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Die Gartenlaube (1894)/Heft 17

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

Nr. 17.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(16. Fortsetzung.)


Mätzel kniete neben dem Herd und überwachte eine Pfanne, während eine greise Frau die dampfende Milchsuppe in hölzerner Schüssel zum Tische trug. Sie war, wie Hiltischalk, in eine lange schwarze Lodenkutte gekleidet, deren weite Aermel die welken Arme zeigten; zwei dünne weiße Zöpfe hingen über die Brust der Greisin, und tief in Stirn und Wangen des stillen freundlichen Faltengesichtes reichte das aus Garn geklöppelte Häubchen, welches den Scheitel bedeckte. „Schau’, mein lieber Bruder,“ sagte Hiltischalk zu Eberwein, „schau’, das ist meine gute brave Hiltidiu.“ Er humpelte auf die Greisin zu und faßte sie am Aermel. „Komm, Hilti, komm, thu’ unseren Gast begrüßen und dank’ der Freud’, die er gebracht hat in unser Haus!“

Eine dünne Röte glitt über die Wangen der alten Frau, als sie die Hand dem Mönche zum Gruße bot. „Gesegnet sei Dein Eingang, Herre, in unserem Haus!“ Ihre Stimme klang weich und leise wie das Plaudern einer Quelle.

Hiltischalks Antlitz leuchtete vor Freude, als er sah, wie das Auge seines Gastes mit herzlichem Blick auf Hiltidiu ruhte. „Ich danke Deinem Gruß!“ sagte Eberwein zu der Greisin. Und zu Hiltischalk gewendet: „Deine Schwester, Bruder? Ich sehe, sie gleichet Dir.“

Mit fröhlichem Kichern rieb der Greis die Hände. „Freilich, freilich gleichen wir uns. Sind wir doch ein Herz und eine Seel’ seit zweiundfünfzig Jährlein! Nimm zwei Felsen, Bruder, und laß sie herunterrollen über den ganzen Berg, von der höchsten Höh’ bis tief ins Thal ... wenn sie drunten sind und das letzte Hupferlein machen, schaut einer wie der ander’ aus ... da hat ein jeder die Ecken abgestoßen. Freilich, freilich gleichen wir uns ... aber meine Schwester ist die Hilti nicht!“

„Deine Magd?“. klang Eberweins erstaunte Frage.

Lächelnd schüttelte die Greisin den weißen Kopf, während die frohe Laune Hiltischalks zu hellem Lachen wuchs. „Freilich, freilich eine Magd ... eine gute fromme Gottesmagd. Aber meine Magd? Der liebe Herre soll mich bewahren, daß ich sie je gehalten hätt’ wie eine Magd. Nein, nein, mein lieber Bruder, die Hilti ist mein gutes braves Weib!“

Erschrocken trat Eberwein zurück und jähe Blässe rann über sein Antlitz. Der Greis gewahrte die Wirkung seiner Worte nicht. Er hatte Hiltidius Hand erfaßt und streichelte zärtlich ihre dürren Finger. „Zweiundfünfzig Jährlein! Und alleweil harren wir noch auf den ersten Streit, den wir haben sollen. Wohl wohl, recht und treu haben wir zusammengehalten wie zwei rechte Christenleut’ in gottesfürchtiger Eh’. Und hat es uns der gute Herr im Himmel nicht gelohnt? Hat er uns nicht alle Lieb’ und Freud’ genießen lassen, bis auf eine? Und die hat er uns versagt in seiner Weisheit! Wir haben ja hundert Kinder gehabt um unser Haus her ...“ Er wandte sich zu Eberwein. „Und das kannst mir glauben, mein lieber Bruder, die Hilti ist ihnen eine gute Mutter gewesen, und so


Zum Gruße.
Nach einem Gemälde von W. Hasemann.
Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.



[278] manches harte Köpfl, das ich nicht hab’ ducken können in Güt’ oder Streng’, das hat meine Hilti vor dem Kreuz gebeugt mit ihrer Mutterhand. Aber schau’ nur, schau’ ... das Süppl will ja schon nimmer dampfen. Komm, jetzt wollen wir uns niedersetzen! Aber beten müssen wir auch noch! Freilich, freilich, das muß alleweil das erste sein!“

Er trat zum Tisch und faltete die Hände. In frommer Inbrunst hingen seine Augen am Kreuz, und mit seinen betenden Worten mischte sich die sanfte leise Stimme der Greisin. „Amen!“ sprach Hiltischalk und rieb die Hände. „Komm, lieber Bruder, setz’ Dich auf den Ehrenplatz!“ Da gewahrte er die Verwandlung in Eberweins Zügen und stammelte erschrocken „Ja lieber Bruder, ja was ist Dir denn?“

Eberwein trat auf ihn zu, mit nassen Augen und bebender Stimme. „Hiltischalk, ich darf nicht zehren an Deinem Tisch!“

Zitternd stand der Greis. „Ja warum denn nicht?“ Hiltidiu war an seine Seite getreten, als fühlte sie, daß eine Gefahr ihn bedrohe.

Eberwein drückte die beiden Hände auf Brust und Stirne; dann atmete er tief und richtete sich auf. „Hiltischalk! Weise die Frauen aus der Stube, ich habe mit Dir zu sprechen!“

Der Priester starrte auf den Mönch, als hätte er seine Worte nicht verstanden. Hiltidiu aber ging lautlos zum Herd, faßte Mätzel bei der Hand und zog sie zur Thür. „Ihr könnet laut reden,“ sagte sie, „wir gehen weit vom Haus.“

Hiltischalk blickte ihr nach, während sie die Stube verließ, dann sah er wieder auf den Mönch, rührte die Lippen und fand kein Wort. Eberwein schlug die Hände zusammen, und wie der Aufschrei eines Verzweifelnden klang seine Stimme: „Hiltischalk, Hiltischalk! Was hast Du mir angethan!“

„Ich, lieber Bruder? Was denn?“ stotterte der Greis.

„Ich bin getreten in Dein Haus, als wär’s in eine Kirche, Gottes Nähe meinte ich zu fühlen an Deiner Seite. Nun wirfst Du Feuer über mich und weckest Zwietracht zwischen meinem Herzen und heiliger Pflicht.“

Der Greis zitterte, daß ihn die alten Knie kaum mehr trugen. „So ’was hätt’ ich gethan? Ich? Ja wieso denn?“

„Du kannst noch fragen?“ Helles Entsetzen klang aus Eberweins Stimme. „Hast Du denn nicht ein Weib?“

„Wohl wohl, lieber Bruder!“

„Ein Weib! Du – ein Priester!“

„Wohl wohl! Aber laß das jetzt ... komm doch drauf: was hab’ ich denn gethan? So red’ doch einmal ... was hab’ ich denn gethan?“

Eberwein griff an seinen Kopf, als wüßte er sich nimmer Rat noch Hilfe. „Ja Mensch, wie redest Du? Mitten in Flammen stehst Du, Deine Kleider und Haare lodern, und Du fragst: wo brennt es, wo denn, wo? Ja weißt Du denn nicht, daß es Dir als Priester verwehrt ist, ein Weib zu nehmen, daß Du in schwerer Sünde lebst wider der Kirche heiligstes Gebot?“

Mit beiden Händen griff Hiltischalk nach der Tischkante und sank auf die Holzbank nieder. Zitternd saß er und strich sich über das Gesicht, als müßte er einen bösen Traum verscheuchen. Dann schüttelte er Kopf und Hände, und beinahe heftig stammelte er: „Mein lieber Bruder, jetzt muß ich Dir aber doch sagen: Du thust Dich irren! Wenn ich kein Weib haben dürft’, wie hätt’ es denn nachher sein können, daß vor zweiundfünfzig Jährlein der hochwürdigste Herr Bischof in der Salzaburg meine Hilti und mich zusammengegeben hat? Vierzig Denar’ hab’ ich gezahlt zur Sportel ... ich hab’ sie aufgebracht mit Müh’ und Not ...“ In ratlosem Jammer hatte Hiltischalk sich von der Bank erhoben. Seine Blicke fielen auf das Kreuz, er streckte die zitternden Hände aus, und da schien es über ihn zu kommen wie Trost und Ruhe. „Nein, Bruder, nein, Du mußt Dich irren! Ich sollt’ meine Hilti nicht haben dürfen? Ja, warum denn nicht? Ich bin ja kein Ordensbruder wie Du! Dich bindet ein heilig’ Gelübd’, aber ich, Bruder, ich bin ja doch ein niedriger Leutpriester wie tausend andere. Wie ich noch ein junger Klerikus gewesen und umgezogen bin da draußen im tiefen Land, da hab’ ich doch überall den Pfarrherrn sitzen sehen mit seiner guten Pfarrin, und wie sie mich dahergeschickt haben in die Einöd’ ... alles hat mir fehlgeschlagen bei den harten Köpfen, ich hab’ schon gemeint, ich muß verzweifeln ... aber da hat mich der liebe Himmelsherr die Hilti finden lassen, und sie ist mein Trost geworden und meine Hilf’ zu allem Guten. Und wenn ich sie genommen hab’, so hab’ ich ja nur gethan, was draußen im Land viel tausend andere thun!“

„Was jene thaten, es war ein Greuel, sagt die Kirche!“

Der Greis schüttelte den Kopf. „Nein, lieber Bruder, nein, wie könnt’ eine fromme Eh’ vor Gott ein Greuel sein! Nein, das kann die Kirch’ nicht sagen! Ich weiß schon, wohl wohl ... wie ich noch ein junger Klerikus gewesen bin, da hab’ ich oft gehört, daß über den Bergen sell drüben im welschen Land ein paar hitzige Köpf’ so reden, als wär’ die fromme Priestereh’ ein Greuel ...“

„Nein, Hiltischalk, nein! So hat der Papst entschieden, der Papst!“ rief Eberwein, wie in Qual und Marter. „Auf heiligem Konzil, umgeben von allen Bischöfen der christlichen Welt!“

„Ach Du mein lieber Herr im Himmel droben!“ lachte der Greis, bis in die Lippen erbleichend. Schweigend und schwer atmend, standen sie voreinander, als wäre der eine gleiche Jammer in ihnen beiden. In die dumpfe Stille klang von einer nahen Halde her der fröhliche Gesang zweier Stimmen; dort oben wandelte ein Bursch mit seinem Mädchen in der Sonne, und die beiden Herzen, die sich gefunden, jubelten ihr Glück dem Himmel zu.

„Ja sag’ nur, Bruder, sag’ ... davon hör’ ich ja heut’ das erste Wörtlein!“ sagte Hiltischalk mit tonloser Stimme, „wann wär’ denn das gewesen?“

„Vor vierzig Jahren!“

„Aber schau’ doch, wie hätt’ ich denn das wissen sollen! Ueber die vierzig Jahr’ lang bin ich nimmer hinausgekommen aus meinem einödigen Sitz, über die vierzig Jahr’ lang hab’ ich keinen mehr gesehen, der das heilige Häs getragen hat. Wer hätt’ mir’s denn sagen sollen? Und schau’ doch, schau’ ... was wär’ denn anders geworden, wenn ich’s gewußt hätt’?“ Ein Gedanke des Trostes fiel in sein Herz wie Sternschein in die Nacht. „Ich und die Hilti, wir sind ja schon über die fünfzig Jahr’ lang Mann und Weib! So kann’s ja doch für uns nicht gelten!“

„Das Wort des Papstes hat gelöset, was gebunden war,“ stammelte Eberwein. „Wer Priester bleiben wollte, mußte lassen von seinem Weibe. Das ist gegangen durch alle Lande wie ein Sturm, und nur an Deinen Herd hat keine Welle geschlagen? Land auf und nieder sitzet kein beweibter Priester mehr, nur Du noch, Du!“

„Ich, der Einzig’!“ Hiltischalks Hände griffen in die Luft, und wie ein Schwindel überkam es den Greis. Mit beiden Armen umfing ihn Eberwein, ließ ihn auf die Holzbank niedersinken, setzte sich an seine Seite und hielt ihn umschlungen an seiner Brust. „Wär’ ich doch nie gekommen, hätt’ ich dieses stille reine Haus doch nie betreten!“ rang es sich in heißer Qual von seinen Lippen. „Glück will ich säen und muß doch Unheil streuen, wohin ich schreite!“

Hiltischalk richtete sich auf und löste sich aus Eberweins Armen. „Du mußt Dich irren, Bruder – es kann nicht sein, ich kann’s nicht glauben ... oder schau’, ich müßt’ versterben dran! Wie meine Hilti und ich gehauset haben miteinander – vor einer Stund’ noch hab’ ich gemeint, es müßt’ der liebe Herr im Himmel seine Freud’ dran haben! Und jetzt auf einmal soll ...“ Das Wort erstickte ihm, als würde sein Hals zugeschnürt. Er schüttelte Kopf und Hände. „Nein, Bruder, nein! Alles in schuldigen Ehren ... aber wie könnt’ denn ein Konzilium sprechen wider das Heilige Buch?“ Mit beiden Händen faßte er Eberweins Arm und keuchte: „Oder steht denn nicht geschrieben, daß die Apostel Weib und Kind gehabt ... der heilige Petrus selber! Heißt es nicht bei Paulus an die Korinther: ‚Haben wir nicht, so wie wir essen und trinken, auch das Recht, von einer christlichen Frau uns begleiten zu lassen wie die Apostel, wie die Brüder des Herrn und Kephas?‘ Und eins noch, Bruder, eins noch ... heißt es nicht bei Paulus an Timotheus: ‚Darum muß ein Priester unbescholten sein, eines Weibes Mann, der seinem Haus gut vorstehet, denn wie könnt’ er sonst in allem ein gutes Beispiel geben seiner Gemein’?‘ Wart’ nur, Bruder ... die Stell’, die muß ich Dir zeigen ...“ Er humpelte davon und stolperte über die Schwelle einer Kammer. Die schlaffen Hände im Schoß, mit nassen Augen, starrte Eberwein ihm nach.

Einen plumpen Pergamentband auf den Armen schleppend, kehrte Hiltischalk zurück. „Komm nur, komm ... die Stell’, die muß ich Dir zeigen!“ Er legte das Buch auf den Tisch, die Schüssel zurückstoßend, daß die erkaltete Suppe den Rand überschwankte; rote Flecken erschienen auf seinen bleichen Wangen; [279] immer wieder fuhr er mit dem Aermel über die Augen, um die Zähren fortzuwischen und bei dem zitternden Eifer, mit welchem er den ersten Brief an Timotheus suchte, fielen einzelne Blätter aus dem Bande, vergilbt und brüchig, mit halb erloschener Schrift, an Kanten und Ecken übel zugerichtet von den Zähnen der Mäuse und der Zeit. „Gleich muß es kommen ...“ Er warf die Blätter um und suchte: „An Timotheus, drittes Kapitel, zweiter Vers ... da schau’ her, da muß es stehen ...“ Er wollte mit dem Finger deuten; aber da stand er wie entgeistert und starrte auf das Pergament, welches bis über die Mitte zu Fasern und Fetzen zerbissen war. „Jetzt haben mir die Mäus’ das heilige Wort gefressen ...“ Lachend sank er in die Knie, fiel mit Gesicht und Armen über das Buch und brach in bitterliches Schluchzen aus.

Eberwein erhob sich, mühsam, als hätte er nicht mehr die Kraft, zu stehen. In seinen Zügen spiegelte sich der Kampf, der ihm das Herz erfüllte; sein reines menschliches Empfinden und Erbarmen auf der einen Seite, auf der anderen die beschworene Pflicht seines kirchlichen Amtes. Er legte die Hand auf die Schulter des schluchzenden Greises, doch er fand kein Wort des Trostes, kein Wort des Rates, weder für Hiltischalks Jammer, noch für die eigene Pein. „Ich kann ihn nicht weinen sehen,“ stammelte er, „ich ertrag’ es nicht!“ Und die Hände vor die Augen schlagend, taumelte er aus dem Hause.

