Die Gartenlaube (1894)/Heft 20
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Nr. 20. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Martinsklause.
Herr Waze faßte mit jähem Griff das Pergament, auf dem
das Lied des bischöflichen Narren verzeichnet stand, während
Rimiger brummte: „Eine solche Narretei! Um Schelmenlieder
sollen wir uns kümmern, wo es hergeht um unsere Haut.“
„Der Narr ist des Bischofs liebster Gesell - er muß wissen um seines Herren Meinung, Bub’! Ich schwör’ darauf: es steht ’was in dem Lied!“ Herr Waze starrte auf die Rolle in seiner zitternden Hand und griff nach seinem kahlen Scheitel. „Es muß’ was stehen in dem Lied - aber wer liest mir’s denn? Ich müßt’ ja rein zum Hiltischalk in die Ramsau schicken! Doch wenn er gelesen hat ... wie schließ’ ich ihm das Maul?“
„Der Haunsperger hat gemeint, Du hättest ja vier gute Freund’ im Gadem, die sich wohl aufs Lesen verstehen!“
Verblüfft sah Herr Waze seinen Buben an; dann schüttelte er den Kopf und entfaltete das Pergament. In zierlicher Schrift stand Zeile unter Zeile; doch Herr Waze verstand nur eines: das kleine in bunten Farben ausgeführte Bildchen, welches der erste Buchstabe umschloß. Auf dem Wipfel einer Fichte war ein Nest zu sehen, welches vier Raben umflatterten; um den Fuß des Baumes drängte sich ein Häuflein seltsamer Tiere - sie waren rot gemalt, und man konnte sie wohl als Füchse deuten; über dem Baum, in blauer Luft stand ein Adler mit gebreiteten Schwingen. Herr Waze lachte. „Komm!“ sagte er. „Jetzt mag der Würfel fallen, wie er will!“ Er stieg zur Halle hinauf. Lautes Gelächter tönte aus der Stube, und die Stimme Sindels klang: „Nimm Dich in acht, Otloh, der Pater sitzt neben Dir ... wenn Du noch einmal so übel scherzest, fahrt er Dir mit einem Sprüchlein über den Schnabel, das Dir schmecken wird wie eine Kratzbürst’!“
„Was hat er denn so Arges gesagt?“ verteidigte Eilbert den jüngeren Bruder. „Es ist doch die Wahrheit, daß sich der Pater um die Bauern sorgt wie eine Bruthenn’ um ihre Küchlein! Und das muß er thun, schon seinem Namen zu lieb! Wer Eberwein heißt, der muß gut Freund sein mit den Säuen.“
Johlendes Gelächter erhob sich, während Recka zornig aufsprang. „Eilbert!“ Sie wollte den Arm des Bruders fassen, doch Eberwein vertrat ihr den Weg; sein Gesicht war bleich, und seine Stimme bebte. „Laßt ihn! Wenn Eure Brüder die Gegenwart der Schwester nicht achten, wie soll ich erwarten, daß sie Ehrfurcht zeigen vor meinem Kleid und vor dem Gast ihres Vaters!“ Da trat Herr Waze in die Stube, der Ausdruck seines Gesichtes und der Anblick Rimigers machten die Lachenden verstummen; sie wußten was dieser Augenblick für sie bedeutete; aus der Kammer ließ sich ein Geräusch vernehmen, als wäre ein Stuhl gefallen, und die Thüre öffnete sich um eine schmale Spalte.
„Seht her, frommer Vater,“ rief Herr Waze mit gepreßter Stimme, „seht her, was mein Rimiger
[326] gefunden hat. Das Pergament muß Euch gehören, es lag auf Eurem Weg – Ihr müßt es verloren haben.“
„Nein, Herr Waze, das Blatt gehört mir nicht!“ Eberwein nahm den Streif und rollte ihn auf. „Auch keinem meiner Brüder. Ein Fahrender, der Euer Haus gesucht, mag wohl das Blatt verloren haben ... es ist ein weltlich Lied.“ Und mit halblauter Stimme las er:
„Es schwebt der fürstliche Aar im Blau,
Den Blick gerichtet zur Ferne,
Ihn lockt Frau Sonne, ihn kümmern nicht
Die kleinen Knechte, die Sterne.
Sein Blick späht über die Berge hin,
Sucht nimmer Thal und Halde,
Ihn kümmert das Nest der Raben nicht,
Das sie bauten im finsteren Walde.
Es mag bestehen, es mag vergeh’n
Und fallen den zausenden Winden,
Es mögen die Füchse schleichen und späh’n
Und ihre Beute finden.
Der fürstliche Aar nimmt hohen Flug,
Die Blicke fernab gewendet,
Und nimmer frägt er, wie der Streit
Im tiefen Wald sich endet.“
„Ein Meisterlied!“ schrie Herr Waze wie von Sinnen, „ein Meisterlied!“ und faßte die schwere frischgefüllte Bitsche. „Dem unbekannten Sänger einen festen Trunk zur Minne! Er meint es gut mit den Füchsen!“ Sein heiseres Lachen erstickte in der Kanne.
Eberwein ließ die Rolle sinken und blickte befremdet, von peinlicher Empfindung erfaßt, an der Tafel umher. Ueberall sah er funkelnde Augen und brennende Gesichter. Ihm war, als stünde er inmitten eines tollen Traumes. Herr Waze stieß die geleerte Kanne auf den Tisch, lachend, und kreischte. „Setzt Euch doch, mein lieber fürstlicher Herr! Euch zu Ehren will ich schmausen und zechen ... und ich mein’, es hat mir im Leben noch kein Mahl geschmeckt, wie es heut’ mir schmecken soll! Euch zu Ehren! Nur Euch zu Ehren! Ihr seid ja mein Herr! Mein Herr!“ Seine Worte gingen unter im Geschrei und Gelächter seiner Söhne.
Eberwein strich mit der Hand über die Stirne und ließ sich nieder. Seine Sinne taumelten, er wußte nicht, was er that. Er hörte nicht, daß die Thür der Kammer sich öffnete, aus welcher Henning trat, einen hochstämmigen Rüden am Halsband führend ... er sah nicht, daß Recka, bleich bis in die Lippen und mit blitzenden Augen ihren Vater streifend, von der Tafel wich und den Saal verließ, als wollte sie nicht teilhaben an dieser Stunde. Mit zitternden Händen griff er nach einem Brot, segnete es und brach es entzwei. „Nehmt, Herr Waze!“ Er reichte die Hälfte des Brotes über den Tisch. Da griff eine Hand über seine Schulter. „Mir die ander’ Hälft’ ... meinen Hirschmann hungert!“
Schallendes Gelächter erhob sich um den Tisch. Eberwein sprang auf und sah, wie Henning das gesegnete Brot dem Hunde zuwarf, der es mit klaffendem Rachen haschte. Glühende Zornröte fuhr über das Gesicht des Mönches. Mit beiden Händen faßte er die Tafel an der Kante und stürzte sie um, daß Herr Waze mit dem Sessel wankte, daß die hölzernen Teller, die zinnernen Schüsseln und die Metkannen klirrend und polternd über den Estrich rollten. „So end’ ich dieses Mahl,“ klang seine Stimme mit schrillem Hall, „und nichts mehr hab’ ich gemein mit Euch!“
Schreiend vor Wut, mit geballten Fäusten und verzerrtem Gesicht sprang Herr Waze auf; seine Söhne aber starrten auf die Lippen des Mönches ... er war es doch gewesen, der diese Worte gerufen, und dennoch schien es ihnen, als hätten sie ihren Vater gehört. So klang seine Stimme im Zorn. „Faßt ihn! Faßt ihn!“ schrie Herr Waze. „Er hat mein Haus geschändet – das soll er büßen!“
Henning war der erste, dessen Fäuste nach Eberwein griffen. Da sah auch der Hund in dem Mönche einen Feind seines Herrn und stürzte heulend auf ihn los. Mit einem Faustschlag streckte Eberwein das Tier zu Boden. „Feinde über mir!“ klang seine schmetternde Stimme, und eine Metkanne von der Erde raffend, schwang er sie zum Schlage wider Henning. Doch er schlug nicht; aus erhobenem Arm ließ er die Kanne sinken, und zwei der Wazemannssöhne beiseite schleudernd, gewann er mit mächtigem Sprung das an der Mauer hängende Kreuz, griff nach ihm mit beiden Händen und rief: „Vergieb, o Herr, die Sünde meines heißen Blutes! Bei Dir ist die Rache, bei Dir die Hilfe!“
Da faßten sie seine Arme, seine Brust, seinen Hals ... er stand und wehrte sich nicht, während sie an ihm hingen wie die Hunde am gestellten Hirsch. Geifernd, die geballten Fäuste vor Eberweins Augen streckend, leerte Herr Waze in unflätigen Worten die Schale seiner Wut über ihn aus. Ein bitteres Lächeln zuckte um Eberweins bleiche Lippen. „Knecht Waze, nun kenn’ ich Dich! Nun zeigst Du mir Dein wahres Gesicht!“
„Fort mit ihm! Hinunter in meinen tiefsten Keller!“
Ueber das Geschrei der Söhne, die den Gefangenen zur Thüre stießen, hob sich Eberweins Stimme: „Waze, ich warne Dich! Da Du Gott nicht fürchtest, so fürchte den Kaiser, vor dessen Gericht ich Dich berufe, der Fürst seinen ungetreuen Knecht!“
„Der Kaiser!“ höhnte Herr Waze mit schallendem Gelächter. „Wo ist er denn, Dein Kaiser? In vierzig Jahren hab’ ich ihn nicht gesehen, hab’ keinen Ruf von ihm gehört, hab’ keinen Mann zu seinem Heer geschickt. Schrei’ doch, schrei’, ob er Dich hört, ob er kommt! Ich mein’, er wird den Käfig so leicht nicht finden, in dem ich Dich bergen will. Packt ihn, meine Füchslein, hinunter mit ihm!“
Schreiend stießen sie ihn aus dem Saal und über eine steile Treppe hinunter, eine schwere Thüre wurde vor ihm aufgerissen, er taumelte in Finsternis und kalte Moderluft, hinter ihm dröhnten die Bohlen, und der eiserne Riegel klirrte. Draußen Gelächter, das sich entfernte, Geschrei, welches unterging wie in weiter Ferne ... dann dumpfe Stille.
