Schlag ihres Herzens an dem seinigen fühlt, hat er da Zeit, kostbare Sekunden zu vergeuden, um sie auf eine Rache zu verwenden?
Im Sprechzimmer, wohin Herr von Nievern Polyxene trug, traf er mit dem Pater Gollermann zusammen. Daß dem Nonnenhause Feuersgefahr drohte, hatte diesen hochwürdigen Herrn aufs lebhafteste berühren müssen. Er war herbeigeeilt, zugleich mit ihm durfte aber auch die Beruhigung in die geängsteten Gemüther der Schwestern wieder einziehen: der Ruß im Schornstein der Räucherkammer hatte Feuer gefangen, dieses war jedoch alsbald in sich selber wieder erstickt worden. Dergleichen konnte in jedem Hause vorkommen, immerhin aber würde sich der Schaffner zu verantworten haben, obwohl oder gerade weil der greise Mann sich in die spärlichen Haare fuhr und unter Anrufung aller Heiligen betheuerte, daß er nichts versehen habe.
Mit unbewegter Miene, die auf wenig Nachsicht und Glauben schließen ließ, hatte ihn der Pater Gollermann angehört, nachdem er die verwirrten und wortreichen Berichte der Nonnen vernommen. Da trat der Oberjägermeister ins Gemach, die noch immer leblose Gestalt des Fräuleins von Leyen in den Armen, und nun konnte der geistliche Herr eine gewisse Bestürzung nicht verbergen. Ehe diese sich aber in werkthätigen Antheil an der Wiederbelebung der Schwerbetäubten umzusetzen vermochte, hatte ihn Nievern mit einer einzigen, jedoch eigenthümlich nachdrücklichen und sprechenden Bewegung von ihr abgewehrt. „Frisches Wasser und Luft hier im Gemach!“ bedeutete er über die Achsel ein Vierteldutzend neugierig und entsetzt herandrängender Nonnen, gegen welche er ebenso mit den Armen einen gleichsam bannende Kreis beschrieb, damit sie seiner blassen Lilie nicht zu nahe kämen. Dann aber trat er dicht an den würdigen Pater heran und sagte ihm, Auge in Auge mit ihm stehend, ein paar halblaute Worte.
Da verfärbte sich des hochwürdigen Herrn Angesicht in gerechtem Zorn: er erhob seine Stimme und ließ sich zu den Nonnen, denen noch nie ein Tag einen solchen Wechsel von ungewöhnlichen und mehr oder weniger angenehm grausenden Erregungen gebracht hatte, also vernehmen: „Ehe die unterbrochene Wahl einer Aebtissin zu Ende geführt wird, ist die bisherige Subpriorin, die Schwester Veritas, in ihre Zelle einzuschließen und dort ohne jeglichen Verkehr mit den Schwestern zu halten, bis ich im Einverständniß mit der neuen Frau Aebtissin Weiteres über sie verfüge. Sie hat sich einer groben Nachlässigkeit, wenn nicht gar böswilligen Ungehorsams schuldig gemacht, daraus schweres Unheil – ich meine die Leibes- und Lebensgefahr dieses Fräuleins – und damit dem Kloster kränkender Verdacht, gerechter Vorwurf und eine währende Schädigung seines Ansehens hätte erwachsen können.“ Und wie erklärend fügte er hinzu: „Das Fräulein von Leyen hätte nach meiner Anordnung, ehe die Schwester sich zur Wahl begab, ihrer Klausur entlassen werden sollen, dann wäre sie durch den unglücklichen Zufall dieses Brandes nicht so gefährdet worden, wie wir es nun mit Kummer wahrnehmen müssen. Von dem Amte der Subpriorin ist Schwester Veritas für jetzt suspendiert.“
„Euer Kummer mäßige sich, hochwürdiger Herr; laßt mir aber durch eine der werthen Schwesterschaft zukommen, was ich brauche – eine stärkende Essenz und Wasser – und hernach würde ich einem jeden danken, wenn er fortbliebe,“ sagte der Oberjägermeister darauf. Und er hatte die geistlichen Hausgenossen zu rühmen, daß sie ihm eilig willfahrten. Er hatte Polyxene in einen Sessel gelegt, das Fensterlein daneben geöffnet und war allein mit ihr, als nun unter dem Kusse der frischen Abendluft, nach der sie, ach wie jammervoll und wie lange, vergebens geschmachtet hatte, ein leises Regen über das rührende stumme Antlitz ging. Er küßte sie nicht, jetzt nicht, er hatte keine Zeit dazu. Mit verhaltenem Athem wartete er, während er sorgsam die belebenden Mittel anwendete; mit den Lippen wenigstens küßte er sie nicht, wohl aber mit den Augen, die sogar jetzt den süßen Reiz dieses Gesichtes entzückt mittranken, sobald nur die pressende Angst um sie ihn losgelassen hatte.
Jetzt endlich, endlich zuckten die blassen Lider, und dann hatte sie die Augen geöffnet, die ruhig, ganz ruhig in den seinen hangen blieben, ohne Verwundern, aber auch ohne Erinnerung – wie im Fortgenießen eines beglückenden Traumes.
