Die Gartenlaube (1894)/Heft 16
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Nr. 16. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Mutter Mahtilt und Edelrot hatten die Nacht beim flackernden
Herdfeuer zugebracht, während Wicho und die Sennen auf
der Hausbank die Wache hielten. Als die Erde dröhnte und die
Felsen zitterten, waren die Männer erschrocken in die Halle gesprungen,
um Mutter Mahtilt mit dem Lehnstuhl unter freien
Himmel zu tragen; aber sie hatte die Knechte von sich gewiesen
und die stummen Lippen bewegend, hatte sie Salz auf die glühenden
Kohlen geworfen und die Heilbuschen in das Feuer gelegt.
Mit Wicho war Rötli vor das Hagthor geeilt, und ihre bebende
Stimme klang in der Nacht „Sigenot! Sigenot!“
Als das Echo des Rufes von der Falkenwand zurückfiel, rann zum andernmal das Beben durch die Erde. Schluchzend vor Angst, klammerte sich Rötli an Wichos Arm. Hoch über dem See mußte sich ein mächtiger Felsblock gelöst haben, mit Dröhnen und Gepolter ging sein Sturz über die steilen Wände nieder, und der schwere Fall ins Wasser klang in der Nacht aus dem Weitsee
[262] heraus bis an die Lände. „Der Bid! Der Bid!“ stammelte Rötli und umschlang mit beiden Armen den Stamm des Kreuzes. Auch Wicho griff mit hastiger Hand nach dem heiligen Holz.
Nun war wieder Stille; nur der See rauschte und klatschte im Röhricht und warf im Dunkel seinen Schaum über die Lände. „Ich hab’ mir gleich gedacht, daß ’was geschehen muß,“ flüsterte der Knecht, tief atmend. „Der Bid hat das Heilholz gesehen, und das hat ihm nicht getaugt. Und vor Wut ist er heruntergesprungen in den See aus aller Höh’.“
„Er wird doch nicht auf den Alben gewesen sein!“ stotterte Rötli in bebender Angst. „Sell ist der Ruedlieb droben!“
Noch schlummerte die Liebe in diesem jungen Mädchenherzen; doch ihre Sorge wurde wach und lebendig in der Stunde der Gefahr und flog auf den Schwingen zärtlicher Angst empor durch die Nacht, den fernen Knaben suchend. Und in der gleichen Stunde geschah es, daß Ruedlieb auf der Reginalm aus der Hütte stürzte. Das Geschrei der Sennen und Alberinnen umgab ihn, das Gebrüll der rasenden Kühe, das Dröhnen der fallenden Steinlawinen … und er preßte die Hände an die Schläfe, ftarrte in die finstere Tiefe und lallte. „All Ihr guten Mächt'! Es wird doch dem Rötli nichts geschehen!“ …
Wie in der Ramsau, so hatte auch in der Martinsklause die Glocke geläutet, ohne daß eine Hand ihren Strang gezogen hätte. Eberwein und die Brüder waren vom Lager gesprungen, und während Schweiker das Feuer entzündete, lag Wampo auf den Knien und betete mit lallender Stimme. Eberwein wollte in Waldrams Zelle eilen, doch auf der Schwelle trat ihm Waldram entgegen, mit bleichem Gesicht, das kleine Holzkreuz in der erhobenen Hand. „Die Zeichen mehren sich! Und Gottes Stimme mahnet in der Nacht wie Donner! Will Dein Auge noch immer nicht sehen, Dein Ohr noch immer nicht hören?“
„Ich höre, wie die Mächte der Finsternis sich sammeln zum Streite gegen zitternde Menschen, und werde sehen, wie Gottes Macht die Geister der Vernichtung bändigt, wie Gottes Liebe sich erweist an seinen Kindern!“ Eberwein trat mit den Brüdern hinaus in die Nacht, da machte unter dumpfem Rollen der zweite Stoß den Grund erzittern, und die Glocke wimmerte. Auf dem Berghang über dem Teich löste sich eine Schuttlawine; die Finsternis deckte ihren Fall, aber ihr Rauschen und Gepolter hallte in der Nacht, und hüpfende Steine sprangen über die Rodung, kollerten um die Füße der Mönche und schlugen an die hölzerne Mauer der Klause. Bruder Wampos Knie brachen vor Angst, bleich stand Schweiker, eine lodernde Fackel erhebend; seine Augen starrten in Angst und Sorge hinweg über die schwarzen Wipfel der Bäume, einer fernen Höhe zu, und leise stammelten seine Lippen einen Namen.
Eberwein hatte die Arme erhoben, und zu den Sternen aufblickend, deren Glanz in der weichenden Mondhelle wuchs, sprach er mit fester hallender Stimme die Worte eines Psalms; da fühlte er seinen Arm erfaßt mit heftigem Griff, Waldram stand vor ihm.
„Was willst Du?“
„Folge mir und sieh mit eigenen Augen, was geschehen ist!“ Er zog ihn am Arm hinter sich her in das Kirchlein, welches der Schein der ewigen Lampe matt erleuchtete. „Blick’ auf zu ihm!“ rief Waldram und deutete nach dem Kreuzbild; aus den Händen des Bildes hatten sich die Nägel gelöst, und vorgeneigt, nur mit den Füßen noch haftend, hing es am Kreuz, als wollt’ es mit jedem Augenblick zur Erde stürzen. „Verstehst Du die Sprache dieses Zeichens?“
„Ja, Waldram!“ erwiderte Eberwein mit ruhigem Wort. „Sie sagt mir, daß ich morsches Holz für die Nägel wählte.“ Er löste seinen Arm und ging in die Klause, um den Hammer zu holen. Nach einer Weile hallten die Schläge. Weithin klangen sie in der Nacht …
Der Reiter, welcher auf keuchendem Pferd über die Felder der Strub jagte, hob lauschend den Kopf. „Die haben es aber nötig! In solch einer Nacht noch schaffen sie!“ Er duckte sich wieder und schlug dem Roß die Gerte über den Schenkel. Ueber die Schönau ging sein Weg, zum Falkenstein. Die Weiber, welche den Hufschlag hörten, stammelten zitternd: „Die Untersberger reiten.“
Fackelschein leuchtete in Wazemanns Burghof, und der Reiter fand das Thor geöffnet und die Brücke gesenkt. In Gruppen standen die Knechte und Mägde umher, während droben in der erhellten Halle Herr Waze saß, nur vom Hausrock umhüllt, mit nackten Beinen; seine Leute hatten ihn aus Bett und Stube herausgezerrt in die Halle; hier war er wieder eingeschlafen im Rausch und schnarchte mit offenem Mund. Der Knecht, der aus dem Sattel gesprungen war, stolperte über die Treppe hinauf und weckte den Schläfer. „Auf, Herr, auf, auf!“
Herr Waze hob den Kopf, glotzte in das Gesicht des Knechtes und erkannte ihn, er wollte sich aufrichten, doch seine Füße trugen ihn nicht, und fluchend fiel er wieder zurück auf die Holzbank.
„Auf, Herr, auf! Wer kann denn schlafen in einer solchen Nacht! Habt Ihr denn nicht gehört … es hat die Erd' gerumpelt!“
„Laß rumpeln,“ lallte der Berauschte, „und erzähl’! Wie war’s beim Thing?“
„Das Thing hat für Euch gesprochen, wider die Klosterleut’!“
Mit gröhlendem Lachen schlug Herr Waze die Fäuste über den Tisch.
„Der Käfig, den ich ihnen gebaut hab’, hat gute Stangen! Jetzt sollen sie springen, die Kutten! Erzähl’, Bub’, erzähl’ … wer hat wider mich geredet?“
„Der Fischer.“
„Den Tod an seinen Hals!“
„Und Eigel, der Kohlmann.“
„Wart’, Rußiger, ich such’ Dich heim an Deiner Kohlstatt! Ich weiß Dir ein heißes Bett in Deinem Meiler. – Wer noch? Wer noch?“
„Der Kaganhart! Der hat geraten, den Pechbrand in Euer Haus zu werfen.“
Herr Waze sprang taumelnd auf. „Zacho! Heripot!“ schrie er mit kreischender Stimme. Zwei Knechte kamen gesprungen. „Hinunter! Hinunter, sag’ ich, hinunter zu der Hilmtrud Haus! Den roten Hahn aufs Dach! Ich will das Aug’ nicht wieder schließen, eh’ ich die Keuch’ nicht brennen seh’. Weiter! Weiter! Soll ich Euch Füß’ machen?“ Herr Waze hob die Fäuste zum Schlag, doch er taumelte und fiel mit halbem Leib über den Tisch hin.
Die Knechte eilten davon, und der zuckende Schein der Fackeln, welche sie trugen, glitt niederwärts durch den Bergwald. Als sie der Achenbrücke sich näherten, hörten sie den hellen Schrei einer Mädchenstimme. Es war der Freudenschrei, den Edelrot ausgestoßen bei ihres Bruders Heimkehr. Am Waldsaum vor der Schönau mußten die Knechte hinter Gebüsch sich bergen. In allen Höfen war es lebendig; überall klangen in der Nacht die schrillen Stimmen der Weiber, die heiseren Rufe der heimkehrenden Männer. Einer rannte über die Halden, keuchend und stolpernd, kaum trugen ihn seine Füße noch, sein Weib, das im Dunkel harrte, hatte ihn schon gewahrt und schrie. „Bauer, Bauer!“
„Hilmtrud!“ klang die halb erstickte Antwort.
Sie lief ihm entgegen, umfaßte mit ihren derben Armen den Wankenden und schleppte ihn zum Hagthor. „Dank allen Gutholden! Weil Du nur wieder daheim bist!“
„Steht unser Haus noch?“ keuchte er mit erlöschendem Atem. „Steht’s noch?“
„Wohl, wohl! Schau’ hin: noch alleweil steht’s!“
Er taumelte in der Finsternis auf die hölzerne Mauer zu und griff nach ihr mit zitternden Händen, lachend und schluchzend. Da faßte das Weib seinen Arm, und bebende Angst klang aus der heiseren Stimme. „Sag’, Bauer, sag’ … gelt, Du hast im Thing nicht geredet wider Wazemann?“
Kaganhart zögerte mit der Antwort; dann stotterte er, nach Atem ringend. „Was Dir aber einfallt! Kein Wörtl hab’ ich geredet, kein einzigs Wörtl!“ Und mit scheuen Augen schielte er im Dunkel nach dem Gesicht seines Weibes.
Dies atmete Hilmtrud auf. „So ist alles gut!“
„Was ist gut? Ich versteh’ Dich nicht!“
Das Weib schüttelte den Kopf und stieß mit dem Ellbogen die Hausthür auf.
„Aber so red’ doch!“
„Laß mich in Ruh’! Wenn Du schon merkst, daß ich nicht reden will, was fragst denn noch?“
„Ja muß denn da schon wieder gescholten sein, weil ich auch einmal das Maul aufthu’ zu einer Frag’!“
„Wirst nicht Ruh’ geben?“ klang die drohende Stimme des Weibes aus der Thür. „Wirst nicht herein kommen?“
„G’rad nicht, jetzt g’rad nicht! So ’was! Das könnt’ mir [263] taugen! Ich lauf’ heim in Sorg’ und Aengsten, daß mich kaum die Füß’ mehr tragen, daß ich schier keinen Schnaufer nimmer hab’ …“
„Hätt’st Dir halt Zeit gelassen! Meinetwegen hätt’st noch ausbleiben können, bis der Kuhmist Butter wird!“
„So? So?“ schrie der Bauer. „Ja ist denn keiner da? Ja hört denn das keiner, was das für ein Weib ist? So ein Weib! Die Erd’ rumpelt und bidmet, daß die Berg’ schier einfallen … und noch alleweil giebt das Weib keine Ruh’!“
„Jetzt wirst aber still sein, gelt?“ Bei diesen Worten griff Hilmtruds Hand aus der Thür und faßte den Mann beim Kragen.
„Wirst auslassen oder nicht? Auslassen!“ zeterte Kaganhart; doch eh’ er mit diesem Machtwort noch zu Ende war, stand er schon, von der Faust seines Weibes geschwungen, in der Stube und stolperte wider den Herd, daß die Geschirre durcheinander klapperten. Die Thür wurde zugeschlagen und mit kreischendem Schelten mischten sich im Haus die beiden Stimmen.
Beim Hagthor klang ein leises Kichern: „Wirg! Thust ihnen einen Gefallen damit – die zwei, die haben gern heiß!“
In hohem Bogen, zischend, wirbelte ein Feuerbrand über den Hag, grell leuchtend in der Nacht, und klatschte auf das Moosdach. Flink, wie die kleinen Wellen bei jähem Windstoß über das Wasser, liefen die gelben Flammenzungen nach allen Seiten über das dürre Moos und Stroh. Lachend rannten die beiden Knechte dem Wald entgegen; als sie die Ache erreichten und rückwärts blickten, sahen sie schon die funkensprühende Lohe in die Lüfte schlagen. Ein rötlicher Schein fiel über die Waldberge und an die Falkenwand, die sich mit blutigem Schimmer im Seeweiher spiegelte.
Sigenot, welcher mit Wicho in flüsterndem Gespräch auf dem finsteren Lugaus saß, gewahrte den Schimmer, und als er aufblickte, sah er die Röte am Himmel und sah in der Ferne die Funken stieben. „Feuerjo! Das muß in der Schönau sein! O die armen Leut’, die armen!“ rief er, und ehe Wiche ihn halten konnte, war er vom Lugaus über den Hag hinuntergesprungen auf den Sand.
„Laß brennen, was brennt!“ schrie Wicho. „Wahr’ Dein eigen Haus!“
„Leut’ in Not und ich sollt’ nicht helfen?“ klang die Stimme des Enteilenden. Er rannte und rannte. Als er die freien Halden der Schönau erreichte, meinte er zu träumen; wohl sah er die Flammen lodern, aber Stille war ringsumher in der grell erleuchteten Nacht, keine Stimme klang, kein Schrei, kein Fenerruf. Nur die Hunde kläfften in den zerstreuten Höfen. Von den Nachbarn des brennenden Hauses war keiner zur Hilfe herbeigeeilt, die Furcht dieser Nacht, das zitternde Bangen vor dem Ungewissen hatte sie festgehalten im eigenen Hag, unter dem eigenen Dach.
Die Zähren traten in Sigenots Augen, als er nach keuchendem Laufe vor der Brandstätte den Fuß verhielt. Er sah, hier war nicht mehr zu helfen noch zu retten bis auf den Grund schon brannten die Mauern des Hauses und der Scheune, und von den rauschenden Flammen und dem glostenden Gebälk ging eine schwelende Hitze aus, welche das Nähertreten wehrte.
Mitten in der Hofreut, vom Feuer rot beleuchtet, stand Hilmtrud, regungslos wie ein steinernes Bild, der Bauer hockte neben ihr auf der Erde, klagend und schluchzend, mit den Armen eine rußige Pfanne umklammernd … sie war von all seinem Hab und Gut das einzige Stücklein, das er gerettet hatte in der wirren Angst. Wie der Mann, so hatte auch das Weib gejammert und geweint und in Verzweiflung die Hände gerungen. Doch als der Bauer in seinem Jammer geschrieen: „Jetzt hab’ ich selber, was ich dem Wazemann beim Thing gewunschen … sein Haus hab’ ich brennen wollen, jetzt brennt das meinig’!“ – da hatte Hilmtrud ihren Mann mit glasigen Augen angestiert und kein Laut mehr war über ihre Lippen gekommen.
Als Sigenot – zu sprechen vermochte er nicht – die zitternde Hand auf ihre Schulter legte, blickte sie hastig auf, starrte ihn an wie einen Fremden und wandte die verstörten Augen wieder dem Feuer zu. Der Bauer aber ließ die Pfanne sinken und warf sich schluchzend vor Sigenots Füße. „Mein Häusl, Fischer, mein liebes, einzigs Häusl, in dem ich gelachet hab’ als Büebli, bei Mutter und Vater, in dem ich gehauset hab’ in Glück und Fried!“ Aller Zwietracht und aller üblen Stunden hatte er vergessen in seinem Jammer, und nur der guten Stunden noch dachte er, die er genossen unter dem in Glut und Asche sinkenden Dach.
