Die Gartenlaube (1894)/Heft 18
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Nr. 18. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Als Bruder Wampo glücklich den ebenen Waldgrund erreichte,
that er einen brunnentiefen Atemzug und schüttelte den Staub
von sich ab, den sie von der Mauer auf ihn niedergeworfen. „So
ein Teufelsnest!“ schalt er und hob die geballten Fäuste gegen Wazemanns
Haus. „Aber gelt, hingesagt hab' ich's Euch!
Aber schon gehörig! Wartet nur, wenn wir wieder
einmal zusammenkommen, dann sollt Ihr noch
schärfere Wörtlein hören!“ Wieder schüttelte
er die Kutte, und als er, langsam dem
Pfade folgend, zum Ufer gelangte, blickte
ihn der klare See so kühl und
verlockend an, daß der nach
Erfrischung Lechzende
nicht zu widerstehen vermochte.
„Kalt wird’s sein, aber gut!“ Ein Busch, in welchem er
sich zum Bad entkleiden konnte, war bald gefunden.
Als er mit Armen und Schultern aus der Kutte schlüpfte,
machte er sorgenvolle Augen zu seinem eigenen Anblick.
„Fein haben sie mich zugerichtet, das muß ich sagen.
Ausschauen thu’ ich wie ein Ferch: blau und grün schillerig,
mit roten Tupfen!“
Er sprang ins Wasser, vor Kälte prustend und mit den Zähnen schnatternd. Aber wie ein Fisch, der an der Angel zappelt, schlug er um sich und dabei wurde ihm warm, so daß ihm das Bad gar wohl behagte. Nicht weit vom Ufer sah er die stille Insel ... sie lockte ihn. Auf dem Rücken liegend, schwamm er dem Röhricht entgegen, und wenn ihm Wasser in den Mund geriet, blies er die Backen auf und spritzte aus den Lippen ein dünnes Brünnlein in die Höhe. Als er die Insel erreichte und zwischen dem Schilf umherwatete im weichen warmen Schlamm, hörte er auf dem jenseitigen Waldhang die frische helle Stimme eines Burschen klingen.
Fröhlich hallte das Albenlied im Wald, und die jauchzenden Jodelrufe weckten das Echo an der Falkenwand.
Edelrot erschien in der offenen Thür des Fischerhauses; sie lauschte, und eine zarte Röte huschte über ihre schmalen Wangen. „Der Ruedlieb!“ Mit leuchtenden Augen spähte sie gegen den Wald aber noch konnte sie den Heimkehrenden nicht gewahren, sie hörte nur sein klingendes Lied. Und obgleich sie die Worte nicht verstehen konnte, so wußte sie doch, was das Liedlein sagen wollte: „Rötli, hab’ acht ... ich komm’!“
Es zog sie zum Thor, aber sie dachte der Mahnung ihres Bruders. Nach allen Seiten blickte sie, doch die Hofreut war leer – Hilmtrud saß bei Mutter Mahtilt in der Herdstube, und Sigenot war mit den Knechten, mit Eigel und Kaganhart hinter dem Hause, wo sie an den Pfählen zimmerten, mit denen Sigenot den Hag zu höhen und das
[294] Thor zu festigen gedachte. Edelrot wollte den Bruder suchen; schon lief sie am Haus entlang, da hörte sie, wie das Lied des Burschen jählings verstummte mit heiserem Schreckenslaut.
„Was hat er denn?“ stammelte sie, von banger Sorge befallen; ihr Röcklein flatterte, so hastig lief sie über den Hügel hinunter zum Thor; kaum gelang es ihren schwachen Kräften, den schweren Sperrbalken aus der eisernen Oese zu heben. Als sie den Thorflügel aufstieß, hörte sie den Buben schon über die Lände einherspringen mit keuchendem Atem.
Nun stand er vor ihr, und bei seinem Anblick faßte sie ein Schreck, der ihr die Sprache nahm. Er war ohne Hut und Grießbeil, Leichenblässe deckte seine Züge, die Augen starrten in Angst, und kaum trugen ihn noch die zitternden Knie. Edelrot wußte: er war ein mutiger Bub’, der nicht Wolf und Bären fürchtete, nicht Feuer und Wasser – es mußte ihm Entsetzliches widerfahren sein. Sprechen konnte sie nicht, nur die Hände streckte sie ihm entgegen, und da fiel er auf die Knie vor ihr, umschlang sie mit den Armen und drückte das Gesicht in ihren Schoß. Mit zitternden Händen versuchte sie ihn aufzuheben, sie wollte nach Hilfe schreien, aber der Laut erstickte auf ihren Lippen. Seine starren Augen blickten zu ihr auf. „Sag’, Rötli, sag’, ist das wahr, daß einer sterben muß, der den Bid gesehen hat?“
„All’ Ihr guten Mächt’! Ruedlieb!“ lallte sie und klammerte die Arme um seinen Hals. Thränen stürzten über ihre Wangen. Sigenot! Sigenot!“ wollte sie schreien. Aber der Bub’ sprang auf und drückte die Hand auf ihre Lippen. „Thu’ nicht rufen, Rötli! Wer’s ausredet, der macht’s noch ärger!“
Zitternd hielten sie sich umfangen, und als sie langsam hinaufstiegen zum Lugaus, suchte eins das andere zu stützen und zu führen. Nun saßen sie auf der Bank, aneinander gelehnt, mit verschlungenen Händen. Zitternde Sonnenlichter spielten um sie her, und im Laub der Eichen raunte der sachte Wind. In saftigem Grün stand Edelrots Bäumchen; es war an ihm kein Blatt noch welk geworden, während an Sigenots krankendem Jahrbaum alle Blätter müd’ und lechzend hingen wie nach langer Dürre.
Schwer atmend hob Edelrot das Köpfchen und blickte mit angstvollen Augen hinaus über den stillen schimmernden See, in welchem die kleine Insel lag, umgeben vom blaugrünen unbewegten Röhricht. Diese Ruhe berührte ihre bangende Seele wie Trost. „Gelt, nein?“ lispelte sie. „Gelt, Du hast ihn nicht gesehen?“
Scheu blickte Ruedlieb um sich und begann zu flüstern. „Durch den Seewald bin ich hergestiegen und hab’ gesungen in meiner Freud’, weil ich nur Dich wieder sehen soll. Denn weißt, in der letzten Nacht ... oder hat man’s am End’ bei Euch herunten gar nicht gespürt, wie die Erd’ gebidmet hat?“
Sie nickte nur und deckte die Hände vor die Augen; Grauen befiel sie bei der Erinnerung dessen, was sie gehört und erfahren in der verwichenen Nacht.
„Wie es gerumpelt hat und die Steinlahnen sind niedergegangen über alle Wänd’ ... schau’, Rötli, da hab’ ich in meiner Angst nur alleweil an Dich denken müssen und drum ist mir so leicht und freudig ums Herz ’worden, wie nach der schiechen Nacht ein so stiller und schöner Tag aufgestanden ist und der Vater mir hat sagen lassen, daß ich heim darf. Wie ich vom Seewald aus Euer Dach gesehen hab’, da hab’ ich singen müssen und meine Freud’ hinausschreien. Aber wie ich herkomm’ ans Ufer und schau’ zum Bidlieger hinaus ...“ Die Worte stockten ihm.
Lautlos die Lippen rührend, umklammerte Rötli seinen Arm.
„Ich hab’ gemeint vor Schreck, ich müßt’ tot umfallen auf der Stell’!“
„Gesehen hast ihn? Gesehen!“
„Aus dem Schilf ist er aufgestiegen, ein grauslicher Unhold, keinen Hals hat er und keinen Leib, nur einen endsgroßen runden Kopf, schier zehnmal größer als ein richtiger Mannskopf ... und gleich am Kopf hängen die schwarzen Füß’, und wo die Menschenleut’ die Ohren haben, hat er die Arm’, und keine Nas’ hat er im roten Gesicht, und Haar’ hat er auch nicht ... er muß geschuppet sein wie ein Fisch! Rötli, ich hab’ den Bid gesehen! Jetzt muß ich sterben!“
„All’ Ihr guten Mächt’! O all’ Ihr guten Mächt’!“ jammerte das Mädchen und rang die Hände.
Er blickte sie an, während die Zähren über seine Lippen kollerten. „Ich thät’ mich vor dem Sterben nicht fürchten ... aber schau’, ich hab’ Dich lieb!“
„Und ich Dich auch!“
Schluchzend umschlang sie ihn, schmiegte ihre Wange an die seine, und so saßen sie wortlos, und ihre Thränen flossen ineinander.
Als Ruedlieb einmal aufblickte und scheu hinausspähte über den See, faßte ihn neuer Schreck. „Rötli, thu’ nicht aufschauen!“ stammelte er und wollte die Hände über ihre Augen drücken. „Ich seh’ ihn wieder!“
Edelrot sprang auf und riß die Hände des Buben von ihrem Gesicht. „Hast Du ihn sehen müssen, so fürcht’ ich mich auch nimmer und schau’ ihn an!“
„Rötli! Rötli!“ jammerte Ruedlieb und suchte sie vom Lugaus hinwegzureißen. Aber Edelrots Blicke waren schon hinausgeglitten über den Seeweiher. Zwischen der Insel und dem waldigen Ufer unter der Falkenwand trieb eine große, runde, rotschillernde Kugel über die Flut, vergleichbar einem riesigen, halb in das Wasser versunkenen Kürbis ... es war der „Kopf“ des Bid. Weiße Wellen umschwankten ihn, manchmal tauchte etwas auf wie eine rote Floße, und dann spritzte ein Wasserstrahl in die Höhe, der in glitzernde Tropfen zerfiel. Im Röhricht des Ufers verschwand der Unhold. ... Schwer atmend stand das Mädchen und strich mit den zitternden Fingern über das blasse Gesicht.
„Rötli, was hast gethan!“ klagte der Bub in ratlosem Kummer. „Wär ’s nicht an mir genug gewesen? Jetzt hab’ ich Dich auch noch in den Tod gerissen!“
Da faßte Edelrot sein Gesicht mit beiden Händen und flüsterte in selig verlorenem Lächeln. „Ich hab’s ja so wollen! Thu’ Dich trösten, mein Liebgesell .... jetzt sterben wir miteinander!“ Mit verschlungenen Armen sanken sie auf die Bank, im ersten Kusse hingen ihre Lippen aneinander, und ihre Sinne gingen unter im süßen Vergessen junger Liebe.
Still und schimmernd lag der See, auf dem Dache gurrten die Tauben, hinter dem Hause klang der Schlag der Beile, und aus dem Walde herüber tönte wie eine Rätselstimme der Natur das Rauschen der Ache .... Rötli und Ruedlieb hörten nicht.
Hinter dem Hause kam Wicho hervor; er sah das Hagthor offen, schüttelte befremdet den Kopf und ging, das Thor zu schließen. Als er den Sperrbalken eingelegt hatte und wieder emporsteigen wollte über den Hügel, gewahrte er das Pärchen auf dem Lugaus. „Schau’ nur,“ sagte er lächelnd, „da ist heimlich ein Blümel aufgeblüht in aller Not!“ Ein dumpfes Dröhnen, das wie der Widerhall fernen Donners klang, machte ihn lauschen und aufblicken. „Ist denn noch alleweil keine Ruh’? Die ganzen Berg’ sind roglig[1]!“ murmelte er und spähte mit sorgenvollen Augen zur Höhe. Unter den höchsten Felswänden des Jennar sah er, winzig klein in der Ferne, eine Staubwolke aufsteigen. Eine Schuttlawine war niedergegangen, und wie ein tiefer stöhnender Seufzer der Natur lief das Echo über die Berge hin. War es ein verspäteter Nachklang der vergangenen Nacht? War es eine Mahnung an kommende Schrecken? Das Echo rollte .... Rötli und Ruedlieb hörten nicht. Sie merkten auch nicht, daß am Hagthor gerüttelt wurde und eine fremde Stimme rief: „In des lieben Himmels Namen: gebet Einlaß einem frommen Gottesmann!“ Sie blickten erst auf und lösten die Arme, als es lebendig wurde in der Hofreut. Sigenot kam mit den Sennen, mit Eigel und Kaganhart hinter dem Haus hervor und Hilmtrud erschien in der offenen Thür.
Als der Hag geöffnet wurde und Bruder Wampo den Fischer erkannte, breitete er in heller Freude die Arme. „Ich hab’ mir aber gleich gedacht, daß mir das liebe Kreuz da draußen ein guter Weiser sein wird!“ Sigenot mußte sich die mit einiger Schwierigkeit sich vollziehende Umarmung des Bruders und zwei schnalzende Küsse gefallen lassen. Dann setzte sich Wampos Zünglein in Bewegung. Das erste, was er zu berichten hatte, war das traurige Schicksal, welches die Ferchen und Hechte im Lokiteich gefunden.
„Wär’ das die einzige Not, die aus der heutigen Nacht gewachsen,“ meinte Sigenot, „wider die wär’ bald geholfen!“ Er führte den Bruder zum Haus und wollte schon hinter ihm in die Thüre treten, da sah er den Sohn des Richtmanns stehen, Hand in Hand mit Rötli. In Freude und zugleich mit Kummer betrachtete [295] er das Paar, denn er merkte wohl, wie es stand um diese jungen Herzen, und es währte lange, bis er fragen konte: „Ruedlieb, weiß Dein Vater, daß Du in meinem Hag weilest?“ Der Bub’ schüttelte den Köpf; sprechen konnte er nicht. „So muß ich Dich weisen aus meiner Hofreut,“ sagte der Fischer mit gepreßter Stimme. „Ich thu’ es ungern, denn ich hab’ Dich lieb, aber Dein Vater könnt’ mit Sorg’ und Unmut hören, wo Du gewesen bist.“
Rötli und Ruedlieb standen wie versteinert. Sigenot legte den Arm um die Schwester und reichte dem Knaben die Hand. „Ich mein’, das spüret Ihr alle beid’, daß ich Eurem Glück ein Haus bauen möcht’, lieber heut’ als morgen. Aber zwiespältige Zeit ist eingefallen, die dem Glück feind ist wie der Winter den Blumen. Fehd’ liegt über dem Gadem; ich steh’, wo ich stehen muß, und Dein Vater, Bub’, steht auf der anderen Seit’.“ Ruedlieb wollte sprechen, doch Sigenot streifte ihm die Lippen mit der Hand. „Thu’ keine Frag’ – ich hab’ schon geredet bis zu dem Fleckl, auf dem das Schweigen anfangt. Und sei gescheit, Liebli, geh’ heim! Denn schau’: der Bub’ muß stehen, wo der Vater steht. ... von aller Treu’ und Lieb’ die erst’, das muß die Treu’ für Haus und Blut sein!“. Sigenot atmete tief, und mit verlorenem Blick schweiften seine Augen über den See hinweg zur Höhe der Falkenwand. „Geh’ heim, Liebli, es kommt wieder gute Zeit .... Dir, mein’ ich, bleibt sie nicht aus. ... nachher wird wohl der Weg, der Deinem Herzen lieb ist, auch Deinem Vater taugen. Eine weiß ich, die wartet auf Dich! Gelt, Rötli?“ Zärtlich strich er mit der Hand über das Haar der Schwester, welche schluchzend das Gesicht an seiner Brust verbarg.
Unter stammelnden Lauten streckte der Bub’ die Hände; doch als der Fischer den wehrenden Arm zwischen ihn und die Schwester legte, wandte sich Ruedlieb und taumelte über den Hügel hinunter. Am Pfosten des Hagthors mußte er eine Stütze suchen. Und schluchzend schrie er: „Ich komm’ wieder, Rötli! Ich komm’, ich komm’!“
Da riß sich Edelrot aus ihres Bruders Armen, und die bleichen Wangen von Zähren überronnen, rief sie in heißem Schmerz: „Und kommst auch nimmer und nimmer, wir zwei, wir müssen uns finden, so bald der Mond wieder voll wird!“ Sie meinte die Nacht, in welcher Ruedliebs Leben und das ihre dem Bid verfallen war.
Hilmtrud, die auf der Hausbank saß und Ruedlieb scheiden sah, verschlang die Hände im Schoß und murmelte: „Not über Not! Schau’ einer hin, wo er mag ... überall brennt ein Haus, überall schreien die Leut’!“ Da setzte sich Kaganhart an ihre Seite. Scheu und Unruhe sprachen aus seinen Augen. „Was willst?“ fragte Hilmtrud.
„Laß Dir im Guten raten,“ flüsterte er, „und bleib’ dem Schwarzkittel aus der Näh’. Herr Waze ist wider die Klosterleut’. ... und wenn wir bauen wollen müssen wir alleweil wieder hinauf zu ihm und um Schlagrecht für das Bauholz bitten.“
Das Weib sprang auf, wilden Haß in den lodernden Augen. „Mann, das sag’ ich Dir: nicht ehnder wird der erste Baum zu unserem Haus geschlagen eh’ der da droben nicht den letzten Schnaufer thut!“ Sie trat ins Haus.