Wie lange sie so Blick in Blick und Seele in Seele tauchten, das wußten sie beide nicht. Das Leben sollte diesen beiden vereint noch manche gute Stunde bringen; eine jede aber und ihr Glück gehörten der Erde an – diese stummen Augenblicke blieben unvergleichbar mit ihnen – sie waren ein Hereinragen des Himmels in den Raum irdischer Bedürftigkeit, ohne Zusammenhang mit dem Vor- und Nachher.
Sobald jedoch Polyxene voll zur Wirklichkeit erwachte und merkte, wo sie war, erschrak sie, ja sie blickte mit Entsetzen umher. „Bin ich noch hier?“ sagte sie leise wie in tiefer Muthlosigkeit und rührender Klage. Das war genug für ihn. Ohne ein Wort hob er sie auf und trug sie aus dem Gemach, zum Thore und ins Freie hinaus. Noch war die Verwirrung im Hause so groß, daß ihn niemand seines Vorhabens wegen auch nur befragte. Und so lag das Kloster der Ursulinerinnen hinter Polyxene wie ein böser Traum, und für immer.
Draußen gewahrte der Oberjägermeister, den die Liebe nicht hinderte, sich scharf umzublicken, in geringer Entfernung im Abendnebel den wohlbekannten Umriß der Kutsche von der Herrenmühle. Da fiel es ihm aufs Herz, daß der Freudenschreck über das, was ihrer jetzt wartete, Polyxene leicht gefährlich werden könnte. Er trat vor sie hin, ihr so jenen Anblick verdeckend, nahm ihre Hände fest in die seinen und sagte: „Das Gute pflegt so wenig allein zu kommen wie das Böse. Ihr seid Euerer Heimath wiedergegeben, Süße, und mir, dem Ihr das Licht der Augen seid – was wäre nun der höchste Wunsch Eueres Herzens? Denn vielleicht –“
„Ach, daß Lutz lebte,“ unterbrach sie ihn da, „daß Lutz lebte und froh wäre wie sonst und bei uns! Ach, Lutz – Lutz –“
Sie schrie auf – sie flog von ihm fort auf den zu, der sich ihr vom Wagen her entgegenwarf, und dann mußte der Herr von Nievern zusehen – und nicht ohne eine Regung leisen Neides auf den junge Schlingel that er das – wie die beiden Verwandten einander in den Armen lagen, wie das Fräulein am Halse des Knaben schluchzte vor Lust und wie sie ihn küßte, küßte – den Teufel auch, so leer dabei zu stehen! Aber er wußte doch nun, wie zärtlich sie küssen konnte, und diese Erfahrung sollte nicht an ihm verloren sein!
Uebrigens kam der wackere Junge jetzt auf ihn zu und sagte: „Mich dünkt, ich danke Euch zuerst meine Freiheit, Herr von Nievern. Ihr waret es, der den Strieger nach mir schickte und mir die Hilfe des Herrn von Wildenfels gewann. Das vergesse ich Euch nicht, so lange ich lebe.“
Da sah Polyxene ihren Verlobten nur an, aber dieser Blick schenkte ihm erst, was dieses kindliche und zugleich stolze, dieses zärtliche und doch scheue Herz nicht so leicht wie andere zu schenken vermochte: das hingebende Vertrauen eines ganzen Lebens. – –
Am folgenden Abend schien der niedere Speisesaal in der Herrenmühle mit seinem lastenden Gebälk und den dunklen Täfelungen und Wappen nicht düster wie sonst wohl. Denn von Fünfen, die um die Tafel saßen, umstrahlte drei wenigstens der Glanz der Jugend, und ein Schimmer seligen Glückes ging von ihnen aus. Angst und Jammer, die hinter ihnen lagen, trübten wie eine ferne dahinsinkende Wolkenwand den heiteren Himmel für jetzt nicht, wenn auch die dunkle Wand noch lange mahnend an ihrem Horizonte stehen sollte.
Der Herr von Gouda, der in gemessener Weise sich ebenfalls der Feier dieses Wiedersehens und Wiederbesitzens hingab und der
[577][578] bewies, daß er durchaus kein schlechter Gesellschafter sei, war übrigens nicht der Aelteste der Anwesenden. Das war vielmehr der kleine hagere Greis im vertragenen Lederwams unten am Tische, nicht eben festlich aussehend, aber doch heute hier als keine unwichtige Person geachtet und werth gehalten von allen übrigen. Bis in die Neunzig hinein hat der Strieger gelangen müssen, ehe er seine beste Mahlzeit, nicht nur unter richtigem Dach und Fach wie Christenmenschen sonst, sondern sogar am Herrentisch hielt. Der Braten mundete ihm und der Wein noch besser. Daß sie ihn alle ehrten, benahm ihm keineswegs den Appetit noch konnte man sagen, daß der Niedriggeborene hier unter den Herren eine schlechte Figur spiele. Vielmehr schien er ganz an seinem Platze, wie denn das Tüchtige jederzeit und überall an seinem Platze zu sein pflegt. Und nun gar dieser, vom Waldhauch geheimnißvoll umwittert, er, den seine kernige Kraft von jeher aussonderte und feite, der in zäher Unverwüstlichkeit die menschliche Lebensgrenze längst keck überschritten hat, fast ein Wunder anzuschauen, und – dem die hier Vereinigten einen großen Theil ihres Glückes danken und dessen kein Hehl haben! Sich halten und hegen läßt er aber nicht, nicht einmal für eine Nacht. Er taucht ins Dunkel zurück, vor dem es den anderen fast graust, zurück in seinen Wald, den er noch lange zu hüten gedenkt, er, bei seinen Lebzeiten schon zum Märchen geworden.