Hiltischalk richtete sich wankend auf, und seine nassen verstörten Augen irrten in der leeren Stube umher. „Fort ist er! Fort! Hat mich geworfen in Not und in der Not verläßt er mich!“ Mit ausgestreckten Händen lief er zur Thür. „Bruder, mein lieber Bruder!“ Als er den Hof erreichte, sah er Eberwein unter dem Kirchhof, am Ufer der reißenden Ache, auf schmalem Karrenweg dahineilen, mit flatterndem Gewand und vorgehendem Haupte wie einer, der in tobendem Sturme schreitet.

Hiltidiu kam mit Mätzel vom Kirchlein gelaufen. „Warum ist er denn fort? Was hat er?“ Die Sprache versagte ihr, als sie das verstörte Gesicht des Greises und seine nassen Augen sah.

„Ja wo lauft er denn hin?“ jammerte Hiltischalk, als wäre die vergangene Stunde jählings vergessen und nur der Weg noch, welchen Eberwein genommen, seine einzige Sorge. „Er will ja doch zum Lokiwald und lauft der Windach zu! Er muß sich ja verirren! Es kann ihm ja ’was geschehen! Mätzel, komm doch, komm und lauf’ und zeig’ ihm den rechten Weg!“

Aber Mätzel stand und rührte sich nicht; ihre Augen hingen an ihrem Herrn und am ganzen Körper begann sie zu zittern, als fiele ihr jede Zähre, die sie über seine weißen Bartstoppeln niedertropfen sah, wie ein heißer Schmerz in die treue Seele.

„So lauf’ doch, Mätzel, lauf’ – oder ich lauf’ halt selber und führ’ ihn!“ Hiltischalk wollte zum Hagthor eilen, da aber hielt ihn Mätzel kreischend zurück, faßte einen dürren Stecken, der neben der Thür an der Holzwand lehnte, und schoß zum Hof hinaus, mit langen Sprüngen dem Wege folgend, auf welchem Eberwein verschwunden war.

„Was sagst, Hilti, was sagst! Der wär’ jetzt hineingelaufen in die Windachklamm!“ Mit diesen Worten wandte sich Hiltischalk zu seinem Weibe, das schweigend und bleich dastand, von dunkler Angst bedrückt. „In die Windachklamm ...“ wiederholte er noch, dann ging ihm die Sprache aus. Seine verstörten Blicke glitten über die Greisin, ein schluchzender Wehlaut erschütterte seine Brust, und in ratlosem Jammer die Hände ringend, wankte er der Steinbank unter der Linde zu. Erschrocken eilte ihm Hiltidiu nach. „Ja lieber Herr im Himmel, was ist denn? So red’ doch!“

Sie wollte ihn stützen, doch er wich zurück und stammelte: „Thu’ nicht rühren an mich!“ Im nächsten Augenblick aber streckte er selbst die Hände aus, warf sich an die Brust der Greisin, umschlang sie, drückte sie an sich mit all der müden Kraft seiner alten Arme und weinte wie ein Kind. Sie sprach kein Wort; nur ihre Blicke suchten den Himmel. Den Wankenden zärtlich stützend, ließ sie ihn auf die Steinbank sinken, hielt sein Haupt an ihrer Brust, streichelte mit linder Hand sein weißes Haar und harrte geduldig, bis er sprechen würde.

Als Hiltischalk in seinen Thrähnen endlich Worte fand, flüsterte er scheu und leise: „Weißt, was er gesagt hat, Hilti? Er hat gesagt: wir zwei, wir wären nicht Mann und Weib!“

Hiltidiu schüttelte den Kopf – sie verstand nicht. „Wir zwei nicht Mann und Weib? Ja was denn sonst?“

„Ich weiß nicht!“ schluchzte der Greis und griff mit zuckenden Händen an seine Brust, an seine Schläfe. Taumelnd erhob er sich. „Komm, Hilti, komm!“ Er umklammerte ihren Arm. „Komm, komm – das reden wir zwei nicht aus, wir zwei allein ... da muß noch ein anderer dabei sein, ein anderer!“ Und er zog die Sprachlose hinter sich her durch den Friedhof, zum Thor des Kirchleins. Sie traten ein ...

In der leeren Stube erlosch der Schein des vergessenen Herdfeuers. Stille lag um die hölzernen Mauern und über den Gräbern; nur manchmal raschelte es leise ... von der Linde fiel das welke Laub.




20.

In der Morgenstille zog Recka durch den Untersteiner Forst. Wohl führte sie die Zügel, doch ihr Rappe suchte die Pfade, wie er wollte. Mit verlorenen Blicken starrte sie vor sich nieder; zuweilen, unter einem stockenden Atemzuge, hob sie die Augen und sah umher, als fände sie sich in fremder, nie gesehener Gegend. Dann wieder versank sie an ihr Brüten und Sinnen. Ein Rehbock, den der Hufschlag aufgescheucht, flüchtete vor dem Pferde vorüber; da erinnerte sich Recka, daß sie zum Weidwerk ausgezogen war, und griff nach dem Bogen; doch sie merkte, daß sie einen leeren Köcher an den Sattel gehängt. Seufzend ließ sie die Hände sinken, und ein müdes Lächeln ging über ihre Lippen.

Im Weiterreiten gewahrte sie nicht, daß der Rappe den Heimweg suchte; sie blickte erst auf, als das Pferd unter den Bäumen hinaustrat auf die Seelände. Beim Anblick des Fischerhauses floß eine dunkle Röte über ihr Gesicht, und sie spannte mit so heftigem Ruck den Zügel, daß der Rappe sich bäumte. Sie wollte wenden, aber da ließ sie die Zügel wieder sinken und raunte mit zuckenden Lippen: „Fürcht’ ich mich schon vor ihm?“ Zornig auflachend, stieß sie dem Pferde den Stachel in die Flanke, daß es mit tollen Sprüngen hinwegjagte über den Sand.

Edelrot, welche mit Hilmtrud auf der Hausbank saß, gewahrte die Wazemannstochter. „Recka! Recka!“ rief sie und eilte zum Hagthor. Doch als sie auf die Lände trat, war die Reiterin schon im Uferwald verschwunden. „Recka! Recka!“ Und mit flatterndem Röcklein lief Edelrot der Ache zu; vor der Brücke holte sie die Wazemannstochter ein. „Recka, so hör’ mich doch, oder kennst Du die Stimm’ Deiner Gesellin nimmer?“

Langsam wandte Recka das Gesicht und blickte mit halbgeschlossenen Augen auf das Mädchen nieder. „Wer bist Du?“

Erschrocken und sprachlos starrte Edelrot zu der Reiterin auf. Als aber Recka sich abkehrte und den Rappen auf die Brücke lenkte, lief ihr das Mädchen nach und klammerte sich mit beiden Händen an ihr Kleid. „Ja was hast denn? So schau’ mich doch an! Ich bin’s ja, ich, Deine Treugesellin!“

„Laß Deine Hände von mir!“ rief die Wazemannstochter in aufwallendem Zorn. „Du bist Deines Bruders Schwester, mehr weiß ich nicht von Dir!“

Erblassend trat Edelrot zurück, und ihre Augen wurden naß, während sie den Goldring, den sie von Recka empfangen, von ihrem Finger streifte. „Wenn Du um meines Bruders willen mich nimmer kennen magst,“ sägte sie mit schwankender Stimme, „so nimm auch den Reif wieder, den Du mir gegeben hast auf Lieb’ und Treu’.“ Sie legte den Ring in Reckas Hand. „Thu’, wie Du magst, lös’ Deine Lieb’ von mir ... die meine soll Dir bleiben, solang’ ich leb’!“

Recka starrte auf das Ringlein in ihrer Hand, dann hob sie tief atmend die Augen; der Ausdruck ihrer Züge wandelte sich, und in tiefer Bewegung stammelte sie: „Rötli, Rötli!“

Hastige Schritte erklangen im Wald, und Sigenot kam unter den Bäumen hervorgestürzt. Als sähe er die Tochter Wazes nicht, so stellte er sich mit dem Rücken gegen sie, faßte die Hand des Mädchens und sagte, halb atemlos: „Schwester, wie hast Du vergessen können, was ich Dich geheißen hab’? Du sollst nicht weilen außer Thor! Winter liegt her um unseren Hag und die Wölf’ gehen um!“

„Aber so schau’ doch,“ flüsterte Edelrot, „ich bin ja nicht allein!“

„Ich seh’ nur Dich!“

Da lachte Recka; sie senkte die Hand, das Ringlein kollerte über ihren Schoß, fiel nieder auf einen Stein, sprang klingend in

[280]

Schultheiß Wengi verhindert den Religionskrieg in Solothurn 1533.
Nach einem Gemälde von Walter von Vigier.

[281] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [282] die Höhe und verschwand im schießenden Wasser der Ache. Schluchzend hatte Rötli das Kleinod noch haschen wollen; aber Sigenot hielt die Schwester fest und führte sie mit sich fort. Recka sprengte über die Brücke und den Reitweg empor, daß ihr Rappe zu schnauben und zu schäumen begann; wie versteinert waren die Züge ihres Gesichtes, doch ihre Augen schimmerten feucht. Als sie das Thor erreichte, hörte sie aus dem Burghof lautes Johlen und schallendes Gelächter. Mit jähem Ruck verhielt sie das Pferd. „Sie lachen und ich möchte schreien in Schmerz und Zorn!“ Ungestüm wandte sie den Rappen und nahm den Weg wieder thalwärts. Hinter ihr schallte das Geschrei und das johlende Gelächter, über welches eine kreischende Stimme sich hinaushob.

Mitten unter Wazemanns Knechten und Mägden stand Bruder Wampo, welcher gekommen war, um Eberweins Weisung zu erfüllen und Waze mit seinem Sohne Henning vor den Herrensitz im Lokiwald zu laden. Gedrückten Mutes, hungrig und müde, hatte der Bruder Wazemanns Haus erreicht, mehrmals auf dem Wege war er gar übel in die Irre geraten, und hatte er einen Hag gefunden, so war trotz all seines Rufens das Thor geschlossen geblieben. Das hatte ihn mit böser Ahnung erfüllt. „Geschieht mir so von den Knechten, wie werden sie mit mir umspringen im Herrenhaus!“ Klopfenden Herzens und den Blick der Sorge in den kleinen Aeuglein, hatte er, endlich an seinem Ziele angelangt, den Burghof betreten; als die Knechte und Mägde zusammenliefen und ihn unter lachenden Reden beguckten wie ein drolliges Wundertier, lehnte er schweigend den Stab an die Mauer, wickelte den Rosenkranz um die Linke, als wäre die geweihte Perlenschnur sein Schild, und zog gleich einem Schwerte das hölzerne Kreuzlein aus dem Gürtel. „So, jetzt kommet nur an, jetzt bin ich gewappnet!“ Er trat den Lachenden entgegen, doch seine Stimme schwankte ein wenig, als er nach dem Herrn des Hauses fragte. Kaum aber hörte er, daß Herr Waze mit seinen Söhnen ins Gejaid gezogen wäre, da richtete er das runde Köpflein auf, und es wuchs ihm der Mut wie dem Hasen im Kleefeld, das der Bauer mit der Sense verläßt. Mit hohen Worten verkündete er die Wichtigkeit seiner Sendung. „Und ich rat’ Euch, erweiset mir alle Freundlichkeit und Ehrfurcht, auf daß Ihr Eurem Herrn einen guten Fürsprech’ an mir gewinnet! Denn ich sag’ Euch: er kann ihn brauchen. Sonst möcht’ ihn wohl das Grausen ankommen vor dem Gericht, das ihn erwartet!“ Die Mägde nahmen diese Rede mit Verblüffung auf, die Knechte mit Schreien und Gelächter. „Was lacht Ihr und sperrt die Mäuler auf?“ rief Bruder Wampo mit aller Würde, die er sich zu geben vermochte. „Führet mich in das Haus, daß ich Euren Herrn in Ruh’ erwarte. Und ich sag’ Euch: in die beste Stub’, darin das Tischlein gedeckt ist und der Krug gefüllt, wie es einem fürnehmen Gaste zukommt ...“

Unter dem Gelächter der anderen warf sich eine Magd auf die Knie. „So fürnehmen Herrn muß man grüßen mit Fingerkuß!“

Freundlich blickte der Bruder auf sie nieder und reichte ihr die Hand. „Deine Demut soll Dir vergolten werden mit reichem Lohn!“ Als aber die Magd nicht seine Hand, sondern die eigene küßte und lachend aufsprang, wurde seine Stirne dunkelrot, und zornig rief er: „Wartet nur, hinter mir wird einer kommen, der wird es Euch verleiden, Gespött zu treiben mit einem frommen Mann! Ich sag’ Euch zum letztenmal: jetzt führet mich ins Haus! Ich bin nur ein bescheidener Gottesknecht und für mich selber möcht’ ich keinen Tropfen und kein Bröselein begehren. Aber ich bin gekommen an meines Herrn Statt, und seinetwegen will ich kein Härlein von der Ehr’ vermissen, die ihm zukommt! Gebet Gott, was Gottes ist, oder es könnt’ geschehen, daß der Teufel an Euch sein Recht begehrt!“

Die Mägde lachten, die Knechte wurden grob, und einer schrie: „Aber so führet ihn doch zum Mahl, es ist ja schon aufgetragen, schnell, schnell, sonst fressen ihm die anderen alles weg!“ Er faßte Wampos Arm, zerrte den Verblüfften zu einem Schuppen und öffnete vor ihm das Thürlein des Schweinestalles. „Da, fang’ nur gleich an! Und tummel’ Dich, daß Du nicht zu kurz kommst!“

Es fehlte nicht viel, so hätte Bruder Wampo in seinem Zorn dem Knechte das Kreuz auf den Kopf geschlagen; doch ehe sein Arm noch fiel, besann er sich. Unter dem dröhnenden Gelächter, das ihn umgab, küßte er das Kreuz und verbarg es mit dem Rosenkranz unter seiner Kutte, an der Stelle des Herzens. Zwei dicke Zähren rollten über seine zitternden Backen, während er die Augen zum Himmel hob: „Thu’ mir nicht zürnen, Du Allgütiger, weil ich Deine heiligen Zeichen an einen solchen Ort getragen hab’!“ Dann ballte er die Fäuste, und kreischend hob sich seine Stimme: „Nur her auf mich! Meint Ihr, daß ich Furcht hab’ vor Euch? Ihr Unfläter, Ihr Stallbrüder von denen da drinnen! Und ob Ihr mich auch zerreißet, ich will keinen Schrei wider Euch zum Himmel thun. Denn Gottes Hand ist mir viel zu gut und heilig, als daß ich sie anrufen möcht’ zur Hilf’ gegen Euch! Ihr Teufelsbraten übereinander! Grausen thut mir vor Euch! Und möchtet Ihr mich gleich zu einem Mahl führen, wie es der Kaiser hat, nicht hinrühren thät’ ich mit einem Finger! Euch aber, wartet nur, Euch wird eine Schüssel aufgetragen werden mit einer brenzligen Supp’, von der ein übler Geruch ausgeht und ein heißer Dampf!“

Diese Prophezeiung trug dem Bruder einen Puff ein, der ihn wanken machte. Aber nicht schweigen! Wie ein mutiger Jagdhund inmitten der Wolfsmeute, so stand er und biß um sich mit den scharfen Worten seines Grimmes. Die Adern schwollen ihm an Hals und Schläfen, in dunkler Röte brannte sein Gesicht, und der Schweiß rann ihm in hellen Bächlein über den Kahlkopf und die Backen. Jedes saftige Schmähwort, das sie ihm zuschrien, jeder Stoß, der ihm an die Rippen fuhr, mehrte noch seine Tapferkeit. „Schimpfet nur und schlaget mich, es kommt schon die zahlende Stund’! Wie der Sturmwind über das Getreidefeld wird der Teufel herfahren über Eure Köpf’! Es hat schon gerumpelt heut’ nacht – da hat er sein Schürhakl aus dem Feuer gerissen! Aber wartet nur, wenn er ausfahrt aus dem Berg, mit glühenden Hörnern und feuriger Zung’ ...“ Allein seine Stimme, ob sie auch schmetterte wie eine Trompete, ging unter in dem Geschrei und Gelächter, in dem Höllenlärm, der ihn umringte ... denn das Geschrei im Hofe hatte auch alle Stimmen in den Ställen geweckt, die Hunde im Zwinger kläfften wie toll, im Käfig brummte der Bär, und der Wolf saß auf den Hinterbeinen und heulte gradauf in die Luft.