Der Bauer folgte ihr. „So ein Weib! Ist das ein Weib!“ murmelte er und strich mit der Hand über das Haar. „Ich mein’ schier, sie will mit dem da droben auch noch zanken und raufen!“
Nach einer Weile saßen sie alle in der Herdstube um den gedeckten Tisch; nur Mutter Mahtilt wollte das Mahl nicht teilen, und Rötli blieb bei der Mutter am Herd. Bruder Wampo hatte den Ehrenplatz eingenommen, und er sorgte dafür, daß die Suppe nicht kalt wurde wie auf dem Tisch im Ramsauer Pfarrhaus. Jeden Bissen würzte er mit Schnurren und Späßen, so daß sich manchmal helles Gelächter um den Tisch erhob und zuweilen sogar über Sigenots Lippen ein Lächeln huschte. Es schien, als hätte sich der drohende Schatten, der über den Köpfen dieser Menschen hing, für ein Stündlein in freundliche Helle verwandelt. Am lautesten unter allen lachte Kaganhart, und um gedoppelten Trost zu haben, griff er so mutig in die Schüssel, daß Bruder Wampo, den Entsetzten spielend, die Arme wie zum Schutz vor die anderen streckte und mit dem alten Sprichwort rief: „Habet acht! Ein Bayer frißt ... da werden wir all’ mitgefressen!“
Als das Mahl zu Ende war und die Männer die Herdstube verlassen wollten, stellte sich Bruder Wampo vor die Thüre. „Holla! Jetzt wird noch geblieben ein’ Weil’! Vor dem Mahl haben wir all’ im Hunger das Beten vergessen, das wird aber jetzt fein säuberlich nachgeholt! Wartet nur, Ihr Heidenschüppel, ich will Euch schon Christentum predigen. Draußen vor dem Hag wird der Herr aufgestellt und Euer Haus soll er hüten – gelt, das thät’ Euch schmecken? Aber beten und danken will keiner! Her da zum Tisch und nachgebetet, was ich vorsag’!“
Bruder Wampo faltete die Hände und sprach mit tönender Stimme das Gebet, Zeile um Zeile. Sigenot fiel als der erste ein, und da wurden auch die Stimmen der anderen laut. Nur Mutter Mahtilts stumme Lippen rührten sich nicht; den betenden Mönch mit finsterem Blicke streifend, legte sie ein dürres Kraut ins Feuer, und die verbrennende Staude füllte die Stube mit schwerem Duft. Sigenot gewahrte das Gebaren der Mutter, und seine Stimme wurde leiser. Nach dem Gebet verließen die Männer wortlos die Stube. Bruder Wampo wollte auf der sonnigen Hausbank die Mittagsruhe halten, doch Edelrot faßte ihn beim Kuttenärmel und zog ihn unter die Eichen. „Ich muß Dich ’was fragen, Gottesmann!“
Er sah den Ausdruck tiefen Kummers in ihrem lieblichen Gesicht und ließ sich erschrocken führen, wohin sie wollte. Im Schatten der Bäume hielt Rötli tiefatmend inne und sagte mit bebenden Stimmlein: „Es geht die Red’, Ihr wisset viel, Ihr Gottesleut’.“
„Freilich, Dirnlein, ein guter Gottesmann weiß alles.“
„So sag’ mir ... ist das wahr mit dem Bid?“
Bruder Wampo machte ein verdutztes Gesicht. „Mit wem? Mit was?“
„Mit dem Bid!“
„Bid, Bid? Den kenn’ ich nicht! Wer soll denn das sein?“
Scheu, mit stockenden Worten, erklärte Rötli dem Bruder, wer der Bid wäre, wo er hause und welches Schicksal aus seinem Anblick erwachse. Da schüttelte Wampo lachend den Kopf. „Papperlapapp, Dirnlein, das ist Narretei und schiecher Aberglauben! Einen solchen Kerl giebt’s nicht. Und das wird gleich bewiesen sein! Außer Menschen und Getier und außer den leblosen Dingen der Welt giebt’s nur zwei Sachen noch: das ist der liebe Gott mit seinen Engelein und Heiligen, die im Himmel wohnen, und das ist der Teufel mit seinen schwefligen Heerscharen, die in der Höll’ hausen. So schau’ ... da bleibt ja fürs Wasser nichts übrig als nur die liebe Gottesgab’ der Fisch’ und Krebse. Nein, Dirnlein, einen solchen Kerl giebt’s nicht! Sag’ nur: ich hab’s gesagt!“
„Wenn ihn aber doch einer schon gesehen hat, den Bid?“ kam es zitternd von den Lippen des Mädchens, in dessen Augen schon ein Fünklein von Hoffnung glomm.
„Gesehen? Ja wie soll er denn ausschauen?“
„Grauslich! Einen weltsgroßen roten Kopf hat er, mit glitzrigen Schuppen wie ein Ferch, keine Nas’ und keine Augen im Gesicht ... und wo die Leut’ die Ohren haben, da hat er lange Flossen!“
„Pfui Teufel, der schaut aber gut aus!“ lachte Bruder Wampo, dann aber stockte er und schien sich zu besinnen. „Freilich, freilich ... er weiß gar mancherlei Künst’, der schieche Feind, und diemal schreckt er die Menschen in grauslicher Gestalt! Da können die lieben Heiligen davon erzählen! Aber da muß man sich noch lang nicht fürchten, Dirnlein. Sei nur gut und fromm, so hat er keine Macht über Dich! Und wenn er Dir einmal erscheinen sollt’ ... ich wünsch’ Dir’s nicht ... aber nachher schlag’ nur gleich das Kreuzzeichen, thu’ Dein Stoßgebetlein und wirst sehen: weg ist er! Weg, wie fortgeblasen! Aber ein Geruch bleibt hinter ihm ... Du, da gehört eine gute Nas’ dazu!“
Mit beiden Händen umklammerte Rötli die Hand des Mönches und stammelte mit zuckenden Lippen: „Ach Du guter Gottesmann, schau’, ich thu’ Dich bitten; zeig’ mir’s doch, zeig’ mir’s, wie ich’s machen muß!“
„Wohl wohl, Dirnlein, komm nur und setz’ Dich her zu mir, komm nur!“
Sie saßen auf dem Lugaus in warmer Sonne, umgeben vom leisen Fall der welkenden Blätter. Als Bruder Wampo nach einem Stündlein Abschied nahm vom Fischerhause, geleitet von Wicho, der das schwere Lägel trug, da war aus Edelrot eine gute Christin geworden, freilich eine „gute Christin“ nach der Meinung Bruder Wampos. Sie hatte gezittert in Angst und [296] Not, und da war ihr der Glaube gar leicht geworden, der den lieben Gott im Himmel walten und daneben den Teufel bestehen ließ, bei starker Hilfe wider seine üblen Künste. Ein Stündlein hatte Bruder Wampo reden müssen, um die Angst aus diesem zitternden Kind zu lösen. Vielleicht wäre ihm diese Liebesmühe rascher und leichter gelungen, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, zu erzählen: „Ich habe gebadet im See ...“ Da hätte wohl Rötli hellauf gelacht, und vielleicht hätte sie für kommende Zeiten die Lehre gewonnen, daß es um so manche Furcht des Lebens bestellt ist wie um den Bid des Ruedlieb: blick’ hin mit verwirrten Sinnen, und Schreck und Grauen erfaßt Dich ... blick’ hin mit klarem, sehendem Aug’ und die Posse macht Dich lachen!
Auf beschwerlichem Pfade wanderte Eberwein, von Mätzel geführt, durch dichtverwachsenen schattendunklen Fichtenwald. Sein Gesicht war bleich, seine Augen hingen mit verlorenem Blick an der Erde, und manchmal bewegten sich seine Lippen wie in raunendem Selbstgespräch. Er hörte das dumpfe Rauschen nicht, das ihm durch den Wald entgegenscholl, und blickte erst auf, als er den aus einem mächtigen Baumstamm gebildeten Steg erreichte, welcher die Schlucht der Windach überspannte. Ein eiskalter Luftstrom fuhr ihm entgegen und peitschte sein Gewand. Mätzel hatte den Steg betreten, dem eine morsche Stange als Geländer diente; mitten auf dem Balken blieb sie stehen und deutete in die Tiefe der Schlucht. Eberwein sah, daß ihre Lippen sich bewegten – sie schien ihm etwas sagen zu wollen – doch das Rauschen und Brausen, welches aus der Tiefe quoll, verschlang den Hall ihrer Stimme. Zögernd betrat Eberwein den Balken, welcher zitterte und schwankte wie ein Mühlbrett über den Mahlsteinen. Steil und wirr geklüftet, stürzten vor seinem Blick die Felsen niederwärts, Wasser rann und sickerte über alles Gestein, in mächtigen Fetzen, noch von Wurzeln durchflochten, hing die zerrissene Erde über alle Kanten der Felsen, auf allen Seiten bröckelte und kollerte das Erdreich. Gewaltige Felsblöcke hingen eingekeilt zwischen den Wänden der Schlucht, in deren grauem Zwielicht der weißschäumende Wildbach hauste wie ein gefesselter, in seinen Banden tobender Riese. Aus dem Brausen und Rauschen klang noch das dumpfe Poltern des Gesteins, welches der Bach auf seinem Grund wälzte und zerrieb, und bis zur Höhe des Steges sprühte der kalte Wasserstaub, an Eberweins Antlitz hauchend wie der eisige Atem der Vernichtung.
Wieder deutete Mätzel unter kreischenden Worten in die Tiefe. So laut die Magd auch schrie – Eberwein verstand sie nicht. Und dennoch schien er zu wissen, was sie sagen wollte. Seine Hände griffen nach dem schwankenden Geländer, als befiele ein Grauen seine Sinne, und aus gepreßtem Herzen schrie er auf: „Aus den Schrecken dieser Tiefe, aus diesem Höllenrachen hat ihn Gott gehoben mit barmherziger Hand! Und ich soll ihn stürzen in Jammer, der noch tiefer ist und grauenvoller? Was Eid und Pflicht mir gebieten ... ist es nicht wider Gott?“ Als könnte er den Anblick der finsteren Tiefe nicht länger ertragen, so legte er die eine Hand über die Augen und mit der anderen am Geländer sich weitertastend, verließ er den Steg.
Erschrocken, mit glotzenden Blicken, starrte die Magd ihn an; und kaum vermochte sie ihm zu folgen, so hastig eilte er auf dem steinigen Pfad dahin. In jedem Zug seines Gesichtes spiegelte sich der Kampf, der seine Seele stürmisch erfüllte. Geschah es doch zum erstenmal, daß sein Herz in schreienden Widerspruch geriet mit den Gesetzen der Kirche, deren treuester Sohn er allezeit gewesen. Zwiespalt war jeder Gedanke, den er dachte, Pein und Marter jede Regung, die er empfand. Wie sollte er sich lösen aus diesem Streit? Wie sollte er das Rechte finden? Waren diese beiden Menschen, Mann und Weib, ihm nicht entgegengetreten – zwei Körper und doch eine Seele nur, und diese Seele rein und fromm, gläubig und liebreich, ein Wohlgefallen für Gottes Augen? Wie zwei treue Gärtner des Himmels waren sie Hand in Hand durch ein langes Leben gewandert, und kein Tag war ihnen vergangen, an dem sie nicht den Samen des Guten ausgestreut, nicht ein Flecklein steinigen Grundes gewandelt hatten in fruchtbares Erdreich! Welch’ eine Ehe ward im Himmel geschlossen, wenn nicht diese? Mußte ihm diese Ehe nicht erscheinen wie die lautere Erfüllung aller edelsten Bestimmung menschlichen Lebens, mehr noch: wie reiner Gottesdienst? ... Aber sein Eid! Seine Pflicht! Wie Glut aus der Asche bricht, so tauchte immer wieder, wenn seine Gedanken ruhiger wurden, diese brennende Mahnung in ihm auf. Streng und unerbittlich lautete das Gesetz der Kirche, das er beschworen bei seiner Weihe und zum andernmal bei seinem Auszug nach dem Land, in welchem er walten und richten sollte als Kirchenfürst. Daß jene Ehe rein war, fromm und heilig, daß diese beiden Menschen nach einem fast schon vollendeten Leben nicht mehr zu zählen waren als Mann und Weib, nur noch als Bruder und Schwester im weißen Haar – solche Ausnahme kannte das Gesetz nicht. Streng und ehern klangen seine Worte: jeder beweibte Priester ist verlustig seines Amts und seiner Pfründe; jeder beweibte Priester, der die Sakramente verwaltet, jeder Laie, der aus eines solchen Priesters Hand das Sakrament empfängt, verfällt dem Bann und ewiger Verdammnis!
„Das Gesetz ist wider mein Herz! Wie soll ich wählen? Wer weiset mich?“
Da ging der Wald zu Ende, und vor Eberweins verstörten Blicken lag hügeliges Weideland, eine Halde der Schönau. Von der Höhe eines Hügels tönte eine freundlich klingende Stimme: ein junger Hirte lockte seine Schafe, er griff in die Ledertasche und bot den Tieren, die ihn umdrängten, mit vollen Händen das Mied. Der Hirt verschwand mit seiner kleinen Herde ... für Eberweins Augen aber war der Hügel nicht leer. Vor seinen Blicken stieg es auf wie ein Gesicht: die dunklen Wogen der Wälder erschienen ihm wie ein weitgedehntes Meer, der niedere Hügel verwandelte sich in ragenden Berg, Tausende von Männern, Weibern und Kindern waren auf dem Hang gelagert, und auf der Höhe des Berges sah er den „Mildesten der Menschen“ stehen, im Kreise seiner Jünger, umflossen von einem Schimmer der Verklärung, und weithin klangen mit sanfter glockenweicher Stimme die Worte der Bergpredigt: „Ich sage Euch, wenn Eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Wie Erleuchtung drang die Mahnung dieser Worte in Eberweins Seele; er atmete tief und strich mit der Hand über die Augen. Und lächelnd, erlöst von allem Sturm seines Herzens, blickte er hinaus in das sonnige Thal. Rings um seine Füße standen die Heideblumen noch in später Blüte, und das silberige Laub einer einsamen Birke flüsterte im leisen Wind. Vom Stamm des Baumes löste Eberwein ein Stück der Rinde und ritzte auf das weiße Blatt mit spitzigem Stein die Worte: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“
Er pflückte von den Blumen, wickelte das Birkenblatt um das Sträußlein und band es fest mit langer Schmehle. Mätzel sah zu mit aufgerissenen Augen. Er reichte ihr die Blumen und sagte: „Bringe sie Deiner guten Herrin und sag’ ihr, daß ich mit Sehnsncht der Stunde harre, in der ich wieder weilen darf an ihrem freundlichen Herd. Ich komme, wenn die Woche vergangen ist ... nein, gute Mätzel, sage nur: morgen, schon morgen!“
Die Magd verstand nur halb, eines aber fühlte sie: es war gute Botschaft, welche sie tragen durfte. Röte und Blässe wechselten auf ihrem häßlichen Gesicht, das Wasser schoß ihr in die Augen, mit zuckender Hand, wie ein Falk seine Beute greift, haschte sie das Sträußlein und rannte davon. Eberwein blickte ihr lächelnd nach, bis sie im Wald verschwunden war. Dann wanderte er über die Halden und erreichte auf bewaldetem Hügel einen halb zerfallenen Hag. Er sah das offene Thor – und es wurde nicht geschlossen, als er sich näherte. Erschrocken aber verhielt er den Fuß, da er die traurige Verwüstung gewahrte, welche der morsche Hag umschloß: die Reste der niedergebrannten Scheune, die Trümmer des gestürzten Hauses und den von Unkraut überwucherten Garten. Im spärlichen Schatten eines Apfelbaumes sah er einen schlafenden Greis auf der Erde liegen, das Gesicht in die Arme vergraben; er wollte nähertreten, doch der üble Geruch, der den Hofraum erfüllte, benahm ihm fast den Atem. Ein sumsender Fliegenschwarm lenkte seine Blicke auf die halbverweste Ziege, deren Aasgeruch die Luft verpestete. Unter dem Gerümpel, welches im Unkraut umherlag, gewahrte er einen Spaten. Er hob ihn auf, schritt an dem schlafenden Greis vorüber, und seinen Ekel überwindend, schaufelte er in einem Winkel der Hofreut eine Grube und versenkte den Leichnam des Tieres. Während er die Grube wieder mit Erde füllte, erschien ein Dirnlein von etwa
[297] Maienzeit.
Maienzeit, o sel’ge Tage,
Weiß von Blüten Strauch und Baum –
Du mein süßes Mädchen, sage:
Scheint Dir’s nicht ein holder Traum?
Hoch vom Himmel Lerchenlieder,
Rings die Erde sabbatstill,
Und ich sinke vor Dir nieder –
Ahnst Du, was das werden will?
Selig schweift Dein Blick ins Blaue,
Trunken halt’ ich Deine Hand …
Lenz und Lust, soweit ich schaue,
Maienzeit in Herz und Land.
Anton Ohorn.
[298] neun Jahren im offenen Thor; das Kind hatte verweinte Augen, und zögernd schlich es zum Apfelbaum. „Gobl-Ähni!“ Das lispelnde Stimmlein weckte den Schläfer nicht. „Gobl-Ähni!“ Schüchtern griff das Kind nach der Lodenkotze des Schlummernden und zupfte. Da erwachte der Greis, halb richtete er sich auf und hob die müden Augen. „Was willst?“
„Ich such’ den Huzebuben!“ stotterte das Dirnlein unter rinnenden Zähren. „Hast ihn nicht gesehen?“
„Was geht mich der Bub’ an!“ murrte der Alte. „Lauf’ hinauf in Wazemanns Haus und frag’! Laß mich schlafen ... und schau’, daß Du weiter kommst!“ Er streckte sich wieder hin.