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Das Abschiedsgesuch ihres Oberjägermeisters hat die Pfalzgräfin nicht bewilligt. Er erhielt dasselbe vielmehr zurück mit einer huldvollen eigenhändigen Randbemerkung von ihr, des Inhalts, daß sie auch nach seiner Vermählung mit dem Fräulein von Leyen, dem sie in Gnaden gewogen sei, noch lange seiner Dienste zu genießen hoffe.
Wie die Pfalzgräfin die allererste Kunde des Verlustes ihrer Vertrauten, der trefflichen Méninville, aufnahm, hat man nie recht erfahren. Wohl aber blieb es dem Hofe nicht verborgen, daß Frau von Méninville abgereist sei auf Nimmerwiederkehr, ohne Urlaub von ihrer Gebieterin und ohne Abschied zu nehmen. Daß alle Wohlgesinnten aufathmeten nach ihrer Entfernung, das ist leicht abzusehen. Die gute Obersthofmeisterin von Kallenfels fühlte sich wie verjüngt in jener Zeit. Daß sie aber ganz ebenso langweilig sei als zuvor und in dieser Hinsicht keinen Vergleich ertrage mit der stets so unterhaltsamen Méninville, ist leider ihrer fürstlichen Gebieterin unverrückte Herzensmeinung geblieben, Wie denn die hohe Frau ganz im stillen der Witwe des seligen Herrn François nachseufzte und sich sogar auf dem Wunsche ertappte, es möchte das sträfliche Vorleben dieser Unwürdigen, die ihr doch so gut wie niemand sonst die Weile zu kürzen verstanden hatte, gar niemals ans Licht gelangt sein.
Sie behielt sogar einen leisen Groll gegen den hochwürdigen
Pater Gollermann bei, als gegen diejenige Person, die ihr unter
allen Anzeichen heiliger Entrüstung die Entdeckungen mittheilte,
so der Orden jetzt erst in Bezug auf gewisse Lebens- und
Todesumstände des weiland Sieur François de Méninville gemacht
habe. Da er nun die Entfernung der bisherigen Vertrauten –
das Zertreten der Schlange, welche er, er selber, unwissentlich an
den Busen der hohen Frau gelegt habe! – willig und völlig auf
seine Rechnung nahm, so gestattete dafür die Pfalzgräfin sich einige
üble Laune auch gerade gegen ihn, und der würdige Beichtiger
der kleinen Hoheit sollte davon manches Pröbchen einzustecken
haben. Doch nicht für lange, da er schon wenige Wochen nach
den erzählten Vorgängen durch seine Obern von dem Posten am
Birkenfelder Hof abberufen wurde. Daß der Orden jeden
Anspruch auf den Junker Ludwig willig aufgab, war ihm nicht
allzu hoch anzurechnen und eine schwache Gegenleistung für die kluge
Enthaltsamkeit, mit der dessen Familie jedes allzu eifrige Forschen
nach den Umständen von Lutzens Unfall und was diesem gefolgt
war, unterließ.
Namentlich so lange der Pater noch in der Residenz verweilte, erhielten weder Hof und Stadt im allgemeinen noch die Pfalzgräfin im besonderen eine völlige Aufklärung über den Verbleib des Junkers Lutz von Leyen während jener Wochen, da man ihn tot geglaubt hatte. Denn der Mann, welcher außer dem Knaben selber und seinem wunderlichen Weggenossen auf dem Ritte von St. Menehould die beste Auskunft hätte geben können, der Oberjägermeister von Nievern, der schwieg – infolge einer kurzen und bündigen Unterredung mit dem Pater, als deren Ergebniß zugleich das einige Zeit nachher erfolgende Verschwinden des trefflichen Beichtigers selber anzusehen sein mochte.
Lutz von Leyen war, so erzählte man sich, damals wirklich durch eigene Schuld im heimische Mühlgraben verunglückt, für tot von gerade vorüberfahrenden Reisenden geistlichen Standes herausgezogen und erst unter ihrer sorgfältigen Pflege, behufs deren sie ihn mitgenommen hatten, langsam wieder genesen. Weshalb während dessen keine Nachricht über sein Verbleiben an die Seinigen gelangt war, das erklärten die einen so, die andern wieder anders, da es jedem überlassen blieb, sich seinen eigenen Vers darauf zu machen.
Erst als Frau Sabine Eleonore sich nach einem neuen Beichtvater umzuthun begann, für die Stelle desjenigen, der ihr Gewissen so sänftiglich in Hut gehalten hatte, da hatte der Oberjägermeister eine lange Audienz bei seiner Gebieterin, während der sie Dinge erfuhr, worüber man, wie sie selber schwur, hätte rücklings vom Stuhle fallen können. An diesem Tag athmete sie zum ersten Male wirklich auf, daß sie ihrer lieben Méninville ledig war. „Denn,“ folgerte die fürstliche Dame mit dem Scharfsinn, an welchem es ihr keineswegs gebrach, „wenn diese Schändliche dergestalt alles Trugs und aller Ränke voll war und unser vertrauendes Herz so arglistig zu bethören vermochte, so wäre am Ende unser Leben selber in solchem Verkehr mit ihr, wie wir ihn pflegten, nicht mehr sicher gewesen! Gesetzt insonderheit den Fall, sie hätte sich gar eingebildet, es stehe ihr unsere Person im Wege bei Euch, auf den ihr sündliches Gelüste geworfen zu haben sie nun überführt ist!“ Eine verfängliche Voraussetzung, auf welche Herr von Nievern nur mit einer wortlosen Gebärde respektvoller Abwehr erwiderte, einer Abwehr, die aber doch auch wieder nicht zu heftig sein dürfe, wenn sie die Pfalzgräfin nicht beleidigen sollte. Er mußte das richtige Maß getroffen haben, da die Gebieterin bei bester Laune blieb.