Sigenot hob den Schluchzenden auf. „Ich weiß Dir keinen Trost, Nachbar, als nur den einzigen: da hat Dein Haus gestanden, und schau’, da wird’s auch wieder stehen, neu und fest! Bist doch ein Mann! Schau’, streck’ Dich! Und wenn die Glut verkaltet ist, so heb’ das Bauen an! Mich und meine Leut’ kannst haben zur Hilf’ in jeder Stund’. Und bis Dein eigen Dach wieder hast, bis selbhin sollst mit Deinem Weib ein gutes Hausen haben an meinem Herd.“
Krachend stürzten die brennenden Balken in einem rauchenden Gluthaufen zusammen. Ein zitternder Schrei löste sich von Hilmtruds Lippen und schluchzend streckte Kaganhart die Arme wie ein hungerndes Kind, dem eine grausame Hand das Brot entrissen. Sigenot suchte die beiden mit sich fortzuziehen denn er sah, daß jeder Blick in die Glut ihren Jammer erneuerte und mehrte; aber es dauerte lange, bis Hilmtrud auf die Worte des Fischers hörte. Endlich nickte sie und drückte wortlos Sigenots Hand; dann schlang sie den Arm um ihres Mannes Hals und sagte mit tonloser Stimme: „Thu’ nicht weinen, Hartli – ich hab’ Dein Haus verbronnen, ich bau’s wieder auf!“
Er achtete dieser Worte nicht, er schluchzte nur, raffte die brüchige Pfanne von der Erde und ließ sich willenlos zum Hagthor führen; hier blickte Hilmtrud ein letztes Mal zurück auf den glühenden Trümmerhaufen; ihr Gesicht verzerrte sich, mit geballter Faust erhob sie den nackten Arm und schrie in die Nacht hinaus: „Wazemann! Wazemann!“
Mit nassen Augen blickte Kaganhart zu ihr auf; doch er fand keine Frage.
So verließen sie die Stätte, die ihr Haus getragen bis weit hinunter ins Thal verfolgte sie der Brandgeruch, als sie den See erreichten und Sigenot mit herzlichem Zuspruch seinen Hag vor ihnen öffnete, graute der Morgen schon und über die Schneekuppe des König Eismann fiel die erste Röte des nahenden Tages.
Das war ein seltsamer Morgen, still und ohne Lufthauch; sogar die Bäche schienen leiser zu rauschen und kaum eine Vogelstimme ließ sich vernehmen, es war in der Nacht kein Tau gefallen und dennoch deckte ein zarter grauer Duft alle Gräser, alles Grün der Bäume … Staub war es, dünner, fein zerteilter Staub. Alle Wege und Pfade im Gadem waren steinig oder grün bewachsen … woher nur war dieser Staub gekommen? Kein Wölklein schwebte am Himmel, aus den Wäldern flatterte kein Nebelstreif, die Luft war schwül und trocken … und dennoch füllte ein grauer Dunst das Thal und alle Höhen, so daß die Berge verschleiert erschienen wie vor einem anziehenden Ungewitter. Und zuweilen sah man in der Luft ein Flimmern und Glitzern wie von feinem Sand, auf den die Sonne scheint. Und überall war ein Geruch zu spüren … es war nicht der Brandgeruch des in Asche gefallenen Hauses, es war wie jener Geruch, welcher auftritt, wenn sich die Mahlsteine ohne Korn aneinander reiben.
Es war ein seltsamer Morgen, ein Morgen wie ein Geheimnis, wie das Schweigen auf eine leidenschaftliche Frage.
Still lag die Martinsklause inmitten des stummen Waldes. Im Morgengrau war Eberwein ausgezogen, und Waldram, den nach der Erregung der vergangenen Nacht die Schwäche wieder befallen hatte, hütete das Lager. Heute, am Tage des Herrn, durfte Schweiker das Beil nicht schwingen; aber es litt ihn nicht in der Ruhe, obwohl ihm eine dumpfe Müdigkeit wie Blei in allen Gliedern lag. Langsam ging er auf der Lichtung umher und sammelte die Steine und Felsbrocken, welche die vom Berghang niedergefahrene Schuttlawine über die Rodung und bis vor die Mauern der Klause geworfen hatte. Bei jedem Steine, den Schweiker in die geschürzte Kutte legte, seufzte er tief; und immer wieder glitten seine verlorenen Blicke über das Thal der Ache hinweg und empor über den jenseitigen Berghang.
Am Rand der Lichtung, vor dem grauen Schuttkegel, der die jungen Bäume auf dem Hang erdrückt, den Lauf der Quelle verändert und den Teich verschüttet hatte, stand Bruder Wampo; schlaff hingen seine Arme und dicke Zähren rollten aus seinen Augen, welche traurig niederstarrten auf den wüsten Schutt, unter dem die schönen Ferchen und Hechte begraben lagen. „Und ich [264] hab’ mich heut’ schon gefreut auf den ersten!“ Trübselig schüttelte er das runde kahle Köpflein, schlug die Hände ineinander und blickte mit scheuen Augen zum Himmel auf. „Herre, Herre! Schau’, das ist aber doch nicht gut und recht … Deinen armen Knechten die Fastenspeis’ verderben!“
Schweiker war zum Waldrand gegangen und hatte die Steine aus seiner Kutte geschüttet. Als er zur Klause zurückging und wieder hinüberspähte nach dem Berghang, sah er Eberwein über die Halde niedersteigen, auf welcher Hinzula ihre Ziegen zu hüten pflegte. Eine zitternde Erregung befiel ihn und er verwandte kein Auge mehr von der Stelle, an welcher Eberwein bei der Heimkehr aus dem Walde treten mußte. Doch er wartete umsonst.
Eberwein war im Thal dem Lauf der Ache gefolgt, hatte den Lokiwald umgangen und suchte einen Pfad, der ihn zur Ramsau führen möchte. Zwischen wirren Büschen fand er einen betretenen Steig und überließ sich ihm. Schatten lagen um seine Augen und sein Antlitz hatte einen kummervollen Zug. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten ihn mit banger Sorge erfüllt … und was er vor den Brüdern nicht hatte zeigen wollen, nagte in ihm mit doppelter Schärfe, jetzt, da er einsam war. Bei solcher Stimmung hatte auch die befremdende Erfahrung, die er soeben gemacht, tiefer auf ihn gewirkt, als es sonst wohl geschehen wäre: beim Hag des Greinwalders, zu dem die Sorge um die arme mißhandelte Hirtin ihn geführt, hatte er stehen müssen vor geschlossenem Thor; er hatte gepocht und gerufen, aber niemand war gekommen, ihm zu öffnen, und er hatte doch in der Hofreut Schritte gehört, es war ihm gewesen, als klänge ein ersticktes Schluchzen aus dem Haus, und der Herdrauch war ihm aufgefallen, der in blauen Fäden aus dem Moosdach quoll. Man wollte nicht öffnen, ihm nicht öffnen! Weshalb nicht? Welche Ursach’ konnten sie haben in jenem Haus, das Thor vor der Hilfe zu sperren, vor dem Freund? Diese Frage wühlte in ihm und er fand keine Antwort.
Aus den Büschen führte ihn der Pfad in dichten Wald und unter den Bäumen hervor auf eine weite Lichtung. Es waren die Halden der Strub, welche vor ihm aufstiegen in welligem Hügelland; gemähte Wiesen wechselten mit geräumten Feldern, auf steileren Gehängen lag der Hanf zum Trocknen in der Sonne. Zwischen den Feldern, weit zerstreut, standen einzelne Gehöfte, niedere Hütten und Scheunen, von hohem Hag umzogen. Bei ihrem Anblick wich die Schwermut aus Eberweins Augen. Ihm schwoll vor Freude das Herz bei dem Gedanken, wie viel es hier für ihn zu schaffen gab, zu raten und zu nützen. Er sah es gleich; hier lebte und wirtschaftete das Volk noch, wie es draußen vor den Bergen die Leute getrieben hatten vor hundert Jahren. Das sollte anders werden! Er wollte sie lehren, den Lein zu bauen an Stelle des rauhen Hanfes. Und wie übel die Felder anzusehen waren! Da galt es, besseren Pflug zu führen … und sie sollten lernen, die Steine aus den Furchen zu sammeln und rings um den Acker aufzuschichten zur Schutzmauer, auf welcher sich die Dornenhecke wider das Hochwild flechten ließ. Und diese armseligen Hütten! Das sollte sich wandeln! Er wollte sie lehren, mit steinernem Sockel zu bauen, mit Fachwerk in der Mauer und mit geschindeltem Dach. Und so übel, wie von außen, waren die Hütten wohl auch anzusehen in ihrem Innern. Da sollten trauliche Stuben entstehen und wohnsame Kammern … und wenn der lange Winter käme, dann sollten die Männer und Buben das hohle Eisen und das kurze Messer führen lernen, um handliches Holzgerät zu fertigen und freundliches Schnitzwerk.
Eberweins Wangen brannten, und leuchtend blickten seine träumenden Augen in die kommende Zeit. Raschen Ganges folgte er dem Pfad, der einem Hag entgegenführte. Blauer Rauch wirbelte aus dem Hüttendach, Stimmen klangen in der Hofreut, und das Thor stand offen. Auf der Schwelle der Hausthür saß ein Weib, den Hanfrocken unter dem Arm, in der Hand die tanzende Spindel; zwei nackte Kinder tummelten sich lachend im Hof und der junge Bauer hielt ein drittes auf dem Arm. Als Eberwein vor dem Thor erschien, fuhr ein zottiger Hund auf ihn los und kläffte. Der Bauer wandte das Gesicht, und den Mönch gewahrend, stand er einen Augenblick erschrocken und unschlüssig; dann setzte er hastig das Kind auf die Erde, sprang zum Hag, schleuderte mit dem Fuß den Hund zurück, schlug das Thor zu und legte den Balken ein.
Mit trübem Lächeln wandte sich Eberwein ab und folgte einem schmalen Felsweg, hügelab und hügelauf. Nach einer Weile kam er zu einem zweiten Gehöft. Im offenen Hagthor stand ein alter Bauer, welcher verschwand, als er den Mönch des Weges kommen sah. Und wieder fand Eberwein das Thor geschlossen.
Eine dunkle Röte stieg ihm in die Stirn, und es zuckte seine Faust, als möchte sie den Eingang erzwingen; doch er fand die Ruhe wieder und rief: „Mann, thu’ mir auf! Gottes Gruß Deinem Haus!“
„Wer will ein zu mir?“
„Dein bester Freund!“
„Der bin ich selber und brauch’ keinen andern.“
In aufflammendem Zorn schlug Eberwein den Stab an das Thor. „So öffne Deinem Herrn!“
„Was Herr? Wer Herr?“ klang die rauhe Stimme zurück. „Meines Herrn Stimm’ kenn’ ich … die Deinig’ ist mir fremd! Ich thu’ nicht auf!“ Und klappernde Schritte entfernten sich.
Eberwein stand ratlos und streifte mit zitternder Hand über die Stirn. „Was ich erlebe, ist wie ein Rätsel … Bruder Hiltischalk in der Ramsau soll es mir lösen!“
Er wanderte in drängender Eile über die Halden, ohne Wahl jedem Pfade folgend, den seine Füße fanden. Bald hier, bald dort sah er Leute laufen und in den Gehöften verschwinden. Einmal blieb er stehen und rief mit bebender Stimme: „Bin ich denn noch, der ich gewesen … oder bin ich ein reißendes Tier geworden, daß die Menschen vor meinem Anblick fliehen wie die Schafe vor dem Wolf!“ Als er an einen Bach gelangte, dessen Lauf zu einem stillen Tümpel sich ausbuchtete, beugte er sich über das Wasser und starrte auf sein Spiegelbild. Aufatmend wandte er sich ab und übersprang den Bach. In Gedanken versunken, achtete er des Weges nicht und geriet in dicht verwachsenen Wald. Bald aufwärts steigend, bald wieder niederwärts, folgte er den schmalen, häufig sich kreuzenden Wildpfaden; bald hörte er das Rauschen eines Wassers, bald wieder war tiefe Stille um ihn her. Ueber niedere Felswände mußte er klimmen, durch wirres Gebüsch sich kämpfen, über Schluchten sich schwingen, unter gestürzten Bäumen hindurchschlüpfen, mannshohe Hecken von verflochtenen Wurzeln überwinden … Stunde um Stunde verging ihm auf so mühsamer Wanderung, und noch immer wollte der Wald kein Ende nehmen, noch immer zwischen den ragenden Bäumen kein Ausblick sich zeigen, der ihn gewiesen hätte. Schon war ihm in beginnender Erschöpfung zu Mut, als sollte er niemals wieder dieser Wildnis entrinnen, da klang ihm, freundlich und hell, der Schall eines Glöckleins durch den Wald entgegen. Seine Augen wurden naß, in jäher Freude streckte er die Arme und rief: „Klinge, klinge, Du holde Stimme, Du führest den Irrenden auf guten Weg!“ Und mit erneuten Kräften kämpfte er sich durch die Wirrnis des Urwaldes, der Richtung zu, aus welcher die Glocke tönte. Er kam in lichteren Wald, in welchem die Spuren der Axt zu erkennen waren, und fand einen Pfad, der ihn ins Freie führte.
Ihm zu Füßen, zwischen grasigen Halden und steilem Bergwald, lag ein enges langgestrecktes Thal, in dessen Tiefe ein reißender Bach durch grauen Schutt seine Straße grub; überall an seinen Ufern sah man die Zeichen der Zerstörung, die er angerichtet in wilden Tagen. In weiter Ferne, wo die Berge sich schlossen, schimmerte ein kleiner grüner See. Friedliche Sonntagsstille lag über dem Thal; nur die Ache rauschte und das Glöcklein tönte. Zwischen den mächtigen Kronen alter Ulmen und Linden sah Eberwein das plumpe hölzerne Türmlein ragen, in dessen Luken die Glocke sich schwang. Das Turmdach zeigte die Spuren eines Brandes, und ein neues weißes Holzkreuz schimmerte auf der Zinne.
„Hier wohnet Gott und mein Bruder, hier will ich frohe Einkehr finden!“ Geradeswegs stieg Eberwein über die steilen Halden hinunter.
Aus einem nahen Gehöfte liefen ihm zwei Kinder entgegen, ein Bub’ und ein Dirnlein, in hänfene Kittelchen gekleidet, gestrählt und sauber gewaschen. Als sie näher kamen, blieben sie stehen und schauten einander an. „Das ist er ja nicht!“ lispelte das Dirnlein. „Das ist ein junger!“
„Aber schwarzhäset ist er auch!“ meinte das Bübchen und lugte mit schiefem Köpflein zu Eberwein auf, der den Stab in die Erde stieß und mit gestreckten Händen sich den Kindern näherte.
„Gott grüß’ Euch, Ihr lieben Kinder!“
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[266] Zutraulich faßten sie seine Hände, und ihre hellen Stimmlein klangen. „Gott grüß’ Dich auch!“
Da warf sich Eberwein auf die Knie, umschlang die Kinder und drückte ihre linden warmen Körperchen an seine Brust. „Die ersten, die ich halte! Die ersten, die mir freundlich sind!“ Zähren erstickten seine Worte.
Mit scheuen Augen beugte sich das Dirnlein zurück und rührte mit dem Händchen an Eberweins Wange. „Manne, was weinest denn? Thut Dich hungern oder dursten?“
Er mußte unter Thränen lächeln. „Ach ja, mein Dirnlein! Wie mich hungert und dürstet nach Eurer Liebe! Aber sag’, mein kleines Schätzel, wie heißt Du denn?“
„Moidi[1]!“ erwiderte das Dirnlein stolz. „Wie die liebe Gottesmutter!“
„Und Du, mein kleiner Mann?“
Das Bürschlein nahm das ganze Mäulchen voll. „Ich heiß’, wie Gott Vater heißt: Seppeli – wohl wohl!“
Eberwein hörte in tiefer Bewegung die christlichen Namen und hatte seine helle Freude an dem kleinen Kirchengelehrten, der in seiner fünfjährigen Weisheit Gott Vater selbst mit dem braven Zimmermann von Nazareth verwechselte. Da rief hinter dem Hag des nahen Gehöftes eine Frauenstimme die Namen der beiden Kinder, mit dem wirkungsvollen Zusatz: „Kommet zum Mus!“ und nun konnte Eberwein das Pärchen nicht mehr halten; er griff an den Gürtel und fand seine Tasche nicht … er wollte schenken, und seine Hände waren leer. „Ich will den Trost vergelten, den ich von Euch gewonnen!“ sagte er und küßte die Kinder auf die roten Wangen.