Sie spielten dem Bruder so übel mit, daß in einer der Mägde das Erbarmen erwachte, sie riß ihn aus dem Knäuel und lachte. „Jetzt laßt ihn aber endlich in Ruh’! Schauet ihn nur an; er schwitzt ja schon!“

„Jawohl, ich schwitz’, jawohl!“ schrie Bruder Wampo atemlos. „Und jedes Tröpflein, das ich vergieß’, ist eine Ehr’ für mich. Denn ich gleich’ dem schwitzenden Philosophen, dem eines Tages ein Freund begegnet ist. ‚Warum schwitzest Du?‘ hat ihn der Freund gefragt. Und der Philosoph hat erwidert: ‚Weil ich mich herumgeschlagen habe mit Unflätern und Dummköpfen!‘“

Ein Dutzend Hände griffen nach ihm, und da der Bruder merkte, daß die Reise vor die Mauer beginne, rief er mit kreischender Stimme: „Nur zu, nur zu! Und ich bitt’ Euch, gebet mir nur einen festen Schwung! Denn mein Wohlthäter ist ein jeder, der mich hinauswirft aus einem solchen Haus. Eurem schiechen Hauswirt aber saget, daß er geladen ist vor Gericht, zwischen heut’ und dem dritten Tag! Stehen soll er vor meinem Herrn wie das Wölflein vor dem Löwen ...“

Bruder Wampo fand nicht Zeit, seine Rede zu vollenden; seine Bitte, ihm einen „festen“ Schwung zu geben, wurde flink und redlich erfüllt. Aber nicht das Fallthor hatten sie für ihn geöffnet, sondern das schmale Pförtlein über dem Felsenstieg, und da war es ein Glück, daß Bruder Wampos Bäuchlein in dem Thürloch einen harten Durchlaß fand, dessen Reibung die Kraft des Schwunges linderte, sonst wär’ es ihm wohl kaum gelungen, mit den Händen noch das Seil zu haschen, das an der steilen Felswand befestigt war. Ein Schwindel befiel ihn fast, als er von der knappen Stufe niederblickte in die Seetiefe, und doch verließ ihn der Mut nicht. „Bin ich denen da drin entronnen, so komm’ ich wohl auch noch heil da hinunter.“ Unter einem Stoßgebetlein begann er den Abstieg. Das war für ihn ein doppelt bedenklicher Weg, denn die Stufen waren schmäler als die Breite seines Leibes, und er mußte sich krampfhaft an die Felswand drücken, um das Uebergewicht seines irdischen Teils nach Möglichkeit zu mindern. Während er sich mit zitterndem Fuß von Stufe zu Stufe tastete, klang über ihm das Geschrei der Wazemannsleute, deren Köpfe auf der Mauer erschienen waren. Es regnete üble Scherzworte auf ihn nieder und auch sonst noch mancherlei Dinge, für deren nähere Betrachtung dem Bruder auf seinem bösen Wege keine Zeit verblieb.

(Fortsetzung folgt.)


[283]

Schwerhörige Kinder.

Ein Wort an Eltern und Lehrer.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Kulturmensch im Vergleich zu seinen Vorfahren und den Naturvölkern an Schärfe der Sinne abgenommen hat. Diese Schwäche ist vielfach erblich geworden und tritt bereits bei Kindern zum Vorschein. Die Schulgesundheitspflege hat darum die wichtige Aufgabe, den Sinnesorganen der Schulkinder eine sorgfältige Aufmerksamkeit zuzuwenden, unnötige Schäden zu vermeiden und durch Anleitung zur zweckmäßigen Pflege den Rückgang in der Entwicklung hintanzuhalten. Das kann wohl erreicht werden, wenn außer den Aerzten und Lehrern auch die Eltern gleiche Ziele verfolgen; darum sind Fragen der Schulgesundheitspflege zugleich Fragen der Haushygieine.

Wir möchten heute auf ein sehr stiefmütterlich gepflegtes Sinnesorgan, auf das Ohr hinweisen. Das Gehör der Schulkinder ist in früheren Jahren wiederholt planmäßig untersucht worden, und zwar einerseits von Ohrenärzten, anderseits im Auftrage der Regierungen von Lehrern. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wichen sehr weit voneinander ab: während die Aerzte feststellten, daß von den untersuchten Kindern durchschnittlich 20% schwerhörig wären, behaupteten die Lehrer, unter ihren Schülern nur etwas über 2% Schwerhörige gefunden zu haben. Man war darum geneigt, anzunehmen, daß die Spezialisten in ihren Erhebungen zu streng vorgegangen wären und Kinder mit nur geringfügig geschwächtem Hörvermögen unter die Schwerhörigen gerechnet hätten, und man zog daraus die weitere Folgerung, daß besondere Maßregeln zum Schutze der schwerhörigen Schulkinder nicht erforderlich seien. In der That ist es nicht so leicht, zu sagen, wann und wo der Begriff der Schwerhörigkeit beginnt. Im allgemeinen hat man sich dahin geeinigt, daß als ein normal hörendes Ohr nur dasjenige gelten darf, welches mäßig laut gesprochene Worte mindestens in 20 Metern Entfernung versteht; ein solches Ohr allein besitzt volle Gehörschärfe des Kulturmenschen. Aber wir können nicht alle, welchen diese volle Gehörschärfe fehlt, als schwerhörig bezeichnen. In der Schule vollends wird das Gehör auf 20 Meter Entfernung niemals oder nur ganz ausnahmsweise gebraucht; ein Kind also, das auf 16 Meter mäßig laut gesprochene Worte noch versteht, kann vom Standpunkt der Schule aus nicht als schwerhörig gelten. Die Untersuchung des Hörvermögens der Schulkinder muß darum nach Grundsätzen geregelt werden, welche den Anforderungen der Schule, den Bedürfnissen des Unterrichtes angepaßt sind.

Kreisphysikus Dr. Richter in Groß-Wartenberg hat nun in dankenswerter Weise 700 Schulkinder von diesem Gesichtspunkte aus auf ihre Gehörschärfe geprüft und ist so zu Ergebnissen gelangt, welche für Lehrer und Eltern sehr beachtenswert sind. Richter teilte die Kinder, welche die volle Gehörschärfe nicht besaßen, in zwei Gruppen, in solche mit geschwächtem Gehör, die erst unter 16 Metern Entfernung Flüstersprache verstanden, und in Schwerhörige, bei denen die Hörfähigkeit für dieselben Laute erst unter 8 Metern begann. Da stellte es sich heraus, daß 12,4% der Kinder ein geschwächtes Gehör besaßen und 3,3% wirklich schwerhörig waren. Die letzteren konnten zweifelsohne dem Schulunterricht nicht gut folgen. Als aber Dr. Richter weiter nachforschte, machte er die überraschende Entdeckung, daß die Hälfte der schwerhörigen Kinder ihren Fehler gar nicht kannte. Oft gaben sie an, sie hätten geglaubt, es läge an zu leisem Sprechen, wenn sie jemand nicht verstanden. Die Lehrer kannten nur ein Drittel der wirklich schwerhörigen Kinder als solche. Die Mehrzahl derselben galt ihnen für unaufmerksam oder leicht zerstreut. Oft sagten die Lehrer Dr. Richter, sie hätten wohl die Empfindung gehabt, daß etwas mit den Kindern „nicht richtig“ sei, aber sie wären nicht darauf verfallen, daß diese schwerhörig sein könnten, da sie, einmal aufgerüttelt, dem Unterrichte wieder zu folgen vermocht hätten. Natürlich! So lange nämlich, als die mit Anstrengung zusammengenommene Aufmerksamkeit vorhalten konnte!

Sehr wichtig erscheint ferner die Ergründung der Ursachen der Schwerhörigkeit. Da ist nun vor allem hervorzuheben, daß die Schule selbst an dem Zustandekommen dieses Leidens nicht die geringste Schuld trägt. Die Schwerhörigkeit wird außerhalb der Schule erworben, und zwar wird sie durch zwei Ursachen bedingt: durch Verschmutzungen des Ohres und durch Krankheiten. Bei fast einem Drittel der nicht normal hörenden Ohren lag der Grund in mangelhafter oder unzweckmäßiger Ohrpflege. Als Ursachen der Erkrankungen, welche schließlich zur Beeinträchtigung des Hörvermögens geführt hatten, wurden am häufigsten Erkältungen und Infektionskrankheiten des kindlichen Alters, Masern, Scharlach u. s. w., festgestellt. Auch waren die meisten schwerhörigen Kinder schwächlich, skrophulös oder blutarm. So zeigte sich die Schwächlichkeit als die Gesamtgrundlage, auf welcher die Schwerhörigkeit sich entwickeln konnte, sobald noch eine Gelegenheitsursache, wie Unreinlichkeit, Erkältung oder Infektionskrankheit, hinzutrat. Betrübend war die Thatsache, daß von den sämtlichen von Dr. Richter untersuchten schwerhörigen Kindern kein einziges sich in ärztlicher Behandlung befand.

Aus diesem Grunde bezeichnet Dr. Richter die schon so oft geforderte Anstellung von Schulärzten als dringend wünschenswert, damit unaufmerksam scheinende und zurückgebliebene Kinder untersucht und, falls sie ohrenleidend und zugleich unbemittelt sind, unentgeltlich behandelt werden können. Sicher ist das ein erstrebenswertes Ziel; die Schule kann mit der Zeit unter sorgfältiger und planmäßiger ärztlicher Aufsicht viele körperliche Gebrechen im frühen Alter unterdrücken helfen und so auch zur physischen Verbesserung des heranwachsenden Geschlechtes beitragen.

Vorderhand müssen wir uns mit dem begnügen, was Schule und Haus aus eigenen Kräften erreichen können. Was die Schule anbelangt, so müssen die Lehrer eingedenk sein, daß viele anscheinend unaufmerksame Kinder schwerhörig sind. Es müßten darum die weniger fortgeschrittenen Kinder, unter welchen sich die Mehrzahl der schwerhörigen befinden wird, grundsätzlich nach vorn gesetzt werden. Dies geschieht bereits vielfach, aber, wie die Erfahrung gelehrt hat, noch nicht in genügendem Maße.

Wichtiger aber sind die Pflichten, welche das Haus zu erfüllen hat. Es ist berufen, die Schwerhörigkeit zu verhüten, indem es vor allem zwei Ursachen derselben bekämpft: die Verschmutzungen und die Erkältungen.

Was nun die Reinhaltung des Ohres anbelangt, so wird in dieser Hinsicht häufiger durch reinigende Eingriffe als durch Nichtsthun geschadet. Das normale Ohr reinigt sich von selbst, indem das Schmalz durch Kaubewegungen nach außen gedrängt wird, im äußeren Gehörgang eintrocknet und herausfällt. Es genügt auch unter normalen Umständen völlig, nur den äußeren Gehörgang zu reinigen, soweit man eben in denselben mit dem Finger eindringen kann. Durch Einträufeln von Wasser ins Ohr, durch Benutzung von Ohrlöffeln wird nur die Bildung von Pfröpfen befördert, indem dadurch das erweichte Schmalz in tiefere Partien des Ohres zurückgeflößt oder gewaltsam zurückgedrängt wird. Neigt das Ohr infolge seines Baues zur Bildung von Pfröpfen, so muß von Zeit zu Zeit eine gründliche Reinigung vorgenommen werden, über die man sich am besten mit dem Arzte verständigt; wie ja überhaupt bei Ohrenleiden ärztliche sachverständige Hilfe möglichst frühzeitig angerufen werden sollte. In dieser Hinsicht wird vielfach gefehlt, der Arzt wird oft erst dann gerufen, wenn das Hörvermögen ernstlich gelitten hat, die Krankheit fortgeschritten und eine gründliche Abhilfe nicht mehr möglich ist.

Daß Erkältungen des Ohres so häufig vorkommen, beruht auf falscher Anwendung des hygienischen Grundsatzes, den Kopf kühl, die Füße warm zu halten. Was einem kräftigen erwachsenen Menschen frommt, ist nicht immer für das zartere Kind von Nutzen, am allerwenigsten schickt es sich für ein schwächliches Kind. Man muß diesem gegenüber in der Anwendung der Abhärtungsmittel sehr vorsichtig sein. Eltern und Erziehern kann nicht dringend genug anempfohlen werden, den schwächeren Kindern bei kalter und nasser Witterung die Ohren zu verwahren. Dieselbe Vorsicht soll man aber auch bei Kindern anwenden, die eben eine schwerere Krankheit, wie z. B. Masern oder Scharlach, überstanden haben; denn obschon scheinbar wieder völlig hergestellt; sind sie doch noch monatelang gegen äußere schädliche Einflüsse höchst empfindlich, und während dieser Zeit ist auch ihr Ohr für verschiedene Erkrankungen besonders empfänglich.

Schwerhörigkeit ist ein unerquickliches Leiden; sie läßt den Menschen, den sie trifft, nicht das Leben in gleichem Maße wie den Normalhörenden genießen und ausnutzen; der Schwerhörige fühlt sich bedrückt in der Gesellschaft und die Ausübung vieler Berufe wird ihm erschwert oder gar unmöglich gemacht. Aber dieses Leiden läßt sich einschränken. In Deutschland werden gegenwärtig die Sprachgebrechen der Kinder in erfreulichster Weise durch Sprachkurse geheilt und Stotterer und Stammler werden unter uns seltener werden. In England konnte man in den letzten Jahrzehnten eine Abnahme der Blinden feststellen, dank den Bemühungen, welche auf die Hygieine des Auges im frühesten Kindesalter gerichtet werden. Das sind erfreuliche, thatsächliche Errungenschaften, die uns ermuntern, in gleichem Sinne unermüdlich auch gegen andere verbreitete und vielfach durch Nachlässigkeit verschuldete Gebrechen vorzugehen. J.     



Havarien.

Randglossen zum „Ems“-Unfall. Von W. Berdrow.