Eine Weile noch stand das Kind, stumm und zitternd, dann verließ es schluchzend die Hofreut. Seufzend drehte sich der Greis auf die Seite. Da hörte er Schritte hinter dem Baum, blickte auf und gewahrte den Mönch. Weder Neugier noch Staunen sprach aus seinem Blick, nur ein mattes Lächeln ging über seine Lippen.
„Dein Haar ist weiß, und bei dem Alter sollte die Milde wohnen,“ sagte Eberwein, „aber Dein Herz ist hart. Du hast übel geredet mit diesem Kind. Fürchtest Du nicht, daß Dich einer straft, der die Thränen der Kinder zählt?“
„Fürchten?“ lächelte Gobl. „Es giebt keinen, den ich fürcht’ ... nur einen noch, auf den ich wart’! Zu mir kommt er heut’ oder morgen, zu Dir ein andermal. Zu allen kommt er, denn alle hat er lieb wie der gute Hirt seine Geißen ... laß sie nur laufen, wohin sie mögen, einer jeden steigt er nach, einer jeden bringt er das Mied zum guten Heimweg in den kühlen Stall!“
In tiefer Bewegung beugte Eberwein das Knie und faßte die Hand des Greises. „Du rufst den Tod ... ich aber will Dich zu Jenem führen, der das Leben ist.“
Da lachte Gobl. „Den kenn’ ich nicht! Und wüßt’ ich auch, wo er hauset ... ich thät’ keinen Schritt nach ihm. Das Leben noch suchen, wo ich doch wart’ auf das Stündl, das mich erlöst von ihm!“
„Mensch, wie redest Du? Glimmt in Deinem Herzen kein Funke der Liebe mehr? Denkst Du nicht Deiner Kinder?“
Mit starrem Blick hafteten die halb erloschenen Augen des Greises auf Eberwein. „Schau’ mein Haus an, dort liegt’s! Such’ meine Kinder ... wo die liegen, weiß ich nicht. Drei Buben hab’ ich gehabt, gewachsen wie Bäum’ – den einen hat die Lahn geschlungen, den anderen haben die Wölf’ gefressen, und den letzten hat der Teufel geholt, der Wazemann heißt! Eine Dirn’ hab’ ich gehabt, lichtscheinig und gut“ ... Gobl ballte die Fäuste, und seine Stimme wurde zum Keuchen „frag’ beim Henning an, wo meine Heilka geblieben ist! Zur Windach ist sie gelaufen ... heimgekommen aber ist sie nimmer, und nur Hennings Bub’ ist noch übrig von ihr.“ Zitternd an allen Gliedern hob der Greis sich auf die Füße. „Wo haust er denn der Deinig’, der das Leben ist? Sell oder sell?“ Er deutete mit zuckenden Armen. „Sag’ mir’s, daß ich’s weiß – oder ich könnt’ am End’ den Weg verfehlen, den ich such’, den Weg nach der anderen Seit’!“
In die Stille, welche diesen Worten folgte, klang vom Hagthor her das Schluchzen des Kindes. Eberwein stand auf und ging dem Greise nach bis zu den Trümmern des Hauses. „Schwere Not hast Du erfahren, Unheil und Unrecht sind über Dein Herz gefallen wie die Wölfe über das Lamm. Und ich sage Dir doch ...“
Da fiel ihm Gobl ins Wort: „Hörst denn nicht: sell draußen weint das Kind! Mein Herz wär’ hart? Hast recht! Aber das Deinig’ ist härter noch. Mich laß in Ruh’, mir hilft keiner mehr als der einzig’, auf den ich wart’. Aber dem Kind da draußen kannst ein Wort sagen, das einen Trost hat. So thu’s doch! Ich mein’, das wär’ gescheiter, als daß Du mich um den Schlaf bringst, in dem ich ein leichteres Warten hab’!“ Der Greis wandte sich ab, zog aus dem Wust der Trümmer ein zerschmettertes Stücklein Hausrat hervor, betrachtete es von allen Seiten und ließ es wieder fallen.
Eberwein stand in schwerem Kampfe. Heißes Erbarmen hielt ihn fest an der Seite des Greises, und tiefes Mitleid trieb ihn zu dem Kinde. Wer war der Hilfe bedürftiger? Dieser sinkende Stamm oder jenes zitternde Stäudlein, dem der erste Schmerz an die Wurzel seines jungen Lebens rührte? Mit feuchten Augen blickte er dem Greise nach, der ihm den Rücken kehrte, unter dem Apfelbaum sich niederstreckte in das Kraut und das Gesicht in den Armen barg. „Schlafe nur! Einer wird kommen und wird Dich wecken! Noch lebst Du, und wie die Schmerzen des Lebens nimmer enden, so enden auch nimmer seine Freuden. Ich seh’ es kommen, daß Du den Tod, den Du so heiß gerufen, mit Stammeln und Zähren bitten wirst: warte noch ein Weilchen, laß mir nur dieses letzte Stündlein noch! Dann wirst Du Jenen suchen, der das Leben ist!“
Der alte Gobl lachte, ohne das Gesicht zu heben; aber sein Lachen klang, als wär’ es Schluchzen.
Eberwein hatte nicht weit zu gehen; nah vor dem Hagthor, im Schatten eines welkenden Dornstrauchs, fand er das weinende Kind. Er setzte sich an die Seite des Dirnleins und umschlang es mit den Armen. Das Kind hob die nassen Augen, starrte erschrocken auf den fremden Mann im schwarzen Kleid, dann ließ es das Köpflein wieder sinken und weinte noch lauter.
„Sag’ mir, Kindlein, warum weinst Du?“
„Um meinen Huzebuben muß ich weinen.“
„Wer ist denn Dein Huzebub’?“
„Ach, so ein lieber guter Bub’! Meinem Vater hat er die Geißen gehütet hinter dem Eismann droben. Und all’ Woch’ hab’ ich mich gefreut, bis er heimgekommen ist. Blümlein hat er mir alleweil gebracht und die schönsten Farbstein’, rot und grün und gelb ... und auf den Abend alleweil ist er bei mir gesessen und hat mir Liedlein gesungen und hat gehäuselt mit mir ...“ Die Worte des Kindes erstickten in bitterlichem Schluchzen.
Eberwein hob das Dirnlein auf seinen Schoß und stellte Frage um Frage. Als er hörte, welch’ einer grausamen Strafe der arme Bub’ verfallen war, stieg ihm dunkle Röte in die Stirn. Das Kind zur Erde stellend, sprang er auf, und seine blitzenden Augen suchten in der Ferne den Falkenstein. „Herr Waze,“ rief er und hob die Faust, „das soll Deiner Sünden Abend sein!“ Und zu dem Kinde sich wendend, sagte er: „Ich löse Deinen Spielgesellen und kehre nicht heim aus Wazemanns Haus, ohne daß ich an meiner Hand den Knaben führe.“ Unter Zähren starrte das Kind zu ihm auf; es verstand den Sinn seiner Worte nicht und hörte nur seinen Zorn, vor dem es erschrak. Da beugte sich Eberwein nieder, streichelte dem Kinde das Haar und flüsterte: „Mußt nimmer weinen, Dirnlein, ich bring’ Dir Deinen Huzebuben.“
Es ging wie Sonnenschein über das Gesicht des Kindes. „Aber gelt, recht bald? Und thu’ ihn nur gleich grüßen von mir!“
„Ja, mein Dirnlein, das will ich nicht vergessen.“
Eberwein küßte das Kind, dann faßte er seinen Stab und wanderte seewärts. Als nach einer Weile der Pfad sich teilte und Eberwein zögernd stehen blieb, klang hinter ihm ein dünnes Stimmleine „Sell hin geht’s, Herre, sell hin!“ Das Kind war ihm nachgelaufen und wies ihm nun den Weg. Eberwein ließ das Dirnlein zu sich herankommen und redete ihm zu, nach Hause zu gehen, das Kind nickte wohl und blieb zurück, doch es währte nicht lange, so hörte er hinter sich schon wieder die trippelnden Schrittlein; wenn er sich umblickte, blieb das Dirnlein stehen – schritt er weiter, so lief es hinter ihm her. Als er die Achenbrücke erreichte und wieder die Augen wandte, sah er das Kind nicht mehr.
Auf dem Reitweg kam einer von Wazemanns Knechten herabgestiegen; die Erinnerung an Bruder Wampo machte ihn lachen, als er den Mönch gewahrte; aber das Lachen verging ihm, da er in Eberweins Augen sah. An der Kleidung erkannte Eberwein den Troßknecht. „Führt dieser Weg zu Deines Herren Haus?“
„Wohl wohl!“ sagte der Knecht und griff mit zögernder Hand nach der Kappe. Scheu blickte er dem Mönche nach und that, als Eberwein zwischen den Bäumen verschwand, einen leisen Pfiff vor sich hin. Hastig verließ er den Reitweg, rannte quer durch den Wald, dem nahen Felsenpfad entgegen und sprang über die steilen Stufen empor. Mit der Faust schlug er an das Pförtlein. Als ihm aufgethan wurde, fragte er keuchend: „Wo ist der Herr?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, rannte er über den Hof, an dem Gesind’ vorüber, welches mit dem erlegten Wild beschäftigt war, das Herr Waze und seine Buben von glücklicher Jagd nach Hause gebracht. „Herr, Herr!“ schrie der Knecht, noch auf der Freitreppe, und stolperte über die Schwelle.
Volkstümliche Klassikeraufführungen.
Mit vollem Rechte wird in unserer Zeit immer dringlicher die Forderung nach „Kunst für das Volk“ erhoben, und in der That ist auf dem Gebiete der volkstümlichen Verbreitung der geistigen Genüsse gerade in den letzten Jahren viel geschehen; aber wenn wir es mit dem vergleichen, was leicht hätte geschehen können, ist es doch noch wenig.
Freilich, wir dürfen uns heute nicht träumen lassen, es könnte gelingen, der Kunst wieder jenen volkstümlichen Charakter zuzudekretieren, den sie in früheren Entwicklungsstufen besessen hat, und die Bevölkerung zu ihrem Genusse in jener Weise heranzuziehen, wie es z. B. bei den dramatischen Vorführungen in Griechenland, bei den geistlichen und weltlichen Spielen des Mittelalters der Fall war. Und doch – wie viel kann für jene geschehen, denen ihre Geldmittel und ihre Zeit nicht gestatten, auch nur gelegentlich die gewöhnlichen Vorstellungen der Theater zu besuchen, denen die großen Klassiker kaum dem Namen nach bekannt sind, denen eine gediegene Aufführung eines wirklichen Kunstwerkes eine neue Welt erschließt! Der freundlichen Einladung der Redaktion der „Gartenlaube“ entsprecheud, will ich im folgenden über den Versuch berichten, der seit einigen Jahren am Wiener Hofburgtheater gemacht wird, durch Veranstaltung von sonntäglichen Nachmittagsvorstellungen dramatische Kunstwerke einem Publikum vorzuführen, das zum großen Teile sonst vom Besuche des Theaters überhaupt oder doch vom Genusse der Werke der dramatischen Klassiker ausgeschlossen war.
Der Zweck dieser Zeilen ist nicht, irgend ein Verdienst hierbei für meine Person in Anspruch zu nehmen; dieses gebührt vielmehr zunächst den Hoftheaterbehörden, welche unbekümmert um bestehende Vorurteile auf die von manchen für gewagt und bedenklich erachtete Neuerung eingingen, ferner den Darstellern, welche neue Lasten arbeitsfreudig auf sich nahmen, und nicht zuletzt der Presse, welche vom ersten Augenblick an sich dem neuen Unternehmen gegenüber anregend und fördernd verhielt. Der Zweck dieser Zeilen ist vielmehr, die gemachten Erfahrungen mitzuteilen, zu zeigen, auf welche Weise man versuchte, die Schwierigkeiten zu lösen, und so vielleicht die Anregung zu geben zur Nachahmung und verbessernden Ausbildung des neuen Gedankens.
Die willkommene Gelegenheit zu einem Vorversuche bot die Jahrhundertfeier des Geburtstages von Grillparzer im Jahre 1891.
Es wurden an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen, am 25. Januar, 1. und 8. Februar nachmittags, drei Dramen Grillparzers zu außerordentlich ermäßigten Preisen in der ausgesprochenen Absicht zur Aufführung gebracht, den Besuch einem Publikum zu ermöglichen, welches sonst vom Besuche der Vorstellungen des Burgtheaters durch äußere Umstände ausgeschlossen ist. Diese Umstände sind nicht nur der normale Preis der Eintrittskarten, sondern auch die Zeit der gewöhnlichen Aufführungen.
Die Vorstellungen in den meisten Theatern beginnen um sieben Uhr. Nicht nur der arbeitenden Bevölkerung im engeren Sinne, auch einem großen Teil der Gewerbetreibenden ist es unmöglich, an Wochentagen um diese Stunde im Theater zu sein. Wollte man also diesen Teil der Bevölkerung berücksichtigen, so mußte man, da die Sonntagabende vom Standpunkte der Finanzgebahrung aus hierfür nicht wohl in Frage kommen konnten, auf die Nachmittage von Sonntagen das Augenmerk richten.
Aber eben mit Rücksicht auf den Zweck der Vorstellungen ergab sich da sofort eine große Schwierigkeit. Für die Plätze der niederen Preisstufen war ein außerordentlicher Andrang zu gewärtigen, und die Erfahrung bestätigte auch diese Voraussetzung. Wie ließ es sich bewerkstelligen, daß thatsächlich das Unternehmen jenen zugute kam, welche man heranziehen wollte? Die übliche Art des Verkaufes der Karten an der Kasse mußte, ganz abgesehen von dem damit voraussichtlich verbundenen Gedränge, sich für den angedeuteten Zweck als ungeeignet darstellen.
Gerade dem arbeitenden Teile der Bevölkerung fehlt die Zeit zu einem stundenlangen Kampfe um Eintrittskarten, bei dem schließlich doch nur Ausdauer, Rücksichtslosigkeit und Zufall entscheiden. Es handelte sich darum, einen Weg zu finden, welcher Gewähr dafür bot, daß die billigen Plätze wirklich Angehörigen jener Klassen zugute kämen, denen sie zugedacht waren. Welche bestimmten Personen die Karten erhielten, mochte dann als nebensächlich erscheinen.
Da bot nun die Organisation einzelner Gesellschaftsklassen selbst einen willkommenen Anknüpfungspunkt. Die Schüler zunächst sind in Unterrichtsanstalten vereint, die Gewerbetreibenden sind genossenschaftlich organisiert, die Arbeiter haben ein sehr entwickeltes Vereinsleben. Die Schulen, gewerblichen Genossenschaften und Arbeiterverhände wurden daher eingeladen, ihre Wünsche hinsichtlich der Zuweisung von Karten schriftlich geltend zu machen, und die Sitze und Stehplätze der Galerien wurden für diese Anmeldungen vorbehalten. Gewiß wäre auch eine Rücksichtnahme auf den Stand der subalteruen Beamten und manche andere Berufskreise wünschenswert gewesen, allein der bureaukratische Apparat arbeitet viel schwerer als der freier Vereinigungen, und anderwärts wieder mangelte eine einheitliche Organisation, mit der man in geschäftliche Verbindung treten, der man die Verteilung einer zugewiesenen Anzahl von Karten an die einzelnen Personen hätte überlassen können. So mußte man sich von vornherein in der angedeuteten Weise Beschränkungen auferlegen, nur auf einzelne Gruppen Bedacht nehmen.
Die Zahl der aus diesen Kreisen einlaufenden Zuschriften war groß, die Zahl der in ihnen verlangten Karten ungeheuer. Nicht Tausende, Zehntausende wurden von jeder einzelnen der billigen Preisstufen verlangt. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich die ganz außerordentlich entwickelte Organisation des Arbeiterstandes.
Den einzelnen Schulen, den einzelnen genossenschaftlichen Verbänden der Gewerbetreibenden wurde nach einem den thatsächlichen Verhältnissen möglichst angepaßten Maßstabe je eine bestimmte Zahl von Karten zugewiesen. Für die zahlreichen Arbeiterbildungs-, Arbeiterunterstützungs- etc. Vereine trat ein einziger Verein ein, welcher nicht rechtlich, aber in der That eine Art Centralverband ist. Ein Abgesandter der Arbeiter, welcher zugleich Vertreter der Krankenkasse und des Allgemeinen Arbeiterbildungsvereins war, erschien in der Direktionskanzlei. Auf die Frage, für wie viel Karten er Verwendung habe, erklärte er, er wäre bereit, sämtliche Plätze im Theater für alle drei Vorstellungen zu erstehen, und als ihm bedeutet wurde, als Höchstes könnten ihm einige hundert Karten für jede Vorstellung angewiesen werden, bedurfte es nur mehr der Mitteilung, wann er die Karten beheben könne und wie viel er für sie zu erlegen habe – und die Angelegenheit war erledigt. Und es kann hinzugefügt werden, daß der gleiche Vorgang beibehalten wurde, als die Nachmittagsvorstellungen zu einer ständigen Einrichtung im Burgtheater gemacht wurden, daß sich nie der geringste Anstand und nie eine Klage aus den Kreisen der Arbeiter ergab. Zu jeder Nachmittagsvorstellung erhalten Angehörige des Arbeiterstandes 90 Karten zu 10 Kr., 40 Karten zu 30 Kr., 80 Karten zu 50 Kr., 30 Karten zu 80 Kr., 20 Karteu zu 1 Fl., 3 Karten zu 1 Fl. 50 Kr. Auf die weitere Verteilung hat die Theaterleitung keinen Einfluß. Die Karten werden pünktlich behoben und bezahlt und ein einfach aber festtäglich gekleidetes Publikum aus Arbeiterkreisen, Männer und Frauen, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Bühne folgt und sich in jeder Richtung musterhaft benimmt, erfüllt jedesmal einen Teil der Galerien, sich mit Schülern der verschiedensten Anstalten und anderen Besuchern einträchtig vermischend.