Dann stieg er die Halde hinunter, erquickt in seinem Herzen und wie neu belebt. Noch eh’ er das Thal erreichte, sperrte zwischen Bäumen und welkenden Büschen eine hohe Hecke seinen Weg. Das Glöcklein war verstummt, doch aus dem Kirchhof, von welchem die Hecke ihn schied, hörte er Stimmen. Durch eine Lücke sah er zur Rechten die Holzmauern des Kirchleins, welches von Grabhügeln umgeben war, und zur Linken ein niederes Balkenhaus, der Hütte eines Bauern gleichend, neben der Thür erhob sich eine alte Linde, welche mit ihren Aesten das Moosdach überspannte. Ihren mächtigen Stamm umzog eine Steinbank, auf welcher Hiltischalk saß, der Ramsauer Leutpriester, er hatte wohl achtzig Winter schon gesehen, denn schneeweiß fielen ihm die dünnen Haarsträhnen auf die Schultern. Eine lange schwarze Lodenkutte, an der Hüfte mit einem Stricklein festgebunden, umhüllte den hageren gebeugten Leib; der Bart war geschoren, und die weißen Stoppeln deckten das halbe Gesicht. Freundliche Augen lugten unter den weißen Dächlein der Brauen hervor, und herzlich klang seine sanfte langsame Stimme. „Jetzt gehet heim zu Weib und Kind,“ sagte er zu einigen Männern, welche vor ihm standen mit sorgenvollen Gesichtern, die Kappen in der Hand, „gehet heim und sorget Euch nimmer! Ich weiß Euch besseren Trost nicht als allweil den einen: bauet auf den Himmel, vertrauet auf Gott! So kann Euch kein Unheil ankommen und keine Not kann fallen über Euch!“
„Wohl wohl!“ sagte einer der Männer kleinlaut und strich die Hand über das struppige Haar. „Aber der alte Runot ist doch auch ein guter Christ, und der best’ schier von uns allen … und heut’ in der Nacht, derweil er fern gewesen ist, hat doch der Bidem[2] sein Haus geworfen!“
„Wohl wohl,“ fiel der Pfarrherr ein und hob die zitternde Hand, „das hast Du aber gut gesagt: derweil er fern gewesen ist! Freilich, freilich, das Häusl ist gefallen! Aber es ist ein altes Häusl gewesen … und schauet, Mannerleut’, was alt ist, geht seinem letzten Stündl zu, Mensch oder Haus, Vieh oder Baum, Berg oder Thal. Das Häusl ist alt gewesen und hat fallen müssen. Und jetzt schauet, Mannerleut’: was Gott gethan hat, weil der Runot sich allezeit gehalten hat als guter Christ – er hat das alte Häusl fallen lassen, derweil der Runot fern gewesen ist! Freilich, freilich, das Häusl liegt, aber der Runot steht gesund und lebig und kann seine Buben rufen von der Alben und kann ein neues Häusl bauen. Und wir all’, Mannerleut’, gelt, wir all’ helfen dazu um Gottes Lieb’?“
Da nickten die Männer.
„Ja, ja, ich sag’s halt alleweil: nur auf den Himmel bauen, nur auf den lieben Gott vertrauen! Haltet nur Ihr fest … der liebe Gott laßt nicht aus! Drum gehet jetzt nur heim, Mannerleut’, und sorget Euch nimmer! Sie soll nur bidmen, die Erd’, sie soll nur bidmen! Ich weiß schon einen, der fest halt’t! Ich hab’ schon gerufen zu ihm aus tiefstem Herzen … und das hat noch alleweil geholfen! Wohl wohl, da hab’ ich gar keine Sorg’!“ Er faltete die Hände im Schoß und suchte mit langsamen Augen den Himmel. „Eine einzige Sorg’ noch hab’ ich gehabt in meinem Leben, und die hat mein guter Herr jetzt auch von mir genommen.“
Fragend blickten ihn die Männer an, und einer sagte: „Eine Sorg’? Was wär’ denn das für eine?“
„Schauet mich doch an, Mannerleut’! Bin ich nicht alt, wie dem Runot sein Häusl gewesen ist? Und was alt ist, geht seinem jüngsten Stündl zu. Aber wenn ich einmal nimmer bin, wer wird denn sein an meiner Stell’, wer wird Euch denn halten beim Guten und Rechten? Wer wird denn rufen für Euch in Not und Fahr? So hab’ ich alleweil denken müssen in Tag und Nacht. Aber derzeit ich gehört hab’ gestern, daß die frommen Brüder gekommen sind ins Gademer Land, derzeit ist auch die letzte Sorg’ von mir gefallen!“
Eine Bewegung der Unruh’ ging über die Männer, und sie blickten einander an mit stumm redenden Augen.
„So eine Freud’! Was saget Ihr, Mannerleut’ … so eine Freud’ hat mein guter Herr mich noch genießen lassen auf meinen Abend! Ueber die vierzig Jahr’ lang hab’ ich keinen mehr gesehen, der das heilige Häs getragen hat. Vierzig Jahr’, Mannerleut’! Aber heut’ noch muß ich hinaus, heut’ noch! Freilich, der Weg ist schiech und weit für meine müden Füß’ …“
„Ich will ihn Dir sparen, mein guter Bruder!“ klang die bewegte Stimme Eberweins; er hatte die Hecke geteilt und war über den brüchigen Erdwall in den Kirchhof niedergestiegen. Scheu traten die Männer auseinander, und der greise Pfarrherr starrte auf Eberwein wie auf ein frohes Wunder. Stammelnd richtete er sich auf, und wie ein Vater, der den ersehnten Sohn begrüßt, eilte er mit offenen Armen auf Eberwein zu und warf sich an seine Brust. „Sei gegrüßt, sei gegrüßt, Du mein lieber Bruder, tausend und tausendmal!“ Und als wäre für ihn die Freude zu groß, um sie allein zu tragen, so rief er: „Mannerleut’, so kommet doch her …“ Betroffen verstummte er und riß die Augen auf – die Männer waren verschwunden. „Schau’, jetzt sind sie heimgegangen, jetzt, derweil sie doch hätten bleiben sollen! Freilich, freilich, ich hab’ ja gesagt zu ihnen: gehet heim!“ Und wieder schlang er die Arme um Eberwein. „Gelt, mein lieber Bruder, gelt, jetzt weilest Du ein lützel bei mir und thust Dich setzen an meinen Tisch … und … und …“ Er riß sich los und humpelte in geschäftiger Eile, mit fuchtelnden Händen dem Hause zu. In der Thür verschwand er, und seine zitternde Stimme klang: „Hilti, Hilti! Jetzt thu’ Dich aber tummeln, jetzt schaff’ nur, schaff’ … wir haben einen Gast!“
Mit glücklichem Lächeln hatte Eberwein dem Greise nachgeblickt. Tief atmend hob er die Augen zum Himmel: „Ja, Herr, hier wohnest Du!“
Seit einer Stunde saß Eberwein mit Hiltischalk auf der Steinbank unter der Linde. Kopfschüttelnd hörte der Greis, was ihm Eberwein von seinen Erlebnissen am Morgen erzählte.
„Die Gademer sind rauhe Leut’,“ sagte der Alte, „und der Unglauben hauset noch in ihrem Herzen wie die Mäus’ in der leeren Stub’. Wie ich jung gewesen bin, da war’s noch ein lützel besser, da bin ich all’ Woch’ ein paarmal hinaus zu ihnen. Aber meine alten Füß’ vermögen den Weg nimmer, und zu mir kommen sie halt nicht … freilich, der Weg ist weit, und sie haben viel zu schaffen! Doch das muß ich sagen: geschlossene Thor’ hab’ ich bei ihnen nie gefunden. Da muß ’was dahinterstecken, mein’ ich, da muß was dahinterstecken!“
„Meinst Du nicht, es könnte die böse Nacht die Leute so sehr geängstet haben, daß sie in blinder Furcht ihr Haus verschließen – vor mir, wie vor jedem andern?“
Der Greis schüttelte den Kopf. „In der Angst, Bruder, schreien die Leut’, und jede Hand sucht einen Halt und Stecken – die Not macht alle Thüren auf, nicht zu! Glaub’ mir, eh’ der Tag noch gekommen ist, haben die meisten den Nachtschrecken schon halb wieder vergessen gehabt. Wenn es anders wär’, wenn sie nicht ein so kurzes Gemerk hätten, sie könnten ja nimmer leben! Schau’ die Berg’ an: da steckt in jedem Steinl ein Tod; und eine Not in jedem Wässerlein. Da muß man schnell vergessen [267] können, oder der eine Schmerz fallt auf den anderen hin wie Schnee auf Schnee im langen Winter. Nein, nein, Bruder – das muß was anders sein. Aber wart’ nur, wir kommen schon dahinter, wir Zwei! Und derweil mußt halt Geduld haben, und wenn Du Honig begehrest von ihnen und sie bieten Dir Salz, da mußt halt schlucken! – Aber gelt, mein guter Bruder, gelt, jetzt thust mir doch die Lieb’ und schaust mein Kirchl an?“
Eberweiu stand auf. „Führe mich!“ sagte er, mit herzlichem Blick an dem Antlitz des Greises hängend. Sie traten in die kühle Halle des Kirchleins. Plumpe Betstühle füllten den schmucklosen Raum, und armselige Geräte zierten den steinernen Altar; aber jedes Stücklein streichelte der Greis mit zärtlicher Hand, von jedem Stücklein wußte er eine lange Geschichte zu erzählen. Die Betstühle hatte er selbst gezimmert, das steinerne Taufbecken mit eigener Hand gemeißelt. Kummervoll aber blickten seine Augen, als er aus einer Wandnische einen hölzernen Buchdeckel mit eisernen Schließen hervornahm … nur einige Fetzen beschriebenen Pergaments umschloß der Deckel noch. „Schau’ nur, Bruder, schau’ … das ist einmal mein heilig Meßbuch gewesen, aber die Mäus’ sind mir drüber gekommen. Ja, ja, die Mäus’, wenn die nur nagen können! Die haben nicht einmal Scheu vor dem Heiligsten! Ueber mein Evangelienbuch im Haus drüben sind sie mir auch schon gekommen!“
„Aber wie kannst Du ohne Buch die Messe lesen?“ fragte Eberwein erschrocken.
„Hab’ sie doch vierzig Jahr’ lang mit dem Buch gelesen!“ lächelte Hiltischalk. „Weißt, da ist schon ’was hängen geblieben in meinem Gemerk, wohl wohl … und wenn’s einmal auslaßt, in Gottesnamen, so red’ ich halt mit meinem lieben Herrn, wie’s das Herz mir eingiebt.“ Er blickte in Eberweins Augen und fragte zögernd: „Das wird doch wohl kein Unrecht sein, gelt?“
„Nein, Bruder Hiltischalk!“ Tiefe Rührung sprach aus Eberweins Worten. „Doch wenn der lange Winter kommt, dann will ich Dir ein neues Meßbuch schreiben.“ Der Greis nahm dieses Versprechen auf wie die Verheißung reicher Schätze.
Diesem ersten Schreck, den Eberweiu überstanden, folgte rasch ein zweiter: seit Jahren las Hiltischalk die Messe nicht nur ohne Buch, auch ohne Wein. In früheren Zeiten hatte wohl jahraus und ein das gefüllte Fäßlein in der Kellergrube gelegen. Eines Tages aber waren Wazemanns Knechte im Pfarrhof eingekehrt, durstig von der Jagd … sie hatten den Wein gesucht und hatten ihn gefunden. Die Bauern steuerten dem Kirchlein Honig, Butter und Käse, trugen die frommen Gaben nach Hall und tauschten dafür ein neues Fäßlein ein … und bald ein drittes und viertes. Doch wo der Wein auch immer verborgen wurde – Wazemanns Knechte fanden ihn wie die Mäuse das Meßbuch.
„Und schau’, mein lieber Bruder, da hab’ ich mir sagen müssen: wie darf ich denn alleweil den Schweiß meiner armen Leut’ in die schiechen Gurgeln rinnen lassen? Die Mess’ aber hab’ ich doch lesen müssen. So hab’ ich halt gemeint, es geht mit Wasser auch. Und schau’, der, welcher zu Kana das Wasser in Wein verwandelt hat, der hat sich das Wasser gern gefallen lassen, wohl wohl, und hat’s gewandelt … wenn ich den Kelch gehoben hab’ und hab’ gebetet und hab’ getrunken, da hat’s mir nie wie Wasser geschmeckt, alleweil wie der rechte heilige Himmelstrank!“ Lächelnd blickte der Greis zum Altarkreuz auf und nickte dem Bilde zu wie einem guten Freund, der sich bewährt in aller Not.
„Selig, die festen Glaubens sind!“ flüsterte Eberwein. Er legte die Hand auf die Schulter des Greises. „Aber Du sollst nicht weiter Gottes Allmacht auf die Probe stellen. Ich werde Dir Meßwein senden und will dafür sorgen, daß böse Hände nicht wieder rühren an das Gut Deiner Kirche.“
Da rief eine Stimme den Namen des Priesters. „Das ist unsere Mätzel,“ sagte Hiltischalk, „ich mein’, sie rufet zum Tisch.“ Im Thor erschien eine Magd von abschreckender Häßlichkeit, mit dem Ausdruck des Blödsinns in den rotgeränderten Augen. „Geh’ nur, meine gute Mätzel,“ rief der Greis ihr zu, „wir kommen schon!“ Und als die Magd verschwunden war, sagte er: „Thu’ Dich an ihr nicht scheuen, lieber Bruder … weißt, einwendig ist sie sauber und lieblich! Ist eine fromme treue Magd, wohl wohl! Ihre Mutter ist tot … die hat gesennet, und wer ihr Vater ist, weiß niemand. Keiner im Thal hat sie nehmen mögen, so haben halt wir sie genommen und haben’s nie bereut! Wohl wohl, die Mätzel ist eine gute brave Magd.“
Langsam gingen sie dem Hause zu; Eberweiu hatte keinen Blick für den Weg und strauchelte auf der Schwelle. Mit beiden Armen stützte ihn der Greis und meinte lächelnd: „Ach, Du mein lieber Bruder, Du wirst mir doch kein Unheil tragen in meine Stub’!“
Da schüttelte Eberwein den Kopf. „Welches Haus noch wäre sicher wenn nicht das Deine?“
Sie traten in die Herdstube; das war ein kleiner Raum, nicht besser ausgestattet als die Stube eines Bauern, aber die Armut, welche hier wohnte, hatte ein lächelndes Antlitz, und der mit gebleichtem Hanftuch überdeckte Holztisch schien dem Gaste sagen zu wollen: „Komm, ich gebe, was ich habe.“ Ueber dem Tisch im Winkel hing ein großes Holzkreuz, geschmückt mit den letzten Blumen des Herbstes, auf einem Wandgesimse stand der zinnerne Kelch zwischen anderem Altargerät, ein frisch gewaschenes Chorhemd hing an hölzernem Nagel und rührte sich im leisen Windzug, der durch die unverwahrten Fensterluken in die Stube strich.