Um eben diese Zeit wurde dem Dekan Zindler von St. Aloysien sein Ansuchen um Enthebung von diesem Amte gewährt mit einer befremdlichen Randbemerkung auf dem betreffenden Schriftstück, die wohl auf die eigensten Worte der Landesherrin zurückzuführen war, da die Ausfertigenden selber sie nicht verstanden. Es wurde dem Pfarrer da von wegen einer in seiner Amtswohnung in christlicher Verborgenheit geübte Krankenpflege ein Lob ertheilt, das aber kaum ernstlich zu nehmen war, da im übrigen die Entlassung des gestrengen Herrn aus pfalzgräflich Birkenfeldischen Diensten einem höchst ungnädigen Abschied völlig ähnlich sah.
Von Erbauungsstunden war am Hofe der Pfalzgräfin nach Entfernung jener eifrigen Seelen, des Pater Gollermann und der Frau von Méninville, keine Rede mehr. Doch ist Frau Sabine Eleonore zeitlebens eine gute Katholikin geblieben, und es gehen diejenigen zu weit, welche ein Hinneigen zur Lutherischen Neuerung der zweiten Periode ihrer Regierung haben zuschreiben wollen. Wahr mochte dagegen sein, daß von dieser Zeit an auch andere Glaubensrichtungen sich größerer Duldung in Stadt und Land Birkenfeld zu erfreuen hatten. Denn unter den Vätern der Gesellschaft Jesu wählte die Pfalzgräfliche Hoheit sich ihren Beichtvater nicht wieder. – –
Heute aber ist die Frau Pfalzgräfin nicht sowohl Landes- als vielmehr Herrin eines stattlichen Hofes und nebenbei etwas von einer Brautmutter. Polyxene von Leyen hält Hochzeit mit dem Oberjägermeister von Nievern. Die volle Gunst der fürstlichen Dame hat sich dem tadellosen Kavalier, der Zierde ihres Hofes, wieder zugewandt und fließt heute über auch auf die, welche er erkoren hat, was von echt fürstlicher Gesinnung zeugt. Doch nicht die Pfalzgräfin allein ist bestrebt, das Fest zu einem besonders herrlichen und frohen zu machen; ihr ganzer Hofstaat und der sämtliche Birkenfeldische Adel wetteifern mit ihr und miteinander, wer dem Paare, besonders aber der Braut, mehr Liebes und Schönes erzeigen kann, und es ist, als hätten sie sich das Wort gegeben, an Gewändern und Schmuck, Karossen und Livreen alle Pracht zu entfalten, deren ein jedes nur irgend fähig ist – das alles zu größerer Ehre derjenigen, die so unverdient und so bitter hat leiden müssen.
Und so rauscht denn dieser Tag vorüber, von der stattlichen Kirchfahrt an mit ihrer fast endlosen Reihe von Galawagen und geschmückten Rossen bis zu der Brautcour im Spiegelgemach und dem reichen Bankett im schimmernden Prunksaal des Schlosses, [579] zu welchem die Fürstin selber eingeladen hat. Das gute Fräulein von Motz ist die erste unter den Jungfern welche den Bräutigam führen, und nie in ihrem Leben vorher und nie nachher ist sie so prächtig herausstaffiert gewesen wie an diesem Tage. Und ihre selbstlose Wonne ist so groß und steht ihr so gut, daß sogar das scharfe Zünglein der Frau von Bieberen kein schlimmeres Wort findet als das Bedauern, daß man die Cordula Motz nicht heute und hier auch gleich unter die Haube bringen könne, denn so hübsch werde sie schwerlich je wieder aussehen. Drommeten, Pauken und Zinken ertönen von der mit Purpursammet verhangenen Estrade des Saales herab; die Tafel glänzt und biegt sich fast unter der Last der Speisen und kostbaren Gerathe. Die Pfalzgräfin, mit dem Fürstenkrönlein von Edelgestein im hochgethürmten Lockenbau, sieht kaum minder prächtig aus denn eine römische Kaiserin und lst so wenig beweglich fast wie der Pfau, dessen Regenbogenrad und Gefieder gerade vor ihr die Pastete in der silbernen Schüssel ziert, letztere das Hauptstück der Schau- und Festgeräthe. Der Wein funkelt in kostbaren Kelchen, der Dunst der Hunderte von Kerzen durchzieht wallend das Gemach wie ein zartgrauer Schleier, in welchem all der Glanz wie in einem Wonnetraum verdämmernd schwimmt. Und der fürstlichen Frau gegenüber das Paar schöner edelgearteter Menschengesichter – sie neigen sich zueinander, unbemeckt in dem festlichen Tosen. Auf den zarten Wangen des Mädchens liegt bräutliche Gluth, gemildert zum Rosenschimmer; des Mannes stolzer Blick ist geschmolzen in Liebe und Sehnsucht.