Eberwein streckte im Dunkel die Arme aus, seine Hände griffen den nassen Fels der Mauer und einen eisernen Ring. Ein kalter Schauer rann ihm durch die Glieder, und die Knie brachen ihm. Die Arme schlug er über die Brust, als möchte er gewaltsam den Sturm seiner Seele bezwingen, und aus heißem Herzen sprach er laut ein Gebet. Plötzlich aber verstummte er, denn ein Geräusch war an sein Ohr gedrungen. Mattes Stöhnen klang aus einem Winkel des finsteren Raumes. Erschrocken sprang Eberwein auf. „Wer teilt meinen Kerker? Bist Du ein Mensch, so rede!“ Das Stöhnen wurde zum Wimmern, eine wortlose Sprache des Schmerzes, welche Eberweins Herz erzittern machte. „Gott des Erbarmens!“ stammelte er, warf sich zu Boden, und über die Fliesen kriechend, tastete er mit den Händen vor sich her. Er fühlte halb verfaultes Stroh und jetzt einen menschlichen Körper, fast nackt, mit schlaffen Armen und steifen Fingern, mit bartlosem Gesicht und kurzgeschorenem Haar. „Der Knabe, den ich suchen kam! ... Wazemann, Wazemann!“ Mit beiden Armen griff er zu und hob das Haupt des Knaben an seine Brust, dessen Zunge lallte: „Wer ist bei mir?“
„Einer, der es mit Dir gut meint!“
Da klang es wie der schluchzende Aufschrei eines Verzweifelnden: „Giebt’s denn noch einen, der gut ist?“
„Ja, ja, ja!“ rief Eberwein, die Stimme halb erstickt von Zähren. „Allgütiger im Himmel, wie blind war meine Seele! Ich wähnte, daß ich irre ging, von Dir verlassen ... nun seh’ ich: es war der Weg Deiner Liebe, die mich hierhergeführt, um dieses Kind zu finden!“ Er fühlte, wie die Hände des Knaben an ihm emportasteten, wie die kalten zitternden Finger sein Antlitz berührten, welches naß von Thränen war.
„Er weint ... einer, der weint um den armen Huzebuben! Bist auch ein Geißhirt, hat er Dich auch gebüßt?“ Und wie der Sinkende den Balken, den eine mitleidige Welle ihm zugeworfen, so umklammerte der Bub’ mit beiden Armen seinen Gesellen und schmiegte sich an ihn unter strömendem Schluchzen. Aus der Höhe des Hauses klang ein dumpfer Lärm hernieder – das Johlen der Wazemannssöhne, welche die gestürzte Tafel wieder aufgerichtet hatten und die Kannen leerten auf das Glück ihrer kommenden Zeit.
Eberwein tastete in der Finsternis umher, und seine Hand fand an der Mauer einen vorspringenden Stein; er setzte sich und hob den Knaben auf seinen Schoß. der Bub’ wimmerte, denn die Bewegung mehrte seine Schmerzen, und auf Eberweins Frage begann er, von Schluchzen unterbrochen, zu erzählen, was er verschuldet hatte, welche Strafe er gelitten, welche Qual und Marter er in diesem finsteren Verließ ertragen; seine Sprache war arm an Worten, und sie sagte doch mehr, als Eberweins Herz zu ertragen vermochte. Er drückte das Gesicht des Knaben an seine Brust, um ihn verstummen zu machen, und während er ihm mit zärtlicher Hand die struppigen Haare streichelte, flüsterte er, die heimatliche Sprache seiner Berge redend: „Mußt nimmer weinen, Büebli! Schau’, es hebt für Dich die gute Zeit wieder an. Ich thu’ Dich pflegen, daß Du gesunden sollst, und will Dich lieb haben all mein Leben lang.“ Und weißt, meine Arm’, die tragen Dich schon, bis Du wieder laufen kannst auf Deinen Füßen. Wohl wohl, hab’ nur acht, wenn die Thür sich aufthut, wie ich Dich hinauftrag’ in die liebe Sonn’!“
[327] Langsam hatte der Bub’ den Kopf erhoben. „Du mußt mehr sein als ein Geißhirt! Wer bist denn Du?“
„Ich bin ein Gottesmann! Weißt Du, was das ist?“
„Wohl wohl, so einer wie der Hiltischalk. Den hab’ ich einmal gesehen – der hat ein schwarzes Häs.“
„Mehr weißt Du nicht von ihm?“
„Wohl wohl: und weiße Haar’ hat er, weil er alt ist.“
„Und ein Kirchlein hat er, ia dem das Glöcklein läutet. Und einen lieben Vater im Himmel! Hast nie von dem gehört?“
„Wohl wohl, ich mein’ schon, ich hätt’ so ’was reden hören!“ Stöhnend griff der Knabe nach seinen schmerzenden Füßen.
„Schau’, mein Büebli,“ sagte Eberwein, die Arme fester um den Knaben schlingend, „schau’, das ist ein treuer Vater, dem alle guten Meuschen liebe Kinder sind. Wer leiden muß, den tröstet er, und wer in Not gefallen, dem bringt er Hilf’ ...“
„Mir auch?“ klang scheu und zitternd die Stimme des Knaben.
„Freilich, Büebli! Denn alles weiß er und alles kann er. Er hat Dich gesehen in Deinen Schmerzen und hat zu mir gesagt: geh’ hin und hilf dem Huzebuben – und wie ich gegangen bin, Dich suchen hat er mir ein kleines Dirnlein geschickt, das mir den Weg gewiesen, ein Dirnlein, das Dich lieb hat! Gelt, Du weißt schon, wen ich mein’?“
„Ach Du guter Mann!“ rief der Knabe, lachend in seinen Schmerzen. „Es wird doch nicht das Trudli gewesen sein?“
„Das Dirnlein des Bauern, dem Du die Geißen hütest!“
„Das Trudli, das Trudli!“ Der Name des Kindes war das einzige Wort, das der Knabe fand in Weh und Freude.