Es ist wohl noch in aller Gedächtnis, wie jüngst über dem Schicksal des Norddeutschen-Lloyddampfers „Ems“ und seiner Passagiere eine ganze Woche lang das peinlichste Dunkel schwebte. Einer der großen prächtigen Oceanriesen, die, mit dem Aufwande von Millionen erbaut, unserer Handelsmarine einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Weltrufes verschafft haben, von denen es, so oft man auf einem von ihnen sich den Wellen des Atlantischen Meeres anvertraut, heißt: „Sie sind allen Geschicken des Meeres gewachsen, sie können wohl in ihrer Fahrt durch Nebel und Sturm eine Weile verzögert, aber nicht besiegt werden“ – einer von ihnen blieb in New York sieben Tage über die angemessene Zeit aus und keine Nachricht über sein Schicksal gelangte an die Reeder und an die Angehörigen der Menschen, deren Geschick mit dem dieses Schiffes verknüpft war. Gerüchte, wie sie einen derartigen Fall stets begleiten, tauchten auf, man wollte die „Ems“ im Schlepptau des gleichfalls bereits überfälligen „Roland“ vom Bremer Lloyd vor New York gesehen haben, aber der „Roland“ traf mit mäßiger Verspätung in New York ein, von der „Ems“ kam keine Kunde. Endlich – anders verstreicht die Zeit dem müßigen Zuschauer, anders dem Vater, der den Sohn, der Gattin, die den Mann auf [284] dem betroffenen Schiffe weiß – endlich die erste Kunde: bei den Azoren, weit über tausend Kilometer außerhalb ihres Kurses, traf die „Ems“ ein, im Schlepptau eines englischen Dampfers, nach dem Bruch des Schraubenrahmens ein willenloses Wrack. Das also vermag ein wilder Aequinoktialsturm selbst aus einem dieser riesenhaften, aus Stahl und Eisen zusammengeschweißten Schnelldampfer zu machen; die Maschine, das Steuer, der Panzer, alles kann fest und unverletzt sein, und dennoch dürfen Sturm und See den Riesendampfer 10 bis 12 Tage ohne Widerstand vor sich hertreiben.

Natürlich war die erste Frage die nach Mannschaft und Passagieren. Beide sind, wie gemeldet wird, wohlbehalten, und wenn auch die Fahrgäste, denen nach der Bergung der „Ems“ eine nochmalige Durchquerung des Oceans auf dem Ersatzdampfer winkte, den Eintausch einer im ganzen 25tägigen Seefahrt für eine zehntägige nicht eben angenehm finden werden, so dürfen sie doch gewiß froh sein, bei ihrer Havarie so leichten Kaufes davongekommen zu sein. Mit Sorgen aber fragt sich ein jeder, der entweder selbst die Reise über das Weltmeer machen oder eins seiner Lieben zeitweilig dem Ocean anvertrauen muß, ob sich nicht solche Havarien wiederholen, ob sie nicht auch schwerer verlaufen können. Die „Ems“ wurde, dem Bericht eines Passagiers zufolge, am 27. März, also nach vier langen, für ihre Passagiere bangen Tagen, vom „Wild Flower“ aufgefunden, aber das Meer ist weit, und wer beobachtet hat, wie selten sich selbst in den befahrensten Strichen des Atlantischen Oceans Schiffe begegnen, kann sich vorstellen, daß der „Ems“, die nach vier Tagen steuerlosen Treibens entdeckt wurde, mit dieser Frist eher ein Glücksfall als das Gegenteil begegnet ist. Kann nicht ein der Trieb- oder Steuerkraft beraubtes, weit aus dem Kurse gedrängtes Schiff auch lange Wochen auf der See treiben, ohne von dienstbereiten Helfern aufgefunden zu werden? Kann es nicht, nachdem ein erster Sturm es steuerlos gemacht hat, als unfähiges Wrack noch einem zweiten Orkan zum Opfer fallen? Und wenn dem so ist – giebt es nicht Mittel, solchen Möglichkeiten wenigstens auf den großen, mit Menschen meist vollgepfropften Passagierdampfern der befahrensten Strecken noch sicherer als bisher vorzubeugen? Solchen Fragen und ihrer Beantwortung sind die folgenden Zeilen gewidmet.

Von Havarien, teilweis äußerst bedenklicher Art, sind schon viele große Oceandampfer betroffen worden; daß dieselben nur selten böse Folgen für Passagiere und Bemannung nach sich zogen, ist der beste Beweis für die Sorgfalt, die auf den Bau dieser Seeriesen verwendet wird. Die Geschichte des ersten und riesigsten der großen neueren Schnelldampfer, des 1860 in Betrieb gesetzten „Great Eastern“, ist eine einzige Reihe schwerer Havarien. Auf der ersten Probefahrt verunglückten zehn Menschen durch eine Dampfexplosion; bei der zweiten Reise geriet das Schiff auf die Felsenriffe von Montauk-Point und trug einen 26 Meter langen klaffenden Riß im Doppelboden davon; trotzdem blieb es in der Lage, die Passagiere wohlbehalten in New York abzuliefern. Während der dritten, im Frühjahr 1861 ausgeführten Reise rächte sich der große Fehler, den man damit begangen hatte, einen so großen Oceandampfer mit Schaufelrädern zu versehen: eine schwere See ruinierte die letzteren vollständig. Noch war der „Great Eastern“ imstande, sich mittels seiner von einer besonderen Maschine getriebenen Schraube weiterzuhelfen, als aber bald darauf auch der Rudersteven zerbrach, trieb das Schiff tagelang hilflos auf hoher See; ein findiger Kopf stellte schließlich ein Notsteuer her, mit dessen Hilfe man den Hafen erreichte; dafür hatten die Reeder des Dampfers dem Helfer in der Not 60000 Mark (400000 hatte er beansprucht) zu bezahlen. Auch anderen jüngeren Dampfern ist es schlecht ergangen. Im Herbst 1879 rannte z. B. der Postdampfer „Arizona“ bei Neufundland während der Nacht so heftig auf einen ungeheueren Eisberg auf, daß das Schiff etwa auf den zwölften Teil seiner Länge völlig zersplittert wurde, und im Winter 1890 kollidierte die „Champagne“ vor dem Hafen von New York so unglücklich mit einem zweiten Schiff, daß ihr Bug ein Loch aufwies, durch das ein Wagen hätte einfahren können. Beide Dampfer konnten trotzdem unter eigenem Dampf langsam weiterfahren. Brüche der sogenannten Schäfte, der ungeheueren hohlen Stahlwellen, welche die Schraube tragen und häufig die Energie von 10000 und mehr Maschinenpferdekräften auszuhalten haben, Kurbelbrüche, schwere Beschädigungen der Steuerruder sind, trotzdem alle diese Teile aus fast unzerstörbarem Material gefertigt und vor dem Antritt jeder Reise peinlich genau untersucht werden, nicht gerade selten; man muß eben bei ihrer Beurteilung die ungeheuren Leistungen in Betracht ziehen, denen diese Maschinerien gewachsen sein sollten. Eine Lokomotive hat selten länger als 6, 8, höchstens 10 bis 12 Stunden ohne Unterbrechung zu arbeiten, eine 10- bis 15mal stärkere Schiffsmaschine aber muß, durch hohen Seegang oft aufs furchtbarste geschüttelt, ihre Leistung 180, 200, ja 300 Stunden lang ohne eine Sekunde der Ruhe ausüben, und das bedingt in den Ansprüchen an das Material einen großen Unterschied. Die Zufälle aber, die in der langen Frist von 7 bis 12 Tagen eine Havarie herbeiführen können, sind fast unübersehbar. An den Kesseln, an den Dampfleitungen, an der Maschine selbst kann ein Schaden eintreten, und wenn es auch fast undenkbar scheint, daß die ganze Kesselbatterie oder die ganze Maschine eines tüchtigen Dampfers durch eine Havarie lahmgelegt wird, so kann es doch Stunden und selbst Tage dauern, bevor die beschädigten Teile ausgeschaltet sind und die unbeschädigten für sich allein weiterarbeiten können. Schlimmer ist es, wenn die Schraubenwelle, die Schraube selbst, das Steuerruder oder einer der Teile, welche Ruder und Schraube festhalten, (wie z. B. neulich der Schraubenrahmen[1] auf der „Ems“) ernstlichen Schaden erleiden, denn in allen diesen Fällen ist auch der stolzeste Dampfer nicht mehr als ein Wrack. Ein Schraubendampfer ohne Steuer ist bei völliger Erhaltung der Schraube, Maschine etc. genau so unfähig zum Fahren wie ein solcher mit Steuer, aber ohne Schraube, beide sind sie darauf angewiesen, nach einem fremden Schiffe auszuschauen, das sie ins Schlepptau nimmt.

Das sind die Gefahren, welche einem Oceandampfer, auch wenn er noch so groß und stark ist, auf sturmbewegter See noch immer drohen. Freilich selten ereignen sich so schwere Stürme wie die diesjährigen, von denen alle Dampfer zu erzählen wissen, aber sie können eintreffen, und im Winter und Frühling ist man vor ihnen nie ganz sicher. Uebersehen wir nun die Mittel, durch welche die moderne Schiffsbaukunst jenen bösen Zwischenfällen entgegenarbeitet.

Zunächst – für ängstliche Gemüter dürfte das der stärkste Trost sein – können die großen eisernen Schnelldampfer bei guter Führung fast nicht sinken. Das bewies schon der „Great Eastern“, das bewiesen die „Alaska“, die „Champagne“, die „Eider“ und andere Schiffe, die mit Löchern von 100 bis 150 Quadratfuß Größe nicht nur nicht sanken, sondern zum Teil sogar ihre Fahrt selbstthätig fortsetzten. Der Grund dafür liegt zunächst in den eisernen Doppelböden dieser Dampfer, von denen die innere Wand häufig unbeschädigt bleibt, wenn auch die äußere durchbrochen wird; dann aber hauptsächlich in der Anordnung der wasserdichten eisernen Quer- und Längsschotten, die das Schiff von Wand zu Wand durchziehen und in viele einzelne Räume teilen, von denen immerhin einige mit Wasser gefüllt sein dürfen, ohne die übrigen zu gefährden. Schnelldampfer wie die „Ems“, „Lahn“ und andere in der Größe von 5000 bis 7000 Tonnen haben 8 bis 10 wasserdichte Abteilungen, „Augusta Viktoria“ und „Kolumbia“ von der „Hamburger Paketfahrt“ haben 13, die Riesenschiffe „Paris“ und „New York“ 16 wasserdichte Abteilungen, und auf den neuesten englischen Schnelldampfern wie auch auf den großen Panzerschiffen ist die Zähl derselben noch um vieles gesteigert. Freilich sind auch schon Panzerschiffe – wir erinnern an die englische „Viktoria“ und ihr schreckliches Ende im letzten Sommer – trotz ihrer weitgehenden Schotteinteilung gesunken, aber dann hat es sich herausgestellt, daß auf ihnen eben fahrlässigerweise die schmalen wasserdichten Verbindungsthüren zwischen den Einzelabteilungen offengestanden haben. Im Sturm werden die Schottthüren, wie der Verfasser auf Hamburger Schnelldampfern selbst beobachtete, stets geschlossen gehalten, und bei Probefahrten, Manövern etc. wird es nach den schlimmen Lehren, welche die Havarien der „Viktoria“, „Brandenburg“ und anderer Schiffe gegeben, nunmehr zweifellos ebenso gehalten werden. Untergehen wird man also mit einem der großen eisernen Schnelldampfer nicht, auch der ängstlichste Seefahrer darf dessen versichert sein; daß aber Wind und Wogenberge, mögen sie auch die Ausrüstung der Dampfer während der furchtbaren Winterstürme oft arg mitnehmen, mit den Schiffen selbst und ihrem Inhalt nicht zu grausam umgehen, dafür sorgt das Gewicht dieser ehernen Kolosse: mit Eisenmassen von 200000 bis 250000 Centnern Gewicht spielen selbst schwere Sturmwogen nicht mehr wie mit „Nußschalen“, wie der für die Schilderung von Meeresstürmen so beliebte Ausdruck sagt.

[285] Etwas anderes ist es mit jenen obengeschilderten Havarien, die den Dampfer auf hoher See steueruntüchtig machen und ihn zwingen, willenlos auf den Wellen zu treiben, bis ein glücklicher Zufall ihm Hilfe schickt. Ganz zu vermeiden find diese Unfälle für Einschraubendampfer, d. h. für neun Zehntel der Schnelldampfer aller Völker, nicht. Wer sich zur Zeit der schweren Stürme, im Winter oder zur Aequinoktialzeit, aufs Meer begiebt, kann in die Lage kommen, mit ihnen rechnen zu müssen, wiewohl auf hundert Schnelldampfer mit glücklicher Fahrt vielleicht kaum einer kommt, dem es geht wie der „Ems“ oder der „Eider“, die vor zwei Jahren im Kanal strandete. Ernstliche Gefahren für Leib und Leben der Passagiere sind bei Unfällen wie die „Ems“ sie hatte, nicht zu befürchten; die schlimmsten Gäste, welche die Besatzung eines auf dem Meere treibenden Dampfers heimsuchen können, sind Hunger und Durst, und ihnen ist auf unseren großen Passagierdampfern gründlich vorgebeugt. Für den Durst helfen die mitgeführten Getränke, das Wasser und die Destillierapparate, mit denen sich im Notfalle auch das Meerwasser trinkbar machen läßt, und was den Hunger anlangt, so wird ein Blick auf die Menge der von einem großen Schnelldampfer geführten Lebensmittel alle Befürchtungen schnell vertreiben. Ein solcher Dampfer nimmt im vollbesetzten Zustande gegen 1500 hungrige Mägen an Passagieren und Besatzung auf, die mitgeführten Viktualien aber belaufen sich auf annähernd 55000 Kilo feste Lebensmittel und 10000 Liter Bier, Wein, Milch etc. Gegen 370 Centner Fleisch jeder Art, 600 Centner Mehl, Brot, Kartoffeln und Hülsenfrüchte bilden neben unermeßlichen Schätzen an Butter, Zucker, Kaffee, Kakao, Eiern, Konserven und so hinauf bis zu den erlesensten Zungengenüssen den Grundstock dieser Reserve an Lebensmitteln, die es gestatten würde, selbst bei vierwöchigem Umhertreiben auf hoher See jeden Kopf an Bord täglich mit 400 Gramm Fleisch, 400 Gramm Kartoffeln oder Gemüse und 250 Gramm Mehl überreichlich abzuspeisen. Die Getränke an Bier, Wein, Kaffee, Thee, Kakao etc. dürften noch länger vorhalten. Den Hunger hat also der Schnelldampferpassagier selbst im ungünstigsten Falle nach schwerer Havarie sicherlich nicht zu fürchten, wohl aber Langeweile, zum großen Teil die Seekrankheit und endlich den Zeitverlust, Uebelstände, die immerhin schwer genug wiegen, um die Frage zu rechtfertigen, ob es denn in der That kein Mittel giebt, die verhängnisvollen Schrauben- und Steuerhavarien ganz zur Unmöglichkeit zu machen oder doch zu einem gewissen Grade von Unschädlichkeit zu bringen.

Silberner Tafelaufsatz.
Entworfen und ausgeführt vom Juwelier Karl Winterhalter.