Die drei Vorstellungen aus Anlaß der Grillparzerfeier hatten gezeigt, welches Bedürfnis nach volkstümlichen Vorstellungen in allen Schichten der Bevölkerung bestehe, daß es möglich sei, demselben entgegenzukommen, und daß die gelegentlich geäußerten Besorgnisse, ein Teil des so herangezogenen Publikums könnte unliebsame Störungen veranlassen oder doch den gebotenen Aufführungen nicht das erforderliche Verständnis und Interesse entgegenbringen, unbegründet waren.
Gerade in letzterer Richtung hatte schon die erste Vorstellung Gelegenheit zu sehr beachtenswerten Wahrnehmungen gegeben. Mit Absicht war ein Stück gewählt worden, welches nicht durch äußeres Gepränge, lebhafte Volksscenen, erregende Zwischenfälle die Sinne fesselt, sondern dessen Wirkung in der seelischen Vertiefung [300] der Charaktere, einer einfachen rein menschlichen Handlung, in der Schönheit der Sprache liegt. Es wurde „Sappho“ gegeben. Im Hause herrschte atemloses Lauschen; aber daß die Stille nicht etwa die Wirkung ängstlicher Befangenheit war, daß jeder verständnisvoll der Entwicklung folgte, das zeigte sich, als Phaon die Melitta unter dem blühenden Rosenstrauche umarmte und in diesem Augenblicke Sappho im Hintergrunde erschien. Ein leiser Ruf des Schreckens zitterte durch das Haus, das innigste Mitgefühl mit den jungen Liebenden und das vollste Verständnis für die Seelenzustände der beteiligten Personen verratend.
Auf „Sappho“ folgte „Medea“, auf diese der „Traum ein Leben“. Hiermit war der erste Versuch abgeschlossen.
Es handelte sich nun darum, das, was zunächst der festliche Anlaß gerechtfertigt hatte, der Organisation des Ganzen dauernd einzufügen. Auf der einen Seite sollten die billigen Preise festgehalten werden, auf der anderen Seite galt es, die Nachmittagsvorstellungen, welche für die darstellenden Künstler eine erhebliche Mehrbelastung bedeuteten, diesen nicht von oben herab aufzudrängen.
Die von der obersten Theaterleitung in fürsorglicher Weise eingeleitete Gründung eines Pensionsvereins für die Mitglieder des Theaters bot den erwünschten Anknüpfungspunkt.
Die unentgeltliche Mitwirkung der Künstler und des übrigen Personals ermöglichte es, die Preise für die Mehrzahl der Plätze sehr niedrig zu stellen, die Zuwendung des Erträgnisses an den Pensionsverein machte die ganze Einrichtung von Anfang an zu einer unmittelbaren Angelegenheit der mit ihrer Arbeit Beteiligten. Traten diese so dem Unternehmen von Anfang an wohlwollend gegenüber, so mußte der seltsame Reiz, die Stücke der alten Klassiker einem naiven, höchst empfänglichen Publikum gleichsam als Neuheiten vorzuführen, die innere Anteilnahme der Künstler noch steigern, und so ward es möglich, was anfangs kaum glaubhaft erschienen war, die Dramen unserer Klassiker dem Nachmittagspublikum in derselben Besetzung vorzuführen, in welcher sie in den Abendvorstellungen zur Aufführung gelangen, und keiner der Künstler hat sich je diesen volkstümlichen Vorstellungen zu entziehen gesucht.
Die Verteilungsart, welche anläßlich der Grillparzerfeier gewählt worden war, wäre auf die Dauer schon darum nicht möglich gewesen, weil die Arbeitslast nicht hätte bewältigt werden können. Es wurden daher schriftliche Anmeldungen in der Form von Korrespondenzkarten eingeführt. Diese Karten enthalten auf der Rückseite eine kurze „Gebrauchsanweisung“ und ein Schema der verschiedenen Preise der Plätze, in welchem der Besteller die Anzahl der gewünschten Karten eines bestimmten Preissatzes bezeichnet. Auf die Vorderseite schreibt der Anmeldende seine Adresse und hinterlegt die Karte in einen am Theater angebrachten Einwurfkasten. Die Karten schichten sich dort in der Reihenfolge, in der sie eingeworfen werden, erhalten ihre Nummer und werden streng nach derselben erledigt, indem die Zahl der angewiesenen Karten in das Schema eingetragen und dieses durch die Post dem Adressaten zugesandt wird. Jeden Freitag können die Theaterbillets unter Vorweisung der Korrespondenzkarte an der Kasse erhoben werden. Außerdem beziehen die Rektorate der Hochschulen eine feste Anzahl von Eintrittskarten in das Stehparterre zu jeder Vorstellung und ebenso verfügen die Militärbehörden für Zöglinge von Militärschulen über die Zuweisung der Eintrittskarten in die bei Abendvorstellungen den Offizieren vorbehaltene Abteilung des Stehparterres.
Ein Verzeichnis der auf die einzelnen Nummern der Korrespondenzkarten angewiesenen Zahl von Theaterkarten ermöglicht eine Ueberwachung gegenüber etwaigen mißbräuchlichen Verwendungen der Formulare. Ueberzählige oder nicht erhobene Karten werden am Samstag an der Kasse verkauft.
Für die Arbeitervereine wird, wie erwähnt, eine Anzahl von Karten zu jeder Vorstellung vorweg genommen; ein ähnliches Verfahren konnte neuerdings dank dem Eingehen des Landesschulrates auf die Absichten der Theaterleitung auch hinsichtlich der Schulen eingeführt werden. Einige hundert Karten wurden den Mittelschulen zugewiesen und unter diese nach der Anzahl der Schüler und nach anderen sachlichen Gesichtspunkten in der Weise verteilt, daß jede Schule eine Saisonkarte ausgefertigt erhielt, auf Grund deren sie zu jeder Vorstellung eine bestimmte Anzahl Theaterkarten von der Kasse bezieht, während die Verteilung unter die Schüler die Leitung der Anstalt selbst besorgt.
So ist wenigstens zwei großen Gruppen von Berücksichtigungswürdigen, Schülern und Angehörigen des Arbeiterstandes, eine bestimmte Anzahl von Karten zu jeder Vorstellung gesichert und eine gewisse Gewähr für eine zweckmäßige und insbesondere gleichmäßig wechselnde Verteilung innerhalb dieser Gruppen geschaffen.
Freilich ergiebt sich hieraus ein anderer Uebelstand. Die Zahl der vorhandenen Plätze steht an sich in keinem Verhältnis zu der Nachfrage. Durch die Ausscheidung von einigen hundert Karten für die genannten Gruppen vermindert sie sich noch wesentlich, so daß von den allgemeinen Anmeldungen zu den billigen Plätzen nur ein verschwindender Bruchteil Berücksichtigung finden kann.
Zu der ersten regelmäßigen Nachmittagsvorstellung wurden über 5000 Korrespondenzkarten in den Anmeldungskasten geworfen! In der ersten Zeit hatte ich an der Durcharbeitung dieser Masse regelmäßig einen Tag in der Woche von zehn Uhr abends bis vier Uhr früh zu arbeiten. Und wie viele Tausende haben die freiwillig übernommene Mühe jedesmal mit Verwünschungen gelohnt! Der ganz Vernünftige läßt sich die Abweisung vielleicht ein-, zwei-, dreimal gefallen, ja noch öfter – aber auch für ihn kommt der Augenblick, wo er aufhört, nachzurechnen, und sagt: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, „wieder so eine Protektionsgeschichte!“ Er sieht ein, daß nicht alle Karten erhalten können, aber er sieht nicht ein, warum gerade er keine bekommt.
Haben sich der Natur der Sache nach die Anmeldungen für die billigen Plätze im Laufe dieser zwei Jahre wesentlich vermindert, so stehen sie doch noch immer in keinem Verhältnis zum verfügbaren Vorrat, und wenn trotz der gemachten Erfahrungen bisher davon Umgang genommen wurde, für die Karten der niederen Preisstufen die allgemeine Anmeldung einzustellen und diese Karten ganz den Schülern und Vereinen zuzuwenden, so konnte die Rechtfertigung hierfür nur in dem Gedanken liegen, daß gewisse Kreise der Bevölkerung dann eben ganz von den Vorteilen der Nachmittagsvorstellungen abgeschlossen wären, und daß der Nutzen und die Freude der wenigen, die den anderen den Vorrang ablaufen, doch vielleicht die vergebliche Mühe und den Verdruß der Abgewiesenen aufwiege.
Seit 16. Oktober 1892 sind im Hofburgtheater uachmittags in nachstehender Reihenfolge zur Aufführung gelangt:
Schiller, Die Räuber; Kabale und Liebe; Don Carlos; Maria Stuart; Wilhelm Tell; Wallensteins Lager; Die Piccolomini; Wallensteins Tod; Die Jungfrau von Orleans.
Goethe, Die Geschwister; Clavigo; Egmont; Götz.
Lessing, Emilia Galotti.
Grillparzer, Des Meeres und der Liebe Wellen; Sappho; Die Jüdin von Toledo; Weh’ dem, der lugt; Der Traum ein Leben; Medea; König Ottokars Glück und Ende; Die Ahnfrau.
Otto Ludwig, Der Erbförster.
Kleist, Das Käthchen von Heilbronn.
Shakespeare, König Richard II., König Heinrich IV. 1. und 2. Teil; König Heinrich V.; König Heinrich VI. 1. und 2. Teil; König Richard III.; Julius Cäsar; Ein Wintermärchen; Hamlet; Othello; Macbeth; Romeo und Julia; Was ihr wollt; Die Zähmung der Widerspenstigen; Viel Lärm um nichts.
Ibsen, Ein Volksfeind; Die Kronprätendenten.
Calderon, Der Richter von Zalamea.
Hebbel, Die Nibelungen.
Diese Zusammenstellung zeigt, daß der Spielplan leicht zu einem zweijährigen Turnus ausgestaltet werden kann und auf diese Weise die Möglichkeit hintangehalten wird, daß die Nachmittagsvorstellungen, welche übrigens ein ganz anderes Publikum haben als die des Abends, die Zugkraft der Werke der Klassiker für die regelmäßigen Abendvorstellungen schädigen.
Den bei einem größeren Theater verhältnismäßig kleinen Aufwand an Arbeit und Mühe aber, den sie verursachen, kann der Gedanke allein schon reichlich lohnen, welche erziehliche Wirkung das Gebotene für die heranwachsende Jugend hat und für jene Hunderte, die ohne derartige Aufführungen niemals zum eigentlichen Genusse der Meisterwerke unserer großen Dichter gelangen würden.
Das Wiehern der Rosse weckt uns aus dem erfrischenden Schlafe. Wir springen auf und schauen uns um in dem weiten Schlafgemache. Das majestätische Himmelsgewölbe ist sein Riesendach, dessen östlicher Rand von flammender Morgenröte erglüht. Wir haben von der Heimat geträumt, von Bergen, die himmelhoch anstreben, und von majestätischen Wäldern, die im Winde rauschen – und nun? Welch ein Gegensatz die Wirklichkeit! Wir fühlen den festen Boden unter den Füßen, aber es dünkt uns, als ob wir auf den Wogen des unendlichen Meeres schaukelten, denn überall, wohin wir auch blicken, schweift das Auge frei bis zu dem fernsten Rande des Horizontes. Siegreich durchbricht die leuchtende Sonnenscheibe die Dunstwolke im fernen Osten, Tageslicht flutet über der Erde, aber eintönig, abwechslungslos bleibt das Landschaftsbild; überall die endlose Ebene, nur hier und dort scheint in der Ferne der Boden in mäßigen Wellen emporzusteigen. Grünes struppiges Gras und gelber Lehm wechseln miteinander ab, kein Baum, kein Strauch erfreut das Auge, nur in einer flachen Mulde, an deren Rande wir unser Lager aufgeschlagen haben, schöpft die durstige Pflanzenwelt aus den tieferen Wasservorräten des Bodens. Hier streben Schilfgräser höher empor und über allen leuchtet auf mannshohen Halmen die wie Silber erglänzende Blumenrispe der Totoras (Gynerium argenteum), das Wahrzeichen der Pampa, der „Ebene“, die von den Anden Argentiniens bis an die Küste des Atlantischen Oceans sich erstreckt; die herrliche Blumenrispe, die wir aus diesen öden Flächen als Ziergras in unsere europäischen Gärten verpflanzt haben.
Auf flinken Rossen eilen wir einer der sanften Hügelwellen zu; wir sind allein inmitten der unermeßlichen Steppennatur, welche nirgends die Spur der menschlichen Thätigkeit aufweist und uns den Morgengruß in demselben Gewande entbietet, das sie trug, als die ersten Europäer diese Gefilde betraten. Nach und nach zeigen sich auch die Ureinwohner der Pampas unseren Blicken. Die weiten Grasfluren sind ihre Weidegründe, aber die meisten haben unter der Erde ihre Wohnungen aufgeschlagen; es sind kleinere und größere, hasen-, kaninchen- und meerschweinchenartige Nager, Springhasen, Tucutucu, Viscachas, die den Boden mit ihren Gängen völlig unterwühlt haben und deren Zahl in günstigen Strichen zu vielen Tausenden auf einem Quadratkilometer anwächst. Neben ihnen jagen unter der Erde Gürteltiere den Kerfen nach, zahnlose Geschöpfe und letzte Vertreter einer aussterbenden Tierklasse, deren Vorfahren einst zur Rindergröße heranwuchsen und deren vorsündflutliche Skelette in unsern Museen aufbewahrt werden. In weiter Ferne sehen wir einen Trupp Guanacos, jener wilden Lamas, die von den Abhängen der Kordilleren weite Streifzüge in die Steppe unternehmen, und dort entschwindet in hurtigem Laufe ein „Nandu^, ein amerikanischer Strauß, unsern Blicken.
Wir haben den Hügel erreicht und reiten weiter – stundenlang durch ein ödes Gefilde. Eine flache Senkung nimmt uns auf. Weiß glänzt der Boden in den Sonnenstrahlen – wir sind in einer der Salzwüsten, in welchen nur wenige dürre Salzpflanzen ein kümmerliches Dasein fristen. Die Stille des Todes herrscht hier in dem ausgetrockneten Grunde eines ehemaligen Sees, und wir atmen auf, da wir endlich in eine „Arroya“, eine Schlucht, die einst das Bett eines Stromes gebildet hat, einlenken können. In der Tiefe der Erde fließen hier noch die Grundwasser, und die Feuchtigkeit, die aus ihnen empordringt, läßt die Gräser zu einem herrlichen Wiesenteppich sich zusammenschließen. Die Sonne neigt im Westen zum Untergange; wir halten auf einer sanft sich erhebenden Anhöhe und ein schönerer Anblick erfreut unser müdes Auge. Dort in der Ferne blinkt der Spiegel einer Lagune und ein Flüßchen windet sich wie ein silbernes Band durch grüne Wiesen. An seinen Ufern wachsen Weiden und Pappeln und in weiter Ferne steigt eine kräuselnde Rauchwolke zum Himmelszelt empor – endlich das erfreuliche Wahrzeichen menschlicher Siedelung!
Und vorwärts geht’s noch einmal auf den unermüdlichen Rossen, das Landgut der Pampas, die „Estancia“, das Ziel unseres Ausflugs, zu erreichen. Neue Eindrücke empfangen wir an des Tages Neige; neben uns donnert eine Horde halbwilder Pferde, dort grast eine Herde wohlgenährter Rinder und das Blöken von tausend Schafen dringt an unser Ohr. Das ist die Pampa der Neuzeit, die wir jetzt schauen, und in ihr erscheint ihr Beherrscher, ein Reiter auf kühnem Roß, eine malerisch wilde Gestalt, ein Menschentypus, den die weite unendliche Pampa erzeugt hat.
Als zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts Spanier und Portugiesen in den La Platastrom einfuhren und seine Ufergelände betraten, da gab es dort weder Pferde noch Rinder noch Schafe. Indianer durchstreiften zu Fuß die Steppe, um von der Jagd zu leben. Speere mit steinernen Spitzen waren ihre Waffe; was sie aber zu Herren über die damalige Tierwelt der Pampas machte, was ihnen das flüchtige Guanaco und den hurtigen Strauß in die Hände lieferte, war die „Bola“, aus Riemen bestehend, an deren Enden zwei bis drei schwere Steine befestigt waren. Mit wunderbarem Geschick verstand der Indianer diese Schlinge dem Strauß und dem Guanaco um die flüchtigen Füße zu werfen und das Wild zu Falle zu bringen.