„Seid Ihr jetzt froh, Süße?“ fragt er sie leise – zum wievielten Male! – in müßigem Spiele mit seinem Glück. „Und ist es Euch wirklich recht, daß Ihr mein, ganz mein werdet?“
Da sieht sie ihn an wie die Wahrheit selber und sagt in einfacher Weise: „Ich habe viel gelitten, Ihr wißt es – Angst und Kummer um Lutz, und im Kloster Schlimmeres, als ich dachte, daß man erfahren könnte. Aber all dies Leid soll mir lieb sein, da es Euch und mich zusammengebracht hat.“
Der Falkenblick des Herrn Viktor umflort sich sekundenlang, als er diese Worte hört, und in seinem Herzen thut er einen Schwur, dies Weib zu hegen, werther als seinen Augapfel, so lange Athem in ihm ist. Und er hat den Schwur gehalten.
Blätter und Blüthen.
Zum Kapitel der Volksvergnügungen. Viele Dinge beleuchten sich am besten durch ihren Gegensatz. So wird manchem Deutschen, der bisher an dem massenhaften Sonntagstrunk seiner Landsleute keinen Anstoß nahm allerhand einfallen, wenn er in Italien reist und mit aufmerksamem Auge das Sonntagsvergnügen dort betrachtet. Tausende von Spaziergängern, festlich angethan, füllen die öffentlichen Anlagen, sitzen beschaulich am See- und Flußgestade oder plaudern, zu Gruppen vereinigt. Kaffeehäuser und Weinschenken sind nur mäßig gefüllt, der größte Theil des Volkes sucht seine Erholung einfach im Spaziergang, oder auch, besonders in kleinen Städtchen, in einem öffentlichen Spiel auf dem Marktplatz, zu welchem die ganze Bevölkerung herbeiströmt. Da treten z. B. zwei junge hübsche Leute, phantastisch herausgeputzt mit bunten Kappen und Bändern, als Wettkämpfer mit dem Schlagball auf. Jeder sucht den anderen zu überbieten, die Bälle wirbeln hoch über die Dächer hinaus, und der Fangende muß weite Sätze machen; jeder glückliche oder mißlungene Schlag wird mit lauten Zurufen der Zuschauermenge begleitet. Dann tritt ein neues Paar an oder man vertauscht das Spiel mit einem anderen bis der Nachmittag fröhlich herumgebracht ist.
Die größeren Städte aber bieten dem Volke ein auch bei uns vorhandenes, jedoch nicht entsprechend benutztes Erholungs- und Bildungsmittel von höchstem Werth: die öffentlichen Kunstsammlungen. Man muß es gesehen haben, mit welchem Anstand und welcher Andacht hier Sonntags von elf bis ein Uhr dichte Gruppen von Arbeitern mit Frauen und Kindern, von Matrosen und gemeinen Soldaten die Säle durchwandern und lange vor den einzelnen Bildern in Betrachtung stehen. Gilt es, geschichtlich bedeutsame Räume, wie z. B. den Dogenpalast in Venedig, zu bewundern, so ersteht alsbald in jedem Saal ein Erklärer, der sein Wissen mit lebhaftem Gebärdenspiel einer sich immer vergrößernden, aufmerksam lauschenden Zuhörerschaft vorträgt. Wahrlich, dieses einfache Sonntagspublikum unterscheidet sich sehr zu seinem Vortheil von der an bezahlten Tagen die Räume füllenden großen gleichgültigen Menge der Bädeker- und Murrayreisenden!
Vielleicht ist es eben der nur an Sonntagen freie Eintritt, der so
anziehend wirkt. Man schätzt nicht so, was man jederzeit umsonst haben kann.
Da nun gewiß nicht zu wünschen ist, daß Deutschland von dem schönen
Grundsatz des unbedingt freien Eintritts in seine Museen abgehe, so handelt
es sich nur um das Erwecken der Kunstfreude in weiteren Volkskreisen. Wie
leicht könnten die Vorstände von Knaben- und Lehrlingshorten ihre junge
Schar am Sonntagvormittag in die Galerien geleiten und in den empfänglichen
Herzen der Heranwachsenden jenes Bedürfniß nach edlerer Erholung
erwecken, das dann, durch eigenes Zeichnen und durch Betrachten von
illustrierten Werken verstärkt, am besten den grobmateriellen Genüssen
entgegenarbeitet. Wir würden uns sehr freuen, bald einmal von
derartigen Anfängen zu hören! – n.
Das Kaiser Wilhelm-Denkmal für Heilbronn. (Zu dem Bilde S. 577.) Das Denkmal, das wir unsern Lesern vor Augen führen und das am Sedantage dieses Jahres in der württembergischen Stadt Heilbronn enthüllt werden soll, ist eines der vielen, zu denen der patriotische Schmerz über den Hingang Kaiser Wilhelms I. Anlaß gegeben hat und in denen die unverlöschliche Dankbarkeit des deutschen Volkes gegen den ersten ruhmreichen Träger der neugeschaffenen deutschen Kaiserkrone einen Ausdruck sucht. Eine besondere Eigenart hebt gerade dieses Denkmal aus der Menge der übrigen heraus. Während nämlich sonst fast ausschließlich die Figur oder die Büste des Kaisers zum Mittelpunkt und beherrschenden Haupttheil gewählt wurde, ließen sich die Schöpfer des Heilbronner Denkmals von dem Gedanken leiten, neben der Person des Kaisers sein vornehmstes Werk, nämlich die Gründung des Reiches und die Vereinigung der nord- und süddeutschen Stämme nach glorreichen Siegen, zur Darstellung zu bringen. Diesem Gedanken entsprechend entstand als Hauptgruppe die Figur der Germania, über deren Schoß sich die durch Kindergestalten versinnbildlichten deutschen Stämme, Nord und Süd, die Hand reichen.