Eine stumme Weile verging, dann begann Eberwein wieder zu sprechen; es lag ihm das Herz auf den Lippen, und leuchtend öffnete sich die ganze Tiefe seines reinen hoffenden Glaubens, so wie ein Fels in geheimnisvoller Stunde die verschlossenen Schätze zeigt. Der Knabe that keine Frage mehr; er lauschte nur und schien im Lauschen seiner Schmerzen vergessen zu haben; nur manchmal zuckte sein Körper unter halb ersticktem Schluchzen und seine Arme klammerten sich fester um den Hals des Mönches. Eberwein sprach – und wie guter Same, der schon keimt, da er die Erde berührt, fiel jedes seiner Worte in das Herz des Knaben.
Wüster Lärm klang aus der Höhe. Die Berauschten sangen und schlugen die Tafel mit den Fäusten. Die Mägde weigerten sich, den Saal zu betreten – es mußten die Knechte bedienen und die Metkrüge schleppen. Draußen dämmerte schon der Abend, und das Zechen wollte kein Ende nehmen. Den ganzen Bau des Hauses durchschütterte das johlende Geschrei und das Poltern der stürzenden Krüge und Sessel.
In Reckas Kammer, in welcher schon die Leuchte brannte, hallte der Lärm, daß die Wände zitterten. Vom gelösten Haar umringelt, im weißen Schlafgewand, lag Recka im Erker, das Gesicht in die Arme vergraben. Sie hörte nicht, daß die Thüre der Zeugkammer sich öffnete; es war der Bub’, der die Falken pflegte; in seiner Hand trug er das Federkleid, das er dem verendeten Liebling Reckas abgestreift. Scheu trat er zum Erker. „Herrin!“
Recka fuhr auf; als sie den Balg des Vogels sah, griff sie nach ihm, breitete auf ihrem Schoß das Gefieder aus und strich mit zitternden Händen über die Schwingen. Ihre Augen wurden naß. Der Bub’ ging zur Thüre, dort blieb er zögernd stehen. „Herrin! Ich mein’, daß ich weiß, wie Dein Falk hat umkommen müssen. Willst mich nicht verraten, wenn ich red’?“
Recka hatte sich erhoben. „Sprich!“
„Ich sag’s, weil mir leid ist, denn ich hab’ den Vogel lieb gehabt.“ Der Bub’ faßte den Balg und deutete auf eine Stelle der Innenseite. Schau’ her, da hat die Haut einen Stich wie von einer Nadel ...“ Er griff in das Wams. „Und schau’ die Spulnadel an: sie ist rostig von Blut. Durch das ganze Ingeweid’ ist der Stich gegangen. Den Tag, ’vor Du ausgeritten bist, auf den Abend, da ist Dein Falk noch frisch und gesund gewesen – ich bin um Wasser gegangen, und wie ich wiederkomm’, hat der Vogel getrauert.“
Mit zornigem Griff umklammerte Recka das Handgelenk des Buben. „Wer war in der Kammer?“
Scheu blickte der Knabe gegen den Saal, aus welchem das Geschrei der Zechenden hallte. Er wollte sprechen, doch Recka schob ihn ungestüm zurück. „Schweig! Ich könnte, wenn der Zorn mich faßt, den Namen nicht wahren.“ Sie öffnete das auf dem Erkertisch stehende Kästlein und reichte dem Buben eine silberne Spange. „Nimm!“ Er schüttelte den Kopf und legte die Hände hinter den Rücken „Ich hab’ nicht um Lohn geredet!“
„Nimm!“ wiederhalte Recka zornig, dann atmete sie tief auf und sagte leise: „Nimm nur! Ich weiß, Du bist dem Vogel gut gewesen!“ Sie drückte dem Buben die Spange in die Hand.
Als er gegangen war, hefteten sich ihre funkelnden Blicke auf die Saalthür, und die Fäuste auf den Busen drückend, rief sie mit bebender Stimme: „Wann kommt die Reih’ an mich?“ Zum Erker wankend umschlang sie stöhnend ihr Haupt mit den Armen. „Hol’ mich, Mutter, hol’ mich! Bei Dir wär’ Glück und Ruh’!“ Sie sank auf den Sessel und griff nach dem Federkleid des Falken; doch ihre Blicke glitten darüber hinweg, durch das offene Fenster und nieder über den abenddämmerigen See zum Fischerhause, dessen Thüre rot leuchtete vom Wiederschein des Herdfeuers. „Ich that ihm Unrecht!“ flüsterte sie und drückte das Gefieder des Falken über die brennenden Augen. Raschelnd strich der Abendwind durch die welkenden Bäume, die sich zum Erker erhoben. In der Tiefe murmelte der See, der in sachten Wellen ging, und leise Stimmen zischelten durch das schwankende Röhricht.
In der stillen Hofreut des Fischerhauses stand Sigenot, durch die Dämmerung emporspähend nach Wazemanns Haus. Wicho trat zu ihm: „Hörst, wie sie lärmen?“
„Sie zechen. Die Nacht über werden sie liegen im Rausch, und mein Haus ist sicher vor ihnen bis zum Morgen. Trag’ das Netz in den Einbaum und mach’ die Pechpfann’ fertig, wir ziehen auf die Fischweid. Der Kalter ist leer und das Haus hat Leut’!“
Während Wicho ging, um alles für die Fahrt zu rüsten, schritt Sigenot zum Lugaus. Im schwarzen Abendschatteu der Eichen saß Edelrot, die Hände im Schoß, versunken in ihre Träume, die sich webten aus banger Sorge und süßer Lust. Seufzend hob sie die Augen, als der Bruder sich an ihre Seite setzte. Er schlang den Arm um die Schwester, Rötli lehnte das Köpfchen an seine Brust und so saßen sie wortlos ...
Eine Stunde später, als der stahlblaue Himmel schon übersät war mit blitzenden Sternen, fuhr Sigenot mit Wicho zum Fischfang aus. Plätschernd schlugen die sachten Wellen an den Einbaum, der am Fuß der Falkenwand vorüberglitt. Vor einer Ecke des Felsens stockte das Ruder in Sigenots Hand – es war die Stelle, an welcher er in jener Sturmnacht den Gransen gefunden. „Soll ich zünden?“ fragte Wicho. Ohne Antwort zu geben, trieb Sigenot den Einbaum weiter. In tiefer Schwärze lag der weite Seekessel vor ihm, und der Wind trug das dumpfe Rauschen eines Wildbachs über das Wasser her. Gegen die Mündung dieses Baches steuerte Sigenot den Kahn. In der Rähe des Ufers hielt er, hob das Ruder und ließ sich im Spiegel des Schiffes nieder. Lautlos schwankte der Einbaum auf den linden Wellen, während Sigenot empor spähte zum Falkenstein. Fast eine Stunde verging; dann schwieg auch der letzte Laut in Wazemanns Haus, die Hunde schliefen und alle Fenster waren dunkel.
„Zünd’ die Pfann’!“
Wicho schlug Feuer und warf den glimmenden Schwefelfaden auf die mit Pech getränkten Späne. Lodernd wuchs die Flamme, ihr greller Schein fiel über den See und lockte die Fische aus der Tiefe. Der Knecht warf die Schwimmer aus und ließ die Maschen gleiten, während Sigenot im Bogen führ. Als sie das Netz hoben, war es schwer, überall im Garne zappelten die Hechte, die Salmen und Ferchen. „Solchen Zug haben wir nicht oft gethan!“ rief Wicho lachend.