Es waren kriegerische Jägervölker, diese zu Fuß die Steppe durchziehenden Nomaden; aber Schritt für Schritt wußten ihnen die Europäer ihre weite Heimat zu entreißen. Den weißen Männern erschienen die Grasfluren der Pampas als treffliche Weideplätze für europäisches Vieh. Die ersten Ansiedler brachten Rinder und Schafe mit, die Krieger Streitrosse; einige dieser Haustiere verloren sich in der Prairiewildnis, vermehrten sich zu unzähligen Herden, und die Pampas erhielten neben der alten eine neue Tierwelt. Pferd und Rind, das Geschenk der Alten Welt, wirkten umgestaltend auf die Lebensgewohnheiten der Pampasvölker ein. Der Indianer schwang sich auf das wilde Roß, nun wurde er erst recht zu einem Nomaden, nun verdiente er erst recht den Namen „Guaykuru“, d. h. „Schnellläufer“, der ihm von den Bewohnern der waldigen Nachbarländer gegeben worden war.
Die zahllosen Scharen verwilderter Pferde und Rinder lockten aber auch die europäischen Ansiedler in die weite Steppe hinaus. Hundert Jahre nach der Einführung der ersten Rinder in den La Plataländern wurde aus dem Hafen von Buenos-Aires eine Million Häute jährlich nach Europa gebracht; nur der Häute wegen jagte und schlachtete man die Rinder, das Fleisch ließ man damals unverwertet liegen. Ein eigenartiges Treiben entwickelte sich nunmehr in den Pampas. Wie auf den Prairien Nordamerikas die Büffeljäger jahrzehntelang sich breitmachten, so wurden auch die Pampas Argentiniens den Indianern von einer eigenartigen Menschenklasse streitig gemacht, von den „Gauchos“, Mischlingen der europäischen Eindringlinge und der indianischen Urbewohner.
Sie hatten dem Indianer bald seine Listen abgelauscht, lernten ebenso geschickt wie er die Bola schwingen, sparten auf der Jagd Pulver [302] und Blei, das sie im Kampfe mit den Rothäuten besser gebrauchen konnten. Viele Bedürfnisse hatten sie nicht. Ein „Rancho“, eine aus leichten Fellen errichtete Hütte, genügte zur Wohnung, eine grobe Jacke und grobe Hosen waren ihre Kleidung und einfach war auch ihr Mantel, der „Poncho“, ein rotes oder blaues Tuch mit einem Loch in der Mitte, durch das sie den Kopf stecken konnten. Genugsam in Wohnung und Kleidung, hielten sie viel auf ihre Waffen, die Steine an der indianischen Bola ersetzten sie durch eiserne oder bleierne Kugeln, scharf geschliffen war stets ihr 30 bis 40 cm langes Seitenmesser und ihr Stolz waren mächtige silberne Sporen.
In den Grenzbezirken der kultivierten Pampa führen sie noch heute das ungebundene Leben und jagen nicht nur Guanaco und Strauß, sondern auch den Silberlöwen oder die „Puma“, die grimmige Katze Südamerikas, wozu sie nur ihre Bola, ihr scharfes Messer und eine Koppel starker Rüden brauchen. Sie hüten auch eigene Rinderherden oder die größerer Besitzer, aber dem echten Gaucho geht das Pferd über alles in der Welt. Es steht ihm ja auch ein ausgezeichnetes Material zur Verfügung, das sich rudelweise in der Steppe in wildem Zustande umhertreibt. Braucht er ein neues Pferd, so reitet er hinaus in die Pampa und nähert sich der Herde. Vielleicht gelingt es ihm, dem Auserkorenen rasch einen Lasso um den Hals zu werfen; oft aber merken die an Freiheit gewöhnten jungen Rosse die Absicht des Reiters und ergreifen die Flucht; dann geht es vorwärts in sausendem Lauf, dicht auf ihren Fersen der Verfolger. Nun schwingt er über dem Kopfe die niemals fehlende Bola – die Kugeln fliegen dahin, in einem Augenblick wickelt sich der Riemen um die Hinterbeine des flüchtigen Rosses, und wehrlos bricht es zusammen!
Wild, ungehorsam ist jedoch der gefangene Steppenrenner. Sein stolzer Freiheitssinn muß erst gebrochen werden, er muß lernen, geduldig den Sattel zu tragen und dem Druck des Zügels zu gehorchen. Wie sehr er sich sträubt, der Gaucho kennt keine Schonung und versteht es meisterhaft, den Widerspenstigen zu zähmen. Eine Decke wird dem Pferde über den Kopf geworfen; des Gesichtes beraubt, zittert es am ganzen Leibe, derweil ihm flinke Hände die Schaffelle auf den Rücken und auf diese den Sattel legen. Dann wird die Decke vom Kopfe entfernt, und ehe sich das Tier dessen versieht, fühlt es den Zaum im Maule. Nun schwingt sich der Reiter in den Sattel und vorwärts geht es in die Pampa hinaus. Eine tolle, grausame Jagd ... sie dauert, bis das Roß erschöpft zusammenbricht und sich in sein Schicksal ergiebt. Wohl regt sich hie und da noch einmal die alte Wildheit, aber sein Meister ist ein unbarmherziger Reiter. Ohne auch nur einen Augenblick im Sattel zu wanken, läßt er das erregte Thier in den tollsten Kapriolen sich austoben, gegen Mauern ansprengen, an denen es sich steil emporbäumt, und das Ende vom Liede ist schließlich doch wieder williger Gehorsam.
Mit den gebändigten Rossen, den erbeuteten Straußenfedern und Fellen wendet sich der Gaucho dem Pampamarkte zu. Dort ist ein äußerst einfacher Kaufladen, in welchem allerlei Tand und manches brauchbare eiserne Gerät zum Kaufe ausliegen. In einer Lehmhütte, an die sich eine weite Veranda lehnt, wird ein feuriges Getränk ausgeschenkt; dort tönt die Guitarre, erschallen lustige Lieder und funkeln schwarze Mädchenaugen. In dem Gasthause der Steppe begegnet man manchmal auch einem Reiter aus der entlegenen civilisierten Welt, der Kunde bringt von den Vorgängen in den Hauptstädten der Vereinigten Republiken Argentiniens, und was es da zu berichten giebt, das sind oft gar aufregende Dinge. Denn Argentinien ist von jeher, besonders aber in unserem Jahrhundert, mit inneren Unruhen reich gesegnet gewesen. –
Auf die ersten Zeiten schäumender Gährung folgten jedoch auch wieder ruhigere Jahre und ein Strom von Einwanderern ergoß sich damals in die Pampas. Sie kamen daher gezogen mit Planwagen, die mit langen Ochsenreihen bespannt wurden; sie hatten von der Regierung Land in der herrenlosen Pampa erworben und ließen sich an verschiedenen Orten nieder. Das waren ruhigere Leute, die nicht so sehr für Pferde schwärmten, lieber Rinder züchteten und Tausende von Schafen hielten auf Weiden, die mit Eisendraht umzäunt wurden. Zum Schutze dieser Ansiedler, die auch Ackerbau zu treiben versuchten und den Boden künstlich bewässerten, kamen reguläre Truppen ins Land, denn die Pampas waren noch immer unsicher, von Nord und Süd, aus der Wildnis des Gran Chaco und aus den Nachbarbezirken Patagoniens brachen die Horden der rothäutigen Puelche, Tehuelche und Ranqueles hervor und hausten gar schlimm unter den Ansiedlern.
Amerika hat keine wilderen, hochfahrenderen Krieger als diese Indianer, die bis heute ihren Nacken vor der Civilisation nicht gebeugt haben, im Gegensatz zu ihren friedlicheren, Ackerbau treibenden Stammverwandten im Norden. Ihre Horden gingen nicht nur auf Viehraub aus, sie fielen auch über die Estancias her, plünderten sie aus und brannten sie nieder, mordeten die Männer und schleppten Frauen und Kinder in die harte Sklaverei fort. Es war ihnen schwierig beizukommen, denn sie hatten zumeist keine festen Wohnsitze; ruhelos schweiften sie durch die Pampas, Rudeln wilder Pferde gleich. Von frühester Jugend an sind sie mit ihren Rossen verwachsen, alles ist noch heute bei ihnen beritten, Mann, Weib und Kind, und man sagt, daß die Sprößlinge dieser Indianer eher reiten als laufen lernen.
Jedes Kind besitzt sein Pferd, jeder Knabe spielt mit der Bola, fängt mit ihr die Hunde, die der Horde folgen, wirft den Lasso und übt sich in der Handhabung des Messers. So wächst er zum Feinde der Weißen heran, wird wetterfest wie die Tiere der Steppe, und wenn von den Hängen der Anden der stürmische „Pampero“ eiskalt durch die Ebene weht, so läßt der Sohn der Pampa seinen Fellmantel auf dem Rücken flattern und bietet dem Sturmwinde die nackte Brust. Dieses Volk kennt keine Schranken der Zeit und des Raumes, ein „Schnellläufer“ in des Wortes vollster Bedeutung, unternimmt es Expeditionen auf 1000 Kilometer weite Entfernungen. Dabei stellen diese Indianer keine Ansprüche an eine besondere Verpflegung, ein Stück rohen Fleisches genügt ihnen als Nahrung, die sie sich durch eine Mischung von Ochsen- und Pferdefett lecker machen. Gegen die Weißen kennen die Pampasindianer keine Liebe, ein unauslöschlicher Haß glimmt in ihrer Brust, denn sie meinen, Gott habe ihnen die Pampas zur Heimat angewiesen, ihnen das Guanaco und den Strauß gegeben, sie wollen nicht einsehen, daß Europa ihnen das leichtfüßige Pferd und die Rinder- und Schafherden geschenkt hat, sie wollen allein in den Pampas herrschen. wie wechselvoll auch die Kämpfe gewesen sind, wie sehr auch ihre Schar durch Pulver und Blei, durch Cholera und Pocken zusammengeschmolzen ist, sie rühmen sich noch heute, niemals gänzlich bezwungen worden zu sein.
Gegen diese „Indios bravos“, wie die kriegerischen Stämme im allgemeinen genannt werden, unternahmen die Regierungstruppen regelrechte Feldzüge. Am entscheidendsten war der Feldzug des Jahres 1879/80, der seinem Urheber, Generallieutenant Roca, dem damaligen Präsidenten, für immer eine der hervorragendsten Stellen in der argentinischen Geschichte sichert. Die noch vorhandenen Indianer sind nunmehr in die Gebirgsschluchten der patagonischen Kordilleren zurückgedrängt, wo sie von den regulären Truppen der argentinischen Armee auf Büchsenschußweite bewacht werden. Tausende von Quadratkilometern Landes sind dadurch den Händen der Wilden entrissen und der Viehzucht und dem Ackerbau zugänglich gemacht worden. Eine große Zahl von Gefangenen wurde befreit und ihrem heimatlichen Herde wiedergegeben.
In den geschützten Pampas mehrten sich die Estancias, denn man konnte in jener Zeit ein Hektar Landes für drei Mark erwerben, und dabei pflegten sich in normalen Zeiten die Kuh- und Schafherden alle drei, die Pferdeherden dagegen alle fünf Jahre zu verdoppeln. Einen großartigen Aufschwung hat namentlich die Schafzucht genommen, seitdem Deutsche und Engländer sich um dieselbe bemüht haben. Zu Anfang der sechziger Jahre betrug der Wert der Ausfuhr an Wolle nicht mehr als 20 Millionen Mark, gegenwärtig ist die Wolle der Hauptausfuhrartikel Argentiniens, das für das Vließ seiner Schafe jährlich über 200 Millionen Mark einnimmt. Im Oktober des Jahres 1888 veranstaltete man eine Viehschätzung Argentiniens, und es ergab sich, daß in dem Lande etwa 66 Millionen Schafe, 2 Millionen Ziegen, 22 Millionen Rinder, 4 Millionen Pferde und 430000 Esel und Maultiere vorhanden waren.
Kein Wunder, daß unter diesen Umständen die Karawanen der mit Zugochsen bespannten Wagen immer länger und zahlreicher wurden. Ob dieses Treiben den echten Gauchos gefiel? Es veränderte sich so vieles. Wohl trieben sich die Rinder- und Pferdeherden nach wie vor in der Steppe umher, aber die Weidebezirke wurden enger abgegrenzt und das scheinbar freie Vieh trug auf dem Felle den Stempel des Eigentümers. Die Bedeutung des Pferdes sank, je mehr der Wert der Schafe und der Rinder stieg. Die Viehzucht wurde immer mehr in geordnete Bahnen gelenkt und der Gaucho, früher der Herr der Pampas, wurde zum berittenen Kuhknechte im Dienste eines reicheren Besitzers.
Die indianischen „Schnellläufer“ sind verschwunden, die Gauchos werden „civilisiert“; durch die weiten Gefilde laufen die Schienenstränge der südamerikanischen Ueberlandbahn, auf ihr schnaubt das gewaltige Dampfroß und trägt den Reisenden in raschem Fluge von Buenos Aires an den Ufern des Atlantischen Oceans über die flache Ebene und über die steile Kordillere an das Gestade des Stillen Oceans. Das Dampfroß ist ein Städtegründer ersten Ranges und erfüllt die Pampas mit neuem Leben. Hoffentlich bringt es auch die nötige Beständigkeit in die wirtschaftliche Entwicklung des Landes!
Die Perle.
(17. Fortsetzung.)
Ilse mußte halb sinnlos vor Schreck und Aufregung aus ihrer Wohnung fortgestürzt sein; das schwarze Spitzenhütchen hing
ihr fast im Nacken, sie hatte nur einen Handschuh angezogen und trotz der Juliglut keinen Sonnenschirm. In der unbedeckten Rechten hielt sie ein halb zusammengeballtes Zeitungsblatt. Dem alten Leupold zog sich das Herz zusammen bei diesem Anblick. Also sie wußte! Er warf Jan Grenboom einen flammenden Zornesblick zu – was stand der Mensch denn noch immer da wie ein Menagerieführer, den Papagei auf dem Kopf, das Aeffchen auf der Schulter? Nun, gottlob, er hatte begriffen, er ging!
„Onkel Erich, muß das wahr sein?“ fragte Ilse atemlos, heiser und hielt ihm das Zeitungsblatt hin.
„Nun, Kind, es kann ja – aber da setz’ Dich ’mal – ich – ja, weiß der Teufel, ’s ist, um verrückt zu werden! So setz’ Dich doch, zeig’ ’mal, daß Du was Besseres bist als so die meisten von Deinem jämmerlichen Geschlecht! Bist ja soweit vernünftig – bist auch nicht dumm –“
[303] „Muß das wahr sein, Onkel Erich?“
„Ich hab’s auch gelesen, vor kaum ’ner halben Stunde, ich – wahr wird’s schon sein – Matrose auf der ‚Nixe‘, Augenzeuge – und diese ganze Ewigkeit keine Nachricht von dem Schiff! Ich wollt’ es Dir bloß nicht sagen, mir war längst nicht wohl dabei. Mädel, sieh mich nicht so an, das ist nicht zum aushalten – schrei’ los in drei Teufelsnamen! Wein’ Dich aus!“
Aber Ilse schrie nicht und weinte sich auch nicht aus. „Das ist ganz unmöglich,“ fragte sie leise und eindringlich, „daß er sich geirrt hat, der Augenzeuge? Er ist selbst in Todesnot und Gefahr gewesen .... kann er sich nicht geirrt haben?“
Der alte Leupold schüttelte den Kopf. „Sieh ’mal, Kind, was ’n richtiger Kapitän ist, der läßt sein Fahrzeug nicht im Stich. Geht das Schiff zu Grund, geht er mit zu Grund. Wenn die ‚Nixe‘ untergegangen ist mit Mann und Maus, dann war er drauf, da setz’ ich meinen Kopf zum Pfand!“
Ilse preßte die Handflächen aneinander und sah zu Boden. Plötzlich hob sie den Kopf. „Kannst Du mir Geld geben, Onkel Erich? Etwas Geld?“
„Was willst Du haben, Kind?“ Er sah sie ängstlich an, er fürchtete, sie könnte krank sein.