Unmittelbar hinter dieser Gruppe erhebt sich ein obeliskartiger Aufbau, der an hervorragender Stelle auf einem reich mit Lorbeer und Eichenlaub umkränzten Schild das Kaiserbildniß in Hochrelief trägt und von einer die Kaiserkrone haltenden Siegesgöttin gekrönt ist. Die Wappen am Sockel dieser Siegesgöttin tragen die Zeichen der vier deutschen Königreiche, die Nebenseiten des Denkmals schmücken Bronzeplatten mit den für die Gründung des Reiches wichtigsten Daten. Die Rückseite enthält die Widmung an Kaiser Wilhelm I. Auf dem Sockel der Germania stehen die Worte:
„Nord und Süd steh’n Hand in Hand,
Heil dir, einig Vaterland!“
Das Denkmal ist entworfen von den Stuttgarter Architekten Eisenlohr und Weigle und dem Münchener Bildhauer Professor Rümann, welchen der Schriftsteller Ludwig Pfau mit künstlerischem Rath zur Seite stand. Es wird in Zukunft eine der hervorragendsten Zierden der schönen Neckarstadt bilden und in seinem Theile dazu beitragen, das Andenken an den ehrwürdigen Kaiser Wilhelm I. und die Begeisterung für das große Einigungswerk lebendig zu erhalten.
Universal-Lexikon der Kochkunst. Ein Kochbuch von wissenschaftlicher Anordnung, also eine systematische Zusammenfassung aller Sorten von Gerichten, die sich aus den einzelnen Arten von Fleisch, Gemüse, Früchten etc. bereiten lassen, ist sicherlich geeignet, der Kochkunst zu dem Range zu verhelfen, den ihr die denkenden Feinschmecker aller Zeiten zugewiesen sehen möchten. Verbürgt ja doch die genaue Kenntniß des „Warum?“ allein die tadellose Küchenleistung, und diese ist in jeder, auch der bescheidensten Haushaltung herzustellen. Freilich nur durch Sachkenntniß, genaue Ausführung und besonnene Sparsamkeit, die bekanntlich von gewandten Köchinnen viel besser geübt wird als von den „bürgerlich kochenden“ Dienstmädchen. Alle guten neueren Kochbücher suchen in dieser Richtung zu wirken, wir wüßten aber keines, das dem obengenannten bereits in 4. Auflage erschienenen Werke (Leipzig, J. J. Weber) an Fülle, Uebersichtlichkeit und gründlicher Belehrung an die Seite gesetzt werden könnte. Es stellt eine Privatkochschule vor, auf welcher sich die bisher einfach Kochende zur feinen Köchin selbst ausbilden kann. Wichtige, allgemeine Regeln dienen als Einleitung, hierauf folgt in mehr als 10000 völlig zuverlässigen Rezepten nicht nur das Ganze unserer heimischen Küche, sondern auch ein guter Theil der ausländischen. Türkische Dolmas und englische Pies, ungarische Hammelgerichte, indische Curry, amerikanische Crakers und russischer Chworost wechseln mit vielen anderen in bunter Reihe ab. Dazwischen stehen allerhand hübsche Mittheilungen über berühmte Feinschmecker und Köche, geschichtlich bekannte Speisen u. dergl. Auch ein ausführlicher Küchenzettel für alle Tage des Jahres überhebt die Hausfrau der gefürchteten Frage: „Was soll ich morgen kochen?“ Alles in allem genommen, dürften die zwei stattlichen Bände nicht nur ein werthvoller Hausschatz und oft gesuchter Rathgeber für die angehende Hausfrau werden, sondern auch eine ergiebige Fundgrube für die ältere und erfahrene. Selbst Goethes bekannter Ausspruch über die Tochter des Hauses:
„Wünscht sie dann endlich zu lesen, so wählt sie gewißlich ein Kochbuch –“
welcher angesichts der damaligen Küchenlitteratur auch bescheidene Seelen empört haben wird, er verliert diesem „Universal-Lexikon“ gegenüber entschieden von seinem Stachel.
Mögen recht viele unserer Töchter sich seinem Studium widmen – einen großen Gewinn davon können wir ihnen sicher versprechen! Bn.