„Ich weiß, wer das Netz so schwer gemacht,“ sagte der Fischer ernst, „denn ich hab’ den ersten Zug den Klosterleuten zugelobt.“
„Den ganzen Zug? Da wird der dicke Bruder lachen! Wenn er wüßt’, was ihm zusteht, er möcht’ wohl springen vor Freud’!“
Bruder Wampo hatte wohl keine Ahnung, daß seiner gedacht wurde beim Fischfang in stiller Nacht. Und dennoch spraug er um diese Stunde, aber nicht vor Freude. Schreck und Sorge hatte die Brüder befallen, als die Nacht erschien, ohne daß Eberwein heimkehrte zur Klause. Da sie meinten, er hätte sich auf dem Rückweg im pfadlosen Wald vergangen, zogen sie die Glocke, damit ihr Hall ihn rufe. Laut, wie klagend, tönte die eherne Stimme in der stillen Nacht – doch Eberwein kam nicht. Stunde um Stunde verging, er kam nicht. Nun beschlossen sie, Pater Waldram sollte bleiben, denn seine Kräfte waren schwach, und von Zeit zu Zeit die Glocke rühren, während Schweiker und Wampo mit Spanlichtern auszieheu wollten, um Eberweins Namen durch den Wald zu rufen. Schweiker stieg zur Ache nieder; Bruder Wampo nahm die Richtung gegen die Ramsau. Er zitterte an allen Gliedern, [328] während er mit erhobener Fackel dahinstolperte durch den finsteren Wald, und seine Stimme klang so gepreßt, daß es gar weit nicht hallen konnte, wenn er Eberweins Namen rief. Manchmal, wenn ein Tannenzapfen durch die Aeste fiel oder der Sprung eines flüchtenden Wildes sich hören ließ, schrak er zusammen, daß es eine Weile dauerte, bis er die Kraft seiner Glieder wieder fand. Seine Stangenbritsche in der Klause war hart, doch mit heißer Sehnsucht dachte er jetzt an die gute Stätte unter Dach. Aber bei allem Jammer, den er mit stammelnden Worten zwischen seine Stoßgebete mischte, schritt er weiter und weiter, denn großer als seine Angst war noch die Sorge um den geliebten Herrn. Er schrie und schrie ... Plötzlich wich der Grund unter seinen Füßen. Kreischend nach einem Halt suchend, ließ er die Fackel sinken, und während sie erlosch, stürzte er, wie er meinte, in bodenlose Tiefe. Es that einen lauten Klatsch, als Bruder Wampo festen Boden erreichte. Ein Wust von Reisig fiel hinter ihm her und überschüttete ihn. Stammelnd raffte er sich aus, warf die stachligen Reiser von sich ab und fühlte nach seinen Gliedern; sie waren ganz und heil. „Ein Glück, daß ich gute Polster hab’!“ meinte er und begann in der Finsternis mit gestreckten Händen umherzutappen. Ueberall griff er steile glatte Erdwände, nirgends fand er einen Halt, an dem er sich hätte emporziehen können – und ob er sich auch auf die Fußspitzen reckte, er konnte den Rand der Grube nicht erreichen. Er tappte und tastete ... und da geriet ihm etwas unter die Hände. Fest griff er zu. doch mit einem Schrei des Entsetzens wich er zurück ... seine Hände hatten struppiges Haar gegriffen. Und da fuhr auch schon ein unsichtbares Etwas im Kreis um ihn her wie der ledige Teufel. Bruder Wampo sah nichts, er fühlte nur die Püffe, die er bekam, hörte ein Schnauben, Springen und Scharren ... das währte eine Weile ... dann wieder war Stille um ihn her. nur hoch über ihm rauschten die Bäume leis im Nachtwind. Er taumelte, geriet in eine Ecke und kauerte auf die Erde, mit lallender Stimme betend. Seine Glieder waren wie gelähmt, er wagte keinen Finger mehr zu rühren und starrte mit aufgerissenen Augen auf die beiden runden glimmenden Lichter, die er nah’ vor sich in der Finsternis erblickte. Und wenn ihm die betende Stimme erlosch, hörte er den fliegenden Gang lechzender Atemzüge, wie ein Jagdhund atmet nach der Hetze. Das Grausen machte seine Sinne wirbeln, und die schweißtreibende Angst malte ihm das Bild eines Ungeheuers vor Augen, mit Drachenflügeln und aufgesperrtem Rachen, groß genug, um einen Berg zu schlingen, geschweige denn das winzige Bröcklein, welches Bruder Wampo hieß.
Fern, im Thal der Ache, klang die rasende Stimme Schweikers und die Berge warfen ihren Hall zurück. In Zwischenräumen ertönte beim Lockistein die Glocke. Weit drangen ihre Klänge in der stillen Nacht, über die Gehänge des Göhl empor, hinaus über die Halden der Strub und das Thal entlang bis zum Schönsee und zu Wazemanns Haus, an welchem ein einsames Fenster in mattem Licht erschimmerte. Es war das Erkerfenster in Reckas Kammer. Neben dem Spiegel flackerte die Leuchte. Mitternacht war lange vorüber, und noch immer stand das Lager unberührt. Recka saß, mit dem nackten Arm über die Brüstung des Fensters gelehnt. Lautlose Stille herrschte draußen im Saal, im ganzen Hause, nur aus dem Hof herauf drang manchmal ein Geräusch: die gefangenen Raubtiere wachten in ihrem Käfig. Recka spähte nach dem Himmel. Ein bleicher Schein begann über den östlichen Bergen das Firmament zu erhellen und die Sterne zu löschen. Als hätte sie auf diese Helle gewartet, so nickte sie vor sich hin und erhob sich. Inmitten der Kammer stand sie noch einmal lauschend stille; dann streifte sie die Schuhe von den Füßen, nahm die Leuchte und schlich auf nackten Sohlen in die Herrenstube. Als sie zurückkehrte, mit einem Schlüssel in der Hand, stand sie und schüttelte sich, als möchte sie die Erinnerung des häßlichen Bildes, das sie gesehen, von sich abwerfen. Lautlos schritt sie hinaus in die Zeugkammer, der Zugwind rührte die Flamme der Leuchte, und die Jagdnetze, die Sauspeere und eiserne Raubtierfallen warfen ein zuckendes Gewirr von Schatten über die Wände. Recka erreichte den Unterstock des Hauses, über eine zweite Treppe ging es nieder, und nun hielt sie vor der niederen Thüre des Bußloches. Sie öffnete das Hängeschloß und schob den Riegel zurück. Als die Thüre sich aufthat und der Schein der Leuchte in den Kerker fiel, stand Recka überrascht und ergriffen im innersten Herzen. Einen Verzweifelnden wähnte sie zu finden – und sah zwei Menschen, schlummernd in stillem Frieden. Eberwein saß auf dem Steinblock, an die Mauer gelehnt, von seinen Armen umschlungen, ruhte ihm der Knabe an der Brust; so schliefen sie, Wange an Wange. Recka berührte die Schulter des Mönches. Als Eberwein erwachte und die vom Lichtschein umzitterte weiße Gestalt erblickte, welche vor ihm stand, wie herausgetreten aus seinen wundersamen Träumen, stammelte er: „Gott sandte seinen Engel ...“ Da erkannte er Recka und verstummte, tief errötend.
Huze schlug die Augen auf und erzitterte beim Anblick der Wazemannstochter. „Schweige, Kind!“ flüsterte Eberwein und drückte ihm die Hand auf die Lippen. Der Schein der Lampe fiel über das leichenfahle Gesicht des Knaben mit den hohl liegenden Augen, über die abgezehrten, von Lumpen umhüllten Glieder und über die mit geronnenem Blut bedeckten Füße mit ihren Wunden. Ein Grauen schüttelte Reckas Nacken. „Wer ist der Bub’?“
„Ein Opfer Deiner Brüder. Blick her, wie sie an ihm thaten um geringe Schuld!“
„Das wußt’ ich nicht!“ stammelte Recka.
„Ich glaube Dir, denn Dein Herz ist gut! Und kamst Du, um mir die Freiheit zu bringen, ich danke sie Dir um dieses Knaben willen.“
Eine Weile stand Recka schweigend; sie mußte die Augen von dem Knaben wenden, denn sie ertrug den Anblick seiner Wunden nicht. Zur Thüre lauschend, sagte sie flüsternd: „Löset Eure Schuhe von den Füßen.“ Eberwein ließ den Knaben auf den Steinblock nieder, löste die Sandalen und knüpfte sie an seinen Gürtel.
„Folgt mir!“ Recka erhob die Leuchte und schritt zur Thür.