„Etwas Geld möchte ich! Papa könnte es mir vielleicht auch geben, aber ich weiß es nicht genau. Und ich möchte –“
„Was Du möchtest, sollst Du Dir kaufen – ich geb’ Dir’s natürlich, ich geb’ Dir’s! Aber vielleicht sagst Du mir ...“
„Ich will nichts kaufen. Nach G. möcht’ ich fahren und diesen – diesen Rolf Görnemann sehen und sprechen. Sag’ nichts dagegen!“ rief sie flehend, als Leupold Miene machte, zu sprechen. „Es ist das einzige, um was ich Dich bitte, das einzige und das letzte! Der Bericht kann noch eine Woche, er kann auch noch länger auf sich warten lassen .... ich hab’ das Gefühl, ich muß sterben, wenn ich so lange warten soll – Onkel, Onkel Erich –“
„Zum Donnerwetter, Mädel, laß’ mich doch reden, laß’ mich doch zu Wort kommen! Ja und zehnmal ja, Du sollst das Geld haben! Und ich fahr’ selbst mit Dir hinüber nach G., ich will diesen verteufelten Rolf Görnemann auch sprechen, will auch hören, wie mein Junge, unser Albrecht – wir fahren noch heut’! In zwei, drei Stunden denk’ ich, haben wir den nächsten Zug, morgen früh können wir an Ort und Stelle sein. Jan! Jan Grenboom! Wo steckt das alte Walroß wieder? Das Kursbuch bring’ her, das Kursbuch!“
Durch die kurze schwüle Sommernacht sauste der Zug, der den alten Leupold und seine Nichte nach G. bringen sollte. Ilse hatte nicht in den Schlafwagen gehen wollen sondern hatte leise gebeten: „Laß’ mich doch bei Dir bleiben, Onkel Erich!“ und sie war geblieben. Sie fiel ihm nicht zur Last mit Jammern und Thränen, sie saß da, still in ihre Ecke gedrückt, dann und wann, sobald sie sah, daß der Onkel sorgenvoll den Blick auf sie richtete, nickte sie ihm beruhigend zu. Das Fenster war niedergelassen, die weiche Nachtluft strömte herein. Der dunkle Himmel funkelte goldübersät von zahllosen Sternen; spät ging der Mond auf, sein bleiches Licht tauchte die schlafende Landschaft in Silberfluten. Klirrend, rasselnd flog der Zug weiter und weiter. Dann begannen die Sterne blaß zu werden, kühle Morgenluft wehte, ein fahler Dämmerschein spann sich um Bäume und Büsche, der Wald, den der Zug durchkeuchte, erschauerte im frischen Wind – die Sonne ging auf.
Um sieben Uhr früh fuhr der Zug in G. ein. Eine geschäftige menschenwimmelnde Fabrikstadt! Die Maschinen waren schon alle in Thätigkeit, die hohen Schlote spien mächtige Dampfwolken aus, die den blauen Sommerhimmel verdüsterten, in den Straßen ein Lärm, der Ilses verstörten Nerven förmlich weh that.
Die beiden fuhren zunächst in einen Gasthof, um ein paar Stunden zu ruhen. Ermüdet warf sich Ilse aufs Sofa des ihr angewiesenen Zimmers und schloß die Augen. Aber vor ihr jagte eine wirre tolle Flucht von Bildern vorüber, daß sie schreckhaft die Augen wieder öffnete und lieber die Wände des Zimmers ansah. Ein Seestück hing da unter den Bildern, irgend ein Hafen, in den ein Schiff mit wohlgeblähten Segeln einlief. Ilse sah das Bild unverwandt an. Dies Schiff kommt in Sicherheit, die paar Brandungswellen sind bald überwunden, dann liegt es vor Anker, ist geborgen samt allen, die darauf sind. Andere Schiffe haben es so gut nicht, die verschlingt das Meer .... es ging wie ein Riß durch ihr Herz. Sie zerrte ihre Uhr hervor .... konnten sie denn noch nicht zu Rolf Görnemann? Kaum Acht – noch volle drei Stunden! Denn der junge Mann war noch Rekonvaleszent, hatte Onkel Leupold geltend gemacht, man würde vor elf Uhr Besuch überhaupt nicht zu ihm lassen.
Eine Zeitung lag auf dem Tisch. Ilse griff mit bebenden Händen danach. Stand nichts von dem Schiff drin, von der „Nixe“ und von Rolf Görnemann? Ihre Augen flogen angstvoll von Spalte zu Spalte – Politik, Stadtneuigkeiten, Anzeigen, Anpreisungen seitenlang .... sonst nichts! Sie steckte sich ans Fenster, sah auf die Straße hinaus, verfolgte die rasselnden Milchwagen, die hin und hereilenden Dienstboten, die Kinder, die zur Schule gingen. Halb neun Uhr! Wie die Zeit schlich!
Und so zwischen rnhelosem Umhergehen im Zimmer, dem Versuche, zu schlafen oder zu lesen, verbrachte sie den Vormittag. Langsam kroch der Zeiger auf der Uhr weiter, und endlich, endlich war’s Elf. Mit dem Glockenschlag öffnete Erich Leupold die Thür, schaute stumm seine Nichte an, schüttelte mißbilligend den Kopf, sagte aber nichts und gab ihr dann den Arm, um sie die Treppe hinunterzuführen. Vor der Thür unten hielt ein Wagen, sie stiegen ein und fuhren durch die laute Fabrikstadt; das Haus, in dem Rolf Görnemann wohnte, hatte der Kapitän im Adreßbuch gefunden.
Es war ein stattliches Gebäude, vor dem sie hielten. Ilse sprang aus dem Wagen und eilte so rasch die lange halbdunkle Treppe empor, daß Leupold kaum zu folgen vermochte. Oben fragten sie ein Dienstmädchen nach Herrn Rolf Görnemann.
„Ich weiß nicht, ob er zu sprechen ist, ich muß zuerst Madame fragen. Bitte, einzutreten!“
Ein großes, mit hübschem Geschmack ausgestattetes Zimmer, aber unfreundlich, sonnenlos. Eine kleine alte Dame mit einem sanften bekümmerten Gesicht trat leise durch eine Tapetenthür ein.
„Sie wünschen meinen Sohn zu sprechen – darf ich fragen, zu welchem Zweck? Er ist noch leidend und soll geschont werden.“
„Ich bin Kapitän Leupold aus St., dies ist meine Nichte. Ich bin der Vormund des Kapitän Kamphausen, der mit der ‚Nixe‘ untergegangen sein soll. Wir lasen gestern den Bericht Ihres Sohnes und sind persönlich von St. herübergekommen, um Ihren Sohn selbst zu sprechen, aus seinem Munde eine Schilderung des Schiffbruchs zu hören.“
Die alte Dame wiegte zweifelnd den Kopf. „Das wird ihn sehr aufregen, und Aufregung thut ihm gar nicht gut, sagt der Arzt, der noch fast täglich kommt. Es geht meinem Sohn keineswegs nach Wunsch, sein Körper ist durch die lange Krankheit noch sehr geschwächt. Wir wollten auch gar nicht, daß die Notiz schon jetzt in die Zeitung komme, aber er ließ sich ja nicht halten, und immer widersprechen mag man auch nicht.“
Der alte Leupold hatte während dieser Rede, die ihm viel zu lange dauerte, taktmäßig mit seiner Stiefelspitze auf den Fußboden geklopft – jetzt sah er die alte Dame mit seinen scharfen Augen durchdringend an. „Es liegt uns sehr viel daran, Madame, Ihren Sohn selbst zu sprechen, wir sind eigens deshalb hierhergekommen!“
„O Gott, ja, mein Herr – gewiß – solch eine weite Reise – ich glaube schon gern, daß Ihnen viel daran liegt. Und die junge Dame – ach lieber Gott, ich ahne schon! Rolf ist aber eben erst aufgestanden, und dies würde ihn wirklich sehr aufregen, er hat Herrn Kapitän Kamphausen so außerordentlich verehrt und geliebt ... ich werde meinen Sohn holen!“ Die letzte überraschende Wendung war durch einen flehentlichen Blick aus Ilses Augen hervorgerufen worden. Die alte Frau fühlte all ihre mütterlichen Bedenken um den Sohn schwinden angesichts dieses jungen Wesens, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Sie konnte es sich so leicht zusammenreimen – das arme Geschöpf war natürlich des ertrunkenen Kapitäns Braut. Wie traurig! Die Augen wurden ihr feucht, sie streichelte mit sanfter Hand das liebliche Gesicht, und als Ilse sich über diese Hand neigte und sie küßte, da war Frau Görnemann vollends überwunden und ging nach einem beruhigenden Kopfnicken zur Thür hinaus.
„So sind diese Weibsbilder!“ murmelte Erich Leupold vor sich hin. „Unsereiner redet und thut das Menschenmögliche, und ’s ist alles umsonst! Wenn aber eine ihresgleichen kommt und nur ’n Paar Augen macht – da, hast du nicht gesehen, sind sie der reine Zucker. Na, setz’ Dich hin, Mädel – ich setz’ mich auch!“
Eine Pause von einigen Minuten, während deren Ilses Herzschlag [304] sich zu verdoppeln schien – dann öffnete sich abermals die Tapetenthür, und ein sehr großer überschlanker junger Mensch trat ein. Aus dem blassen eingefallenen Gesicht schaute ein Paar kluger Augen; der junge Mann, der allem Anscheine nach kaum zwanzig Jahre alt war, warf beim Eintreten einen teilnehmenden und zugleich neugierigen Blick auf Ilse, von der ihm seine Mutter soeben eine begeisterte Schilderung entworfen hatte. „Ich muß um Verzeihung bitten“ – begann er dann höflich, aber Kapitän Leupold unterbrach ihn sofort: „Ach, das thun Sie lieber nicht! Wer fragt denn jetzt nach allerlei Kram! Sie wissen ja, weshalb wir hierhergekommen sind!“
„Ja, meine Mutter hat es mir gesagt. Sie wünschen meine Erlebnisse vom zwölften Januar zu hören.“
„Also damals war es! So lange her schon! Also am zwölften – wie war es da? Ging die Fahrt bis dahin gut? War Albrecht – Ihr Kapitän, mein’ ich – zufrieden?“
„Im ganzen ja und das mit Recht!“ Der junge Mann, etwas verwirrt durch diesen plötzlichen Ansturm, setzte sich so, daß er sowohl den alten Leupold als auch Ilse voll ansehen konnte. „Ein paarmal hatten wir wohl Sturm gehabt,“ fuhr er dann fort, „aber immer waren wir durchgeschlüpft, wenn auch unsere Fahrt sehr verzögert wurde. Es war Glück dabei, aber doch auch Verdienst, Verdienst vor allem von dem, der die ‚Nixe‘ befehligte. Unser Kapitän, das war einer – ja, das war einer!“
Die Augen des Sprechenden glänzten, sein Gesicht belebte sich. Leupold nickte ihm bestätigend zu, wenn auch ein solcher Grünschnabel von einem Matrosen keine Ahnung von der Aufgabe eines Kapitäns haben konnte ... das begeisterte Lob that dem Alten doch wohl. Ilse hielt die gefalteten Hände auf den Knien, ihre Augen hingen an Rolf Görnemanns Lippen mit einem ergreifenden Ausdruck von Seelenangst und Spannung.
„Wir befanden uns auf der Rückfahrt von Schanghai nach Hongkong bei der Insel Formosa,“ setzte Rolf seinen Bericht fort. „Alle an Bord waren heiter und guter Dinge, in der Aussicht, bald an Land zu kommen, was wir lange nicht geschmeckt hatten. Die See war ein wenig trüb und träge, aber das ist ja dort oft so. Daß in diesen Gewässern der Taifun sein Spiel hat, wußten wir wohl, hatten jedoch keine Sorge deshalb. Sie sind wohl auch im Chinesischen Meer gewesen, Herr Kapitän?“
„O ja!“ erwiderte Leupold trocken. „Ich kenne die Gegend.“
„Das dachte ich mir. Also, wie gesagt, alles war bei guter Laune. Mir fiel nur auf, daß der Kapitän so viel mit dem ersten Lieutenant redete, und daß sie beide so aufmerksam durchs Fernrohr sahen. Gegen mich war unser Kapitän immer sehr gütig, er kannte meine Familienverhältnisse“ – hier wurde Rolf Görnemann rot – „und bewies mir viel Interesse. An jenem zwölften Januar nun hatte ich eben nichts besonderes mehr zu thun, ich bat daher unsern zweiten Lieutenant, der ein ganz prachtvolles Taschenfernrohr besaß, es mir einmal zu geben; er holte es hervor, schraubte es zurecht und sagte: ‚Was wollen Sie jetzt dadurch sehen, Görnemann? Himmel und Wasser schauen ganz gleichmäßig langweilig aus, und nach Land können Sie noch lange Augen machen!‘ Ich gab irgend eine Antwort und sah durch das Glas – in demselben Augenblick hörte ich den Befehl: ‚Alle Mann auf Deck!‘ und konnte nur noch fern, fern am Horizont ein Etwas sehen, eine Wolke, einen Schatten – aber nun wußte ich auch schon, das war der Taifun! Einen blitzgeschwinden Rundblick warf ich noch durch das Fernrohr, mir war, als sähe ich ganz ferne auch ein, zwei Schiffe – aber das weiß ich nicht mehr so genau, ich fühlte nur noch, wie mir der zweite Lieutenant das Glas aus der Hand riß, und stand in der nächsten Minute an meinem Platz auf Deck.“ Rolf atmete ein paarmal tief auf. „Ich brauche Ihnen, Herr Kapitän, keinen Taifun zu beschreiben, ich könnte es auch nicht. Es kam alles so unbegreiflich, so entsetzlich schnell – man verliert den Kopf in solcher Gefahr, kann nicht beobachten. Es geschah, was notwendig war, um dem Unglück zu begegnen, mit wirklich fabelhafter Geschwindigkeit, aber der Taifun war noch geschwinder. Die Wolke kam heran, wuchs, wuchs so grauenhaft schnell, daß plötzlich alles dunkel wurde, und ehe wir noch die Luken geschlossen, alle Rettungsboote bereit gemacht hatten – wir arbeiteten, daß uns der Schweiß vom Gesicht troff – war schon der Taifun heran. Das ist kein Sturm wie ein anderer, der das Schiff nur auf eine Seite legt, dem man beikommen kann! Dieser packt sein Opfer von allen Seiten zugleich, öffnet einen kochenden Strudel gleich einem ungeheuren Trichter und schlingt das Schiff hinunter wie ein Haifisch die Beute. Eine teuflische Wut ist in ihm, ein Brüllen, ein Heulen in den Lüften, ein Toben in den Wassern, daß man taub zu werden meint. Ich erinnere mich, daß ich einmal etwas wie einen Kanonenschuß hörte und wieder einen – aber so weit her, so gedämpft – es konnten Schiffe in Not sein, ich konnte mich aber auch geirrt haben. Auch die ‚Nixe‘ löste einen Schuß. Soviel ich beurteilen kann, thaten alle unsere Leute musterhaft ihre Schuldigkeit. Einmal in all dem Chaos sah ich unsern Kapitän; er stand auf der Kommandobrücke, blaß wie der Tod, aber so ruhig, mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nie vergessen werde. Die eine Hand hatte er auf die Brust gedrückt, als halte er da etwas fest – ich sah ihn ja nur einen kurzen flüchtigen Augenblick, aber das Bild hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Dann ein fürchterliches Krachen – ich hörte den Ruf: „In die Boote! Die Boote los! Das Schiff ist leck!“ und nun wußte ich, daß wir wahrscheinlich alle umkommen würden, sicher aber der Kapitän selbst, der so unerschütterlich auf seinem Posten stand. Die Leute verloren den Kopf, keiner dachte mehr an den andern, jeder nur an sich selbst. Die Rettungsgürtel anzulegen, dazu war keine Zeit – der stürzende Gischt begrub das Schiff, und die wütende See fegte die Leute, die zu den Rettungsbooten liefen, hinweg gleich loser Spreu. Man hörte sie nicht schreien – was hörte man überhaupt in diesem rasenden Tumult! Zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengeballt, wälzte, stürzte sich alles vorwärts – ich wurde mitgerissen, fiel auf die Knie, lag platt zu Boden, taumelte wieder auf, bekam eine eiserne Stange zu fassen und hielt mich daran mit aller Kraft meiner Hände. Da schlug eine neue Sturzsee herein und riß zwei von den Rettungsbooten herunter, im Nu waren die Trümmer in der Tiefe verschwunden. Die Menschen waren nun wie wahnsinnig. Ich hielt mich mit blutenden Händen am Eisen fest. Wohin? Wohin? In das einzige Rettungsboot dort unten, das hundert und mehr Menschen in sich aufnehmen sollte? Wie ich dazu kam, mich über den Schiffsrand zu werfen und etwas zu packen, was da herabhing, das weiß ich heute nicht mehr. Ein Stück ließ ich mich mechanisch abwärts gleiten, ich wurde hin und her geschleudert, glitt wieder, ließ mich dann herabfallen wie einen Sack – und fand mich im Boot, wo ich mich mit Händen und Füßen an eine Sitzbank anklammerte – erschöpft, halbtot.“
Hier machte Rolf Görnemann eine Pause und rang nach Atem. Die Schilderung hatte ihn aufs neue erregt – sein von der schweren Krankheit geschwächter Körper zitterte, das Gesicht war fahl. Der alte Leupold nickte ernst zu ihm hinüber und klopfte ihn aufmunternd aufs Knie.
„Ja, ja – so ’was will erlebt sein! Na, nur Mut, nur Mut! Haben Sie nicht ’n Glas Wein zur Hand?“
Der junge Mensch nickte und versuchte zu lächeln. Er ging zu einem kleinen Schrank, holte eine Flasche und drei Gläser heraus und goß einen blutrot funkelnden Wein ein. Ilse machte eine ablehnende Bewegung. „Du trinkst!“ befahl Kapitän Leupold kurz, und sie gehorchte zögernd.