[580] Stillvergnügt. (Mit Abbildung.) An das hübsche Bildchen, welches uns in der anspruchslosen Gestalt des holländischen Mädchens ein so liebenswürdiges Stück Wirklichkeit schildert, knüpft sich eine kleine Geschichte, die wir den Maler selbst erzählen lassen. „Während ich,“ berichtet er, „in Zandvoort bei Haarlem einen alten Schiffer, der mir seines Kopfes wegen gefiel, in Oel abkonterfeite, sammelte sich viel neugieriges junges Volk um mich herum. Die holländische Jugend hat viel Natursinn, was mir wiederholt aufgefallen ist; man braucht nur einige Striche flüchtig hingeworfen zu haben, so wird sofort laut philosophiert: ‚Aha, das soll unser Dorf, das soll das Meer, das soll der alte Peter sein!‘ und es wird ein kritischer Vergleich zwischen Kunst und Natur angestellt. Ebenso ist die holländische Jugend gleich erbötig, dem Maler Modell zu sitzen, sich „scheldern“ (schildern, malen) zu lassen; man hat es leicht, sich aus einer Reihe fröhlicher Gesichter das passendste zu wählen. Das ‚Zandvoortje meisje‘, ‚das Mädchen aus Zandvoort‘, war auf die Frage, ob sie auch ‚gescheldert‘ sein möchte, sofort bereit.
Am anderen Morgen war sie pünktlich an einer bestimmten Stelle in den Dünen, wo das Dorf im Hintergrund einen willkommenen Abschluß für das Bild geben mußte. So, wie sie sich dort selbst hingestellt hat mit dem großen braunen Strumpf in der Hand, der für den Vater bestimmt war, ist sie von mir gemalt worden. Die Kleine war eine ganz besondere Plaudertasche, auf jede Frage wußte sie lebhaft ihre Antwort zu geben. Hübsch war es, als ich ihr zum Lohn einige Geldstücke in die Hand legte und sie, verstohlen darauf niedersehend, überrascht ausrief: ‚O, soviel Geld!‘ Sie brachte es ihrer Mutter und bat mich nachher, ob ich dieser das Bild nicht auch zeigen möchte. Natürlich ging ich bereitwillig mit dem kleinen Original und seiner Kopie zu der Fischersfrau, welche sich nicht genug verwundern konnte über das Porträt ihres Töchterleins. Ein Bild an der Wand machte mich stutzig: ein Ostade! Leider war es nur eine gute Kopie[.]
Die Kleine zeigte sich von da an während meines ganzen Aufenthalts in Zandvoort außerordentlich anhänglich und aufmerksam, und als ich endlich Abschied nahm, da bedauerte sie lebhaft, daß ich nun fort müsse, und gar so weit – bis München. ‚Ist das noch weiter als Haarlem?‘ hat sie gefragt! – Es war ein echtes Kind der Natur.“
Das heißeste Bad der Welt. Während die Sommerfrischen eine Erfindung der Neuzeit, eine Folge der Ansammlung von Menschen in Großstädten sind, müssen wir die Bäder unter die ältesten hygieinischen und medizinischen Einrichtungen der Völker rechnen. Kein Wunder! Mineral- oder heiße Quellen fordern ja den Menschen förmlich heraus, die Wirkung ihres eigenartigen Wassers auf den Körper zu versuchen! So finden wir in allen Erdtheilen und bei allen, selbst bei den „wildesten“ Völkern an heißen und warmen Quellen Bäder, die zu Heilzwecken errichtet sind. Selbst in dem dunkelsten Afrika, an Orten wie Kibiro oder Mtagata, kann der Entdeckungsreisende mit Staunen eine Art mehr oder weniger fashionablen Badelebens beobachten, bei welchem auch eine ohrenzerreißende afrikanische Bademusik nicht fehlt.
Kein Volk der Erde aber badet so heiß wie die Japaner. Auf dem letzten Kongreß für Innere Medizin hat Professor Bälz, der nahe an 20 Jahre als Professor der Medizin an der Universität Tokio gewirkt hat, merkwürdige Aufschlüsse über diese Art des Badens gegeben, aus welchen hervorgeht, daß man dort gewöhnlich 40° bis 45° C. heiß badet und daß den daran gewöhnten Japanern diese Prozedur nicht schadet.
Japan, ein an Erdbeben und Vulkanen reiches Land, besitzt auch viele heiße Quellen. Zu den berühmtesten zählt diejenige von Kusatsu, die hoch im Gebirge entspringt und um die das größte japanische Schwefelbad entstanden ist. Die heißeste dieser Quellen liefert Wasser von 70° C. Hitze und darüber, und sie gilt weit und breit als die heilkräftigste. Aus dieser Quelle werden nach Angaben von Bälz Bäder von +54° C. bereitet, in denen man nur 5 Minuten verweilt und die sich gegen den sonst unheilbaren Aussatz heilkräftig erweisen sollen.