Siebzig Jahre! Wer die mit frischem Geist erlebt, der kann manches erzählen von innerem und äußerem Erfahren, vom Wandel der Zeiten, und zumal, wenn er ein Dichter ist mit tiefem Gefühl, mit aufgeschlossenem Sinn für eigene und fremde Entwicklung. So sind denn die Erinnerungen, die der Sänger von „Waldmeisters Brautfahrt“ zu seinem 70. Geburtstag am 19. April unter dem Titel „Siebzig Jahre“ veröffentlicht hat, eine willkommene Gabe, die uns Wesen und Leben des Dichters schlicht und herzlich nahe bringt. Die Werke, die den Namen Otto Roquettes seit nun über vier Jahrzehnten dem deutschen Volke stets aufs neue lieb gemacht haben, sind einem langen Wanderleben entsprossen, das spät erst seinen Ruhepunkt fand, und Roquette selbst führt einmal von sich das Wort an, er habe keine Heimat, nur ein Vaterland. Aber wenn er viel entbehren mußte an behaglichem Sicheinleben und Verweilen, wie es die Heimat bietet, auf der anderen Seite hat er doch fast noch mehr gewonnen an Kenntnis der verschiedensten Menschen und Verhältnisse, und wer so im stillen Winkel sitzen muß, während die Welt und die Menschen draußen ihren großen Weg gehen, den könnte beinah etwas wie Neid anwandeln diesem Dichterdasein gegenüber, dem von überall her reiche Anregung zuströmte.
Die Familie, der Roquette angehört, stammt aus dem südlichen Frankreich, von wo sie durch die Hugenottenverfolgungen Ludwigs XIV., des „allerchristlichsten“ Königs, am Ende des siebzehnten Jahrhunderts vertrieben wurde. Die Nachkommen fanden zu Strasburg in der Uckermark und später in Frankfurt a. d. O. eine neue Stätte für ihr bescheidenes Glück und wandelten sich von Geschlecht zu Geschlecht immer mehr zu einer deutschen Familie um. Roquettes Vater vollends, der 1815 als preußischer Husar in Paris einzog, ließ die französischen Ueberlieferungen der Familie ganz auf sich beruhen. Es ist ein gewinnendes Bild, das uns der Sohn von diesem Vater entwirft. Von ungewöhnlichen Kenntnissen, tüchtig in seinem Beruf als Jurist, mannhaft und lebensfroh – so tritt er uns entgegen, wie geschaffen dazu, einem Sohn, der als Mensch und Dichter seine eigenen Pfade suchte, ein treuer Erzieher und ein vertrauter Freund zu sein. Auch die Mutter Roquettes stammte von französischen Flüchtlingen ab, und wie auch sie fest eingewurzelt war auf deutschem Boden, so verband sie muntere graziöse Laune und charaktervolle Innigkeit als das Erbteil der alten und der neuen Heimat. Ihre poetische Begabung, die sie bei allerhand geselligen Festen mit nie versiegendem Humor bethätigte, hat sie dem ältesten Sohne vererbt, der am 19. April 1824 zu Krotoschin in der Provinz Posen geboren wurde.
Nicht lange dauerte die Zeit, die der Landgerichtsrat Roquette mit den Seinen an diesem damaligen Grenzpunkt deutscher Kultur zubrachte, wo nur diejenigen geistigen Genüsse zu haben waren, die sich die Beamten selbst zu schaffen wußten. Nach kurzer Zwischenstation in Gnesen fand endlich die Familie in Bromberg ein dauerndes Bleiben und bald wurde sie der Mittelpunkt eines gesellig bewegten und geistig reichen Kreises, aus dem der heranwachsende älteste Sohn nur zu bald gerissen wurde. Das Bromberger Gymnasium befand sich damals in einem Zustand völliger Unordnung, unter dem Otto Roquette doppelt schwer litt, da er eine zarte Gesundheit hatte, von welcher der Hausarzt einmal meinte: „Es ist erstaunlich, daß der Junge immer die seltensten und gelehrtesten Krankheiten bekommt, gegen die man an ihm selbst erst die Studien zu machen hat.“ Natürlich war der letztere Umstand für Heilung und Genesung nicht eben förderlich. So beschlossen die Eltern, ihren ältesten Sohn zu dem Großvater Roquette, einem angesehenen Geistlichen, nach Frankfurt a. d. O. zu schicken. Dort blieb Otto, bis er die Universität bezog. Es war ein genügsames Stillleben, das er in dem alten Pfarrhause [268] führte, wo ihm, wie er mit guter Laune erzählt, eine nie mehr verschwindende Vorliebe für das Einheizen der Oefen und eine solche Fertigkeit darin eingepflanzt wurde, daß er sich rühmen kann, wenn nichts Besseres, so sei er doch einer der besten Ofenheizer seiner Zeit geworden. Nun, das Schicksal sorgte dafür, daß er auch noch etwas anderes wurde. Schon hier in Frankfurt a. d. O. schrieb er ein Märchen, das in der Folge die Grundlage für „Waldmeisters Brautfahrt“ wurde, und mehr und mehr erwachte seine Neigung zur Dichtkunst, zur Litteratur. Es war daher vorauszusehen, daß er auf der Universität Berlin, die er zunächst bezog, rasch von seinem Vorsatz abkommen würde, gleich seinem Vater die Rechte zu studieren. Bald führte ihn der Ruhm der Heidelberger Geschichtslehrer, eines Schlosser, Gervinus und Häusser, in die herrliche Neckarstadt. Er brauchte es nicht zu bereuen. Neben der wissenschaftlichen Förderung, die ihm zu teil wurde, kam hier seine poetische Begabung zu schöner Blüte, und nach einer köstlichen Wanderung den Rhein hinunter entstand nächst einer Reihe neuer Lieder der größte Teil von „Waldmeisters Brautfahrt“, jenem munteren Sang, in dem alle Jugendlust und aller Uebermut des Studentenlebens, in dem die sonnige Schönheit des rebenumkränzten Rheins so frisch und fröhlich wiederklingen.
Auch ein freundliches Idyll voll harmlosen Scherzes spann sich dem werdenden Dichter hier an. In dem der Stadt benachbarten Handschuchsheim hatte der Ochsenwirt eine vielbesuchte Schenke und darin zwei Töchter, von denen die ältere wegen ihres männlichen Wesens allgemein „die Felix“ hieß und sich eines ungeschmälerten Ansehens rühmen durfte, trotzdem sie „wiescht“ war, wie sie selber sagte. Das vielgesungene Lied von der „Margreth am Thore“ hat Roquette auf sie gedichtet. Mitten unter fleißigen Studien und fröhlichen Streichen fand er endlich noch Zeit, ein Drama zu vollenden, das er nach langem Schwanken dem Buchhändler Bassermann in Mannheim brachte, der das Theater dort leitete. Der aber war kurz angebunden. „Nehmen Sie das Manuskript nur gleich wieder mit, von Studenten verfaßte Stücke führe ich nicht auf“ – mit diesem gröblichen Bescheid war Roquette entlassen, kaum daß er das Zimmer des Gebietenden betreten hatte.
Die Wellen, welche die Pariser Februarrevolution nach Deutschland herüberwarf und die naturgemäß zuerst im Südwesten ihre Kreise zogen, vertrieben Roquette aus Heidelberg; er ging im Frühjahr 1848 nach Berlin, wo er sich ein ruhiges Studium versprach. Aber gerade dort entwickelte sich der wildeste Strudel, und als Mitglied der Studentenwehr, der „Rotte Tell“, hatte er zwar Gelegenheit, viel zu sehen, aber nicht die, viel zu lernen. Immerhin war das Kriegsspiel nicht so aufregend, daß sich nicht zarte Lyrik hätte dazwischen wagen dürfen. Wenn die „Rotte Tell“ die Wache bezog, versammelten sich häufig diejenigen der Mannschaft, die ein dichterisches Können in sich fühlten, darunter auch Roquette und Heyse, zu einem Wettspiel in Versen. Endlich wurde Roquette durch das unruhige Leben auch aus Berlin vertrieben. In Halle fand er, was er suchte: geistig lebendigen Umgang und Stille zur Arbeit. „Waldmeisters Brautfahrt“ wurde vollendet und von dem Verfasser nicht ohne ziemliches Herzklopfen an die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung geschickt. Zu seiner eigenen Ueberraschung kam ein bejahender Bescheid, und im April 1851 lag das Büchlein gedruckt vor, von allen Seiten dankbar begrüßt. Von allen Seiten – das ist übrigens zu viel gesagt. Als Professor Leo, der bekannte Historiker und Vorkämpfer der Reaktion, von der Veröffentlichung Roquettes hörte, der eben den „Doktor“ bei ihm machen mußte, da polterte er nicht wenig über diese „Unverschämtheit“. „Gedichte! Es ist ja vorauszusehen,“ sagte er, „daß der Mensch in einigen Jahren irgend ein belletristisches Blättchen oder gar eine liberale politische Zeitung redigieren wird.“ Andere freilich dachten anders, und als der Dichter nach Jahren Frau Charlotte Birch-Pfeiffer kennen lernte, da begrüßte sie ihn in ihrer gemütlichen, noch halb schwäbischen Redeweise mit den Worten: „Ach, sind Sie’s, der das goldige Büchle gschriebe hat?“
Wir können dem Wanderleben des Dichters, dessen Name nun mit einem Mal in ganz Deutschland bekannt war, nicht im einzelnen folgen. Von Halle ging er wieder nach Berlin, wo ihm der Umgang mit den Kunsthistorikern Kugler und Lübke, mit den Dichtern Fontane und Heyse Genuß und Förderung brachte, von Berlin nach Dresden, wo er als Lehrer am Blochmannschen Gymnasium wirkte. Aber nach kaum einem Jahr entführte ihn von da der Tod seines Vaters. Der kraftvolle Mann wurde ganz plötzlich dahingerafft, und leider zeigte sich, daß er seine Angehörigen nicht in auskömmlichen Verhältnissen hatte zurücklassen können. Es fand sich kein Testament, und da man die Wertpapiere in einer vielfach verschlossenen eisernen Truhe vermutete, die im Arbeitszimmer des Verstorbenen stand, so begab sich Otto mit seiner Mutter dorthin. Es fiel ein Schloß nach dem andern, und in feierlichster Stimmung wurde der schwere Deckel gehoben. Aber was erblickte man! Sechs alte Strohhüte! Wie mit dem Geld, so war der Verstorbene auch mit seinen Kleidern freigebig gewesen, nur mit seinen alten Gartenstrohhüten nicht, die ihm trotz ihrer Häßlichkeit bequem waren und die er vor den Händen seiner Frau hier geborgen hatte. Sonst aber fand sich nicht viel, und so lag ein großer Teil der Sorge für die Zukunft der Seinen nun auf dem ältesten Sohn. Er nahm seine Mutter und deren zwei unverheiratete Töchter mit sich nach Berlin. Journalistischer Erwerb, der Roman „Heinrich Falk“ und die Lebensbeschreibung des unglücklichen schlesischen Dichters Christian Günther füllten seine Zeit aus, bald auch die Beschäftigung mit seiner „Geschichte der deutschen Dichtung“ und mit seinen Vorlesungen am Berliner Polytechnikum, wo er sich als Privatdocent niedergelassen hatte. Arbeit über Arbeit häufte sich ihm, und doch wollte sich nirgends eine dauernde Stellung zeigen, nachdem sein Unterricht an der Berliner Kriegsakademie infolge politischer Verdächtigung ein rasches Ende genommen hatte. Da endlich im Jahre 1869 erging an ihn der Ruf, in Darmstadt am Polytechnikum als Professor der Geschichte und Litteratur einzutreten. Er folgte und ist dort bis heute geblieben, erst unter weniger erquicklichen, dann unter freundlichen Verhältnissen. Sein Erscheinen brachte fast eine kleine Beamtenrevolution zuwege, denn er hatte sich bei seiner Ernennung Freiheit ausbedungen von der Uniform, welche damals noch sämtliche hessische Beamte tragen mußten – Degen und mausgrauer „Paletot“, hinten mit einem Gurt, am grauen Sammetkragen mit zwei Litzen und einem Knopf versehen. Nun aber, als er im selbstgewählten Ueberrock umherging, wollten auch andere den ihnen lästigen Zwang aufgehoben wissen, wieder andere ärgerten sich über die Aussicht, den langen Mantel zu verlieren, der so bequem und so erhaben über jede Mode und jede Jahreszeit war, der jeden Fehler und jedes Alter der sonstigen Garderobe so mitleidig und vollkommen verdeckte. Erst ganz allmählich legte sich dieser Sturm im Wasserglase.
Trotzdem so der Eintritt Roquettes mit manchen Schwierigkeiten verbunden war, lebte dieser sich doch ein, vor allem unter den erhebenden und verbindenden Erfahrungen des Jahres 1870/71. Seine Befriedigung fand er im Unterricht, in neuen dichterischen Plänen, die sich hier mehr und mehr dem Drama zuwandten, daneben der Novelle. Als endlich seine jüngste Schwester zu ihm ziehen konnte, da wurde ihm am Abend seines Lebens ein freundliches Heim geschaffen, wie er es so lange hatte entbehren müssen. Zwar war die Liebe dem Sänger, der sie so oft im Liede gepriesen, nicht nur einmal genaht, aber stets hatten widrige Verhältnisse sein Glück vereitelt. So ist er allein durchs Leben gegangen und doch nicht einsam – die Gestalten seiner Dichtungen, die er auch von der Bühne herab wirken sehen durfte, die Freunde, die er sich gewonnen, haben ihn getreulich begleitet bis ins Alter und dürfen es hoffentlich noch lange thun. Roquette hat im Jahre 1876 einen „Rebenkranz zu Waldmeisters silberner Hochzeit“ gewunden – hoffen wir, daß er noch den goldenen flechten wird. Damit wäre ihm nach seinem eigenen Geständnis der schönste Lebensabend geschenkt, denn, sagt er am Schlusse seiner Erinnerungen, „das beste, was mir geblieben, ist nicht nur der Trieb, sondern auch die Fähigkeit, künstlerisch zu bilden und meiner dichterischen Welt immer Neues abzugewinnen. In ihr lebe ich noch wie in den ersten Schaffensjahren meiner Jugend und empfinde darin das höchste Glück des Daseins. Dieses Glück bis zum letzten Atemzüge zu bewahren, ist mein höchster Wunsch“.M. A.
[269]
Die Bauten der Termiten.
Der Forschungsreisende Max Buchner giebt uns eine klare Anleitung, wie wir uns das Bild der innerafrikanischen Savanne vergegenwärtigen können: „Man streue zuerst überall, soweit die Oberfläche ziegelrot ist, einige Millionen gleichfalls ziegelroter Termitenhügel, unregelmäßige Pyramiden von mehreren Metern Höhe, so dicht, daß auf jedes Hektar mindestens fünf kommen. Dann nehme man die vierfache Quantität Bäume und pflanze sie so auseinander, daß ihrer auf ein Hektar bald mehr, bald weniger als zwanzig kommen. Desgleichen verfahre man mit einer ähnlichen Anzahl Gebüschindividuen. Schließlich fülle man alle Zwischenräume mit hohem derbhalmigen Grase aus, doch so, daß rings um die mächtigen Büschel noch immer etwas nackte rote Erde unbedeckt bleibt, und die Savanne Innerafrikas, jener ewige lichte Wald ohne Schatten, noch nicht sehr beeinträchtigt von der zerstörenden Thätigkeit des Menschen, ist fertig.“
So erscheinen die Termitenhügel als charakteristische Merkmale der afrikanischen Landschaft, und sie sind es, was dem Reisenden beim Betreten Innerafrikas zuerst auffällt – diese Hügel, die, teils niedrig und massenweise über die Ebene hingestreut, dieser ein kirchhofartiges Aussehen verleihen, teils einzeln obeliskenförmig aufragen. Gespenstig tauchen sie aus dem hohen Grase empor und sehen namentlich bei Abend oder in der Mondbeleuchtung ganz unheimlich aus.
Die Erbauer dieser Hügel, die „Termiten“ oder die weißen Ameisen, sind kleine Insekten mit aufgeschwelltem, gelblich weißem Leib und länglicher, verhältnismäßig großer Brust von fettig brauner Farbe. Sie sind übrigens in Wirklichkeit keine Ameisen, sondern gehören zu der weit geringeren Familie der Termitiden, und wie ihr Ansehen nicht verlockend ist, so sind auch ihre Thaten auf den ersten Blick verabscheuungswürdig, sie werden, wie kaum ein anderes Insekt, von dem Menschen gehaßt – und mit vollem Rechte.