Eberwein nahm den Knaben auf seine Arme und flüsterte ihm zu: „Fürchte Dich nicht!“ Da schüttelte der Bub’ den Kopf, und seine Augen glänzten. „Fürchten? Es ist doch der gute Vater mit uns!“
Fester umschlang ihn Eberwein, als er die Schwelle des Kerkers überschritt. Recka schloß die Thüre, schob den Riegel vor und drehte den Schlüssel um. Lautlos stiegen sie die Treppe hinauf, sie erreichten die Zeugkammer und Recka öffnete die Thüre ihres Gemachs. Auf der Schwelle zögerte Eberwein, er schien zu erkennen, welchen Raum er betrat, und die Stirn von dunkler Röte übergossen, sagte er mit gepreßter Stimme: „Führet mich anderen Weg ... um Euretwillen!“
„Anderen weiß ich nicht! Tretet ein! Rasch!“
Als sie zur Saalthür kamen, flüsterte Eberwein: „Ich bitt’ Euch, reichet mir Zeug, daß ich die Wunden des Knaben verbinde.“
Recka zog die Hirschdecke von ihrem Lager, riß von dem Hanftuch, welches über die Haut geschlagen war, einen Streifen ab und schob ihn hinter den Gürtel des Mönches. Dann löschte sie die Leuchte und faßte Eberweins Arm. „Laßt Euch führen und seid ohne Sorge ... sie liegen im Rausch.“
Nun traten sie hinaus in die Herrenstube. Bleiches Mondlicht fiel durch die offene Hallenthür und alle Fenster. Gestürzte Sessel lagen umher, auf dem verwüsteten Tisch und auf dem Estrich schimmerten die zinnernen Kannen, in lang ausgeronnenen Lachen spiegelte sich der Mondschein, und der verschüttete Met erfüllte den ganzen Raum mit widerlich süßem Geruch. Henning und Otloh lagen wie Klötze unter dem Tisch; vor der Thür, welche zur Kammer der Buben führte, war Eilbert niedergesunken, und Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, schnarchend, mit Kopf und Armen niederhängend über die Kante. Eberweins Schritte stockten, doch Recka zog ihn mit sich fort, in die Halle hinaus und hinunter in den Hof. Als sie dem Zwinger sich näherten, schlugen die Hunde an, doch mit leisem Lockruf machte Recka sie verstummen. An der Mauer öffnete sie eine Pforte, welche gegen die Höhe des Berges führte. „Nach hundert Gängen teilt sich der Pfad,“ flüsterte sie, „Ihr müßt zur Rechten schreiten und die Mauer umgehen. So gelangt Ihr auf den Reitweg, der Euch zur Ache führt und“ – ihre Worte zögerten und klangen heiser – „und zum Haus des Fischers. Unter seinem Dache seid Ihr sicher, er ist ein starker und redlicher Mann!“
Schwer atmend rückte Eberwein den Knaben höher an die Brust. „Ich kann Euch zum Dank die Hand nicht bieten ... mag Gott Euch diese Stunde lohnen! Ihr habt gethan an mir wie eine Schwester an ihrem Bruder.“
„Ihr, mein Bruder?“ klang Reckas rauhe Antwort. „Ihr mahnet mich zur Unzeit, daß ich Brüder habe und einen Vater.“ Und von Eberwein sich wendend, schloß sie mit ungestümer Hand die Pforte. Sie wollte zum Hause schreiten doch ihre Knie wankten und neben dem Zwinger sank sie nieder auf die Steine. Winselnd streckten die Hunde ihre Schnauzen durch die Lücken der Stangen und fuhren mit den heißen Zungen nach Reckas Gesicht und Händen.
Die „Schweningerkur.“
Was ist die „Schweningerkur“? Danach hat schon mancher und manche nicht bloß aus müßiger Neugier, sondern aus des Leibes eigenem Bedürfnis gefragt. Schweninger selbst hat erst jüngst in einem Aufsatze, der in der „Bibliothek der gesamten medizinischen Wissenschaften“ erschienen ist, eine überraschend drastische Antwort auf diese Frage gegeben. „Eine Merkwürdigkeit unter den Kuren bleibt die sogenannte Schweningerkur. Sie ist in jeder Beziehung ein raffinierter Betrug. Man hat eben hier nur läuten, aber nicht schlagen gehört; die ‚Entdecker‘ dieser ‚Kur‘ haben aus einigen individuell gegebenen Verordnungen gewisse Lehren, Schablonen, Prinzipien erdichtet, diese dann zusammengestellt und dem erzielten Gebräu den Namen der ‚Schweningerkur‘ gegeben. Diese Lehre oder die Identificierung mit der Oertelkur wurde des weiteren sogar in wissenschaftlich medizinischen Werken vorgetragen. Schweninger selbst[1] hat mit dieser ‚Kur‘ nicht das Geringste zu thun. Er ist ein solcher Feind jeder Schablone, daß er während seiner ganzen ärztlichen Thätigkeit niemals, am wenigsten aber seinem vornehmsten Kranken eine sogenannte ‚Kur‘ verordnet hat, über welche die haarsträubendsten Kurfabeln verbreitet worden sind, während darüber thatsächlich keine authentischen Aeußerungen bis jetzt vorliegen ...“
Diese Aeußerungen sind nun jüngst von seiten Schweningers in einer Schrift, betitelt „Die Fettsucht“[2], nachgeholt worden. Alle, die es angeht, dürften die wahrhaft volkstümlich abgefaßte Schrift mit sichtlichem Vergnügen und zum eigenen Nutzen und Frommen lesen.
„Die Behandlung der Fettsüchtigen“ – sagt Schweninger – „ist seit alters auf verschiedenen Wegen versucht und mit verschiedenen Mitteln erreicht worden. Aber alle Behandlungsmethoden, die bis auf den heutigen Tag versucht worden sind, litten und leiden an der Schablone, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit (nicht immer der Autoren, sondern mehr der Nachbeter), an mangelnder Individualisierung und legen nicht genug Wert auf eingehende und nach Zeit, Umständen und Bedürfnissen abwechselnde Verordnungen.“
Riesiges Aufsehen hat es seinerzeit erregt, als der englische Rentier Banting die ihm von seinem Arzte Harvey verordnete ausschließliche Fleischdiät als diejenige Kur empfahl, welche allen Fettsüchtigen sicheren Erfolg gewährleiste. Daß diese Empfehlung nicht für alle Fälle passe, hat der Göttinger Professor Ebstein bewiesen, indem er gerade durch die Gestattung von Fetten und kohlenhydrathaltigen Speisen (Butter, Mehlspeisen, Brot etc.) und durch die Einschränkung der Fleischkost die besten Erfolge erzielte. Jüngst hat endlich Professor Oertel in München darauf hingewiesen, daß die möglichste Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr das Wesen jeder Fettsuchtbehandlung ausmache. Danach wäre im Oertelschen Sinne die berühmte „Semmelkur“ in Lindewiese eine der besten Behandlungsarten der Fettleibigen. Schweninger verurteilt alle diese Verfahren, welche nur einzelnen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Für jede einzelne fettleibige Person müssen unter Berücksichtigung aller auf dem Vorleben, der Untersuchung und Beobachtung gewonnenen Anhalte besondere Verordnungen gegeben und nach der Art der sichtbaren Wirkung später abgeändert werden. „Der Mensch ist zum Teil das Produkt seiner Lebensweise und daher wird die Fettentziehungskur zum Teil in der Bekämpfung althergebrachter, namentlich übler Gewohnheiten ihr Ziel erreichen.“ Schweninger hält es für notwendig, nicht nur Essen und Trinken, sondern auch geistige Thätigkeit, Bewegung, Ruhe, Lagerung, Bekleidung, Wohnung des Fettsüchtigen genau zu überwachen. Der Erfolg der Behandlung muß genau geprüft werden, was insbesondere durch wiederholte Messungen von Brust- und Leibumfang, sowie des Körpergewichtes zu geschehen hat. Schweninger zählt eine Reihe von Vorschriften für Fettleibige auf, wobei er aber ausdrücklich betont, daß dieselben nur unter strengster Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und der je nach Bedürfnis notwendigen Abänderungen befolgt werden dürfen.