Bei den gewöhnlichen Einschraubendampfern giebt es, wie schön erwähnt, wenig oder gar keine Abhilfe, aber seit einer Reihe von Jahren ist man auch schon über das System des von einer Schraube betriebenen Dampfers hinausgegangen, man baut Dampfer mit zwei nebeneinander liegenden und von völlig getrennter Maschinerie getriebenen Schrauben. Die Vorzüge dieser Anordnung sind unverkennbar. Zunächst ist es schon ein Gewinn, daß sie die Trennung der Betriebskraft in zwei gesonderte Maschinen zuläßt, denn 13000- bis 14000pferdige Dampfkolosse, wie sie die größten Einschraubendampfer der Welt, „Havel“ und „Spree“ vom „Norddeutschen Lloyd“, in sich beherbergen, gehen bereits über das Maß des wirtschaftlich Zulässigen hinaus. Ihre in ungeheuerer Bewegung befindlichen Massen nehmen bereits allzu große Ausdehnungen an, die Uebersicht des Getriebes und die Unterbringung der 45 Fuß hohen Maschine wird gleichmäßig erschwert, und endlich liegt auch die Gefahr eines Kurbel-, Schaft- oder Schraubenbruches näher, wenn die ganze Kraft von 14000 Pferdestärken auf eine Welle sich entlädt, als wenn zwei 7000- bis 8000pferdige Maschinen zwei Wellen mit entsprechend kleineren Schrauben bewegen. Der Uebelstand, daß zwei kleinere Maschinen etwas mehr Dampf, mithin mehr Kohlen verbrauchen als eine von doppelter Größe, wiegt diese Vorteile nicht auf. Aber auch die Sicherheit und Lenkbarkeit des Schiffes wird durch das Zweischraubensystem in unvergleichlichem Maße gefördert, denn die beiden Schrauben vermögen durch ihre gegenseitige Beeinflussung bei verschieden schnellem Antrieb völlig die Wirkung des Steuerruders zu ersetzen. Der einfache Schraubendampfer ist hilflos, sobald seine Maschine, Schraube oder das Steuer versagt, der Doppelschraubendampfer in keinem dieser Fälle; auch nach Verlust des Steuers bleibt er durch die beiden Maschinen noch völlig in der Gewalt seiner Führer. Auch die Reserve, welche ihm bei der Verletzung einer Maschine, Welle oder Schraube durch die zweite Maschine geboten wird, ist ein unschätzbarer Vorteil, den man leider beim modernen Schiffsbau noch nicht hinreichend zu würdigen scheint. Als die „Paris“ von der „Inman-Linie“ in ihrem ersten Betriebsjahre 1889 auf einer der ersten Reisen von einer schweren Havarie ihrer [286] Steuerbordmaschine betroffen wurde, konnte das Schiff, indem man den Dampf aller Kessel zur Backbordmaschine leitete, mit der einen Schraube noch immer eine Fahrt von 15 bis 16 Knoten einhalten, und man erzählt sich, daß die Passagiere von dem Stillstand der einen Maschine überhaupt nichts erfahren haben. Auch die Stetigkeit des Laufes wird, besonders bei hoher See, durch die Anwendung zweier Schrauben sehr begünstigt, da dieselben etwas kleiner gehalten sein können und deshalb bei starkem Wogenschlag weniger Gefahr laufen, aus dem Wasser zu geraten.

Nur einen Nachteil hat der Doppelschraubendampfer gegenüber seinem Vorgänger, den etwas höherer Bau- und Betriebskosten, und das ist auch wohl der Grund, der die Anwendung des Systems nicht bei allen unseren großen Gesellschaften gestattet hat. So sind es von den zwischen Europa und den Vereinigten Staaten verkehrenden Dampfern nur sechs oder sieben englische, sowie die jüngsten Schnelldampfer der „Hamburger Paketfahrt-Aktiengesellschaft“ und des „Norddeutschen Lloyd“ in Bremen, die zwei Schrauben besitzen; aber nachdem die Baukosten dieser Riesenschiffe sich einmal bis auf sechs Millionen und darüber gesteigert haben, wird der Kostenunterschied bald nicht mehr so ins Gewicht fallen, daß man nicht beim ferneren Bau von Schnelldampfern allenthalben zum System der Doppelschraube übergeht. Im Interesse der Sicherheit wäre das jedenfalls zu wünschen und schon heute sollte, wer einer zeitraubenden Havarie mit der größten möglichen Sicherheit ausweichen will, wenigstens im Winter die atlantische Ueberfahrt auf einem Doppelschraubendampfer machen.




Die Perle.

(16. Fortsetzung)
Roman von Marie Bernhard.
15.

Wie hart war der Winter gewesen! Mit eiserner Faust hatte er das Regiment geführt und es festgehalten weit über seine Zeit. Eine kurze Pause hatte er den Menschen zum Aufatmen gegönnt – nach dem Weihnachtsfest war’s gewesen – dann aber hatte er aufs neue den blinkenden Eisharnisch angethan und seinen frostigen Atem über See und Land gehaucht. Der März noch hatte seine unerbittliche Hand gefühlt. Schneewehen und eisige Kälte waren bis in die ersten Tage des April an der Tagesordnung. Dann aber kam ein gewaltiger Sturm, ein eiliger Regenschauer – und nun schlich schüchtern, auf leisen zögernden Sohlen der Frühling ins Land, ließ die Schneeglöckchen wie zaghafte Boten auftauchen, und als sie ein zuversichtliches Läuten anhoben, da schickte er die Lerchen und schickte die Veilchen, hing kleine flaumige Weidenkätzchen an die Bäume und tupfte auf alle kahlen Aeste winzige lichtgrüne Spuren. Dazu ging ein Hauch durch die Luft, warm und liebkosend. wie ein Kuß von geliebten Lippen.

Wie geschäftig die Schwalben um das alte Schloß zu „Perle“ flogen, wie emsig sie das Nesterbauen betrieben, mit schwirrendem Laut um die Zinnen kreisend, deren Wetterfahnen goldig im Sonnenlicht blinkten! Wie das weite blaue Meer funkelte und wohlig atmete im Sonnenschein! Die ernsten Tannen trieben feine hellgrüne Spitzchen, und aus dem Gewirr der uralten Eichenäste, die bisher so schwarz und kahl gen Himmel gestarrt, wand sich’s allmählich hervor in blaßbräunlichem Schimmer – die ersten Blättchen, noch scheu aneinander geklebt, ängstlich zusammengeduckt, aber von Tag zu Tag kräftiger sich entwickelnd, der Wärme, dem Licht entgegen.

Im Park war der Obergärtner mit seinen Gehilfen thätig. Er ersann neue Zusammenstellungen zu den Teppichbeeten, ließ die überwinterten Pflanzen herausbringen und war vom Morgen bis zum Abend bei der Arbeit; ein sehr geschickter Mann, in seinem Fach ein Künstler. Er bedauerte nur, mit seiner Kunst bei den Herrschaften so wenig Anerkennung zu finden. Der Herr Lieutenant kam sehr selten nach „Perle“ heraus, und wenn es geschah, dann sah er über alle neu angelegten Plätze und Beete hinweg, als wären sie Luft. Und auch das gnädige Fräulein war wie umgewandelt seit der Auflösung ihrer Verlobung, von welcher der Obergärtner ebenso wie das übrige Schloßpersonal sofort nach vollzogener Thatsache Kunde bekommen hatte. Sie, die sich sonst um alles und jedes kümmerte und von jeder Sache etwas zu verstehen meinte, ging jetzt still und gedrückt einher, gleichgültig gegen die ganze Welt, und die Versuche ihres Vaters, sie auf andere Gedanken zu bringen, schlugen fehl. Merwig, der immer alles in Erfahrung brachte, wußte, daß Herr von Montrose seiner Tochter vorgeschlagen hatte, eine Reise zu unternehmen, für den Winter und Frühling nach dem Süden zu gehen – die Baronin Norter ging mit ihrer Tochter, einer jungen Dame in Clémences Alter, nach Capri, später an die Riviera, das hätte den besten Anschluß abgegeben ... umsonst! Clémence weigerte sich eigensinnig, irgend etwas zu unternehmen, vergrub sich hartnäckig in ihren Kummer und sprach unaufgefordert kein Wort mit dem Vater. Wahrlich, der gnädige Herr konnte einem leid thun! Sie standen alle auf seiner Seite, von Merwig an bis herunter zum Küchenjungen – sie fanden es ganz in der Ordnung, daß er dem hochmütigen Lieutenant, der sich ja doch aus dem gnädigen Fräulein nichts machte und sich offenbar nur des Geldes wegen mit ihr verlobt hatte, so kräftig heimgegeigt hatte. Im übrigen kamen dem Obergärtner zuweilen seine eigenen Gedanken, wenn er den Blumenflor, der ins Verwalterhaus hinüberwanderte, so regelmäßig erneuern und die Grabstätte der verstorbenen Baronin Doßberg mit dem Schönsten schmücken mußte, was Treibhaus und Garten irgend hergaben. War es denkbar, daß der gnädige Herr ein Auge auf die junge Baroneß geworfen hatte? Es war allerdings nicht wahrzunehmen, daß die junge Baroneß den großmütigen Geber all dieser zarten Spenden irgendwie ermutigte, eher das Gegenteil. Der Obergärtner, dessen Wohnung so gelegen war, daß er ein großes Stück des Parkes überschauen konnte, darunter auch den Eingang zur Doßbergschen Familiengruft, sah die junge Dame im Winter oft durch den beschneiten Park ihren Weg dorthin nehmen, regelmäßig zehn Minuten später, nachdem Herrn von Montroses Schlitten davongeklingelt war. Sie mußte aus seinen Inspektionsfahrten und seinen Besuchen in die Nachbarschaft ein förmliches Studium gemacht haben. Freilich konnte ihr Vater ihr darüber den besten Bescheid geben, die beiden Herren fuhren nach wie vor, anscheinend im besten Einvernehmen, miteinander aus, wenn es galt, die Vorwerke zu besuchen und die Felder zu besichtigen; dann hatte Baroneß Doßberg freie Bahn. Schön war sie, wenn sie so eilig durch den winterlich ruhenden Park daherkam. Der Obergärtner öffnete zuweilen trotz der eindringenden Kälte sein Fenster, um sie besser sehen zu können, die feine biegsame Gestalt mit dem Gesichtchen, das so weiß und rosig unter dem breitrandigen Hut mit dem zurückgeschlagenen Trauerschleier hervorschaute. Und wenn sie gelegentlich für einen Gruß dankte und lächelte, dann war sie wirklich, wie sich der Obergärtner sagte, unwiderstehlich. Zwar kam dies Lächeln selten, meistens blickte sie ernst drein, sie mußte die Mutter wohl tief betrauern, hatte auch sonst offenbar noch allerlei stille Kümmernisse. Warum lief sie dem Postboten beinahe täglich entgegen, ließ ihn seine Tasche öffnen und ging dann traurig, mit enttäuschtem Gesicht, zum Verwalterhause zurück? Man hatte wohl gehört, der junge Herr, ihr Bruder, wolle zur See gehen, aber damit hatte es doch noch gute Wege; der saß fürs erste wohlgeborgen in Kiel, um zu lernen, und das mußte er noch eine ganze Zeit lang thun, ehe er aufs Schiff kam – also dem konnte ihre Sorge nicht gelten. Wem aber sonst?

Jetzt, da der Park sich mit neuem Grün schmückte, jubelnde Vogellaute aus Baum und Hecke klangen und die Blumen nach einem warmen Regen eilig aus der dunkeln Erde emporsproßten, kam Ilse von Doßberg noch häufiger äls früher in den Park zur Grabstätte. Herr von Montrose ritt jetzt viel aus, allein oder mit seinem Verwalter. Er hatte sich ein neues Reitpferd angeschafft, einen wunderschönen Goldfuchs, „Mazeppa“ geheißen den ritt er sich zu. „Mazeppa“ war schön und ungebärdig, die Stallknechte wußten von ihm zu sagen. Tückisch konnte man ihn nicht nennen; wenn er einmal stand – „wie ein Lamm“ – so blieb es auch dabei, aber bis es dahin kam! Das ganze Personal versammelte sich, sobald Philipp das Pferd vorführte und Herr von Montrose aufsaß; die Männer liefen vor die Thür, die Frauenzimmer ans Fenster. Auch Baron Doßberg kam gewöhnlich dazu, er teilte das allgemeine Interesse für „Mazeppa“ und hatte trotz seiner großen [287] Einsilbigkeit auch seiner Tochter von dem schönen Tier erzählt, mit dem Zusatz, Herr von Montrose sei merkwürdigerweise ein tollkühner Reiter, zwar sehr geübt und sicher in der Hand wie im Sitz, aber doch eben waghalsig, und er, Doßberg, könne sich nie eines gewissen Bangens erwehren, sobald Montrose an „Mazeppa“ seine Erziehungskünste versuche.

Auch heute, an einem lauen feuchtwarmen Maiabend, hatte Philipp vor der Rampe des Schlosses den Goldfuchs am Zügel. Der erfahrene Kutscher, dem das teuere und seltene Pferd zu besonderer Pflege anvertraut war, sprach beruhigend in „Mazeppa“ hinein, hauchte ihm in die Nüstern, klopfte ihm den spiegelblanken Hals und „machte ihm die Cour,“ wie er es selbst lachend nannte. Der Fuchs ließ sich das alles gnädig gefallen, er rieb seine schlanke Nase vertraulich an Philipps Schulter und scharrte mit dem zierlichen Vorderhuf graziös im Sande, aber dabei schielte er argwöhnisch seitwärts. Da! Eine Thür klang – „Mazeppa“ warf den Kopf herum und biß in die Kinnkette, daß der Schaum herabtroff, während Philipp ihm nach Kräften schmeichelte. Herr von Montrose kam die Freitreppe herunter, die Reitpeitsche unter den Arm geklemmt. Er hielt dem Pferd ein Stück Zucker hin und noch eines – dieses zerbiß die willkommene Gabe, ließ aber keine Sekunde davon ab, den Geber aus dem Augenwinkel zu beobachten. Sowie dann Montrose den Fuß hob, um in den Bügel zu kommen, machte der Fuchs eine drehende Bewegung, versuchte zu steigen und feuerte dann hinten aus, daß Kies und Funken den Nächststehenden nur so um die Ohren spritzten.

Herr von Montrose lächelte und Philipp auch; die übrigen Zuschauer sahen besorgt aus. „Mazeppa“ fuhr fort, sich wie ein Tänzer zu drehen und den Kopf zu werfen, dadurch verlor er aber den Vorteil des Beobachtens, und dieser Umstand wurde selbstverständlich benutzt. Herr von Montrose folgte jeder Bewegung des aufgeregten Tieres mit achtsamem Auge – ein Ruck, und er hatte den Fuß im Steigbügel und war in der nächsten Sekunde im Sattel. Philipp ließ los – und wie ein Wetter stob das Pferd davon. Philipp sah der wilden Jagd nach und nickte beifällig.

„Meinen Sie, er bleibt oben, Philipp?“ fragte der Obergärtner zweifelnd.