„Ein guter Tropfen! Thut wohl! Trinken Sie noch ’n Glas, Kamerad, Sie haben’s nötig! So! Und nun – wenn Sie weiter können –“
„Ich hoffe!“ Rolf trocknete sich die Stirn und schöpfte tief Atem, dann fuhr er fort. „Unmittelbar nach mir sprangen und fielen noch andere ins Boot, es war zuvor schon halb gefüllt gewesen jetzt war es so besetzt, daß es bis zum Rande sank. Der erste Lieutenant war auch dabei, ich glaube nicht, daß er freiwillig ins Boot gesprungen war, sie werden ihn mitgerissen haben, denn er gebärdete sich wie ein Unsinniger, focht mit den Armen und wollte mit Gewalt zurück auf das sinkende Schiff. Dazu schrie er dicht neben mir aus voller Kraft seiner Kehle: „Rettet den Kapitän! Rettet den Kapitän!“ Natürlich dachte niemand daran, ihm den Willen zu thun – wie wär’ es auch möglich gewesen! Und wieder neue Leute vom Schiff ins Boot, sie sprangen uns andern geradeswegs auf die Köpfe, wälzten sich über uns hinweg – abermals eine neue Sturzsee, und alle die zuletzt Gekommenen waren ausgeschwemmt. Dann trieb unser Boot plötzlich weg von dem Schiff, und das war unser Glück, denn die ‚Nixe‘ sank. Ein einziges Mal noch wandte ich den Kopf zurück und sah, wie das Schiff sich mehr und mehr neigte, ein schwerfälliger Koloß, der den Todesstoß erwartete; auch den Kapitän glaubte ich zu erblicken, flüchtig wie im Leuchten eines Blitzes,
[305][306] auf der Kommandobrücke – zwei, drei Männer in seiner Nähe. Und dann fühlte ich unser Boot gleiten – gleiten in eine unermeßliche Tiefe, ein furchtbarer Wasserschwall prallte gegen uns an – ein Wehgeschrei aus hundert Kehlen zugleich, so schrill, so durchdringend, daß es mir heute noch durch Mark und Bein gellt – mein Kopf schlug gegen etwas Hartes – Wasser überall – ein Gefühl des Erstickens und ich verlor die Besinnung. – Das erste, was ich empfand, als ich wieder einigermaßen zum Bewußtsein kam, war ein schneidender Schmerz um die Brust, und nun merkte ich, daß er von einem Strick herkam, mit dem ich um den Oberkörper fest umwickelt war, und daß ein paar Männer mich hoben und stützten. Um uns brandete und brauste es immer noch, das Boot flog wie ein Ball hin und her. Ich war so kraftlos wie ein Kind, eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegen mich selbst und gegen mein Dasein erfüllte mich. Ich hatte wohl einen Augenblick die Empfindung: Du bist vielleicht von den Hunderten auf der ‚Nixe‘ der einzige, der mit dem Leben davongekommen ist, aber es ließ mich ganz kalt, mich, der immer so gern gelebt hatte! Was mit mir wurde, wer sich um mich bemühte und mit welchem Erfolg – es berührte mich nicht. Die Männer in meiner Nähe hoben mich auf und hißten mich empor, so gut es gehen wollte. Natürlich ging es schlecht, da ich wie ohne Glieder war und gar nicht mithelfen konnte. Aber ich wurde doch an Bord eines Schiffes gezogen und sank dort hilflos zusammen, ein Wrack von einem Menschen. Ein Dutzend fremder Gesichter neigte sich teilnehmend über mich, Cognacflaschen erschienen von allen Seiten – ich schluckte mühsam und fühlte mich besser. Als ich wieder ganz zu mir selber kam, merkte ich, daß der Orkan etwas nachgelassen hatte. Mühsam richtete ich mich auf und spähte und spähte. Kein Schiff zu sehen, so weit das Auge reichte – die ‚Nixe‘ war untergegangen mit allen, allen, die darauf gewesen waren – außer mir, dem Einzigen!“
Rolf Görnemann seufzte tief auf – er war mit seiner Erzählung am Ende. Der alte Leupold preßte ihm stumm die Hand, daß sie schmerzte; Ilse sagte kein Wort. Der Kapitän machte dem jungen Menschen ein Zeichen, er möge dies ihrem Schmerz zugute halten, es ihr nicht übelnehmen. Langsam, wie ein gebrochener Mann, erhob er sich von seinem Sitz. „Komm, mein Mädel! Sag’ dem jungen Herrn Deinen Dank – er verdient’s!“
„O, Herr Kapitän ich bitte Sie! Gnädiges Fräulein – ich –“
Ilse aber hob gehorsam die Hand, reichte sie Rolf Görnemann und sagte mechanisch: „Ich danke Ihnen!“
Dem jungen Menschen stiegen die Thränen in die Augen, als er die schmale Hand küßte; stumm geleitete er seine Gäste bis zur Thür. Was hätte er ihnen zum Trost sagen können? – –
Oheim und Nichte traten den Rückweg in ihren Gasthof an.
„Jan Grenboom, Du gehst gleich zu meinem Schwager, dem Herrn Baron von Doßberg – Du weißt doch, wo er wohnt?“
„Hm!“
„Und sagst ihm mit ’nem schönen Gruß von mir – aber gut aufpassen, verstanden?“
„Hm!“
„Du sagst ihm also, ich wär’ mit seinem Mädel, der Ilse, glücklich wieder aus G. zurück – das heißt, heil und gesund, glücklich nicht! Denn die verdammte Zeitung hat die Wahrheit gesagt, die ‚Nixe‘ ist hin mitsamt ihrem Kapitän – na, da kann sich ja mein Herr Schwager selbst ’n Vers drauf machen! Und nun wär’ sein Mädel ’n bißchen kapntt – und schlafen hätt’ sie so gut wie gar nicht können, und weil sie den Herrn Papa doch bloß immer aufheitern und ihm Komödie vorspielen muß – nein, halt’ ’mal, das sag’ lieber nicht! Bloß, sie hielt’ es einfach jetzt nicht aus, sich da zu ihm hinzusetzen und ihm in aller Vergnüglichkeit um den Bart zu gehen; deshalb behalt’ ich sie hier bei mir bis zum Abend und schick’ sie oder bring’ sie ihm selbst ins Haus. Und er soll sich’s nicht beikommen lassen, sie irgend ’was zu fragen. Da ist nichts zu fragen – Schiff und Kapitän sind verloren, Punktum! Sie kann nichts reden, sie soll in Ruh’ gelassen werden, drum bleibt sie den Tag über bei mir. Alles verstanden?“
„Ob!“
„Alles gehörig an den Mann bringen?“
„Ob!“
„Na, dann troll’ Dich und halt’ das Maul und sag’, was Du zu sagen hast! Die Dido läßt Du zu Hause – Du kannst doch nicht wie ’n Eulenspiegel durch die Gassen laufen! Komm her, Frauenzimmer!“
Das Aeffchen that einen behenden Satz von Jan Grenbooms Arm zu Kapitän Leupolds Schulter; eifrig griff sein Händchen in eine von seines Herrn Rocktaschen und brachte ein paar Nüsse zum Vorschein, die es hurtig aufknackte.
„Wart’, Du unverschämte Kreatur! Wer heißt Dich ohne Erlaubnis Nüsse holen? An die Kette mit Dir!“ In der Nähe von Catos Bauer, in dem dieser gerade die waghalsigsten Turnübungen ansteckte, wurde Dido an die Kette gelegt, eine Prozedur, die der Papagei mit einem schmetternden Hohngelächter begleitete.
Der alte Leupold trat zu Ilse ins „Achterdeck“. Das junge Mädchen saß da, ein Schmuckkästchen von edelster maurischer Arbeit und eine feine venetianische Goldkette im Schoß, die sie scheinbar mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Es waren Geschenke ihres Onkels, Reiseerinnerungen, die er eben seiner Nichte verehrt hatte, und das war viel von ihm, der auf diese Dinge jederzeit so großen Wert gelegt und bisher noch kein einziges Stück von seinen ausländischen Einkäufen weggegeben hatte. Ilse sah aus, als Leupold hereinkam und sich neben sie setzte.
„Möchtest gewiß wissen, wie ich alter Weiberfeind. ’mal dazu gekommen bin, mir allerlei Frauenzimmertand in fremden Ländern auf den Hals zu laden, was?“
Ilse merkte die gnte Absicht, sie zu zerstreuen, und nickte mit einem schwachen Lächeln.
„Ja, damals, als ich das Zeug kaufte, war ich noch kein alter Weiberfeind, sondern ein junger Weiberfreund! Sonderbar, das jetzt von mir zu denken, hm?“
„Eigentlich nicht, Onkel! Du kannst doch nicht immer so gewesen sein, wie Du jetzt bist.“
„Nein, natürlich nicht! Lang’ her freilich, daß ich auf Schmuckkram für Weiber Jagd machte! Hing mit der zusammen!“ Er deutete rückwärts mit dem Daumen nach der „büßenden Magdalena“. „Hast Du Dir nie – aber aufrichtig sein, Prinzeß Ilse! – den Kopf drüber zerbrochen, wer sie“ – wieder die Bewegung mit dem Daumen – „gewesen ist?“
„O ja. Onkel, das hab’ ich gethan.“
„Na, versteht sich! Alle Frauenzimmer sind neugierig wie die Nachtigallen! Dann hast Du wohl auch die Geschichte nicht geglaubt, die ich allen Leuten auf die Nase band, daß mir das Bild in Florenz gefiel und ich mir’s deswegen hab’ kopieren lassen?“
„Nein!“
„Ist auch kein wahres Wort dran. Von Anfang bis zu End’ gelogen! So eine wie die da hat’s nämlich gegeben – ganz genau so eine! Wo ich sie gefunden hab’? Zu Aberdeen in Schottland ist’s gewesen. Wir hatten Unglück gehabt auf dem ‚Albatros‘, so hieß damals mein Schiff, und ’n gutes Schiff war’s und ’n williges Schiff, haben viel zusammen durchgemacht, der ‚Albatros‘ und ich! Also nun kaputt, und mit Müh’ und Not in den Hafen geschleppt und in die Docks gebracht zum Ausbessern. Na, das dauerte lange, und unterdessen konnt’ ich sehen, wie ich mir die Zeit vertrieb. Und ich hab’ sie mir vertrieben, wunderschön sogar, die Tage und Wochen flogen. Auf der Straße, wo ich herumlungerte, bekam ich sie zu sehen – und gleich wie ’n Verrückter, weg in derselben Minute – Blitz und Schlag! Also ihr nachgestiegen und gesehen, wo sie wohnte, ausgekundschaftet, wie sie hieß, ob sie noch zu haben war – na, und was ich sonst noch brauchte. Am andern Tag ihre Bekanntschaft gemacht – ja, so ’n Teufelskerl war ich damals – griff mir schlankweg das schönste Mädel aus ganz Aberdeen und dachte: das gehört sich nicht anders, und das allerschönste ist für mich gerade gut genug. Das Wunderliche dabei war, daß ich ihr gut genug war. Keine acht Tage, da waren wir verlobt und ich rein wie besessen, wie toll – überhaupt keinen andern Gedanken als sie, und bei jeder Erinnerung an Trennung schwach wie ’ne geknickte Lilie! Fort mußt’ ich aber schließlich doch, in ’nem halben Jahr indessen, da sollt’ ich wiederkommen und sie gleich mitnehmen nach Siam, so war’s verabredet worden, und sie freute sich mächtig auf die Seereise und auf Siam und auf mich – ja, auch auf mich, sagte sie. Ich also unterwegs für sie eingekauft, was meine Augen sahen – sie war arm, aber ich saß schon ganz hübsch in der Wolle, und konnte ich’s besser anlegen als so? Allerhand Krimskrams handelte ich ein, [307] auch das Zeug, das Du da jetzt auf dem Schoß hältst, und die Kajüten in meinem alten ‚Albatros‘ ließ ich fein machen mit Teppichen und Bilderu und Vorhängen wie für ’ne Prinzessin. Und dazwischen schrieb ich Briefe auf Briefe und seufzte und bangte mich wie ’n Schmachtlappen. Ich sag’ Dir aber auch: ’s war der Mühe wert! Meine Augen haben manches Schöne gesehen und sehen es auch heute noch“ – Kapitän Leupold neigte seinen kurzen derben Nacken ein wenig gegen seine Nichte, um anzudeuten, das solle ein Kompliment für sie sein – „aber gegen jene aus Aberdeen kommt sobald nichts auf. Wenn die ihre rote Mähne schüttelte und die Augen so spielen ließ – hei, wie konnten die Mannsleute da des Teufels sein! Und als dann alles in Bereitschaft war, Schmucksachen und Kajüte und schöne Kleider, da fuhr ich hin, nach Aberdeen, sie zu holen, mitzunehmeu .... wer aber nicht in Bereitschaft war, das war sie. Einfach auf und davon mit ’nem flotten Spanier, der noch mehr Geld gehabt und ihr am Ende noch besser gefallen hatte als der simple Schiffskapitän. Mich hatten die Leute schon manchmal gewarnt und zumeist der Julius Kamphausen, der Vater Albrechts. Der hatte immer gesagt: trau’ nicht! Wie mir zu Mut gewesen ist, das kann ich nicht beschreiben und will es auch nicht. Nur gut, daß mir keiner sagen konnte, wohin sie sich eigentlich gewendet hatte, und daß sie auch weiter verschollen blieb. Ich war ’ne Zeit lang in solcher Berserkerwut, ich hätt’ sie totgeschlagen, wenn ich sie gefunden hätt’! Aber sie war längst fort, und die Welt ist groß. Also setzte ich mich denn allein in meine Prachtkajüte und fuhr nach Siam und spiegelte mich in all den Herrlichkeiten, die ich ihr zulieb in meiner Verrücktheit aufgespeichert hatte. Eine reizende Hochzeitsreise war’s und prachtvolle Flitterwoche hab’ ich gehabt. Sonst war ich kein schlimmer Kapitän, und meine Mannschaft hat mit mir zufrieden sein können – aber die damals mit mir auf dem ‚Albatros‘ uach Siam gefahren sind, die haben des Glaubens sein müssen, sie hätten den leibhaftigen Teufel an Bord statt ’nes gewöhnlichen Kapitäns. Ich wollte mit Gewalt aus meiner Haut ’raus, na, und das gab ’nen bösen Tanz ab. So nach und nach, da wurd’ ich mit mir fertig, aber mit den Weibern auch; ich hab’ ’nen Strich gezogen, ’nen harten Strich, da darf mir kein Frauenzimmer ’rüber. Den Artikel ‚Herz‘, den hab’ ich abgeschafft, für den hatt’ ich keine Verwendung mehr. Wie ich dann nach ’n paar Jahren ’mal nach Florenz gekommen bin und mir zu meinem Zeitvertreib auch im Palazzo Pitti die Bilder besehen hab’ – ich seh’ gern gute Malereien an – da mußt’ ich beinah’ laut auflachen, als ich die „büßende Magdalena“ da hängen sah! Die? Das ist ja Deine schöne schottische Freundin, wie sie leibt und lebt! Solch ’ne weiße Haut hat die auch gehabt und solch rotes Haär in wilden Locken – und auch ebenso schöne sündige Augen, die ganz so, ganz so durch helle Thränen zu mir aufsahen, als sie von mir Abschied nahm .... bloß daß sie sich kurze Zeit darauf ganz munter und, versteht sich, ohne Thränen in der Welt umsahen, ob nicht einer käme, der diesen Augen am Ende noch besser gefiele als der verliebte Seemann. Die dort in Florenz, die hat ein Mann gemalt, der schon ein paar Jahrhunderte tot ist – meine Schottin kann ihm also nicht Modell gesessen haben. Aber weil ich gern ’ne Erinnerung haben wollte an die größte Verrücktheit meines Lebens und auch ’ne Warnung, obgleich ich mich für ganz geheilt hielt, so ließ ich mir das Ding kopieren, und ’n schönes Stück Geld hat’s mich gekostet. Gut ist’s aber geraten, so gut, wie ’ne Kopie werden kann. Da hängt sie nun und büßt und weint auf ihre Art, und ich seh’ sie nie an, ohne daß mir allerlei Gedanken kommen. Das eine aber sag’ ich Dir, Prinzeß Ilse: kein Mensch auf der Welt kennt diese Geschichte außer Dir, und sagst Du irgend einem ein Sterbenswort davon, dann sind wir geschiedene Leute! So schlecht aber denk’ ich nicht von Dir – wenn einem Frauenzimmer auf Erden, dann trau’ ich Dir. Und weil Dir das Meer den Liebsten genommen hat, darum hab’ ich Dir dies Kapitel von der ‚büßenden Magdalena‘ erzählt .... Glaub’ mir, der ist noch übler dran als Du, dem das Leben das Liebste raubt! Das Meer – dabei ist Gottes That, und Gott kann geben und nehmen, aber des Menschen eigene Treulosigkeit und Schlechtigkeit, die macht uns das Herz im Leibe tot, und um solch ’n Menschenherz ist’s doch manchmal schade, ja, manchmal schade!“
Ilse sagte kein Wort zu Leupolds Erzählung, aber sie hatte zugehört, die Genugthuung wurde ihm – ihre Augen bewiesen es. Er nahm ihre Rechte und klopfte ’mit seiner Hand darauf, sehr sanft und zart, wie er meinte. Aber Erich Leupold hatte es verlernt, Liebkosungen auszuteilen, es war gar zu lange her, daß er sich darin geübt hatte. Eine feine Mädchenhand, die verstand er nicht mehr zu behandeln, wohl aber eine wunde Mädchenseele – Ilse fühlte, wie ihr die Nähe dieses seltsamen alten „Weiberfeindes“ merkwürdig gut that. Der Alte wäre sehr erstaunt gewesen, wenn er dies gewußt hätte, er, der mit dem Artikel „Herz“ schon so lange, lange Jahre gänzlich aufgeräumt zu haben glaubte.