„Man kann wahrhaftig sagen,“ schreibt ein Reisender, „daß es Gegenden in Afrika giebt, wo einer mit einem hölzernen Bein sich schlafen legen und dasselbe am nächsten Morgen in Sägemehl verwandelt sehen könnte.“ Das besorgen über Nacht die Termiten. Sie zernagen alles, Balken und Pfosten der Häuser, Tische, Stühle und Schränke, eine starke Holzkiste kann in einer einzigen Nacht durch und durch gefressen werden; Bücher, Leder, Tuch, alles fällt ihnen zum Opfer – nur Eisenblech ist vor diesem Raubgesindel sicher, und merkwürdigerweise auch, nach dem Zeugnis Franz Leuschners, das europäische Kiefern- und Fichtenholz, das zu Bauzwecken nach Afrika gebracht worden war.
Die Zerstörungswerke sind überall zu finden, aber die Zerstörer selbst sind nur selten sichtbar. Sie gehen verstohlen, heimtückisch an ihre Arbeit. Sie sind blind, nur die Königin und der König haben Augen mit Ausnahme der Soldaten, die nur 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung betragen, sind sie auch wehrlos, und darum lassen sie sich nicht blicken. Und doch müssen sie ihre unterirdische Wohnung verlassen und totes Holz aufsuchen, wenn sie nicht verhungern wollen.
Gelingt es einmal, ein solches Insekt auf seinen Raubzügen zu beobachten, so ist das ein höchst merkwürdiger Anblick. Es dringt langsam, aber stetig vor. Hier ist eine Oeffnung in der Erde. Ein kleiner Kopf erscheint in ihr mit einem Klümpchen Erde in dem Mund. Das Klümpchen wird niedergelegt und bald erscheint ein neuer Kopf mit einem neuen Baustein, der mit einer klebrigen Ausscheidung des Insektes überzogen ist. Er wird an den ersten gekittet; so bauen die Arbeiterinnen unermüdlich eine Erdröhre, während vor der Oeffnung desselben die Soldaten Wache halten und andere feindliche Insekten abwehren. Der Gang wird aufs Geratewohl fortgeleitet, bis er auf ein abgestorbenes Holzstück stößt, dann dringen die Termiten in dasselbe ein und zerstören es im Innern, während es an der Oberfläche unversehrt bleibt.
Diese Röhrengänge der Termiten sind noch wunderbarer als ihre Hügelbauten. Sie sind vom Durchmesser einer schwachen Gasröhre und ziehen sich an Baumstämmen bis in die hohen Zweige hinauf, um nach vielen Zickzackwindungen einen abgestorbenen Ast zu erreichen. In manchen Gegenden, wie auf der Hochebene zwischen dem Njassasee und dem Tanganjika, kann man durch die lichten Wälder stundenlang wandern und dabei jeden Baum mit diesen Gängen überzogen sehen.
Ja, die Termiten halten auf Ordnung in der Natur. Eine gewisse Sauberkeit fällt einem in den lichten Parklandschaften Innerafrikas sofort auf, es sieht alles so gekehrt und gefegt aus, daß man sich unwillkürlich fragt, ob es denn hier Heinzelmännchen gebe, die so hübsch Ordnung halten. Und es giebt in der That solche. Waldkehrer der verschiedensten Art sind fortwährend damit beschäftigt, alle Tierreste fortzuschaffen, vom gefallenen Elefanten an bis zur toten Mücke, und was ihnen nicht als Nahrung dient, das schaffen sie bei Seite und begraben es in der reinigenden Erde. Denselben Dienst leisten Millionen Termiten der Pflanzenwelt, indem sie alle Pflanzen und Bäume, alle Stämme, Aeste, jedwedes Pflanzengewebe vernichten, sobald die Hand des Todes daran gerührt hat. Wie oft in diesen Wäldern glaubt man Stöcke, Aeste oder Bündel von Reisholz am Boden liegen zu sehen, und wenn man näher zuschaut, sind’s Scheingestalten voll Erde!
Doch kehren wir zu den Termitenhügeln zurück! Ihr Inneres, welches die obenstehende Abbildung veranschaulicht, ist von zahllosen Gängen und Kammern durchzogen; da finden wir Vorratsräume und Bruträume, in denen unter sorgsamer Pflege das junge Geschlecht der Termiten heranreift, und tief zu unterst, oft in der Erde selbst, liegt die Hauptkammer, die Wohnung der Königin. Die Termiten bilden ja so zu sagen ein Königreich und ihr Staat setzt sich aus verschiedenen Ständen zusammen. (Vergl die Abbildung S. 270) Da sind zunächst diejenigen zu nennen, die für die Erhaltung der Art Sorge tragen. Es sind dies Männchen und Weibchen, mit leicht vergänglichen Flügeln versehen, welche sich zu „Königspaaren“ [270] vereinigen. Allerdings wird in jedem Neste nur eine Königin geduldet, die überschüssigen fliegen fort, um neue Reiche zu gründen. Die befruchtete Königin wird zu einem einige Centimeter langen walzenförmigen Geschöpf, das nur durch den Kopf an die Termitenherkunft erinnert. Sie wird von ihren Unterthanen bewacht und sorgsam gefüttert und liefert Eier über Eier, viele Tausende an einem einzigen Tage, und das monatelang fort. Auf unserer Abbildung sind auch die anderen Glieder des Termitenreiches dargestellt. Da ist zuerst der Wehrstand, oder die Soldaten, auffällig durch die gewaltigen fast viereckigen Köpfe, die mit mächtigen Zangen bewehrt sind. Diese Soldaten sammeln nicht und bauen nicht, stehen aber jeder Zeit zur Abwehr feindlicher Angriffe bereit. Durch die kleinen runden Köpfe zeichnen sich die Arbeiter aus, fleißige, emsige Geschöpfe, welche die Brut ernähren und die Nymphen so zu füttern wissen, daß sie aus Arbeiterinnen in Notfällen eine Ersatzkönigin heranziehen, wenn die wirkliche aus dem Dasein geschieden ist. Sie sind es auch, welche fleißig die hohen Hügel, die Burgen des Termitenreichs, auftürmen.
In diesen Bauten trotzt die Termite den niederströmenden Wassermassen der Regenzeit wie den häufigen Grasbränden. Auch dem Menschen sind die Termitenhügel in manchen Beziehungen von Nutzen. Sie bieten ihm Deckung beim Beschleichen des Wildes, ohne sie würde in vielen Gebieten die Jagd völlig unmöglich sein. Oft aber reißt auch der Mensch die mühevoll Körnchen um Körnchen aufgeführten Bauwerke ein, um aus diesem Material Häuser für sich aufzuführen.
Franz Leuschner schreibt uns darüber nach seinen Erfahrungen im Togoland: „Durch ihre riesigen Bauten liefern die Termiten den oft sehr tief liegenden Lehm herauf, welcher von den Schwarzen mit Vorliebe zum Häuserbau verwendet wird; denn dieser Lehm ist ziemlich hart und mit kleinen Grasteilchen und Holzstückchen ganz durchsetzt und so mit dem Speichel der Termite durchknetet, daß er eine große Haltbarkeit besitzt. Da nun ein Termitenbau oft bis 7 Meter hoch wird, so liefert er für viele Hütten das Baumaterial.“ Dem Beispiel der Neger sind da und dort auch Europäer gefolgt. Die Backsteinhäuser der schottischen Missionsstation am Njassasee sind aus einem einzigen Termitennest entstanden. Ja, Leuschner erzählt sogar, seine Begleiter hätten öfters auf der Reise die Termitenbauten als Backöfen benutzt, wozu er sie jedem Afrikareisenden warm empfehlen könne, denn das darin gebackene Maisbrot habe ganz vortrefflich gemundet. Auch im Süden von Afrika wurden die dortigen Ameisenhügel von den englischen Truppen in Backöfen verwandelt, nachdem das Innere ausgehöhlt und die Höhlung mit Lehm zugestrichen war.
Ist ein Termitenbau bewohut, so kann man ihn wachsen sehen und von Tag zu Tag die Zunahme bald dieser, bald jener Spitze beobachten. Als Buchholz bei Akkra an der Goldküste die Spitze eines Termitenhügels durch einige Schläge öffnete, stürzten sogleich die Soldaten hervor, um den Bau zu verteidigen, während die kleinen Arbeiter sich zurückzogen. Als dann Buchholz nach einer Stunde zurückkehrte, fand er eine Menge Arbeiter damit beschäftigt, die Löcher zuzumauern, welche Arbeit am folgenden Tage vollendet wurde.
Auch verlassene Termitenhügel sind für den Naturforscher von Interesse, denn sie bieten die schönsten Schlupfwinkel für alle möglichen Tiere dar. So fand Buchholz in ihnen große und sehr kleine schwarze Ameisen, Raubwespen und Bienen verschiedener Arten mit ihren Nestern, eine prachtvolle Schlange u. s. w.
Nur nebenbei sei erwähnt, daß bei dem alles verzehrenden Neger neben Raupen auch Termiten auf dem Speisezettel stehen. In der von Wißmann auf seiner Kassai-Expedition gegründeten Luluaburg kostete z. B. ein Liter Termiten zehn Messingnägel, während ein Liter Reis oder Bohnen nur mit acht Messingnägeln bezahlt wurde[3], wobei jene zehn Messingnägel den Wert von sieben Pfennig darstellten.
Bei aller Schädlichkeit ist die Termite doch auch nicht ohne Verdienste in dem Haushalt der tropischen Landschaft.
Die Natur läßt den Boden alljährlich durch Millionen kleiner fleißiger Ackerleute umpflügen. Bei uns in der gemäßigten Zone besorgt diese Arbeit der Regenwurm, der sich durch die Erde frißt und so allmählich die tieferen Schichten nach oben bringt. „Beim Anblick einer schönen großen Rasenfläche,“ sagt Darwin, müssen wir uns erinnern, daß ihre sammetartige Beschaffenheit, die eben ihre Schönheit ausmacht, hauptsächlich den Würmern zu verdanken ist, die alle Unebenheiten langsam ausgeglichen haben. Es ist in der That ein wunderbarer Gedanke, daß die ganze Oberschicht eines solchen Grasbodens durch Wurmleiber gegangen ist, und daß sich das alle paar Jahre wiederholt. Der Pflug gehört zu den ältesten und wichtigsten menschlichen Erfindungen, aber lange ehe er vorhanden war, wurde das Erdreich ordnungsmäßig von Regenwürmern umgepflügt. Es ist eine Frage, ob es viele andere Tiere giebt, die in der Geschichte des Erdkörpers eine so wichage Rolle spielen als diese niedrig organisierten Geschöpfe.“
In dem tropischen Afrika kann der Wurm während des größten Teils des Jahres nicht arbeiten. Sein weicher Körper kann sich durch den in der Trockenzeit steinhart gewordenen Boden keinen Durchgang erzwingen. Dies gilt namentlich für die Savannengebiete und hier wird dann die Rolle des Pflügers von der Termite übernommen. Aus den Tiefen der Erde holt sie das Material zum Bau ihrer Nester und Erdtunnel, in denen sie fortkriecht. Sie wendet den Boden um und um, trägt ihn sogar in die Kronen der Bäume, wo er von den Regengüssen des Sommers abgewaschen wird, um wieder zur Erde zu gelangen. Die Bedeutung dieser Minierarbeit wird uns klar, wenn wir uns erinnern, in welch riesigen Mengen die Termitenhügel über das Gebiet der innerafrikanischen Savanne verbreitet sind. Der Erdstaub, den die Termiten schaffen, wird vom Regen weggewaschen und durch Bäche und Ströme in Thälern abgesetzt. Die fruchtbaren Niederungen sind zu einem achtenswerten Teile ein Geschenk der vielgeschmähten Termiten.
In Nr. 51 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ befindet sich ein Aufsatz über die Diakonissenfrage, dessen Ausführungen nicht auf alle Mutterhäuser Anwendung finden. Es sei mir daher gegenüber den Schäden, die dort von manchen Anstalten behauptet werden, ein Hinweis auf bessere Zustände gestattet, eine Schilderung, wie sich das Leben der Diakonisse in normalen Verhältnissen schön und friedlich abspielt, frei von Not und Sorge im geschützten Heim.
Es ist ein trauriges Vorurteil vieler Eltern, daß sie ihre Töchter lieber in geschäftigem Nichtsthun ihre Tage verbringen lassen, als daß sie ihnen den Eintritt ins Diakonissenhaus gestatten. Selbst da, wo die Notwendigkeit des Erwerbes an das junge Mädchen herantritt, wird jeder andere Beruf lieber ergriffen als jener der Diakonisse, der doch so viel innere Befriedigung gewährt. Wie unselig ist dagegen oft das Leben z. B. für die, welche sich als „Stütze der Hausfrau“ ihr Brot verdienen müssen, was verlangt man da nicht alles, von dem so ein Mädchen gar nichts versteht, nichts verstehen kann! Und wie sicher und freundlich wird die Krankenpflegerin für ihr Amt vorgebildet! Freilich, das soll nicht bestritten werden, daß junge und etwas verwöhnte Damen, die aus der schützenden Pflege des Elternhauses in die Anstalt eintreten, den Unterschied von Familie und Anstalt manchmal schwer empfinden, namentlich im Anfang. Aber ist nicht der Eintritt in jedes andere Amt, in jeden Erwerb schwierig und bedarf ernster Ueberwindung, um das Begonnene durchzuführen? Wenn die Diakonisse nur über die genügende Ausdauer verfügt und einer tüchtig und vernünftig geleiteten Anstalt dient, so gestaltet sich ihr Dasein bald freundlich und befriedigend, und selbst das, was sehr viele besonders abschreckt, das streng geregelte Anstaltsleben, die Forderung unbedingten Gehorsams, wird ihr nicht schwer werden in dem Gedanken, daß ein großes Gemeinwesen, das die verschiedensten Kräfte und Persönlichkeiten zu gemeinsamem Zwecke vereint, eben unbedingt streng geregelt sein muß. Was nicht durch diesen notwendigen Zweck geboten ist, das allerdings sollte vermieden werden, um die Schwestern nicht zu sehr zu belasten, das geschieht aber auch, wo es irgend geht. Jedenfalls in dem Berliner Diakonissenhans „Bethanien“ und in der Anstalt zu Stettin, die ich kenne, sind die Schäden alle vermieden, die in dem früheren Artikel der „Gartenlaube“ von Mutterhäusern behauptet wurden: Belastung mit grober Arbeit und übermäßigem Nachtwachen, Mangel an Urlaub. In den genannten Anstalten wird die grobe Arbeit, wie das Scheuern der Treppen u. s. w., nicht mehr von den Schwestern verrichtet, sondern von besonders dazu angestellten Dienstmädchen. Dadurch wird die Kraft der Diakonissen für ihren eigentlichen Beruf gespart. Jedes junge Mädchen, welches nach Einsendung der erforderlichen Papiere in eines jener Diakonissenhäuser eintritt, wird zunächst Probeschwester; als solche wird sie einer erfahrenen Diakonisse zur Ausbildung zugeteilt. Sie beginnt ihre Lehrzeit auf der Kinderstation und geht nach und nach zu den andern Abteilungen über, bis sie so im Laufe eines Jahres den ganzen Kreis ihrer künftigen Pflichten durchlaufen hat. Falls sie nun den Erwartungen entsprochen und sich zur Krankenpflegerin geeignet gezeigt hat, wird sie Novize und erhält die Anstaltskleidung, während die Probeschwestern selbst für ihre Kleidung zu sorgen haben. Nach einigen Jahren wird die Novize durch feierliche Einsegnung in die Gemeinschaft der Schwestern aufgenommen. Von jetzt an sorgt das Haus für alle ihre Bedürfnisse, und zwar in einer Weise, daß man auch von Belastung mit übermäßigem Nachtwachen und von Mangel an Erholungszeit nicht reden kann. In Betreff der Nachtwachen herrscht großer Irrtum im Publikum. Diejenigen Schwestern, welche den Tag über in den Krankensälen arbeiteten, wachen überhaupt nicht; um sieben Uhr schließt der Arbeitstag dieser Diakonissen, sie begeben sich dann zum gemeinsamen Abendbrot, später zur Hausandacht und haben nun ihre Zeit für sich bis zum Schlafengehen. Um neun Uhr beginnt die Nachtwache auf allen Stationen und dazu werden die Schwestern der Reihe nach bestimmt. Dabei wachen dieselben Schwestern immer 3 bis 4 Wochen hintereinander, denn man hat gefunden, daß auf diese Art der Nachtdienst am leichtesten und für die Gesundheit am zuträglichsten ist. Unmittelbar vor Beginn der Nachtwache erhält die Schwester ein gutes reichliches Essen, bestehend aus Fleischbrühe, Braten und Zubehör; auch steht ihr die ganze Nacht warmer Kaffee mit Butterbrot zur Verfügung. Morgens sechs Uhr giebt sie die Station wieder an eine andere Schwester ab; sie frühstückt, legt sich schlafen und hat bis abends ein halb sieben Uhr, wo sie wieder ihr Essen erhält, nichts mehr zu thun. Da ist also doch gehörig Zeit, sich auszuruhen, bis der neue Wachdienst beginnt. Wenn die Schwester will, kann sie ihre Erholung in einem schönen großen Garten suchen, der mit der Anstalt verbunden ist. Ueberhaupt ist für die Erholung gut gesorgt. Jedes Jahr geht ein Teil der Diakonissen in die Sommerfrische auf Kosten der Anstalt „Bethanien“, die dazu ein eigenes großes Haus in dem Ostseebad Heringsdorf besitzt. Monatelang ist dieses Heim jedes Jahr von erholungsbedürftigen Schwestern besetzt. Auch wird jedes andere Bad, das der Arzt verordnet, auf Kosten der Anstalt gewährt.