„Na und ob! Dem passiert nichts! Was der für’n Sitz hat und für Schenkel und Hände! Sieht ihm kein Mensch an! Wenn der Herr in den Sattel kommt, ist er mit eins seine zwanzig Jahre jünger.“

Drüben an einem Fenster des Verwalterhauses stand Baron Doßberg mit Ilse. Sie hatten die ganze Scene mit angesehen. Ilses Arm lehnte gegen ihres Vaters Schulter, und er fühlte zu seinem Staunen, daß dieser Arm leise zitterte. Er sah ihr ins Gesicht, das einen erschöpften ängstlichen Ausdruck trug. „Kind, hat Dich der Anblick aufgeregt?“ fragte er besorgt und zog das feine Köpfchen an seine Brust

„Es – es sah doch so bedenklich aus!“

„Ja, der ‚Mazeppa‘ ist ’ne eigenwillige Kreatur, aber Montrose ist ihm schon gewachsen – es wäre nur gut, wenn er nicht so tollkühn sein wollte. Der Mann wird buchstäblich ein anderer Mensch, sobald er zu Pferde sitzt. Hat er das Tier erst einmal gemeistert, dann unternimmt er ein Wagestück um das andere. Es reize ihn unwiderstehlich, hat er mir selbst gesagt, und als ich ihm erwiderte, wie leicht er dabei verunglücken könnte, meinte er, das glaube er nicht, schon darum nicht, weil niemand da sei, ihn zu betrauern. Für den Vater zweier Kinder ein merkwürdiger Ausspruch!“

Ilse wandte ihr Gesicht weg. „Kommst Du mit in den Park, Papa? Wir können ja jetzt hinein. Fräulein von Montrose ist zu Röstems hinübergefahren.“

„Hat sie Dich nicht aufgefordert, sie dorthin zu begleiten, da sie doch um unsere alte Freundschaft zu den Röstems weiß?“

„Nein. Wir sehen einander fast nie, Clémence und ich, und wenn es geschieht, dann tauschen wir nur einen steifen Gruß. Es ist nicht meine Schuld, daß wir uns so feindlich gegenüberstehen.“

„Und die Ursache ihres Benehmens, Kind?“

„Ich glaube, den Grund zu kennen, habe aber alles gethan, was in meinen Kräften stand, ihrem Argwohn keine Nahrung weiter zu geben.“

Ilse begegnete ihres Vaters forschendem Blick und schlug dann rasch die Augen nieder. „Können wir gehen?“ fragte sie hastig und unvermittelt. „Darf ich mir meinen Hut holen?“

Er nickte, und einige Minuten später schritten Vater und Tochter Arm in Arm die wohlbekannte breite Lindenallee hinab, die den Eingang in den Park bildete. Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her. Ilse dachte an Albrecht Kamphausen, dessen Bild fern, fern vor ihr dahinschwebte, unerreichbar wie eine Fata Morgana; sie rief sich ihr kurzes flüchtiges Liebesglück zurück und berechnete wieder – zum wievielten Mal schon! – wie lange, wie unbegreiflich lange sie nichts mehr von ihm gehört. Onkel Leupold hatte sie ihrer Angst wegen gescholten und auch getröstet, anfangs zuversichtlich und nachdrücklich, nach und nach immer kleinlauter und mit abnehmender Uberzeugungskraft. Er mußte zugeben, es sei sonderbar, daß so lange keine Nachricht komme und daß überhaupt jede Kunde über den Verbleib der „Nixe“ fehle. Ach, die langen lichtlosen Winternächte, wenn der Sturm heulend um das Haus flog und wie mit Geisterhänden an die Fensterläden klopfte ... wie oft sie da mit leisem Aufschrei aus dem Schlaf erwacht war und sich zitternd aufgesetzt hatte, um zu lauschen! Und immer sah sie das Schiff, wie es, vom Sturm gejagt, über die tobenden Wassermassen flog, die Segel in Fetzen, die Masten geknickt – und ihn auf der Kommandobrücke, bleich und ernst, den Tod vor Augen ... ihn, an den ihre geängstigte Seele sich klammerte wie an einen letzten Rettungsanker, der sie schützen sollte gegen all die dunkeln Mächte, die in ihrer Seele rangen. Ach, nur Nachricht, Nachricht von Albrecht, und wenn es bloß eine Zeile gewesen wäre, damit sie aufatmen, dies drückende Geheimnis von ihrer Seele wälzen und ihrem Vater endlich sagen konnte, wie es um sie stand. Die zarte schwache Mutter hatte es nicht erfahren dürfen, daß ihre Ilse die Braut eines ihr unbekannten Seemanns ohne Vermögen war, und unmittelbar nach ihrem Tode hatte Ilse auch den Vater schonen wollen. Jetzt aber, wo sie fest entschlossen war, zu sprechen, jetzt, da seit dem Heimgang der Mutter fünf volle Monate verflossen waren, jetzt wußte sie nicht einmal, ob Albrecht lebe – wie konnte sie da ihr Geheimnis preisgeben!

Sie fuhren beide, Vater und Tochter, wie aus einem Traum empor, als einer der Bedienten vom Schloß ihnen entgegenkam und ehrerbietig grüßte. Mit einem Schlage waren sie in die Gegenwart zurückversetzt.

„Es wäre mir lieb, Ilse,“ begann Doßberg nach einer kleinen Pause zögernd, mit sichtlicher Anstrengung, „es wäre mir lieb, wenn Du trachten wolltest, das gespannte Verhältnis zwischen Dir und Clémence von Montrose nicht zu verschlimmern, ja wenn irgend thunlich, zu verbessern. Ich weiß wohl, daß Herr von Montrose wenig Gewicht auf die Meinung seiner Tochter legt, dennoch könnte er jetzt, da er ihre Verlobung aufgelöst hat und offenbar Mitleid mit ihr empfindet, eher dazu geneigt sein als sonst, und das würde vielleicht nicht ohne Einfluß auf meine Stellung sein. Du bist mein geliebtes Kind und thust alles, mir das Dasein erträglich zu machen – aber seit Deiner Mutter Tod bin ich ein gebrochener Mann, und ich denke, ich lebe nur darum noch, weil ich mich um die ‚Perle‘ bemühen, weil ich die Luft meiner Heimat atmen darf!“

Die Lippen zitterten ihm, er war außer stande, mehr zu sagen. Ilse sah ihn von der Seite an, ihr schmolz das Herz in Liebe und Mitleid. Wie alt er geworden war, wie weiß sein Haar, wie gebeugt seine Haltung! War dieser in sich zusammengesunkene Mann ihr schöner stattlicher Vater, zu dem sie so stolz und freudig emporgeblickt hatte? Die Thränen schossen ihr in die Augen, als sie sich tief über die Hand neigte, die auf ihrem Arm lag. „Es soll alles sein, wie Du es haben willst,“ sagte sie mit einer Stimme, die sich umsonst mühte, heiter und gefaßt zu klingen.

„Dank Dir, mein Kindl Es ist ein Opfer, das Du mir bringen mußt –“

„Nein Papa, nein, das ist es nicht!“

„Doch, Ilse! Aber ich nehme es an, denn ich habe noch zu leben für Dich und für Armin und weiß, daß die Wurzeln meines Lebens hier in ‚Perle‘ festgewachsen sind.“

Schweigend legten beide den Weg bis zu der Doßbergschen Familiengruft zurück; daß diese das Ziel ihres Ganges sei, hatten Vater und Tochter in stillschweigendem Einverständnis angenommen. Vor kaum einer Stunde war ein warmer Mairegen gefallen, dankbar strömte das junge Blattwerk an Baum und Busch seinen herbkräftigen Atem in die weiche Abendluft. Die Gräber lagen da wie ein stilles Heiligtum, das letzte in der Reihe geschmückt mit dem Blütenflor der schönsten Frühlingsblumen. Ringsumher schimmerte der Rasen smaragden in den schmalen Streiflichtern, [288] welche die Sonne durch die Laubmassen warf; kein Hälmchen war umgebogen, keine Blume welk oder geknickt.

Ilse seufzte tief auf. „Mir ist das gar nicht recht,“ wandte sie sich an ihren Vater. „Wie gern würde ich selbst etwas für Mamas Grab thun, es wäre so schon, es zu pflegen, zu schmücken! Komme ich aber hierher, so finde ich alles gethan, kaum entdecke ich ein kleines Plätzchen für meine Blumen, die ich bei uns im Gärtchen ziehe.“ Mit vorsichtiger Hand bog sie da und dort einen Zweig zur Seite, um Raum für eine blaßgelbe selbstgezogene Marschall Nielrose zu gewinnen, die sie mitgebracht hatte.

„Möchtest Du nicht einen Kranz von diesen wilden Blumen für das Grab flechten?“ fragte Doßberg und deutete auf die Maßliebchen und Glockenblumen, die in überreicher Fülle auf den Grasflächen wucherten. „Mama hatte gerade diese Blumen so besonders gern!“

Ilse nickte und machte sich sofort emsig ans Pflücken. Dann setzte sie sich, den Schoß voller Blumen, auf die neben dem Grabe stehende Bank und begann ihr Werk, während der Baron neben ihr Platz nahm und mit trübem Blick auf die geschäftigen weißen Hände sah.

Hinter dem dichten Wall der Kastanien und Linden ging das Gitter hin, welches den Park von der Landstraße schied – die Familiengruft lag ganz am Ende des Parkes. Wer besonders aufmerksam von der Straße hereinspähte, der konnte immerhin die innerhalb des umfriedigten Raumes Befindlichen unterscheiden. Nach einer guten Weile – der Kranz, den Ilse flocht, war etwa zur Hälfte fertig – hörten die beiden, die in Gedanken versunken dasaßen, eine wohlbekannte Stimme mit breitem Accent. „Herr Baron! Ich irr’ mich doch wohl nicht, und Sie sitzen da drin. Können Sie denn nicht ’mal ’n hißchen durchs kleine Gitterthor zu mir ’raus kommen?“

Doßberg lächelte. „Das ist Hinz! Wie wär’s, alter Freund,“ fügte er mit erhobener Stimme hinzu. „wenn ich Ihnen das kleine Gitterthor aufmachte, und Sie kämen zu mir herein?“

„Kann ich nicht, Herr Baron! Hilft zu gar nichts! ’s ist nicht ’was zu erzählen, was ich hab’ .... ’was zu zeigen ist es. Herr Baron müssen man selbst kommen und sich die Bescherung ansehen. Bei der Sommerung an der Belter Grenz’, da ist ’was passiert! Ich hab’ gesagt, sie sollen da wegen dem Regen Faschinen legen, damit uns der Boden da nicht mir nichts dir nichts fortgespült werden kann, und der Herr Baron haben ’s auch gesagt ... aber nu haben sie das so hingemuddelt und haben sich gedacht: I, das hat ja noch Zeit, und dies ist nötiger und jenes ist nötiger ... na ja, aber der letzte Gewitterregen, den wir hatten, der hat danach nicht gefragt und hat die ganze Geschichte unterspült und ’n gutes Stück weggerissen oben am Berg, und nu haben wir die Pastete!“

„Ich komme sofort!“ Baron Doßberg hatte sich schon erhoben. „Ich bin bald wieder zurück, Kind, Du weißt ja, das ist kein weiter Weg! Willst Du hier bleiben und auf mich warten?“

„Ich denke, ja, Papa! Der Abend ist wundervoll, und mein Kranz ist nicht so bald fertig.“

„Schön! Ich hole Dich also hier wieder ab.“ Doßberg ging zu der kleinen Gitterpforte, die sich von innen öffnen ließ, und verschwand mit Hinz. Die Thür blieb angelehnt.

Die Sonne sank tiefer und tiefer und warf purpurne Streifen durch die Bäume. Die Goldbuchstaben auf dem weißen Marmorkreuz glühten auf, sehnsuchtsvoll schlug die Nachtigall im nahen Busch. Goldener Abendfrieden lag träumerisch auf dem stillen Fleckchen Erde, wo die Toten ausruhten von des Lebens Kampf und Mühsal, und in dem jungen, bis vor kurzem noch so lebensfrohen Herzen Ilse von Doßbergs wachte die Sehnsucht auf, auch so leidlos und traumlos zu schlummern wie die da unten ...

Sie erschrak, als sich jetzt in ihrer Nähe Hufschlag vernehmen ließ; durch die Lücken im Gebüsch sah sie einen Reiter herankommen und wußte sofort, wer es war. Sie rührte sich nicht – Herr von Montrose würde sie hier nicht vermuten, nicht entdecken – und während sie dies dachte, vernahm sie seinen Pfiff, sah einen Schatten geschwind am Gitter hinlaufen und hörte einen Befehl erteilen, dann klang die kleine Pforte und Herr von Montrose kam rasch auf sie zu. Sein Gesicht war nicht so kühl und blaß wie sonst – vermutlich hatte es einen harten Strauß mit „Mazeppa“ abgesetzt. Der englische Reitanzug kleidete ihn gut und ließ seine Gestalt auffallend geschmeidig und schlank erscheinen; in den Augen lebte ein ihnen sonst fremder Ausdruck von Entschlossenheit.

Ilse neigte zu seinem Gruß stumm den Kopf, ihre Hand, welche die blauen Glockenblumen auf ihren Knien zerwühlte, streckte sich ihm nicht zum Gruß entgegen.

„Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, daß es mir endlich dies Zusammentreffen mit Ihnen gönnt,“ begann Montrose. „O, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Baroneß“ – Ilse hatte eine Bewegung gemacht, als ob sie ihn unterbrechen wollte – „Sie meinen, wir hätten einander häufig genug gesehen. Aber das geschah nie ohne Zeugen. Ich habe mich hundertmal bemüht, Sie allein zu treffen, es ist mir nie gelungen. Jetzt eben traf ich Ihren Vater mit dem alten Inspektor drüben an der Belter Grenze, und da ich nach Ihnen fragte, mußte er mir sagen, daß Sie hier wären. Sie können mir nun nicht mehr ausweichen!“

Nein, sie konnte nicht – und sie wollte es auch nicht. Sie wußte, was kommen würde – aber einmal mußte es ja sein, und wenn sie es dann endlich überwunden hatte, dann mußte auch diese unerträgliche Bangigkeit von ihr weichen, sie mußte ihr früheres Selbst, das zielbewußte unbefangene Wesen wiedergewinnen. Mochte er denn sprechen!

„Wollen Sie Platz nehmen?“ fragte sie und rückte ein wenig zur Seite. Diese höfliche Frage in ihrer nüchternen Förmlichkeit that ihr ordentlich wohl.

Montrose setzte sich und sah Ilse unverwandt ins Gesicht. Sie wollte den Blick nicht erwidern, aber sie konnte nicht anders.

„Sie mußten es schon damals im Winter bei dem Fest im Schloß wissen, daß ich Ihnen Wichtiges zu sagen hätte, Baroneß – mir schwebte eine Erklärung auf den Lippen. Nur widerstand es mir, sie Ihnen mitten im Lärm eines Festes, im Kreise so vieler fremder Menschen zu geben. Dann kam der Tod Ihrer Mutter – ich wünschte, Ihren Schmerz zu ehren, Ihnen Zeit zu lassen, die erste Heiligkeit des Kummers zu überwinden – so bezwang ich mich denn, aber es wurde mir unsagbar schwer.“

In die eingetretene Pause schallte der werbende Gesang einer Nachtigall in unmittelbarster Nähe, sehnsüchtig und klagend.

„Was ich Ihnen zu sagen habe, Baroneß, wird Ihnen eine ungeheuere Vermessenheit scheinen, und dennoch muß ich sprechen, weil ich nicht anders kann, weil ich in Ihren Augen gelesen habe, daß Sie Teilnahme für mich haben, Mitgefühl! Lassen Sie sich’s nicht gereuen, mir das gezeigt zu haben – ich hoffe dessen nicht ganz unwert zu sein. Mitgefühl! Ich hab’ es von so wenigen Menschen begehrt, ja ich hab’ es immer abgewiesen – ich bin stolz, ich wollte es nicht ... bei Ihnen hat’s mich beseligt, so wie Sie sind, wie ich Sie kenne. Das Mitgefühl ist im Herzen einer Frau die goldene Stufe, auf der sich später vielleicht ein Höheres, Schöneres erhebt – und weil ich dies in Ihrem Blick sah, darum meine Vermessenheit!“

Montrose stockte, er faßte Ilses Rechte und drückte seine bebenden Lippen darauf, wieder und wieder, bis sie ihm die Hand entzog.