„Mädel,“ fragte er endlich in die lange Stille herein, „hast Du Dir in der Nacht, wo Du gar nicht geschlafen hast in Deinem Unverstand, irgend ’was über Deine Zukunft zurechtgelegt? Ich mein’ bloß ... so wie ich Dich kenn’ – immer neben dem Herrn Papa dasitzen –“
„Nein, nein, Onkel Erich!“ Zum erstenmal blickte und sprach Ilse ein wenig lebhafter. „Das möchte ich nicht, das halt’ ich nicht aus! Etwas zu thun muß sich für mich finden, muß, sag’ ich Dir, wenn ich nicht kläglich an mir selbst zu Grunde gehen soll;, irgend eine Aufgabe muß da sein, an die ich meine ganze Kraft setzen kann –“
Leupold nickte befriedigt. „Recht so! Na, da hab’ ich mich ’mal nicht in ’nem Menschen getäuscht, abgleich der Mensch ’n Frauenzimmer ist. Natürlich, ’ne Aufgabe! Aber welche?“
„Ich kann mich von Papa nicht trennen, Onkel!“
„Das ist unmöglich! Er, der ohnehin kaum halb mehr lebt, und ich fort von ihm .... nein, niemals!“
„Hm! Aber wenn nun - sieh ’mal, ich mein’ ja bloß so – aber wenn nun, der Mensch soll lieber gleich an alles denken – na, wen bringt uns der alte verrückte Tapir, der Jan Grenboom, denn da zum Haus geschleppt?“
„Ich kann jetzt niemand sehen, Onkel!“
„Versteht sich! Was solltest Du jetzt mit Menschen? Aber das Nilpferd muß seinen letzten Rest von Verstand eingebüßt haben, weiß, wie hier die Sachen stehen, und bringt ’nen Fremden .... nein, ’s ist doch kein Fremder! Uberwind’ Dich ’mal, Prinzeß, sieh zum Fenster hinaus! Ist das nicht Euer Doktor Morschewsky?“
„Um Gotteswillen, es wird doch nichts mit Papa“ – das junge Mädchen war aufgesprungen und an die Thür geeilt. Ehe sie diese erreicht hatte, öffnete Jan Grenboom sie schon von außen und schob mit ein paar völlig unverständlichen Knurrlauten, die vielleicht eine Ankündigung, vielleicht eine Entschuldigung bedeuten sollten, seinen Begleiter über die Schwelle.
Doktor Morschewsky war ein feiner ältlicher Herr, noch sehr hübsch und beträchtlich eitel, was ihn aber nicht hinderte, zugleich ein vortrefflicher Arzt zu sein, der ein bewundernswert sicheres Auge, eine feste und doch leichte Hand besaß und somit das Zutrauen seiner zahlreichen Kranken vollauf rechtfertigte. Mit den Doßbergs war er seit langen Jahren in Verbindung und hatte sich dort im Hause allgemach die Stellung und Rechte eines Freundes erworben.
Mit einem freien und leichten Anstand, der den vornehmen schlanken Mann gut kleidete, verneigte er sich vor Ilse und dann vor Kapitän Leupold. „Verzeihen Sie gütigst mein Eindringen, Herr Kapitän. Ich weiß, Sie sind kein Freund von unerwarteten und ungebetenen BesUcheN: Schieben Sie den meinigen auf die Dringlichkeit der Sache, die den Anlaß zu meinem Erscheinen giebt!“
Der Kapitän nahm die dargereichte frauenhaft zarte Männerhand und drückte sie mit seiner braunen „Tatze“ kräftig, dann rückte er dem Gast einen Stuhl zurecht.
„Setzen Sie sich hin, Doktor, und reden Sie!“
Der Arzt nahm zunächst Ilses Hand und küßte sie. „Ich war bei Ihrem Vater, liebe Isolde, als der Bote des Herrn Kapitäns kam. Ich weiß nicht, was Ihnen geschehen ist, Ihr Vater hat es mir nicht gesagt. Wird das, was ich Ihnen jetzt mitzuteilen für meine Pflicht halte, als Arzt wie als Freund, einen neuen Kummer, eine neue Sorge hinzufügen .... dann, bitte, vergeben Sie mir! Wir Menschen können nur nach unserem besten Ermessen handeln, unser Wissen ist Stückwerk, und einer höhern Macht bleibt es vorbehalten, was wir in unserer Kurzsichtigkeit schauen, zu durchkreuzen oder zum glücklichen Ende zu führen.“
Kapitän Leupold ließ ein ungeduldiges Räuspern hören. Was sollten all’ die schönen Redensarten?
„Ich komme zur Sache!“
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In eigener Sache. Vor einiger Zeit ging uns aus unserem Leserkreis die von Äußerungen lebhafter Entrüstung begleitete Mitteilung zu, daß der Herr Pfarrer Eichhorn in Ansbach von der Kanzel herab vor dem Lesen der „Gartenlaube“ gewarnt habe. Der Fall ist ja an sich nicht der erste seiner Art, sogar nicht einmal der schlimmste. Haben wir doch erst kürzlich von einem anderen Seelsorger in der Würzburger Gegend erfahren, daß er, nicht damit zufrieden, die „Gartenlaube“ von der Kanzel herab zu verdammen, sogar Mittel und Wege gefunden habe, wider Recht und Befugnis Einblick in die Postabonnentenliste seines Ortes zu erhalten – doch wohl zu keinem andern Zwecke, als um die Leser der verfemten „Gartenlaube“ in seiner Gemeinde bei Gelegenheit ihre Unthat entgelten zu lassen. Wir hätten also auch jenen Ansbacher Angriff gelassen übergehen können, in dem Bewußtsein, daß er uns ebensowenig schaden würde wie die andern. Weil aber aus den Zuschriften unserer Leser eine so lebhafte Erregung und Beunruhigung sprach, so baten wir den Herrn Pfarrer Eichhorn um Aufklärung über den Sachverhalt und über die Gründe, die ihn zu seinem Vorgehen bestimmt hätten.
Die Antwort, die wir daraufhin erhielten, bestätigte zunächst die Thatsache jenes Angriffs, und zwar führte der Herr Pfarrer näher aus, daß er die „Gartenlaube“ genannt habe als Typus einer Lektüre, die „den Weltsinn stärke und von Gott abziehe – auch ohne direkte Polemik gegen den christlichen Glauben durch den gottentfremdeten Geist, aus dem sie stamme“. Allerdings könne er „in Bezug auf die letzten zwanzig Jahre aus eigener Erfahrung nicht sprechen, da er in dieser Zeit selten mehr ein illustriertes Blatt zur Hand genommen habe“.
Das ist nun die Kampfweise! Man verdammt, ohne zu hören, man verwirft, ohne zu prüfen!
Wenn man über die „Gartenlaube“ öffentlich zu Gericht sitzen will, dann ist es doch die nächste und einfachste Forderung der Billigkeit, daß man auch wisse, was darin steht, und daß man nicht auf Grund von beiläufigen Erinnerungen aus früheren Jahren sein Urteil fälle.
Hätte der Herr Pfarrer die „Gartenlaube“ wirklich gelesen, unparteiisch und ohne Vorurteil, dann wäre ihm vielleicht eine Ahnung davon aufgegangen, daß sie doch auch eine sittliche Aufgabe in der Welt zu erfüllen hat und erfüllt, daß der Same von Bildung und Wissen, den sie jahraus jahrein in Millionen von Exemplaren ausstreut, Früchte trägt, die kein Einsichtiger und Billigdenkender, welches Glaubens er auch sein möge, verachten wird. Herr Pfarrer Eichhorn würde, wenn er die „Gartenlaube“ gelesen hätte, auch davon etwas bemerkt haben, daß dieses „gottentfremdete“ Blatt zur Linderung von Not und Elend auf der Welt schon gar viel beigetragen, manchem Verkannten die gebührende Anerkennung verschafft, manchen Verlorenen der Heimat und den Seinen wieder zugeführt hat! Und wir dürfen hoffen, daß er dann minder eilig gewesen wäre mit seinem Verdammungsurteil.
Das Goethehäuschen bei Frankfurt a. M. (Zu dem Bilde S. 293.) Auf der Höhe hinter Sachsenhausen, an einem der ländlichen Wege, die sich durch das Gartengelände des Mühlbergs ziehen, liegt ein schlichtes, vieleckiges, schieferverkleidetes Bauwerk, ein Türmchen mit einer Art Galerie, auf die man aus einem freundlichen Zimmerchen hinaustritt. Ein herrlicher Ausblick eröffnet sich da oben auf das Thal und die Stadt und darüber hinweg auf die Berge des Taunus – aber nicht dies allein ist es, was dem Häuschen seine Bedeutung giebt und was es zu einem Gegenstande der Verehrung für das lebende Geschlecht macht. Erinnernng spinnt ihre Silberfäden um das bescheidene Gemäuer und umhüllt es mit verklärendem Scheine.
Noch leben wir in einer Zeit, da man gehobenen Sinnes eine Stätte betritt, die durch Goethe geweiht ist.
Es waren nur wenige Stunden, die Goethe in dem Weinberghäuschen zugebracht hat. Aber es waren für ihn Stunden weihevoller Erhebung, Stunden, die sich seinem Gedächtnis tief eingruben, in denen wohl die erste Ahnung jenes wunderbaren Herzensfrühlings in ihm keimte, der in den Liedern Hatems und Suleikas im „Westöstlichen Divan“ sein ewig dauerndes Denkmal gefunden hat. Die Frau, der er ihn verdankte, war Marianne von Willemer.
Kurz vor Weihnachten 1798 war in Frankfurt ein Balletmeister Traub mit seiner Truppe eingetroffen; in Begleitung desselben befand sich auch die Witwe des Instrumentenmachers Mathias Jung aus Linz in Oberösterreich mit ihrer damals vierzehnjährigen Tochter Marianne. Die reizende Erscheinung, der lebhafte Geist und die über das Maß ihres Standes weit hinausgehende Bildung des jungen Mädchens zeitigten in dem Bankier und Geheimerat Johann Jakob Willemer, einem um Kunst und Wissenschaft hochverdienten Manne, der eben damals (1800) auch in die Oberdirektion des Frankfurter Nationaltheaters eingetreten war, den hochherzigen Entschluß, Marianne den Gefahren der Bühne zu entziehen und sie in seinem Hause mit seinen Töchtern erziehen zu lassen. Die Mutter wurde für die Vorteile, welche sie aus der Bühnenthätigkeit ihrer Tochter gezogen hatte, durch die Auszahlung einer Summe von 2000 Gulden entschädigt, blieb aber bis in ihr hohes Alter in innigem Verkehr mit der Tochter.
Dank den reichen Mitteln und dem vielseitig anregenden Verkehr im Hause des Senators entwickelten sich Mariannens glückliche Gaben zu reizender Blüte, immer schöner und freier trat ihr Talent für künstlerische Ausschmückung des Daseins hervor. Sie erwarb sich eine anmutige Fertigkeit im Zeichnen, ihr Gesang entfaltete sich zu künstlerischer Vollendung – was ihr aber den höchsten Zauber lieh, das war ein ungewöhnlich zartes dichterisches Empfinden und das Vermögen, diesem Empfinden die feinste Form zu geben. So stand dieses gottbegnadete Menschenkind glücklich und beglückend unter ihren Mitmenschen, in dem Kreise, der sie aufgenommen, und ihrem Zauber gab sich gefangen, wer diesen Kreis betrat.
Es ist begreiflich, daß der Aufenthalt Mariannens im Hause Willemers, der bei ihrem Eintritt 40 Jahre alt und seit 4 Jahren Witwer war, klatscheifrigen Zungen Gelegenheit zu boshaften Bemerkungen gab; man spottete über des Hausherrn pädagogische Vorliebe für schöne Gegenstände. Und doch waren beide über jeden niedrigen Verdacht weit erhaben! Die reinste Neigung zu seiner Schutzbefohlenen gab ihm erst nach Jahren den Gedanken ein, sie als dritte Gattin zum Altare zu führen. Das geschah am 27. September 1814. Wenige Tage vorher war Goethe, der mit Willemer schon von lange her in brieflichem Verkehre gestanden hätte, zum erstenmal in den Familienkreis auf der Gerbermühle – Willemers Landsitz bei Oberrad – zu flüchtigem Besuche eingetreten. Als er im Oktober von Heidelberg zurückkehrte, wo er mit Sulpiz Boisserée über allerlei Fragen der deutschen Kunst sich beraten, verkehrte er viel mit dem neuvermählten Paare – und in diese Tage, da das gegenseitige Verhältnis der Freunde fühlbar an Wärme und Innigkeit gewann, fällt auch der Besuch Goethes und Mariannens in jenem Weinberghäuschen auf dem Mühlberg.
Es war am 18. Oktober. In Frankfurt wurde wie fast überall im deutschen Vaterlande der erste Jahrestag der Schlacht bei Leipzig mit Glockenläuten und Chorälen von den Kirchentürmen, des Abends dank einer Anregung von Ernst Moritz Arndt durch Anzünden von Freudenfeuern auf den Berghöhen festlich begangen. Das erhebende patriotische Schauspiel dieser Feuergrüße mitanzusehen, fuhr Goethe mit Willemer und seiner Frau hinaus nach dem Weinberghäuschen. Eine Karte der Umgebung Frankfurts ward aufgelegt, auf welcher Marianne die erleuchteten Stellen mit roten Tüpfchen bezeichnete. Sodann reichte sie Goethe einen sorgfältig gespitzten Bleistift, womit er auf einem Fensterpfosten die Worte einzeichnete: „Goethe den 18. Oktober 1814.“ Daß er einen Vers beigeschrieben habe, wird von mehreren Verwandten angegeben; Marianne selbst hat späteren Freunden nichts davon berichtet. Die Inschrift selbst wurde nach Jahren infolge von Unachtsamkeit zu Mariannens tiefem Verdruß übertüncht.
Auf Goethe hat dieser Herbstabend mit seinen Flammenzeichen einen tiefen Eindruck gemacht, dessen Spuren wiederholt in seinen Briefen wiederkehren. Der ideale Herzensbund der beiden kam aber erst im folgenden Jahre zur vollen Entfaltuug, und nicht das schlichte Weinberghäuschen, sondern die Ruinen des Heidelberger Schlosses durften Zeugen seiner höchsten Weihe sein. Dort haben sich Goethe und Marianne Willemer auch zum letztenmal gesehen, am 26. September 1815; aber die Fäden, die sich angesponnen, hielten fest fürs Leben, wofür der schöne Briefwechsel, der uns erhalten ist, ein redend Zeugnis bildet. In jenem schönen geistigen Sinne, der diesem ganzen Liebesverhältnis eigen ist, gelten von Marianne die Worte, die sie einst auf dem Höhepunkt ihres Glückes gedichtet:
„Nimmer will ich Dich verlieren!
Liebe giebt der Liebe Kraft.
Magst Du meine Jugend zieren
Mit gewalt’ger Leidenschaft.
Ach, wie schmeichelt’s meinem Triebe,
Wenn man meinen Dichter preist:
Denn das Leben ist die Liebe
Und des Lebens Leben Geist.“
Das Goethe-Willemer-Häuschen auf dem Mühlberge will die Stadt Frankfurt unter ihre besondere Obhut nehmen, um es noch für lange Zeiten zu erhalten, als eines der vielen Andenken an ihren größten Sohn.
Alter Abonnent in Gr. Sie haben ganz recht. Die Verschmelzung von „Schorers Familienblatt“ mit der „Gartenlaube“ ist in der Weise erfolgt, daß den Abonnenten von „Schorers Familienblatt“ vom 1. April d. J. ab die „Gartenlaube“, unter dem Titel „Schorers Familienblatt, vereinigt mit Gartenlaube“, als Ersatz angeboten wird. Auf den Inhalt der „Gartenlaube“ hat diese Verschmelzung durchaus keinen Einfluß.
W. V. in Wien. Sie reimen hintereinander „Kehle“ auf „Geselle“, „Freud’“ auf „Maid“, „starren“ auf „Jahren“ und bieten in solchen Versen auch noch „der Menschheit ganzen Jammer“ – das ist zu viel des Guten.
N. N. in Halle a. d. S. Im Paragraph 89, Ziff. 6 der „Deutschen Wehrordnung“ finden Sie alles, was auf Ihren Fall Bezug hat.
C. 21. Finnland. Vielleicht kommen wir einmal auf das Thema zurück. Aber einen unserer alten Artikel einfach noch einmal abzudrucken, das geht nicht an.
Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (17. Fortsetzung). S. 293. – Das Goethe-Willemer-Häuschen bei Frankfurt a. M. Bild. S. 293. – Maienzeit. Gedicht von Anton Ohorn. Mit Bild. S. 297. – Volkstümliche Klassikerausführungen. Von Dr. Burckhard. S. 299. – Die Pampas Argentiniens. Von C. Forst. S. 301. Mit Abbildungen S. 301 und 305. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (17. Fortsetzung). S. 302. – Blätter und Blüten: In eigener Sache. S. 308. – Das Goethehäuschen bei Frankfurt a. M. S. 308. (Zu dem Bilde S. 293.) – Kleiner Briefkasten. S. 308.
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