Sind die Schwestern alt, krank oder sonst dauernd arbeitsunfähig, so werden sie im „Feierabendhause“ zeitlebens aufs beste verpflegt, sie haben den schönen Anstaltsgarten zur Benutzung, Geselligkeit im Kreise der Schwestern und für einsame Stunden eine gute Bibliothek. Ich meine, das sind doch keine schlechten Aussichten für ein alleinstehendes erwerbsbedürftiges Mädchen, Aussichten, wie sie sich in nicht vielen anderen Stellungen bieten. Allerdings ist die Krankenpflege, ist das ganze gemeinsame Leben in so großem Kreise etwas, das man erst lernen muß, um sich darin behaglich zu fühlen, aber Gewohnheit und guter Wille thun auch hier unglaublich viel. Im übrigen steht es allen Schwestern frei, jederzeit wieder auszutreten; indessen geschieht dies freiwillig äußerst selten, wohl aber können ungeschickte oder nicht zuverlässige, also unbrauchbare Schwestern nach wiederholter Warnung entlassen werden. Jedoch begegnet das nur den Probeschwestern oder Novizen, die eingesegneten Schwestern sind Mitglieder der Gemeinschaft geworden und können wohl freiwillig austreten, aber nicht mehr fortgeschickt werden. –
Nach allen meinen Erfahrungen darf ich mit Recht sagen: es giebt keinen schöneren Beruf als den der Diakonisse, und dieser Beruf ist zugleich gesichert gegen Verlassenheit und Not. Darum sollten immer mehr von den Mädchen, die einen Arbeitskreis suchen und sich ihre Zukunft nützlich und sicher gestalten wollen, dem Diakonissenberuf sich zuwenden.
A. E.
Die Perle.
(15. Fortsetzung.)
Seitab im Park zu „Perle“ lag die sogenannte Familiengruft der Doßbergs, ein weites Stück Land, von einer dicken grauen Steinmauer umgrenzt. Ein hohes Portal bildete den Eingang, dessen Spitzbogen das Wappen des Geschlechtes zeigte. Seitdem das erste Begräbnis der Familie, die Wolframskapelle drüben, sich als zu klein erwiesen hatte, um alle Särge zu fassen, seit etwa achtzig oder neunzig Jahren wurden die Doßbergs hier im Park beerdigt. Ein schöner stiller Platz war’s; hier sang im Frühling ein ganzer Chor von Nachtigallen sein schwermütig süßes Lied, hier wuchsen wilde Blumen in Menge, hier wiegten sich im Sonnenschein die Häupter prachtvoller Linden und Kastanien. Heute lag Schnee auf den Bäumen, aber Sonnenschein war doch da; wehmütig bleiches Wintersonnenlicht lag auf den im weißen Schmuck strahlenden Zweigen, kein Windhauch spielte in ihnen, eine weiche stille Luft gab ein trügerisches Vorspiel des Frühlings, der doch noch so fern war, so fern. Die hohen Flügel des Portals waren weit zurückgeschlagen, Tannengewinde darum geschlungen. Hohe Tannenbäume waren in regelmäßigen Abständen in die Erde gegraben, sie bezeichneten den Weg nach dem offenen Grabe, neben dem ein Teil der Schloßdienerschaft stand. Aus dem Treibhaus waren alle Lorbeer-, Orange- und Myrtenbäume hierhergeschafft worden, die Palmen bildeten einen kleinen Wald für sich. Der Obergärtner wußte genau, daß ihm von den zarten empfindlichen Palmenarten viele eingehen würden, trotzdem es heute gelindes Wetter war, aber er hatte gemessenen Befehl erhalten, alles zu schicken und später die etwa verdorbenen Exemplare durch neue zu ersetzen. Die Dorfbewohner hatten Zutritt zum Park, in weitem Bogen umstanden sie in ihren Sonntagskleidern die Gruft und staunten über die pomphaften Vorkehrungen; sie waren der Meinung, keine Königin könne herrlicher beerdigt werden als ihre „Gnädige“, die sie so selten und in den letzten Jahren nie mehr zu Gesicht bekommen hatten. Seitwärts stand der Lehrer mit seinen Schulkindern; er war ein musikalischer Herr, hielt seinen Chor tüchtig zusammen und freute sich, heute einmal Gelegenheit zu finden, den Herrschaften sein Können zu beweisen. Sein strenger Blick musterte die Reihen der Schüler und rügte jede vorwitzige Bewegung, jedes Hüsteln oder Flüstern.
Im Wirtschaftshof der „Perle“ stand eine wahre Wagen- und Schlittenburg, die von einer Viertelstunde zur andern wuchs. [272] Viele von denen, welche die Montrosesche Einladung zum Fest abgelehnt hatten, waren heute erschienen; es galt, der armen Baronin Doßberg das letzte Geleit zu geben, da schloß sich niemand aus. Die beschränkten Räume des Verwalterhauses waren kaum imstande, das ganze Trauergefolge zu fassen.
Horch! Tiefe feierliche Glockenklänge kamen durch die stille Luft. Mit den Tönen des Geläuts der Dorfkirche mischten sich die der Wolframskapelle, tiefer und voller, es war, wie wenn zwei Stimmen miteinander Zwiesprach hielten. Und nun setzte sich unter den beschneiten Bäumen hin der lange Trauerzug in Bewegung. Der hochgetragene Sarg mit seiner Blumenfülle schien durch die klare Winterluft langsam hinzuschweben. Dicht hinter dem Sarge ging Baron Doßberg mit seinen beiden Kindern. Die Leute aus dem Dorf stießen einander an und hatten mitleidige Gesichter, die Frauen zogen die sorgsam gefalteten Taschentücher hervor. Du lieber Gott, wie alt war der Herr Baron geworden, wie grau! War auch hart für ihn – das schöne Gut abgeben und nun die Frau verlieren, die er so über alles geliebt hatte! Und der Junker Armin sah ganz verweint aus, die Baroneß bildschön in ihren schwarzen langschleppenden Trauergewändern, ganz die verstorbene Mutter, nur rosiger, gesunder! Ihre Baroneß Ilse, die kannten die Leute am besten, die war ihnen allen am vertrautesten; die Gesichter hellten sich auf, als sie kam. Und hinterher, da kamen diese „Neuen“, die man noch so wenig gesehen hatte. Neugierig drängten die Dörfler nach vorn, um besser beobachten zu können. Den vornehmen großen Herrn mit dem feinen Gesicht kannten wohl die meisten; das war er selbst, „der Franzos“, wie sie ihn kurzweg nannten, der das Gut gekauft hatte, der immer mit dem Baron im kleinen Jagdwagen herumfuhr. Mußte schwer Geld haben, sollte auch soweit leidlich sein, der alte Hinz lobte ihn immer. Aber die Tochter, die mußte bös hochmütig sein, und die beiden Offiziere, der Sohn und der Bräutigam der Tochter, ebenso! Was die für hochfahrende Mienen aufsetzten, denen sah man den Stolz schon auf hundert Schritte an!
Der Geistliche, ein würdiger Herr mit einem milden menschenfreundlichen Gesicht, stellte sich an dem offenen Grabe auf, und jetzt begannen die Kinder ihren Choral. Die hellen Knaben- und Mädchenstimmen mischten sich mit den Glockenklängen und hallten feierlich nach in der reinen Dezemberluft. Als der letzte Ton verklungen war, wurde es ganz still, bis die Stimme des Geistlichen sich erhob. Da und dort begleitete ein halb unterdrücktes Schluchzen, ein tiefes Aufseufzen die schlichten warmen Worte, die er sprach, und als dann der Sarg in der offenen Gruft verschwand, da brach Baron Doßberg in ein verzweifeltes thränenloses Schluchzen aus. Sein Dasein sah ihn so öde, so ziel- und zwecklos an ohne sie, die nun hier für immer ruhen sollte; ihn dünkte, seine Lebensaufgabe sei gethan, nun er nicht mehr um sie zu sorgen, sie zu behüten hätte. Da trat eine breitschulterige gedrungene Männergestalt, der man auf den ersten Blick den Seemann ansah, neben den Schmerzgebeugten, legte ihm die Hand auf die Schulter und ermahnte ihn, an seine Kinder zu denken, an die Pflichten, die er gegen sie zu erfüllen habe. Ilse nickte dem Onkel dankbar zu und schlang ihren Arm um den Hals des Vaters, Armin faßte zaghaft dessen Hand.
Leupolds scharfe Seemannsaugen musterten durchdringend die „französische Gesellschaft“, ohne sich im mindesten durch die hochmütig gemessenen Blicke der beiden Offiziere einschüchtern zu lassen. Am besten gefiel ihm von der „Sippschaft“ der alte Montrose. Es war ’was drin in dem Gesicht, der Mann konnte unmöglich eine niedrige Gesinnung hegen. Aber wie der alte Herr Ilse ansah – hm, hm, hatte doch schon graue Haare, erwachsene Kinder – nicht sehr anmutend anzuschauen, diese Sprößlinge! – und dennoch! Der alte Leupold konnte die Weiber nicht leiden, aber er war nicht so thöricht, sich’s ableugnen zu wollen, welche Rolle sie im Leben spielten. Er wußte, daß sie aus ernsten besonnenen Männern heißblütige Knaben machen konnten. Ilse war nun freilich verlobt mit Albrecht Kamphausen, diesem Prachtkerl – so nannte der alte Kapitän in der Stille sein Patenkind – aber wenn er sich entsann, wie sie damals errötete und verlegen wurde, als Montroses Name genannt wurde, und nicht mit der Sprache herausging – wer wollte sagen, was die Leidenschaft da wieder für ’nen Brei zusammenrührte! Wer konnte auf ein Weib bauen, wer vermochte, ihrer sicher zu sein?
Als das Grab mit den herrlichsten Kränzen und Palmzweigen bedeckt wurde, trat Herr von Montrose entblößten Hauptes zu den Doßbergs hin. Er schüttelte dem Baron die Rechte und küßte Ilses Hand, während er sie bat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit über ihn und die Seinigen zu verfügen; er kenne keinen wärmeren Wunsch, keine größere Ehre als das Verlangen, teil zu haben an ihrem Schmerz, sich in Freude wie in Leid zu ihren Freunden zählen zu dürfen. So wie diese Worte gesprochen wurden, waren sie, zusammen mit der ganzen Haltung des Redenden, eine deutliche Demonstration, und es blieb kein Zweifel, daß sie von sämtlichen Anwesenden als solche empfunden wurden.
Man verabschiedete sich allgemach von den Doßbergs. Gut gemeinte Trostreden, Küsse, Umarmungen, Händedrücke – alles wurde den Leidtragenden reichlich zu teil. Onkel Erich Leupold, den die wenigsten der Gutsnachbarn persönlich kannten, hatte mit unerschütterlichem Gleichmut diese Scenen mit angeschaut und blieb zuletzt allein bei seinen Angehörigen zurück.
Bei den Montroses sprach noch einer oder der andere der entfernter wohnenden Besitzer zu einem Glase Wein vor, keiner von ihnen aber blieb lange, und gegen zwei Uhr nachmittags war die Familie wieder unter sich. Man war in einem der unteren Seitenzimmer versammelt, das an den Billardsaal stieß. Es fehlte noch eine Stunde bis zum Diner. Georges und Botho hatten mit dem jungen Grafen Röstem, der soeben als letzter abgefahren war, eine Partie Billard gemacht, dann die Bälle zwecklos eine Weile hin und hergestoßen, jetzt kamen sie beide in das Nebenzimmer, in welchem Clémence mit einem Stickrahmen am Fenster saß. Sie nähte in Gold und Seide eine kleine Tischdecke für ihren Verlobten. Herr von Montrose las in einer Zeitschrift und rauchte eine Cigarette dazu.
Als Georges über die Schwelle trat, warf er seiner Schwester einen bedeutsamen Blick zu, den sie sofort richtig deutete. Sie stickte nur noch zum Schein weiter, und die Nadel zitterte in ihrer Hand. Botho von Jagemann zündete sich gleich Herrn von Montrose eine Cigarette an, seine Hand war aber unsicher, und über dem rechten Augenlid hatte er ein nervöses Zucken.
Georges räusperte sich leicht. „Hättest Du einige Minuten Zeit für mich übrig, Papa?“ begann er endlich.
Herr von Montrose blickte auf, legte das Heft, das er hielt, vor sich auf den Tisch und nahm sich frisches Feuer für seine Cigarette. „Bitte!“
„Ich habe in letzter Zeit einige Beobachtungen gemacht,“ begann Georges in seinem gewöhnlichen leichten, ein wenig spöttischen Ton, „die mich, gelinde gesagt, in nicht geringes Staunen versetzt haben. Nicht ich allein übrigens hatte mich zu verwundern – Clémence und Botho haben die gleichen Wahrnehmungen machen können und befinden sich durchaus auf meinem Standpunkt.“
Herr von Montrose sah von seinem Sohn zu den beiden Bezeichneten hinüber; er hlickte allen dreien ruhig ins Gesicht wie jemand, der kaltblütig abwarten möchte, wo der andere hinaus will.