„Ich bin sehr arm bis jetzt durchs Leben gegangen, Ilse, – bettelarm! Das hab’ ich bisher noch keinem gestanden. Ich bin eine ehrgeizige Natur gewesen – schon in früher Kindheit hat sich das gezeigt. Als mir meine Laufbahn, in die ich mit den kühnsten Plänen eingetreten war, zerschlagen wurde, als mein Name in den Staub getreten war – vielleicht haben Sie gehört, durch wen – da hab’ ich mir das Leben nehmen wollen, und als das mißlang, blieb ich jahrelang so menschenscheu, daß ich nur bei Nacht, wenn alles schlief, mein Zimmer verließ und mich im Freien erging. Diese ‚Freiheit‘ war ein großer Anstaltsgarten, in welchem ich aufs sorgsamste überwacht wurde – ich hätte ja wieder Hand an mich legen und mein kostbares Dasein gefährden können! Als ich dann endlich als ‚geheilt‘ entlassen wurde, war mein Wille wieder erstarkt – meine Seele war krank geblieben. Ich ließ mich weit fortschicken, dorthin, wo kein Mensch meinen Namen kannte, mein Schicksal wußte. Und da der Ehrgeiz nun einmal die Triebfeder meines Handelns war, so setzte ich in meiner neuen Umgebung alles daran, ein tüchtiger Geschäftsmann zu werden, und das gelang mir. Es gewährte mir eine Art von Genugthuung, zu sehen, wie meine kühnsten Pläne einschlugen, wie meine Unternehmungen sich weiter und weiter ausbreiteten, mein Name in der neuen Welt, die ich mir geschaffen, einen immer bessern Klang gewann. Was sonst mit mir wurde, war mir gleichgültig, so gleichgültig, daß ich mich sogar ohne weiteres

[289]

Im alten Klostergarten.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.

[290] verheiraten ließ, als mein sterbender Vater es wünschte und eine mir offen entgegengebrachte Neigung es mir nahelegte. Vielleicht hoffte ich auch, Liebe könne Gegenliebe erwecken. Es war ein Experiment, das ich unternahm, und ich hatte nur, was ich verdiente, als es fehlschlug. Ich klage daher die Verstorbene nicht an – sie folgte ihrer Eigenart, ich der meinen. Wir paßten eben nicht zusammen und waren sehr unglücklich miteinander, sie vielleicht weniger als ich, da sie das Gesellschaftsleben liebte und in vollen Zügen genoß, auch die Kinder hatte, die ihrem Herzen Ersatz boten. Ich habe mich redlich bemüht, diese Kinder zu lieben, habe um ihre Liebe geworben wie nie in meinem Leben um die Liebe einer Frau, aber ihre Mutter faßte dies als einen Wettkampf auf und that ihrerseits alles, mir zuvorzukommen, und das gelang ihr. Was in den beiden an Herz vorhanden war, gehörte ihrer Mutter, mir waren und sind sie fremd. Darum gab ich sie fort, als meine Gattin gestorben war – sie entbehrten mich nicht, und auch in mir verstummte mehr und mehr die Stimme, die mich gemahnt hatte, meiner Pflicht als Vater zu gedenken. Ich bin dann durch die weite Welt gegangen, ich suchte kein Glück mehr für mich und glaubte, verzichtet zu haben – Sie seufzen, Ilse – Sie haben Mitleid mit mir ...“

Das Mädchen wandte sich ab, um ihn ihre feuchten Augen, ihre zitternden Lippen nicht sehen zu lassen.

„Ich las das schon beim ersten Mal, als wir uns sahen, aus Ihren Augen, dies sanfte zärtliche Mitleid. Ilse – Sie so jung und schön ... ich stehe vor Ihnen wie ein Bettler, Sie haben die Macht, mich überselig zu machen aus Ihrem Reichthum – Ilse, ach, Ilse, geben Sie mir das Glück! Ich sage ja nicht: lieben Sie mich, wie ich Sie liebe, das wäre Verblendung – aber nur ein wenig versuchen Sie es, nur ein wenig! Lassen Sie dies Mitgefühl weiter in Ihrem Herzen für mich sprechen, geben Sie uns allen die Heimat wieder, Ihrem Vater, sich selbst, dem Bruder – mir, der es seit seinen Kindertagen nicht mehr weiß, was es heißt: eine Heimat haben! Sagen Sie mir heute noch nichts, nehmen Sie sich Bedenkzeit – ich werde geduldig sein, werde warten, lange warten. Alles soll sein, wie Sie es wollen –“

„Nein! Nein!“ Ilse rief es leidenschaftlich und sprang auf, so ungestüm, daß Kranz und Blumen zur Erde niederfielen. Sie konnte es nicht länger mit anhören, dies flehentliche Bitten, diesen Ton, der sie bis in die tiefste Seele hinein erschütterte. Sie mußte ein Ende machen, gleich und für immer, und dazu gab es für sie nur einen Weg.

„Sie dürfen nicht weiter so zu mir sprechen, ich kann nicht ... bin nicht wert ...“ Die Worte wollten ihr nicht gehorchen, überstürzten sich ihr in atemloser Hast. „Ich hab’ es keinem sagen dürfen bis jetzt, es war mein Geheimnis, meines allein – aber Sie sollen, Sie müssen es wissen: ich bin verlobt, seit einem Jahr schon, mit Kapitän Kamphausen – und ich liebe ihn, liebe ihn – und bitte Sie: sehen Sie mich nie mehr, sprechen Sie nie mehr mit mir! Ich ertrag’ es nicht länger, ich kann –“

In den Goldstreifen, den die untergehende Sonne auf den Weg warf, fiel ein schwarzer Schatten – Ilses Augen irrten erschrocken zur Seite, – Baron Doßberg stand dort, weiß wie ein Tuch; ohne Regung starrte er zu ihr herüber.

Eine bange beklommene Stille, durch die das Jubilieren der Vögel wie Hohn klang; als Doßberg endlich einen Schritt näher kam, ermannte sich auch Herr von Montrose. Er nahm seinen Hut, der neben ihm auf der Bank gelegen hatte, und erhob sich. „Verzeihen Sie!“ sagte er leise zu Ilse, dann grüßte er sie wie ihren Vater mit einer leichten Verneigung und ging unter den blühenden Kastanienbäumen in die Tiefe des Parkes.

Vater und Tochter sahen einander stumm in die Augen.

„Ilse, wir müssen fort!“ sagte Doßberg endlich mit einer heisern tonlosen Stimme.

Sie raffte sich auf. „Ja, ja – gewiß, wir müssen – es wird spät und kühl –“

Er machte eine abwehrende Vewegung. „Ich meine nicht das! Fort von ‚Perle‘ müssen wir!“

„Papa!“

„Ja, das müssen wir, das müssen wir!“ wiederholte er und nickte schwerfällig vor sich hin. „Ich habe alles gehört, ich stand dort“ – er wies nach dem kleineu Gitterthor – „als er Dir seine Hand anbot und eine – eine Heimat für uns alle – und daß Du heimlich mit einem andern verlobt bist. Und nun können wir hier nicht mehr bleiben, es ist aus. Komm, Ilse, komm!“

Er schauderte zusammen – wie ein Mensch, der den Tod vor Augen sieht, zog seiner Tochter Arm durch den seinigen und verließ mit ihr den Begräbnisplatz.




16.

In seinem „Achterdeck“ saß Erich Leupold am Tisch, beide Wangen in die Fäuste vergraben, vor sich ein ausgebreitetes Zeitungsblatt, in dem er las und las .....

Die Mittagssonne – eine stechende Julisonne war’s – brannte ihm heiß auf den Scheitel, denn am Fenster war kein Vorhang vorgezogen. Der Kapitän achtete dessen nicht – er las. Die „büßende Magdalena“ war wie in Flammen getaucht, gleich flüssigem Kupfer leuchtete das goldene Haar im Sonnenschein – der Besitzer des schönen Bildes sah sich kein einziges Mal mit seinem grimmigen Hohnlächeln danach um, wie er es sonst so oft zu thun pflegte – er las!

Jan Grenboom hatte sich hereingeschlichen und zum Mittagessen bitten wollen – als er das Gesicht und die Stellung seines Kapitäns sah, schlich er wieder davon, ohne eine Wort zu sagen, nahm in der Küche seine Töpfe vom Feuer, schnitt sich ein frisches Priemchen zurecht und hatte seine Gedanken.

Es war ein ziemlich ausführlicher Zeitungsartikel, den Leupold vor sich hatte, unter dem Titel „Schiffsunfälle“. Der Kapitän schien ihn auswendig lernen zu wollen, er mußte ihn wenigstens schon viermal hintereinander gelesen haben. Endlich erhob er sich. Er reckte die beiden geballten Fäuste, daß sie fast an die niedrige Zimmerdecke stießen, und seine festen Zähne knirschten aufeinander. Zwischen den buschigen Brauen und um den eigensinnigen Mund herum wetterte und zuckte es, die Augen blickten starr und drohend. Ein paarmal schluckte er krampfhaft und räusperte sich nachdrücklich, um die Stimme frei zu bekommen. Es glückte ihm, und nun rief er hinaus: „Jan! Jan Grenboom!“

„Kapitän?“ Der Gerufene humpelte herein und pflanzte sich breit vor seinem Gebieter auf.

Dieser sagte zunächst nichts.

„Was ist los, Kapitän?“ fragte der langjährige Vertraute endlich.

„Was los ist? Der Teufel natürlich, altes Nilpferd! Die ‚Nixe‘ ist hin – und der Albrecht Kamphausen ist auch hin!“

Der alte Matrose that einen Fluch, um seine Teilnahme an den Tag zu legen. Soweit in ihm der Begriff „Liebe“ ausgebildet war, liebte er seines Herrn Pflegesohn, Albrecht Kamphausen, wirklich. „Steht’s da drin, Kapitän?“ fragte er nach einer kleinen Weile und deutete mit dem Finger nach dem Zeitungsblatt

„Ja! Hör’ zu – setz’ Dich!“

Jan gehorchte und Leupold las: „Endlich sind wir in der Lage, unsern Lesern näheres über den Verbleib der schon seit längerer Zeit vermißten Korvette ‚Nixe‘ (Kapitän Kamphausen) zu berichten. Das Schiff verließ im Mai des letzten Jahres den deutschen Hafen, um sich auf verschiedenen Umwegen nach den chinesischen Gewässern zu begeben. Seit sieben Monaten fehlte jede Nachricht über die ‚Nixe‘. Zuletzt hat ein dänischer Dampfer bei Formosa mit ihr Grüße ausgetauscht – das ist Anfang Januar gewesen. Heute geht uns die Nachricht zu vom sichern Untergang der Korvette, der allerdings längst zu befürchten war, aus der Feder des Matrosen Rolf Görnemann, des einzigen, der bei der Katastrophe, die in der Nähe der Philippinen stattgefunden hat, mit dem Leben davongekommen ist. Ein spanisches Schiff hat den Halbtoten, der sich an der Sitzbank eines Rettungsbotes festgeklammert hatte, an Bord genommen. Dort ist er in eine schwere Krankheit verfallen, so daß der spanische Schiffsarzt wenig für sein Leben gegeben hat. In einem Londoner Hospital hat man dann den jungen Mann abgeliefert, bei dem ein Typhus ausbrach, der ihn monatelang ans Krankenlager fesselte. Endlich konnte er die Heimreise antreten. Gegenwärtig weilt Rolf Görnemann in seiner Heimat, der Fabrikstadt G. Dort hat er einen Rückfall zu überwinden gehabt und ist jetzt endlich soweit hergestellt, daß er schon in der nächsten Woche imstande sein dürfte, uns einen ausführlichen Bericht über den Untergang der ‚Nixe‘ zu liefern. Wir dürfen diesem Bericht mit um so größerer [291] Spannung entgegensehen, als der junge Görnemann gebildeten Kreisen angehört und nur durch eigenartige Verhältnisse in die Laufbahn eines Matrosen getrieben wurde, daher sehr wohl in der Lage ist, seine Schilderung interessant zu gestalten.“

Leupold verstummte und ließ das Zeitungsblatt sinken, er sah wie fragend zum alten Grenboom hinüber. Sonst besaß er kein allzu großes Mitteilungsbedürfnis – heute hatte es ihn zu hart angepackt. Er mußte jemand haben, zu dem er reden, der ihm zuhören konnte, er vermochte das Alleinsein nicht zu ertragen.

Jan Grenboom schnitt ein schauderhaftes Gesicht, das sein Mitgefühl ausdrücken sollte; er streichelte Dido, die ihm auf den Schoß sprang, mit seiner breiten behaarten „Tatze“ und wälzte das Priemchen unruhig im Munde hin und her. Endlich lieh er seinen Gedanken Worte.

„Ja – aber, Kapitän, wir haben’s doch all lang’ gedacht, daß die ‚Nixe‘ zum Deiwel ist. Und wenn das Schiff hin ist, ist uns’ Kapitän Albrecht auch hin!“ philosophierte Grenboom weiter. „Der hat seine ‚Nixe‘ nicht verlassen, der nicht! Der hätt’ ’mal können Admiral oder so ’was werden – gelernt war er, und zu hantieren wußte er auch!“

Der alte Leupold nickte schwerfällig.

„Ob sie wohl – das junge Fräulein mein’ ich – das schon gelesen hat?“

„Weiß ich’s?“ Leupold fuhr aus seinem Brüten auf. „Muß auch das noch über sie kommen – auch das noch!“

Er hatte schwere Sorge um Ilse, der alte Weiberfeind. Er wollte sich’s nicht eingestehen, aber sie hatte sich in sein Herz gestohlen, er hielt viel auf sie und war im stillen immer aufs neue verwundert, wie diese Eltern dies Kind haben konnten. Und nun, seit sie ganz in St. wohnte und er sie häufig sah, war sie ihm vollends lieb geworden. Ilse hatte ihrem Onkel nicht gesagt, weshalb sie vor etwa zwei Monaten, Ende Mai war es gewesen, so plötzlich samt ihrem Vater „Perle“ verlassen hatte und ganz nach St. übergesiedelt war, aber der Kapitän konnte sich’s ungefähr denken. Wenn sein Schwager Doßberg die „Perle“ verließ, dann war ein bitteres Muß dahinter, und das konnte ihm nur die Prinzeß Ilse, freilich ohne ihren Willen, eingebrockt haben. Sie hatte offenbar mit ihrem Gesicht Unheil gestiftet, entweder bei Montrose Vater oder Sohn; das Ergebnis war die freiwillige Verbannung der Doßbergs gewesen.

Der alte Leupold hatte keinen kleinen Schreck bekommen, als seine Nichte eines Tages mit der Kunde zu ihm eintrat, sie hätten eine Wohnung in der Stadt gemietet und wollten da bleiben. Er hatte nicht gefragt: wie wird Dein Vater das ertragen? aber er hatte es sorgenvoll gedacht, und jetzt, nach zwei Monaten konnte er sehen, daß Doßberg es überhaupt nicht ertrug, sondern daß er hinschwand, ausging wie ein Licht. Der Kapitän hatte für seinen „hochgeborenen Herrn Schwager“ nie viel Zuneigung gefühlt, aber er hätte herzlos sein müssen, wenn ihm der Mann jetzt nicht in der Seele leid gethan hätte. Still und teilnahmlos, doch immer freundlich und sanft, wenn man ihn um etwas fragte, ohne Klage, ohne ein Wort von Heimweh zu äußern, welkte Doßberg hin von einem Tage zum andern. Und daneben Ilse, die sich in Leid und Jammer um ihn verzehrte und doch nicht helfen konnte, die sich ihm gegenüber schuldig fühlte und sich doch sagen mußte, sie habe nicht anders handeln können, als sie gethan! Ach, was war aus dem heitern schönen Mädchen geworden! Wo war das perlende Lachen geblieben und das warme Leuchten der dunkeln Augen!