Alles, was den Kreislauf des Blutes hemmt, verlangsamt und damit zu Stockungen führt, muß aus der Kleidung des Patienten entfernt werden. Zu den einengenden und einschnürenden Kleidungsstücken sind vor allem zu rechnen: das unheilvolle Mieder, die um das Bein gelegten Strumpfbänder, enge Kragen oder Aermel, stramm angeschnallte Hosen oder Säbelgürtel, Bauchriemen, enggebundene Röcke etc. Den Damen wäre zu empfehlen, selbst die Fischbeine und Stahlstangen aus den Taillen zu entfernen. Wie genau Schweninger jede Einzelheit in der Lebensweise der Kranken zu erwägen weiß, zeigt das Verbot des Ringetragens. Man sehe nur die Finger an, an denen fortdauernd enganliegende Ringe getragen werden! Da findet man unmittelbar dem Ring entlang einen Wulst von abgelagertem Fett, das eben als Folge von verlangsamtem Blutumlauf durch den Druck des Ringes entstanden ist.
Allgemeine kalte Abreibungen oder Bäder widerrät Schweninger den Fettleibigen dringend, da sie bei der vorhandenen Schwäche ihres Herzens und Gefäßsystems geradezu gefährlich sind, dagegen empfiehlt er häufige Waschungen einzelner Körperstellen mit heißem sowohl als mit kaltem Wasser. Dem Laien könnte dies als ein Widerspruch erscheinen; in Wahrheit aber wird sowohl durch örtliche kalte Abwaschungen als durch örtliche heiße Bäder ein und dasselbe erstrebt und erreicht: Anregung des Stoffwechsels, bessere Blutverteilung, Steigerung des Verbrennungsprozesses im Körper und folglich Verbrauch des überflüssigen Fettes.
Einen Gegensatz zwischen Kälte und Wärme giebt es in der Heilkunst ebensowenig wie in der Physik; beide bedeuten nur Gradunterschiede, und in der Praxis soll nicht die Hauptfrage sein, ob Kälte oder Wärme, sondern: wann, wo, wieviel, wie lange, wie oft, in welcher Zusammenstellung und Abwechslung. So empfiehlt Schweninger seinen Patienten einerseits, täglich abwechselnd Brust und Bauch, oder beide Arme oder beide Beine mit kaltem Wasser abzureiben, anderseits beide Hände und Arme bis über die Ellbogen in möglichst heißes Wasser zu stecken. Das Abreiben und Abwaschen soll der Leidende selbst besorgen, nicht etwa, wie das so üblich, durch einen Badediener vornehmen lassen, denn er bedarf der Muskelthätigkeit. Desgleichen rät Schweninger, daß der Kranke sich selbst massiere. Der „geprüfte“ Masseur ist unnötig, meist wird einzig und allein der Patient selbst genügen, der – wie Schweninger treffend sagt – „seine Hände stets bei sich trägt und jeden passenden Augenblick benutzen kann, um einen Bruchteil seines Auftrages auszuführen, den der Arzt ihm zuvor in allen seinen Einzelheiten vorgemacht hat.“ Es ist dabei auch die seelische Anregung nicht zu unterschätzen, die darin liegt, daß der Kranke selber durch eigene Thätigkeit zu seiner Gesundung beizutragen lernt. Bei der Massage, dem üblichen Streichen, Drücken, Kneten, Hacken, Zwacken und Kneifen, soll ganz besonders der Bauch berücksichtigt werden, nicht nur, weil er in den meisten Fällen der Hauptsitz der Fettablagerung ist, sondern weil gleichzeitig hierdurch auf die bei Fettleibigen meist träge Darmthätigkeit eine Anregung ausgeübt wird.
Wenn Schweninger aber im allgemeinen Muskelthätigkeit und Bewegung anempfiehlt, so warnt er doch anderseits vor Ueberanstrengung. Es herrscht beim Publikum der Glaube, als könne der Fettleibige sich durch viel Bewegung des übermäßigen Fettes entledigen, und so wird auch dicken Menschen geraten, große Fußwanderungen zu unternehmen, alle Berge zu besteigen, den ganzen Tag zu rudern oder Schlittschuh zu laufen u. a. dgl. Anstrengungen auf sich zu nehmen. Leider kommt nur zu oft der Mißerfolg, wenn nichts Schlimmeres als Folge dieses thörichten Handelns sich einstellt. „Ueberanstrengung“ – sagt Schweninger – „heißt Stockung, Lähmung, mäßige Bewegung bedeutet Anregung, Belebung.“ Besondere Beachtung verdient, was Schweninger über die „Lagerung“ sagt. Er nennt das Sitzen eigentlich keine richtige Ruhe nach dem Gehen, da die Beine herunterhängen; einige Minuten in wagerechter Lage verbracht, gewähren nach einem Gange größere Erholung als ein längeres Sitzen, auch die Bauchlage bezeichnet Schweniuger als zuträglich, „sie müßte eigentlich unsere übliche Lage sein und ist uns vielleicht nur infolge der Kultur und Civilisation abhanden gekommen.“
Der wichtigste Teil der Schweningerschen Schrift betrifft die Ernährungsfrage. Ueber die Theoretiker auf dem Gebiete der Ernährungslehre urteilt Schweninger ziemlich scharf. Ihr Hauptfehler besteht nach ihm darin, daß man vergessen hat, der Mensch lebe nicht von dem, was er ißt und trinkt, sondern von dem, was und wie er verdaut und ausnutzt. Bei der Wahl der zu erlaubenden [331] Speisen und Getränke legt Schweninger zunächst Wert darauf, den Wünschen des Patienten soviel als möglich Rechnung zu tragen, trotzdem es oft notwendig ist, mit tief eingewurzelten Gewohnheiten zu brechen. Die Hauptnahrung der Fettleibigen soll bestehen aus Fleisch (jede Sorte, auch fettes Fleisch, kalt oder warm), aus Fischen, Austern, Kaviar, Krebsen, Hummern, Eiern, Käse. Als Nebennahrung dürfen Brot, Obst, Kompott, Spinat, Spargel, Kohlarten, Sauerkraut, Gurken, grüner Salat genossen werden.
Als Getränk wird Wasser und Weißwein nebst Sodawasser und Sauerbrunnen anzuraten sein. Selbstverständlich kann man unbemittelten Leuten nicht Austern, Kaviar und Hummern zu essen empfehlen; ihnen dienen als Ersatz Häringe und geräucherte Flundern, oder statt des feinen Kompotts gedünstete Pflaumen, lauter Sachen, die mit den bescheidensten Mitteln zu bestreiten sind. Als verboten sind dagegen zu betrachten: Suppen, Kartoffeln, Rüben, Maccaroni, Reis, Mehlspeisen, Butter und Fette (soweit sie nicht zur Zubereitung der Fleischgerichte und der Gemüse gehören). Von den Getränken sind streng verboten Bier, Rotwein, Milch, Kaffee, Thee, Chokolade, Kakao und Schnäpse. Da Schweninger hiermit alle die Getränke verbietet, die sonst zum ersten Frühstück genommen zu werden pflegen, so fühlt er sich bewogen, die naheliegende Frage zu beantworten „Was soll denn der Fettsüchtige zum Frühstück genießen?“ Dabei wird dann die englische Sitte befürwortet, frühmorgens eine ordentliche Mahlzeit aus etwas Fleisch, Fisch, Ei, Käse zu nehmen.
Das, was Schweninger die „Hauptnahrung“ nennt – es sind dies, wie aus dem Vorangehenden zu ersehen, die Eiweißstoffe – soll vier Fünftel der Gesamtnahrung betragen, während ein Fünftel auf die als „Nebennahrung“ bezeichneten Speisen, vorzüglich die Kohlenhydrate, zu entfallen hat.
Das Eigentümliche der Schweningerschen Diätvorschriften besteht aber darin, daß er die großen Mahlzeiten vollständig verbietet und statt dessen kleine und häufige Speiserationen empfiehlt. Er verwahrt sich dagegen, daß man seine Art der Fettsuchtbehandlung als Suppen-, beziehungsweise Wasserentziehungskur beschreibt und sie als Plagiat der Oertelschen Kur verschreit, während er in der That seine Patienten ganz nach Bedürfnis trinken läßt und ihnen nur empfiehlt, das Essen vom Trinken zu trennen. Erst eine Stunde nach dem Essen sollen sie in kleinen Mengen trinken, und zwar nur solche Flüssigkeiten, wie sie oben genannt wurden.