„Es will uns nämlich scheinen,“ fuhr Georges, durch diese kühle Ruhe geärgert, in etwas schärferem Ton fort, „als wenn Du an diese Familie Doßberg, namentlich an die Tochter des Hauses, etwas zuviel – wie soll ich es nennen? – etwas zuviel Liebenswürdigkeit und persönliches Entgegenkommen verschwendetest –“
„Möchtet Ihr Euch nicht derartige Auseinandersetzungen ersparen?“ fragte Montrose gelassen und streifte die Asche von seiner Cigarette ab. „Eine Kritik an dieser Stelle, bei dieser Gelegenheit erscheint mir mehr als überflüssig.“
„Hättest Du nur über Deine eigene Person bestimmt, Papa, so würden wir uns vielleicht bemüßigt gefühlt haben, einstweilen zu schweigen und den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten. Du hast es aber für gut befunden, heute, bei Gelegenheit der Begräbnisfeier, nicht nur Dich selbst, sondern auch Deine Familie diesen – diesen Leuten ganz und gar zur Verfügung zu stellen, und ich erlaube mir die Bemerkung, daß es entschieden vorteilhafter gewesen wäre, uns von dieser Maßnahme zuvor zu verständigen.“
„Zu welchem Zweck hätte ich das thun sollen?“
„Vielleicht zu dem Zweck, Dich unserer Einwilligung bei gedachter Gelegenheit zu versichern – einer Einwilligung, die wir allerdings verweigert haben würden.“
Herr von Montrose zog ein wenig die Brauen hoch und schloß halb die Augenlider. Clémence kannte dies „unerträglich
[273][274] hochmütige Gesicht“, es bedeutete nichts Gutes. „Wenn ich gehandelt habe, wie ich es that, so geschah es mit vollem Vorbedacht. Der Einwilligung von Persönlichkeiten, die von mir abhängig sind, bedarf ich nicht.“
„Es ist gerade kein sehr nobler Zug von Dir, uns beständig an unsere Abhängigkeit zu mahnen!“
„Beständig? Laß doch sehen, wann that ich es wohl zuletzt? Es geschah, als ich Dich von Berlin fortnahm und Du hierherkamst. Damals sagte ich Dir, Dein mütterliches Erbteil, das ich mit peinlichster Gewissenhaftigkeit für Dich verwaltet habe, sei durch Deine Art von Lebensführung bedenklich zusammengeschmolzen, es sei kaum ein Drittel mehr davon vorhanden. Ich ließ Dich Einsicht in die betreffenden Papiere nehmen, um Dir für meine Worte den Beweis zu liefern. Die Ueberbleibsel Deines mütterlichen Vermögens reichen nicht aus, Dir eine Existenz zu ermöglichen, wie Du sie gewöhnt bist, ich sagte Dir daher damals und wiederhole es Dir jetzt, daß Du abhängig von mir bist und meiner Einwilligung bei Deinem Thun und Lassen bedarfst, nicht aber ich die Deinige nachzusuchen habe.“
„Wenn Kinder ein Alter erreicht haben wie wir, so sollte man sie nicht in Abhängigkeit lassen und es als selbstverständlich ansehen, wenn sie die Handlungen der Eltern mit eigenen kritischen Augen prüfen.“
„Meinst Du? Ich sollte denken, es käme dabei ein wenig auf die Beschaffenheit besagter Kinder an. Glaubst Du, ich hätte Euch nicht beobachtet, Clemence und Dich, hätte Euch urteilslos ohne weiteres auf den Platz gestellt, den ich Euch angewiesen? Würde ich eine richtige Wertschätzung des Geldes, eine nur einigermaßen vernünftige Verwendung desselben bei Euch gefunden haben, ich hätte Euch so selbständig gemacht, wie Ihr es nur irgend wünschen könntet. Ich gewahrte aber, daß Ihr mich für eine unerschöpfliche Goldquelle ansaht, einzig dazu da, Eurer maßlosen Genußsucht zu dienen. Darauf hin ist mir die Lust vergangen, Euch unabhängig zu machen. Einem Spieler, einer unsinnig verschwenderischen Modedame, die für Juwelen jährlich ein Vermögen anlegen würde – denen giebt man das Geld nicht in die Hand, das man sich durch jahrelange Mühen im fremden Lande erworben hat!“
Georges, der sich zornig auf die Lippe gebissen hatte, sah seinem Vater jetzt mit einem grausamen und spöttischen Lächeln ins Gesicht. „Ich denke, Papa, unser Großvater hat dafür gesorgt, daß Du Dich nicht allzusehr mit dem Erwerb zu quälen brauchtest – wenn auch seine Art des Geldverdienens nach manchen Ehrbegriffen vielleicht nicht die makelloseste genannt werden kann!“
Montrose erhob sich langsam, sein für gewöhnlich schon blasses Gesicht erschien gänzlich entfärbt. „Das Wort ‚Ehrbegriff‘ in Deinem Munde und in dieser Zusammenstellung nimmt sich seltsam aus!“ sagte er tonlos. „Schwerlich werden wir beide für dieses viel gebrauchte und noch öfter mißbrauchte Wort dieselbe Auffassung haben. Die meinige verbot es mir, von meinem väterlichen Erbteil auch nur einen Heller anzurühren. Was ich bin und habe, verdanke ich mir selbst. Glaubst Du, ich hätte Dich des Königs Rock anziehen lassen, wenn sich dies mit meinen Ehrbegriffen nicht vertragen haben würde?“
Georges und Clemence sahen mehr überrascht als beschämt auf ihren Vater. Einer so romantisch unpraktischen Handlungsweise hatten sie ihn nicht für fähig gehalten.
„In – der – That!“ sagte endlich Georges langsam, einen leichten Anflug von Verlegenheit erfolgreich niederkämpfend, „ich habe das nicht gewußt – es ist dies, wie du ganz richtig sagtest, Ansichtssache. Es läßt sich aber hieraus folgern, daß doch auch Du die Handlungsweise Deines Vaters Deiner Kritik unterworfen hast –“
„Allerdings!“ bemerkte Montrose schneidend.
„– Dich mithin nicht wundern darfst, wenn wir dasselbe thun. Der erwachsene Mensch hat das Recht, den Maßstab seines Urteils an die Handlungsweise eines jeden zu legen.“
„Sicher hat er das; glücklicherweise ist nicht jeder genötigt, sich dadurch irgendwie beeinflussen zu lassen.“
Georges hob ungeduldig die Schultern. Seine spöttische Ruhe begann ihn zu verlassen.
„Du hast Dich in der letzten Zeit der Baroneß Doßberg in einer Weise genähert, welche die junge Dame stark bloßstellen wird, da es doch wohl nicht Deine Absicht sein kann, ihr Deine Hand anzubieten.“
„Und wenn das nun meine Absicht wäre?“
„So würden wir, Botho, Clemence und ich, uns derselben aus allen Kräften widersetzen. Es wäre das ein Affront, Deiner ganzen Familie angethan –“
„Ein Affront, wenn ich mich mit einer Dame aus vornehmem Adelsgeschlecht, dem letzten Sproß eines alten Hauses verbinden wollte?“
„Eine Lächerlichkeit bei Deinen Jahren für den Vater erwachsener Kinder –“.
„Ich muß Dich ersuchen, diese Kinder gänzlich beiseite zu lassen. Sie haben mir bei den verschiedensten Gelegenheiten nicht die geringste Rücksicht bewiesen, haben sich ihr Leben ausschließlich nach eigenem Belieben zurechtgelegt“ – ein flüchtiger Seitenblick streifte Botho von Jagemann, der mit finsterer Miene dasaß und den Mund nicht aufthat – „darum ist es durchaus überflüssig, mich an die Rücksicht auf sie zu mahnen. Was den Altersunterschied betrifft, so ist die junge Dame die einzige, die hierbei Bedenken zu überwinden hätte. Ihrer Entscheidung, und nur dieser, würde ich mich zu unterwerfen haben!“
„Papa!“ rief Clemence und brach in Thränen aus, „Du willst doch damit nicht sagen, daß Du mir eine Stiefmutter geben willst, die zwei Jahre jünger ist als ich?“
„Allerdings will ich das sagen. Deine Frage setzt mich übrigens um so mehr in Erstaunen, als Du selbst bei Gelegenheit Deiner Verlobung den Grundsatz aussprachst, nur die Stimme des Herzens dürfe uns bei der Wahl des Lebensgefährten leiten – alles übrige sei ohne jeden Belang.“
„Gewiß hab’ ich das gesagt – aber ich bin jung, ich trete erst ins Leben hinaus, es ist mein gutes Recht, mir meinen Anspruch auf Glück zu sichern.“
„Hat nur der, der erst ins Leben hinaustritt, dieses Recht? Wie, wenn uns die Jugend nun um unser Glück bestiehlt, wenn sie es uns vorenthält – sollen wir darum für immer darauf verzichten?“
Clemence sah zornig und trotzig durch ihre Thränen zu ihrem Vater auf. „Du hast die arme Mama nie geliebt!“ rief sie vorwurfsvoll. „Sie hätte keine Ruhe im Grabe, wüßte sie, welch unerhörten Plan Du hast. Es darf nicht geschehen, soll nicht – ich bleibe keine Stunde länger im Hause, wenn Du dies Mädchen, diese hochmütige Bettelpr –“
„Clemence!“ Es war ein Ton, wie sie alle ihn noch nie von dem stets gelassenen Mann gehört hatten. „Noch einmal dies Wort, und Du wirst allerdings keine Stunde länger in diesem Hause geduldet. Uebrigens steht es Dir jederzeit frei, den Tag Deiner Hochzeit zu bestimmen, vorausgesetzt, daß –“ Montrose sah prüfend ihrem Bräutigam ins Gesicht, in dem eine verzweifelte Entschlossenheit arbeitete.
Der Lieutenant sprang auf und that einen tiefen Athemzug, ehe er zu reden begann. „Gestatten Sie mir, ein Wort unter vier Augen mit Ihnen zu sprechen!“ Seine Stimme klang heiser, in seinen dunklen Augen flackerte es unruhig.
„Ich stehe zu Diensten.“ Montrose, der sich noch nicht wieder gesetzt hatte, ging nach dem Billardsaal – jenseit desselben lag sein Arbeitszimmer.
„Botho!“ schrie Clemence auf und warf sich ungestüm in die Arme des Offiziers.
Ein Gemisch von Mitleid und Verachtung zuckte um ihres Vaters Lippen, als er dies sah. „Gieb ihn frei, Clemence!“ sagte er ruhig. „Ich will sehen, was ich für Dich thun kann. Georges, halte sie hier zurück!“
Ohne sich nach den Geschwistern weiter umzusehen, durchschritten die beiden den Billardsaal und traten in das Zimmer des Hausherrn. Ihr Verhältnis zueinander war von Anfang an schlecht gewesen. Bald nach der Uebersiedlung der Familie Montrose nach St. hatte man auf einem Ball bei dem Obersten des Regiments die Bekanntschaft des „schönen“ Botho von Jagemann gemacht, und Clemence mit ihrem ungezügelten Temperament hatte noch an demselben Abend eine heftige Leidenschaft für den jungen Offizier gefaßt. Sie hatte nicht die Kraft besessen oder besitzen wollen, ihr Gefühl zu verbergen, und da das reizlose Mädchen für die Erbin eines sehr bedeutenden Vermögens galt, so zögerte der stark verschuldete Lebemann nicht, sofort als ihr erklärter Bewerber aufzutreten. Montrose, dem Jagemanns Wesen nicht die geringste Achtung einflößte, versuchte umsonst, seine Tochter vor diesem [275] Freier zu warnen – sie ließ sich blindlings von ihrer Leidenschaft beherrschen und trat dem Vater schon nach kürzester Frist mit der Thatsache der vollzogenen Verlobung entgegen. Wohl oder übel mußte sich Montrose nun fügen, wollte er nicht einen Skandal entfesseln; er hörte aber darum nicht auf, den künftigen Schwiegersohn mit Abneigung und Mißtrauen zu betrachten.
„Sie werden es mir nicht verargen“ begann Botho jetzt, Montroses einladende Handbewegung zum Niedersetzen mit einer Verbeugung ablehnend, „wenn ich unter den obwaltenden Umständen ganz offen zu Ihnen spreche. Als ich mich um die Hand Ihrer Tochter bewarb, war ich der festen Ueberzeugung, neben Georges in ihr die alleinige Erbin Ihres Vermögens zu sehen; als mittelloser Offizier, nicht zum besten in meinen Besitzverhältnissen arrangiert, sah ich mich genötigt, auch die materielle Seite meiner ehelichen Verbindung ins Auge zu fassen. Die Möglichkeit einer neuen Heirat Ihrerseits ist mir, offen gestanden, nicht einen Augenblick in den Sinn gekommen.“
„Das will ich Ihnen glauben. Diese Möglichkeit lag damals auch ganz fern.“
„Sie werden mir zugeben müssen, daß dieser Plan den Dingen eine ganz andere Wendung giebt.“
„Kaum. Clemence ist die berechtigte Erbin ihres mütterlichen Vermögens. Alles Uebrige freilich bleibt einzig und allein meiner freien Entschließung vorbehalten; ich würde mich da nie zu einem bindenden Zugeständnis verpflichten.“
„Wenn Sie indessen zu einer zweiten Vermählung schreiten und andere Erben hinzutreten, so würde eine neue Ordnung der Sache unvermeidlich sein –“
„Im Fall meines Todes, gewiß!“ Herr von Montrose zeigte ein kühles geringschätziges Lächeln. „Doch würden Georges und Clemence selbst ohne die neue Wendung der Dinge, die übrigens noch lange keine vollzogene Thatsache ist, vor unliebsamen Ueberraschungen meinerseits nicht sicher sein. Es könnten jederzeit Umstände eintreten – und nach der Unterredung eben halte ich dies sogar für recht wahrscheinlich – die mich bestimmen, in meinem Testament öffentliche Stiftungen zu bedenken und meinem Sohn wie meiner Tochter nur den Pflichtteil dessen zuzuwenden, was ich mir lediglich durch eigenes Können erworben, über was ich folglich die freie Verfügung habe. Doch ist das mütterliche Erbteil meiner Tochter, sollte ich meinen, ansehnlich genug, auch weitgehenden Ansprüchen zu genügen, und um ihr das, was sie als ihr Glück ansieht, zu erhalten, würde ich ihr die Zinsen des von mir erwähnten Pflichtteils schon jetzt ausfolgen.“ Die letzten Worte kamen Montrose mit sichtlicher Anstrengung über die Lippen, aber er gedachte seines Versprechens von vorhin.
Botho von Jagemann zögerte einen Augenblick, aber auch nur einen Augenblick. Die Eröffnungen Montroses hatten ihn mit unglaublicher Enttäuschung erfüllt. Also selbst im Fall Montrose den verrückten Gedanken einer neuen Ehe aufgab oder aufgeben mußte, standen Georges und Clemence nicht als alleinige Erben da! Er, Botho von Jagemann, sollte sich mit einem Almosen abspeisen lassen, wo er fürstlich zu schwelgen gedacht hatte? Ihn lockte nur der Genuß, und zwar der ungehemmte, schrankenlose, den ihm seine knappen Verhältnisse bisher nur bedingungsweise gestattet hatten – was sollte ihm da ein „wohlhabendes“ Mädchen? Wozu hatte man denn seinen alten Namen, sein schönes elegantes Aeußere, als um einen wirklichen schweren Goldfisch damit zu ködern? In blitzschneller Aufeinanderfolge ging ihm diese Gedankenreihe durch den Kopf, und sein Entschluß war gefaßt.
„Sie haben es selbst vor kaum einer halbeu Stunde betont,“ begann er mit gesenktem Blick, denn Montroses Augen waren ihm unbequem, „daß Clémence sehr verwöhnt ist und bedeutende Ansprüche erhebt. Um derartigen Bedürfnissen genügen zu können und selbst standesgemäß aufzutreten, dazu ist bei den heutigen Verhältnissen ein großes, sehr großes Vermögen erforderlich, und ich fürchte –“
„Sie fürchten, daß ich Ihren Ansprüchen nicht genügen werde, trotzdem ich mich soeben noch bereit erklärte, die – die“ – Montrose suchte einen Augenblick nach einem andern Ausdruck, schleuderte dann aber seinem Gegenüber das erste Wort, das ihm in den Sinn gekommen war, mit verächtlicher Nachdrücklichkeit ins Gesicht – „die Kaufsumme zu erhöhen. Es kostete mich einen Kampf, denn ich finde, ehrlich gesagt, den Preis des Einsatzes nicht wert. Aber Clémence wird sehr unglücklich sein, und ich kann nicht umhin, einiges Mitleid mit ihr zu haben. Ihre Befürchtungen in betreff Ihrer beiderseitigen Ansprüche an mich sind vollauf berechtigt und ich spreche Ihnen meine Genugthuung aus, daß Sie mich noch beizeiten einen Einblick in Ihre Berechnungen gewinnen ließen. Es bleibt für Sie nur noch übrig, mir den Ring, der Sie bis zur Stunde noch an den Gegenstand Ihrer Spekulation knüpft, zurückzugeben – ich werde Sorge tragen, daß Sie heute abend noch im Besitz der Dinge sein sollen, die meine Tochter von Ihnen erhalten hat.“
Der schöne Botho war rot geworden und kniff die Lippen zusammen; als er aber Miene machte, noch etwas zu erwidern, schnitt ihm Herr von Montrose mit einer nachdrücklichen Bewegung das Wort ab. „Bitte, wir sind fertig miteinander – was könnten Sie mir noch zu sagen haben?“ Er nahm von einem nahestehenden Rauchtischchen eine kleine kupferne Schale und stellte sie mit einem ausdrucksvollen Blick vor den Offizier hin. „Bitte!“
Mit zornig funkelnden Augen zog der junge Mann den Ring vom Finger und legte ihn in die Schale. Herr von Montrose nickte bestätigend, dann drückte er so kräftig auf den Knopf der elektrischen Leitung, daß ein schriller Ton allarmierend durchs Haus lief. Merwig trat geräuschlos ein und blieb in wartender Haltung an der Thür stehen.