Erich Leupold hatte sich seines Schwagers angenommen nach besten Kräften. Er holte ihn täglich zum Spaziergang nach dem Hafen ab, nannte ihm die ein- und auslaufenden Schiffe, stellte ihn seinen alten Freunden vor, den Kapitänen und Reedern, und lieh ihm seine besten Bücher, in dem Glauben, der Baron müsse doch jetzt endlich Interesse am Seemannsberuf nehmen, da sein einziger Sohn sich denselben erwählt hatte. Aber das war ein Irrtum. Doßberg hatte für nichts in der Welt mehr Interesse. Er ging willig mit, wenn der Schwager kam, ihn abzuholen, er richtete auch seine Augen auf die Schiffe, die dieser ihm zeigte, und antwortete höflich auf die Fragen und Bemerkungen der Kapitäne, aber sein Herz war nicht dabei.

Wie nun Ilse das neue Unglück beibringen? Sie las freilich Zeitungen, aber diese hier, ein kleineres Blatt, das Leupold sich hielt, weil es viele überseeische Berichte brachte, würde ihr wohl nicht zu Gesicht kommen. Mit Recht hielt sich der alte Kapitän für einen sehr schlechten Diplomaten – er sah schon bei seinen ersten Worten die Nichte umsinken, sich selbst daneben, vergebens nach einem Trost suchend. Gab es denn für Ilse überhaupt einen Trost? Wie hatte sogar ihn, den wetterfesten starken Seemann, die Unglücksbotschaft getroffen! Sein Albrecht, sein Stolz, sein Liebling! Ja, heute gestand er sich das „weichliche“ Wort zu: sein Liebling!

Jan Grenboom weckte seinen Herrn aus tiefer Versunkenheit. „Wie wär’s mit’m Mittag, Kapitän?“

Leupold schüttelte den Kopf. „Heut’ nicht! Könnt’ nichts ’runterwürgen. Iß Du, und mir bring’ ’n Schluck Portwein – mir ist miserabel zu Mut – hundselend!“

Jan entfernte sich brummend und kam nach einer Minute mit einem Theebrett wieder, auf dem ein großes Wasserglas stand, randvoll mit Portwein. Der alte Leupold nahm diesen „Schluck“ mit einer Schnelligkeit zu sich, die auf bedeutende Ubung schließen ließ.

„Mehr?“ fragte Jan.

„Nein! Nimm den Vogel und den Affen mit!“

Der Matrose machte Kehrt, prallte aber mit einem lauten: „Ahoi!“ von der Thür zurück, denn Ilse von Doßberg lief ihm beinahe in die Arme.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.


E. Werner, die beliebte Erzählerin der „Gartenlaube“, hat sich vergangenen Winter in Aegypten aufgehalten und ist jetzt mit der Ausarbeitung eines neuen Romans beschäftigt, welcher im nächsten Jahrgang der „Gartenlaube“ erscheinen soll. Der Roman spielt zum Teil in Aegypten und entwickelt anziehende, farbenreiche Bilder aus dem Lande der Pharaonen. Selbstverständlich sind es aber auch dort Deutsche, welche als die hauptsächlichen Träger der Handlung auftreten; die fremdartige Landschaft und Staffage geben nur den reizvollen Hintergrund ab für die Gestalten und Geschicke des Romans. Wir freuen uns, den Lesern schon heute diese Mitteilungen über das entstehende Werk machen zu können, und hoffen, daß es der gefeierten Schriftstellerin vergönnt sei, ihre Arbeit in ungetrübter Schaffenskraft zu einem glücklichen Ende zu führen.

Steigerung der Kartoffelerträge. Wie viele Menschen giebt es wohl, die nur ein kleines Kartoffelfeld besitzen und diesem eine möglichst reiche Ernte abgewinnen möchten! Auch eine große Anzahl von Lesern und Leserinnen der „Gartenlaube“ dürfte sich in dieser Lage befinden. Darum einige Worte über Versuche, die jüngst vom Oekonomiekommissar Dr. Strecker angestellt wurden! Er ließ die Kartoffeln in verschiedenen Abständen von 35, 40 und 45 cm pflanzen, und da zeigte es sich, daß die engste Pflanzung den höchsten Ertrag lieferte. Die Mehreinnahme betrug 30 bis 38%, oder je nach der Kartoffelsorte 53 bis 87 Mark für den Morgen, dabei war der Mehraufwand an Geld und Arbeit bei der Pflanzung geradezu verschwindend klein. Bei der gartenmäßigen Kultur, wo die Behäufelung mit der Handhacke ausgeführt wird, kann man die Kartoffeln auch in Reihen, die nur bis 35 cm voneinander entfernt sind, anbauen und gewinnt dadurch noch mehr. Möchte dieser Wink in weiteren Kreisen Beachtung finden! *     

Schultheiß Wengi verhindert den Religionskrieg in Solothurn. (Zu dem Bilde Seite 280 u. 281.) Die Schlacht bei Kappel war geschlagen, die durch Ulrich Zwinglis Tod der Sache der Evangelischen in der Schweiz einen schweren Verlust gebracht hatte. Und ihre Gegner waren eifrig, diesen Vorteil auszunutzen, überall suchten sie die Reformierten aus den eroberten Gebieten wieder hinauszudrängen. Auch in Solothurn waren die Dinge dahin geraten, daß im Oktober 1533 die Evangelischen beschlossen, mit den Waffen in der Hand die Freiheit ihres Glaubens zu verteidigen. Noch einmal gelang es der Ueberredungskunst des kraftvollen Schultheißen Wengi, die Gemüter zu besänftigen, als aber die Reformierten sich in den Stadtteil jenseit der Aare zurückzogen, die Brücke hinter sich abbrachen und sich drüben förmlich verschanzten, da erbrachen die Katholiken das Zeughaus und pflanzten ein Geschütz am Ufer des Flusses auf, um den Kampf doch noch zu eröffnen. Schon war alles bereit – da eilte Wengi herbei, stellte sich selbst vor die Mündung der Kanone und rief: „Brüder, wenn Ihr Bürgerblut vergießen wollt, so fließe das meine zuerst!“ Das brachte die Erregten zur Besinnung, der Kampf unterblieb. Ein granitnes Denkmal in der Nähe der Stadt, der Wengistein, erinnert heute an den kühnen Mann, der in entscheidender Stunde Solothurn vor den Greueln des Bürgerkriegs bewahrte.

[292] Duett. Aus dem künstlerischen Nachlaß des leider zu früh verstorbenen humorvollen Tierzeichners Gustav Süs ist der „Gartenlaube“ von der Witwe des Künstlers die beifolgende Zeichnung zur Veröffentlichung übergeben worden. Wir hoffen, daß auch die größten Verehrer Mendelssohns unter unsern Lesern und Leserinnen sich der komischen Wirkung dieses Blattes nicht entziehen und dem Humoristen mit dem Zeichenstifte nicht ernstlich grollen werden.

Duett.
Humoreske von G. Süs.

Tafelaufsatz von Karl Winterhalter. (Zu dem Bilde S. 285.) Unter den Erzeugnissen des deutschen Kunstgewerbes, die auf der Weltausstellung zu Chicago zu sehen waren, nahm ein fast einen Meter hoher, silberner, zur Aufnahme von Liqueuren bestimmter Tafelaufsatz von Juwelier Karl Winterhalter in München eine hervorragende Stelle ein. Auf vielfach gebuckeltem Fuß erhebt sich ein schlanker Schaft, dessen aus Laubwerk gebildeter Knauf das fünfteilige, etwa kopfgroße Gefäß trägt; frei getriebene Ranken und Blumen umspinnen das letztere, und dazwischen strecken die fünf durchweg verschieden gestalteten Hähne ihre langen Hälse hervor. Der Kern des Deckels besteht aus der Wurzel eines Elefantenzahnes, dessen merkwürdige Verwachsungen und Durchlöcherungen der Phantasie des Meisters die Anregung gaben, ihn zu einer Felskuppe zu gestalten; auf dieser Kuppe erhebt sich, wiederum aus Silber, eine ganze mittelalterliche Burg mit Türmen und Thoren, Mauern und Erkern, mit Zugbrücke, Brunnen und Kapelle. Wir geben den Oberteil dieses Tafelaufsatzes nach der Abbildung in dem Werke „Das deutsche Kunstgewerbe zur Zeit der Weltausstellung in Chicago 1893“, das Professor Leopold Gmelin im Auftrag des bayerischen Kunstgewerbevereins bearbeitet hat (München, M. Schorß). Der stattliche Prachtband ist geeignet, uns mit Stolz über die glänzende Leistungsfähigkeit des heutigen deutschen Kunstgewerbes zu erfüllen.

Im alten Klostergarten. (Zu dem Bilde S. 289.) Wie weitete er mir das Herz, der Sonnenschein dieser maiduftigen Sonntagsfrühe, als ich bergan stieg in den Rebengeländen des Moselthales! Junges Grün die Fülle, wohin der Blick sich wandte, Vogelstimmen an allen Enden, dazwischen das Geläute ferner Glocken.

Und dort das spitzgieblige, von Baumkronen halb verdeckte Gemäuer mit dem blitzenden Sonnenglanz auf den turmgeschmückten Schieferdächern? Seine Mauern sind zerbröckelt, wuchernder Epheu deckt die Fenster und kriecht an dem eingefallenen Dach entlang. In friedlicher Stille liegt es da wie ausgestorben, nur zahllose Bienen schwärmen in dem Blütenmeere der verwachsenen Bäume und Gesträuche und ein paar Stare schwirren geschäftig umher, ihre Nester in den aufgesteckten Starenhäuschen bereitend.

Lange saß ich da mit meinem Skizzenbuche, ganz verloren in den Reiz dieses kleinen verwilderten Idylls. Endlich erweckten mich fröhliche Kinderstimmen. Zwei kleine Mädchen kamen die Stufen vor dem Hause herabgetrippelt, einer Katze nach, die in munteren Sprüngen vorauseilte. Als die Kinder meiner ansichtig wurden, kauerten sie still sich nieder am Wasserbecken nahe dem alten verwetterten Ziehbrunnen, mit wilden Rosen sich schmückend und dazwischen mich mit neugierigen Blicken musternd – eine reizende Staffage! Mein Bild war fertig.

„Wem gehört dies Haus und der Garten?“ frug ich später die rüstige Alte, die gekommen war, die Kinder zu holen. Und von ihr erfuhr ich dann hinter einem Glase Moselwein die Geschichte des seltsam romantisch dreinschauenden Hauses. Vor langen Jahren hatten es sich die geistlichen Herren von dem Kloster im Thal hier oben als Sommerhaus gebaut. Als unter den Drangsalen der Franzosenzeit Gebäude und Liegenschaften des Klosters gebrandschatzt und verschleudert wurden, da geriet auch unser Sommerhaus in fremden Besitz, wanderte von Hand zu Hand, bis es eines wackeren Wirtes Eigentum ward. Damals ging’s lustig zu im Hause. Im Sommer und Herbst kamen die Maler und die Studenten und Wanderfreunde aus aller Herren Ländern, durch die mondhellen Nächte hallten die Lieder von der Höhe ins Thal – was aber den Leuten die Herzen so warm und die Gedanken so fröhlich machte, das war nicht bloß des Wirtes goldener Wein, das war auch des Wirtes goldblondes Töchterlein. Und eines Tages geschah’s, daß solch ein fremder Gast von weit her wiederkam und das blonde Kind zum Weibe sich erbat. Mit schwerem Herzen fügte sich der Vater, sein Liebling zog mit dem Manne hinüber übers Meer, begleitet von heißen Segenswünschen. Sie sollten an ihr nicht in Erfüllung gehen! Krankheit kam und Unglück – und von bitterem Heimweh verzehrt, starb das arme Geschöpf fern von der Heimat im fremden Lande. Der Vater hat den Schlag nicht mehr verwunden. Sein Haus zerfiel, sein Garten verwilderte, seine Habe schmolz zusammen – er merkte es nicht und wehrte sich nicht; vor ein paar Jahren hat ihn der Tod erlöst von seinem Kummer. „Da haben wir uns denn vor einem Monat das alte Gerümpel gekauft“ – schloß die Frau ihren Bericht – „und wenn es gut geht mit der Wirtschaft und der Wein gerät im Mosellande, dann soll’s auch hier wieder besser werden und lustiger.“

Ich aber hatte im Herzen den Wunsch, es möchte alles so bleiben, wie ich es an diesem herrlichen Sonntagmorgen geschaut, das ganze träumerisch schöne Bild vom verlassenen Klostergarten! R. P.     

Leonardo da Vincis Selbstbildnis. (Zu unserer Kunstbeilage). In der berühmten Galerie der Uffizien zu Florenz befinden sich zwei Säle, die ganz mit Künstlerbildnissen angefüllt sind, und zwar meist mit Selbstbildnissen. Zu den berühmtesten Stücken dieser Sammlung gehört auch das Porträt Leonardo da Vincis, das unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt. Es zeigt uns den berühmten Florentiner, der unter den vielseitigen Genies der Renaissance das vielseitigste war, der als Maler schon allein durch die Schöpfung des „Heiligen Abendmahls“ in dem Refektorium von Santa Maria delle Grazie in Mailand sich die Unsterblichkeit erwarb und zugleich als Plastiker und Baumeister, als Ingenieur, Mathematiker und Naturforscher, als Sänger und Lautenspieler, als Dichter und Improvisator sich auszeichnete und durch Schönheit, Kraft, Gewandtheit, durch Geist und Witz alle Zeitgenossen bezauberte, die in den Bannkreis seiner Persönlichkeit gerieten. Daß das Bild von Leonardo selbst gemalt sei, wird zwar von einigen Gelehrten bestritten; alte Ueberlieferung aber bezeichnet es als Selbstbildnis, und jedenfalls wird daran nicht gezweifelt, daß es die Züge des genialen Mannes der Wahrheit getreu wiedergebe.


Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Neue Gedichte.
Von Emil Rittershaus.
5. Auflage.
Preis elegant gebunden mit Goldschnitt 6 Mark 50 Pf.

Emil Rittershaus ist längst ein vielgefeierter und beliebter Dichter, fehlt er doch nie mit seinem Liede, wenn es gilt, ein Ereignis der Zeit zu erfassen und im Herzen des Volkes zur verständnisvollen Geltung zu bringen. Wir empfehlen die obige, bereits in 5. Auflage erschienene Sammlung aufs wärmste zur Anschaffung für die Hausbibliothek.

Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen.



manicula Hierzu Kunstbeilage V: Leonardo da Vincis Selbstbildnis.

Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (16. Fortsetzung). S. 277. – Zum Gruße. Bild S. 277. – Schultheiß Wengi verhindert den Religionskrieg in Solothurn 1533. Bild. S. 280 und 281. – Schwerhörige Kinder. Ein Wort an Eltern und Lehrer. S. 283. – Havarien. Von W. Berdrow. S. 283. – Silberner Tafelaufsatz. Bild. S. 285. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (16. Fortsetzung). S. 286. – Im alten Klostergarten. Bild S. 289. – Blätter und Blüten: E. Werners neuer Roman. S. 291 – Steigerung der Kartoffelerträge. S. 291. – Schultheiß Wengi verhindert den Religionskrieg in Solothurn. S. 291. (Zu dem Bilde S. 280 und 281.) – Duett. S. 292. (Mit Abbildung.) – Tafelaufsatz von Karl Winterhalter. S. 292. (Zu dem Bilde S. 285.) – Im alten Klostergarten. S. 292. (Zu dem Bilde S. 289.) – Leonardo da Vincis Selbstbildnis. S. 292. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Nach anderen Berichterstattern die Schraubenwelle.