Ottfried Nippold, der jahrelang in Japan gelebt hat, giebt in seinen soeben erschienenen „Wanderungen durch Japan“ (Fr. Maukes Verlag, Jena 1893) eine anschauliche Schilderung der Qual, die man in dem heißen Badebassin von Kusatsu zu erdulden hat. Die Badenden nähern sich dem Rande des Beckens, kauern dort nieder und beginnen, sich den Kopf mit heißem Wasser zu begießen. Einige der Badenden wickeln etwas Linnen um besonders empfindliche Stellen des Körpers, um die Haut wenigstens einigermaßen zu schützen. Jetzt naht der Augenblick, wo in das heiße Element gestiegen werden soll. Vielen fehlt der Muth dazu. Es sind im ganzen vielleicht 50 Personen versammelt, von denen die meisten die Sache sicherlich schon mehrmals mitgemacht haben. Trotzdem fällt ihnen der Entschluß jedesmal schwer. Um ihnen denselben zu erleichtern, geschieht das Baden, das Hinein- und Heraussteigen nach dem Kommando eines Bademeisters. Jetzt giebt derselbe das Zeichen zum Einsteigen. Die armen Opfer beantworten dasselbe im Chorus und machen sich an das saure Geschäft. Sie gehen dabei äußerst langsam und behutsam vor, um das heiße Wasser ja nicht mehr als durchaus nöthig, zu bewegen, da es sonst noch mehr brennt. Zoll für Zoll verschwinden die Körper. Endlich sind sie bis an den Hals im Wasser, auch einige Nachzügler sind bis dahin angelangt. Regungslos bleiben sie alle kauern, kaum daß einer mit den Augen zwinkert. Um die Zeit etwas zu vertreiben, verkündet der Bademeister jedesmal, wenn eine Minute vorbei ist. Trotzdem scheint es den Badenden eine Ewigkeit zu dauern. Im Chor wiederholt jedesmal die ganze Schar die Worte des Bademeisters, der übrigens auch mit im Wasser sitzt, augenscheinlich, um zu beweisen, daß dasselbe nichts schadet. „Noch zwei Minuten!“ ruft er, und „noch zwei Minuten!“ wiederholt der ganze Chor. „Noch eine Minute!“ ertönt es von beiden Seiten und diesmal schon bedeutend freudiger. Und jetzt erfolgt das Zeichen, daß die Zeit um ist. Mit einer Hast, die nach der vorherigen Langsamkeit doppelt auffallen muß, entflieht die ganze Gesellschaft der heißen Flüssigkeit. Alle athmen freudig auf, daß die Sache wieder einmal überstanden ist; bis zum folgenden Tage haben sie jetzt wieder Ruhe.
Das Wasser von Kusatsu ist schwefel- und arsenhaltig; seine Wirkung ist äußerst energisch und es greift die Haut an. Bei den Badenden, die länger zur Kur weilen, bilden sich am ganzen Körper Geschwüre, die noch lange an die ausgestandenen Qualen erinnern und eine Nachkur im vollsten Sinne des Wortes erheischen. *
Vom Wermuth. Der gemeine Wermuth (Artemisia Absinthium) enthält in seinen Blättern und Blüthen einen Bitterstoff und ein ätherisches Oel, die schon seit alten Zeiten durch ihre heilkräftigen Eigenschaften bekannt sind. In der Medizin werden ein Extrakt und eine Tinktur derselben als magenstärkendes und wurmwidriges Mittel verwerthet, und auch die Likörfabrikanten haben sich der Pflanze frühzeitig bemächtigt. Was aber in mäßigen Gaben und in bestimmten Fällen heilkräftig wirkt, erweist sich, im Uebermaß und am unrechten Orte genossen, oft als Gift. So verhält es sich auch mit dem Wermuth. Die Franzosen bereiten aus dem Wermuth ihren berüchtigten Absinthschnaps, der den Körper noch rascher als der reine Branntwein zerrüttet. Diese schädlichen Folgen des Absinthtrinkens hat man ursprünglich und mit Recht dem Wermuth zugeschrieben. Wohl sahen sich in neuerer Zeit einige Aerzte veranlaßt, dieselben auf andere Gewürze wie Anis, Koriander u. s. w., die gleichfalls zur Bereitung des Absinthschnapses benutzt werden, abzuwälzen, aber die neuen Versuche, welche der französische Arzt Laborde im Auftrag der Akademie der Medizin anstellte, ergaben, daß in der That das Wermuthbitter als der schädliche Stoff zu betrachten sei, indem es epileptische Zufälle und Schwächung des Rückenmarks und des Gehirns verursacht. Schon 20 Centigramm der Absinthessenz riefen bei einem 12 Kilogramm schweren Hunde Vergiftungserscheinungen hervor, und es war dem Versuchenden leicht, mit geringen Gaben bei Kaninchen epileptische Anfälle zu erregen. – Wenn auch die Unsitte des Absinthtrinkens in Deutschland glücklicherweise nicht bekannt ist, so breitet sich dennoch in den Städten der Genuß der Wermuthweine nach südlichem Vorbilde aus. Es dürfte somit in unserem sowieso mit Nervenleiden behafteten Zeitalter am Platze sein, die Wermuthtrinker auf die Gefahren eines häufigen und übermäßigen Genusses dieser „magenstärkenden“ Getränke aufmerksam zu machen. *
Inhalt: „Um meinetwillen!“ Novelle von Marie Bernhard (1. Fortsetzung). S. 565. – „Wasser! Wasser!“ Bild. S. 565. – Rückkehr der Mekka-Karawane. Bild. S. 568 und 569. – Wüstenpilger. Von Martin Hartmann. S. 571. (Zu den Bildern S. 565, 568 und 569.) – Der Artushof der Kurländerinnen. Von Ernst Hellmuth. S. 571. Mit Bildern S. 572 und 573. – Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (Schluß). S. 575. – Das Kaiser Wilhelm-Denkmal für Heilbronn. Bild. S. 577. – Blätter und Blüthen: Zum Kapitel der Volksvergnügungen. S. 579. – Das Kaiser Wilhelm-Denkmal für Heilbronn. S. 579. (Zu dem Bilde S. 577.) – Universal-Lexikon der Kochkunst. S. 579. – Stillvergnügt. Mit Abbildung. S. 580. – Das heißeste Bad der Welt. S. 580. – Vom Wermuth. S. 580.