„Den Jagdschlitten für Herrn von Jagemann zur Bahn!“
Und ohne noch Wort oder Blick an den neben dem Tisch Stehenden zu wenden, ging Montrose an ihm vorüber, zur Thür hinaus, die ihm Merwig mit tiefer Verbeugung offen hielt.
(Fortsetzung folgt.)
BLÄTTER UND BLÜTEN.
Ein erfreulicher Fortschritt der Desinfektion. Es ist bekannt, daß unsere bisherigen Desinfektionsarten nach verschiedenen Richtungen zu wünschen übrig lassen. Lederwaren und Bücher leiden, wenn sie der feuchten Hitze ausgesetzt werden, und während der letzten Choleraepidemie hat sich gezeigt, daß die Desinfektion vielfach der Vernichtung eines Teils des Gepäcks der Reisenden gleichkam. In Kreisen der Chemiker und Hygieiniker war man darum schon lange bestrebt, Mittel zu finden, welche den Anforderungen der Hygieine und der Volkswirtschaft in gleichem Maße gerecht würden, welche an den verschiedenen Gebrauchsgegenständen die Krankheitskeime sicher zerstörten, die Gegenstände selbst aber unbeschädigt ließen.
Was nun Lederwaren, Bücher, Pelze und Kleidungsstücke anbelangt, so ist durch Untersuchungen von Prof. K. B. Lehmann in Würzburg ein derartiges Mittel gefunden worden. Es besteht in einer 40prozentigen Lösung von Formaldehyd, welche unter dem Namen Formalin in den Handel gebracht wird und von der ein Liter gegenwärtig drei Mark sechzig Pfennig kostet. Dieser Stoff verdunstet an der Luft und seine Dämpfe haben eine sehr hohe keimtötende Kraft, greifen dabei aber die Gebrauchsgegenstände wie Leder, Kleidungsstücke, Pelzwaren etc. nicht an.
Im Laboratorium des Professors Lehmann wurden die zu desinfizierenden Gegenstände in Tücher eingewickelt, die man mit Formalin beträufelt hatte, und dann in einer Kiste verschlossen. Es zeigte sich, daß dreißig Gramm Formalin, die etwa elf Pfennig kosten, genügten, um einen Männeranzug in vierundzwanzig Stunden selbst von so widerstandsfähigen Keimen wie die Milzbrandsporen völlig zu befreien. Bücher konnten, ohne beschädigt zu werden, durch Anwendung sehr geringer Mengen Formalins in wenigen Stunden sicher desinfiziert werden. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß wir endlich ein Mittel entdeckt haben, um die Bücher der Leihbibliotheken hinsichtlich der Verschleppung von ansteckenden Krankheiten weniger gefährlich oder vielleicht völlig unschädlich zu machen.
Sehr wichtig ist aber die Anwendung des Formalins zur Desinfektion von Bürsten und Kämmen. Daß durch diese in Friseurläden zahlreiche Haar- und Hautkrankheiten verbreitet werden, ist längst erwiesen. Die Friseure sind nicht geneigt, ihr Handwerkszeug gründlich zu desinfizieren, weil es durch die bekannten Desinsektionsarten angegriffen und beschädigt wird. Professor Lehmann teilt nun mit, daß Bürsten, in Tücher eingewickelt, die mit Formalin beträufelt worden waren, nach vierundzwanzig [276] Stunden völlig steril waren und dabei unbeschädigt blieben; nicht einmal die Politur hatte gelitten.
Das Formalin dürfte auch bei der Desinfizierung von Wohnräumen die schweflige Säure und das Chlor ersetzen, Stoffe, die bekanntlich so vieles angreifen, und vielleicht eignet es sich auch zur Mottenbekämpfung.
Es hat allerdings wie alle Desinfektionsmittel seine Schattenseiten. Zwar läßt der üble Geruch sich durch nachträgliches Besprengen mit Ammoniak (Salmiakgeist) leicht beseitigen, aber es ist zugleich giftig und wirkt ähnlich wie die schweflige Säure reizend auf die Schleimhäute des menschlichen Körpers. Bevor man daher in Privathäusern zur Benutzung dieses Mittels schreiten kann, muß noch das Ergebnis weiterer Versuche, die im Gange sind, abgewartet werden. Alsdann werden auch Verhaltungsmaßregeln für den Gebrauch des Formalins von seiten der Laien gegeben werden können. Immerhin müssen wir schon heute die Entdeckung jener Eigenschaften des Formalins als einen erfreulichen Fortschritt in der Desinfektionslehre begrüßen. In kleineren Ortschaften, die über große Dampfdesinfektionsanstalten nicht verfügen und solche auch nicht zu bauen vermögen, wird es sich wahrscheinlich sehr nützlich erweisen, und in den großen Anstalten wird man mit seiner Hilfe Lederwaren und andere Gebrauchsgegenstände, die den heißen Dampf nicht vertragen, sicher und auf ökonomische Weise desinfizieren können. *
Zur Trauung. (Mit Bild S. 265.) Nun ist er da, der große Augenblick, da die junge Braut mit dem ihr standesamtlich bereits vermählten Bräutigam zur Kirche zu fahren sich anschickt. Der Vater hat sie zum Wagen geleitet und das Dienstmädchen ist sorgsam beim Einsteigen behilflich, damit die lange blütenreine Schleppe nicht vorzeitigen Schaden erleide. Auf dem Fuße folgen der Bräutigam, sowie Verwandte des Hauses – alle in feierlich festtäglichem Gewande. An ihnen vorbei rauscht das Getriebe des Alltags, nüchtern und grau – ein neugieriger Blick auf die blendende Erscheinung im langen weißen Schleier, auf die blanken Cylinder der Herren, und weiter ziehen diese Männer und Frauen ihrem Berufe nach und denken nach wenigen Minuten nicht mehr daran, daß sie da eben einem blühenden Menschenkind auf dem wichtigsten Gang seines Lebens begegnet sind.
Ein Schreibmaterial aus alter Zeit. Vor der Erfindung des Papieres, das heute in riesigen Massen hergestellt wird, war der Stoff, auf den man schrieb, viel kostbarer als heutzutage, und es war ein Glück, daß die Leute in den vergangenen Jahrhunderten nicht so schreiblustig waren wie in der Gegenwart. Zu den ältesten Schreibmaterialien gehören die Wachstafeln, Tafeln aus Holz oder Elfenbein, die in einer geringen Vertiefung eine Fläche von Wachs enthielten, auf welche mit einem spitzen Griffel, gewöhnlich von Bein, Notizen aller Art, Rechnungen, Konzepte, Schulübungen, aber auch Briefe und Urkunden eingezeichnet wurden. Brauchte man diese Aufzeichnungen oder richtiger Eingrabungen nicht mehr, so wurden die Wachsflächen mit einem besonderen Geräte wieder geglättet und man konnte sie von neuem benutzen.
Bei den Griechen und Römern waren die Wachstafeln in allgemeinem Gebrauche. Der römische Dichter Properz beklagt in einer hübschen Elegie den Verlust seiner Wachstafeln, die, mit zärtlichen Liebesversicherungen beschrieben, so oft zwischen ihm und seiner Geliebten hin und her gewandert sind; er fürchtet, daß sie einem Geizhalse in die Hünde gefallen seien, der nun seine wucherischen Rechnungen darauf schreibe.
Unserem Jahrhundert, das so viele Schätze des Altertums ans Licht gezogen hat, war es vorbehalten, auch altrömische Wachstafeln, die man vordem nur nach den alten Beschreibungen kannte, im Original wieder aufzufinden, und zwar in den Goldbergwerken Siebenbürgens, die von Römern betrieben worden waren, aber auch in Aegypten und an anderen Orten. Die aufgefundenen Tafeln enthalten meist Kaufverträge und Schuldverschreibungen: sie sind ganz schmucklos und einfach.
Kostbar ausgestattet waren dagegen die aus zwei durch Scharniere verbundenen Elfenbeintafeln bestehenden „Diptycha“, welche die römischen Konsuln in der späteren Kaiserzeit beim Antritt ihres Amtes zu verschenken pflegten und die außen mit reichem Schnitzwerk verziert waren. Viele dieser geschnitzten Tafeln, die im Mittelalter zu kostbaren Einbänden von Büchern verwendet wurden, sind auf unsere Zeit gekommen.
Von den Römern haben die Germanen die Wachstafeln als Schreibgerät überkommen; sie waren im Mittelalter allgemein in Gebrauch, namentlich auch als Schreibtafeln für die Schüler. In Lübeck sind solche des 15. Jahrhunderts, noch mit Schülerschriften versehen, in den sechziger Jahren gefunden worden. Wachstafeln mit Rechnungen, mit Zins- und Steuerverzeichnissen sind viel häufiger und finden sich in den verschiedensten Sammlungen.
Gegen 1500 wurden die Wachstafeln durch die Ausbreitung der Papierfabrikation so ziemlich verdrängt, ganz gelang es dem Papier aber doch nicht, das altehrwürdige Schreibmaterial zu beseitigen; an einigen Orten hat es sich bis in unser Jahrhundert erhalten. In dem Salzwerk zu Halle a. d. Saale waren die Wachstafeln als Grundbuch für die Anteile an den Salzbornen bis 1783 in Gebrauch, in welchem Jahre sie durch königliche Verordnung abgeschafft wurden. In Schwäbisch Hall machte ihnen erst 1812 der Staat den Garaus; hier wurde das Holz, das auf dem Kocher für die Salzsieder angeflößt wurde, auf ihnen verzeichnet. Am längsten aber hielten sich die Wachstafeln auf dem Fischmarkt zu Rouen, woselbst noch vor zwanzig Jahren das Ergebnis der Versteigerung der übrig gebliebenen Fische darauf eingetragen wurde. Der größte Feind des Papiers, das Wasser, hatte hier dem Jahrtausende alten Schreibgerät im Kampfe gegen das Papier beigestanden.
Wägungen und Messungen der Kinder. In unserer fortgeschrittenen Zeit pflegen viele Eltern ihre neugeborenen Sprößlinge sorgfältig zu beobachten und durch regelmäßige Wägungen und Messungen deren gedeihliche Entwicklung zu kontrollieren. Diese Aufzeichnungen sind auch für die Wissenschaft von Wert. Leider aber wurden sie bis jetzt nicht gesammelt. Die „Gesellschaft für Kinderheilkunde“ hat nun einen Aufruf erlassen, Eltern, die solche Aufzeichnungen besitzen, möchten dieselben der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Erforderlich sind dabei einige Angaben, wie Name und Geburtsdatum des Kindes, Auskunft über verschiedene Arten der Ernährung (Mutter- oder Ammenmilch, reine künstliche oder gemischte Ernährung) nebst Nennung des Tages, an welchem eine jede derselben begonnen hat. Mitteilungen über Zahndurchbruch sind gleichfalls erwünscht.
Bei kranken Kindern sind Natur und Verlauf der betreffenden Krankheiten mitzuteilen. Die Berichte über normale Kinder sind an Dr. Camerer in Urach (Württemberg), diejenigen über Kinder, welche länger krank gewesen sind, an Dr. Biedert in Hagenau i. E. zu senden. Da diese Sammelforschung voraussichtlich längere Zeit hindurch veranstaltet wird, so dürfen Eltern, die gegenwärtig im glücklichen Besitze eines neu angekommenen Weltbürgers sind, gut thun, wenn sie ihre Aufzeichnungen gleich nach den obenerwähnten Grundsätzen einrichten wollten. *
Kleiner Briefkasten.
Leserin in Siebenbürgen. Der Autor der „Martinsklause“ dankt Ihnen für Ihre herzliche Anerkennung. Das von Ihnen besprochene Motiv ist eine geschichtliche Thatsache: in Wirklichkeit war die Sache allerdings noch viel schlimmer, aber mit Rücksicht auf den modernen Geschmack sah sich der Autor genötigt, die Darstellung dieser traurigen Verhältnisse soviel als möglich zu mildern.
H. A., Nürnberg. Merkwürdig, über was man alles wetten kann! Derjenige, welche auf „Lassen Sie es mich wissen“ gewettet hat, hat nicht bloß gewonnen, sondern kann auch besser deutsch als sein Gegner, der sich für „Lassen Sie es mir wissen“ ins Zeug legte.
Jenny F. Das ist eine sehr verwickelte Rechtsfrage, deren Beantwortung Ihnen nur ein Rechtsanwalt wird liefern können.
H. P. 1000. Bevensen. Ja, wo ist er, der geniale Mensch, der einmal die Gesetze des Grüßens schriebe, fest und unabänderlich und für alle Welt gleich verbindlich! Hier ist Sitte, was dort Unsitte, hier erlaubt, was dort verpönt, hier Grobheit, was dort Höflichkeit. Wir sind also außer stande, Ihnen eine durchweg gültige Richtschnur zu geben; nur soviel vermögen wir zu sagen, daß im allgemeinen ein wiederholtes Grüßen durch Hutabnehmen innerhalb einer Frist von wenigen Minuten nach dem ersten Gruße nicht verlangt zu werden pflegt. Ob man dann aber kühl vorüberzugehen hat, als wäre der andere gar nicht da, oder ob man die ausfallende Hutabnahme durch ein Nicken des Kopfes ersetzen darf – das entscheidet sich danach, wer der andere ist, und nach den Beziehungen, in welchen man zu ihm steht.
Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (15. Fortsetzung). S. 261. – Ringelreihen. Bild. S. 261. – Zur Trauung. Bild. S. 265. – Otto Roquette. Ein Gedenkblatt zu seinem 70. Geburtstag. S. 267. Mit Bildnis S. 268. – Die Bauten der Termiten. Von C. Falkenhorst. S. 269. Mit Abbildungen S. 269, 270 und 273. – Der Diakonissenberuf. S. 271. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (15. Fortsetzung). S. 271. – Blätter und Blüten: Ein erfreulicher Fortschritt der Desinfektion. S. 275. – Zur Trauung. S. 276. (Zu dem Bilde S. 265.) – Ein Schreibmaterial aus alter Zeit. S. 276. – Wägungen und Messungen der Kinder. S. 276. – Kleiner Briefkasten. S. 276.
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Die Band-Ausgabe von E. Werners Romanen erscheint vollständig in 10 Bänden zum Preise von je 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.
Inhalt der Bände: 1. Glück auf! 2. Am Altar.
Hermann. 3. Gesprengte Fesseln. Verdächtig. 4. Frühlingsboten. Die Blume des Glückes. 5. Gebannt und erlöst. 6. Ein Held der Feder. Heimatklang. 7. Um hohen Preis. 8. Vineta. 9. Sankt Michael. 10. Die Alpenfee.Auch in 75 Lieferungen zum Preise von 40 Pfennig zu beziehen. (Alle 14 Tage eine Lieferung.)
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- ↑ Wir geben in Anbetracht der Wichtigkeit der von uns in Nr. 51 des vorigen Jahrgangs angeregten Diakonissenfrage gern auch einer Vertreterin der bestehenden Zustände Raum zur Entgegnung. Ihre Ausführungen kommen uns ganz gelegen, denn was sie namentlich von dem Hause in Berlin berichtet und was, wie uns mitgeteilt wird, zugleich von einer Reihe anderer Anstalten gilt, das sollte auch dort eingeführt werden, wo es noch keine Aushilfe für die grobe Arbeit, keine Feierabendhäuser und keine Ferien für die „Schwestern“ giebt. Gegenüber von manchen uns auch sonst anläßlich jenes Artikels zugekommenen Briefen legen wir Wert darauf, zu erklären, daß die Absicht bei seiner Veröffentlichung nicht entfernt die war, vor dem Diakonissenberuf zu warnen, sondern ganz im Gegenteil, durch Aufdeckung der Schäden, welche ihm hin und wieder anhaften, den so wünschenswerten Eintritt recht vieler Mädchen aus gebildeten Kreisen zu ermöglichen und zu veranlassen. Die Redaktion.