Die täglich notwendige Darmentleerung wäre vor allem durch gewisse Nahrungsmittel, die in dieser Hinsicht befördernd wirken, zu versuchen. Man gebe dem Patienten Obst, Fruchtsäfte, Honig, saure Milch etc., und zwar allein für sich, nicht zu den Mahlzeiten. Nur wenn dies nichts hilft, soll der Arzt mit stärkeren Mitteln eingreifen. Schweninger ist auch der Meinung, daß die Behandlung der Fettsucht in Kurorten keineswegs notwendig sei; nicht wohin man geht, sondern was und wie man es thut, ist das allein Maßgebende. Schweninger tröstet die Unbemittelten, indem er sagt: „Gesund kann ein jeder werden überall.“ Keineswegs darf es aber einem Kranken einfallen, sich selbst heilen zu wollen durch Befolgung dieser oder jener Vorschrift. Da die Beurteilung des Einzelfalles der wichtigste Grundsatz der Fettsuchtbehandlung ist, so muß natürlich jemand da sein, der diese Beurteilung vornimmt – der Arzt. Dieser hat aber auch genau zu prüfen, welche Fortschritte die Behandlung macht, er muß mit Nachdruck nicht nur den Kranken selbst, sondern auch seinen „guten Freunden und Bekannten“ entgegentreten. Diese letzteren sind es gar oft, die das Vertrauen zum Arzt erschüttern, namentlich wenn während der Fettentziehungskur das Schwinden des überschüssigen Fettes sich im Gesichte geltend macht und dieses einen oft „leidenden“ Ausdruck annimmt; da kommen dann diese „guten Freunde“ und begrüßen den Patienten mit den Worten „Wie elend sehen Sie aus!“ „Nehmen Sie sich in acht vor solchen Kuren!“ Hier muß der Arzt oft seinen ganzen Einfluß aufbieten, um alle Zweifel zu beseitigen, den schwankenden Mut wieder zu heben. Ist nach einer gewissen Zeit die Entfettung durchgeführt, dann darf der Uebergang zur gewöhnlichen Lebensweise kein schroffer sein, sondern muß ganz allmählich bewerkstelligt werden. Gewisse Erleichterungen werden gestattet, bald dieses, bald jenes Speiseverbot wird aufgehoben – es kann aber auch vorkommen, daß, wenn sich wieder eine Zunahme der Fettbildung zeigt, die ganze Strenge der früheren Lebensweise wiederhergestellt wird.
So genau und bestimmt nun auch die einzelnen Vorschriften lauten, so sehr betont der Verfasser in seiner Schrift, daß es eben nur Vorschriften in gewissen Richtungen sind, welche keineswegs für den Einzelfall die Zahl der Möglichkeiten und Nützlichkeiten erschöpfen. Diese Vorschriften als „Schweningerkur“ zu bezeichnen, darf nur der Kürze des Ausdruckes halber geschehen. Eine „Kur“, die in gewisser schablonenmäßiger Weise vom Arzte angeordnet und vom Patienten besorgt werden kann, ist nicht vorhanden – in diesem Sinne giebt es keine „Schweningerkur“.
Wisby.
Es ist noch nicht lange her, daß nur einige Fachleute Genaueres von Wisby wußten. Wohl hatten viele seinen Namen gehört, aber er klang ungefähr so dunkel und geheimnisvoll an ihr Ohr wie der des versunkenen Vineta. Erst durch Passarge erhielten wir 1867 genauere Kunde von den herrlichen Ueberresten mittelalterlicher Baukunst, welche diese deutsche Kolonialstadt auf der fernen schwedischen Insel Gotland barg. Der hansische Geschichtsverein ließ es sein erstes sein, 1871 eine Preisaufgabe über den großen Hansakrieg um Wisby zu stellen, welche Dietrich Schäfer, heute Professor der Geschichte in Tübingen, damals noch ein unbekannter Lehrer in Bremen, löste. Und je mehr sich das Dunkel der Geschichte lichtete, das über Wisbys großer Vergangenheit lag, um so mehr wuchs in vielen die Sehnsucht, diese Herrlichkeiten einmal mit eigenen Augen zu schauen. Ein hamburgischer Kaufmann, J. D. Hinsch, faßte 1881 den kühnen Entschluß, ein eigenes Schiff zu gemeinsamer Fahrt nach Wisby auszurüsten. Es waren begeisterte Geschichtsfreunde aus den Seestädten und Norddeutschland, 70 an der Zahl, mit etwa 10 Damen, die von Lübeck über Bornholm, Kalmar, Oeland nach Gotland fuhren. Eine Reihe von Reiseberichten in öffentlichen Blättern, ein eigenes Buch von Karl Braun und schließlich das sogenannte Generalstabswerk von einigen Architekten und Gelehrten der Reisegesellschaft wirkten zusammen, den Ruhm Wisbys in die weitesten Kreise zu tragen. Hurtig folgten die Dichter und beuteten den dankbaren Stoff aus: der Däne Ewald und zwei Deutsche, W. Jensen und Hans Hoffmann, verwerteten ihn in Romanen, Richard Voß bearbeitete ihn für die Bühne. Ueberall bildete, wie in Schäfers geschichtlicher Darstellung, Wisbys Eroberung durch Waldemar Atterdag den Mittelpunkt. Und ungefähr gleichzeitig verherrlichte der schwedische Maler Hellqvist „Wisbys Brandschatzung durch Waldemar“ in einem gewaltigen Gemälde.
Trotz allem, was neuerdings über Gotland geschrieben worden, ist es noch immer ein geheimnisvolles Wunderland. Die geschichtlichen Ueberlieferungen sind sehr lückenhaft oder noch nicht genügend durchdrungen worden. Stimmungsvolle Sagen müssen uns häufig aushelfen, lassen uns aber um so mehr der Wunder und Rätsel ahnen. Gotland war in uralter Zeit – so erzählt die eigene Schöpfungssage der Eingeborenen – nicht fest, sondern schwamm auf dem Meere und war so niedrig und dunkel, daß es bei Tage versank und nur nachts aus dem Meere emportauchte. Da kam ein Mensch dahin, Thjelvar geheißen, d. h. „der Arbeitende“, der machte Feuer darauf, und alsobald war die Insel fest. Thjelvar und seine Nachkommen machten das Land urbar, und es lohnte wohl der Mühe, denn es war fruchtbar und gab reichen Ertrag.
Die Erdforschung hat die Sage in manchen Zügen bestätigt, denn Gotland ist eine einzige große Kalksteinhochebene, bestehend aus vielen Millionen kleiner Schaltiere, die man noch jetzt massenhaft im gotländischen Kalkstein findet. Im Laufe vieler Jahrtausende muß die Insel allmählich emporgewachsen sein. Den steilen Felsrand der Insel nennt man die „Klint“, die hier und da bis zu 50 und mehr Meter Höhe ansteigt. An vielen Stellen ist etwas, aber nicht gar zu viel Vorland vorhanden. Eine der malerischsten Klintpartien liegt eine gute Stunde südlich von Wisby, „Högklint“ genannt. Nicht weniger malerisch ist die Klint nördlich von Wisby, in unmittelbarer Nähe der Stadt. Sie heißt der
[332]„Galgenberg“ oder die „Rabenklint“. Noch stehen die drei Kalksteinpfosten, an deren Querbalken man einst die Diebe hing. Die Lage der Insel inmitten der Ostsee brachte es mit sich, daß die Bewohner sich bald nicht mehr an Viehzucht und Ackerbau genügen ließen, sondern als kühne Wikinger, d. h. zugleich als Räuber und als Kaufleute, hinausfuhren, um Schätze zu sammeln. Mancher tapfere Seekönig liegt in Gotlands Hünengräbern gebettet. Arabische Münzen, die man zu Tausenden in Gotlands Erde fand, zeugen von dem uralten Handelsverkehr Gotlands über Großnowgorod und Byzanz nach dem Morgenlande. Und als das Christentum eingeführt war, da zogen die nordischen Pilger am liebsten über Gotland und Rußland zu den heiligen Stätten Palästinas. Selbst als durch die Kreuzzüge der Handel in andere Bahnen gelenkt worden war, blieb Großnowgorod noch immer der Stapelplatz für die Waren des Westens und Ostens und Wisby die unvermeidliche Zwischenstation, da man noch ängstlich von Landspitze zu Landspitze fuhr, um den Weg nicht zu verfehlen.
Die Stadt Wisby, an einer Einsenkung vor der Klint liegend, war die einzige auf Gotland und bald der Mittelpunkt des Ostseehandels und der deutschen Hansa. Die unternehmenden westfälischen Städte, wie Soest und Dortmund, und die neuen Ostseestädte, wie Lübeck, finden sich schon zu der Zeit Kaiser Lothars im Anfang des 12. Jahrhunderts durch wagende Männer dort vertreten. Von allen Küsten der Ostsee strömten die Kaufleute zusammen, auch die Russen. Jedes Volk hatte seine Kirche, aber die zahlreichen Deutschen hatten deren viele. An achtzehn Kirchen zählte Wisby in seiner Glanzzeit, von denen einige jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden sind, neun in majestätischen Ruinen daliegen und nur noch eine einzige von der heute etwa 7000 Seelen starken Einwohnerschaft benutzt wird. Wegen der Vielheit der Zungen und Völker gab es manchen Zwist, und man bat seinerzeit Heinrich den Löwen um einen Vogt. Aber trotz des dauernden Uebergewichts der Deutschen wußte sich die gotländische Bauernschaft vor der Germanisierung klug zu bewahren. In Wisby war ein gotischer und ein deutscher Vogt, die eine Hälfte des Rats bestand aus Deutschen, die andere aus Goten. Jede Gemeinde führte ein eigenes Siegel, die deutsche die Lilie, die gotische das Lamm. Noch heute ist das Lamm Wisbys in Gotlands Wappen, denn Gotlands Schafzucht war von alters her berühmt, erst die christliche Symbolik deutete dies Wahrzeichen in das „Lamm Gottes“ um. In Wisby war der Wechsel der Bevölkerung früher so stark, daß jeder in den Rat gewählt werden konnte, der ein Jahr Bürger war! Aber gotische Bauerngüter durfte nur der erwerben, dessen Familie durch drei Geschlechter auf Gotland ansässig gewesen war.
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land führte zu manchem Strauß. So baute man im 13. Jahrhundert rasch eine leichte Stadtmauer, die den ersten Anprall einer feindlichen Schar aushalten konnte; erst später verdickte und erhöhte man sie, und noch heute zeigen die Spitzbögen der Innenseite diese Flickarbeit. Dann wurde die Mauer mit achtundvierzig Türmen versehen, die fast sämtlich, selbst die über den Thoren, nach innen offen sind, also sogenannte „Schildtürme“ bilden. In ihrer Gesamtheit macht die fast vollständig erhaltene Befestigung noch heute einen großartigen Eindruck. Die östliche Mauer auf dem hohen Klintrand überragt mit ihren Türmen alle Häuser und Kirchen zu ihren Füßen, im einzelnen aber bemerkt man überall Spuren der Eile, mit der diese Befestigung einst aufgeführt wurde. Nur einzelne Türme haben vier Wände, wie der „Silberhut“, der einst als Münze diente.
Schöner sind die Kirchen, selbst noch in ihren Ruinen. Zwar zeigen sie nicht so zierlich durchbrochenes Maßwerk wie die rheinischen Backsteinkirchen, aber dennoch bieten sie eine überraschende Fülle reizvoller Formen, besonders im Vergleich mit dem übrigen Norden. Zu den merkwürdigsten gehört die Georgskirche, welche sich auf obenstehender Gesamtansicht der Stadt im Vordergrunde zeigt. Wie alle Georgskirchen des Mittelalters steht sie vor der Stadt und war für die Aussätzigen bestimmt. Heute dient sie den Schiffern als Seezeichen: decken sich die beiden Giebel und die Zwischenmauer vollständig, so kann man geradeaus in den Hafen steuern. Die schönste Ruine ist die von St. Katharina am großen Markt (siehe S. 329). Ihr Inneres mit den wohlerhaltenen Gurtbögen bildet das Entzücken aller Reisenden. Höchst eigenartig ist die St. Drottenkirche. Ihr riesiger Turm soll bis in die mauerlose Zeit Wisbys zurückreichen und einst als Bergfried gedient haben. Der Leser kann den Turm noch deutlicher links auf dem Bilde der Marienkirche sehen, und rechts neben der Marienkirche mit dem später aufgeklebten Laternenturm, sowie neben der Apotheke mit dem Treppengiebel erblickt er den ebenfalls bergfriedartigen Turm von St. Lars. Die beiden Kirchen sind nur durch eine schmale Straße getrennt und heißen die „Schwesterkirchen“, denn die Sage erzählt, zwei Schwestern hätten sich so wenig miteinander vertragen können, daß die eine sich eine eigene Kirche neben die Pfarrkirche gebaut habe, um nur nicht mit ihrer Schwester in dieselbe Kirche gehen zu müssen. Solche kleinen Scherze konnte man sich in Wisby schon erlauben, denn, wie ein altes Volkslied meldet:
„Mit Zentnern wägen die Goten das Gold
Und würfeln um Edelsteine,
Goldspindeln haben die Frauen hold
Und silberne Tröge die Schweine.“
Ist es da so wunderbar, daß die reiche Stadt Waldemar Ackerdag, den Dänenkönig, reizte? Uneinig wie immer, kämpfen zuerst die Bauern allein gegen ihn und unterlagen zweimal; nicht besser erging es den Bauern und Bürgern, als sie sich am 27. Juli 1361 vereinigt unter Wisbys Thoren gegen den fremden Eroberer schlugen. Und diesmal war Waldemars Sieg entscheidend. Die Sage erzählt, König Waldemar
[333]habe Wisby so ausgeplündert, daß es sich niemals wieder von diesem Schlage habe erholen können. Das ist in diesem Umfang nicht richtig. Wohl hat er es wacker gebrandschatzt, aber da er das ganze Land behielt, so blieb die Stadt selbst unversehrt. Erst 160 Jahre später, 1525, fügte es ein tragisches Verhängnis, daß Lübeck, Wisbys Nachfolgerin als Vorort der Hanse, mit seinen Geschützen die Stadt so traurig zurichten mußte, weil sie wieder einmal Freibeutern als Stützpunkt gedient hatte. Da ferner die Reformation viele Kirchen überflüssig machte, so ließ man die meisten zerfallen. Der Glanz und der Handel Wisbys aber waren für immer dahin, der alte Hafen versandete ganz und gar, und erst in diesem Jahrhundert wurde durch Dammbauten dem Meer ein neuer Hafen abgerungen. Das untenstehende Bild zeigt uns den gewaltigen Wellenbrecher, über den nur ein kleines Türmchen schüchtern sein Dach zu strecken wagt.
Weder die Stadt- noch die Landbevölkerung Gotlands hat jemals wieder die alte Thatkraft erlangt. Heiter und vergnügt lebt das Volk dahin, spielt seine herrlichen, uralten gymnastischen Spiele, woran zuweilen Mädchen und oft Greise teilnehmen, und pflegt seine Erinnerungen an die große Vorzeit des wunderbaren Eilands. Die schönen Schatzsagen Gotlands bekommen immer wieder neue Nahrung durch glückliche Funde, die dieser und jener in der jüngsten Zeit wirklich und wahrhaftig gethan hat. Warum sollen da die alten Sagen nicht auch wahr sein? Zum Beispiel die Geschichte von dem Schustergesellen Hans Turitz aus Salzwedel, der um die Zeit der Reformation ausgewanderte Wisbyer Geistliche zu Rom in ihrer plattdeutsch geführten Unterhaltung belauschte und von der goldenen Gans und ihren Jungen zu St. Klemens hörte. Er zog heim nach Wisby, hob den Schatz und wurde endlich Bürgermeister, wie noch klar und deutlich auf seiner Grabtafel zu lesen.
Besonders grübelte man viel darüber nach, wie es möglich war, daß Gotland so leicht eine Beute Waldemars werden konnte. Es mußte natürlich Verrat im Spiele gewesen sein, und geschäftig spann die Sage diesen Faden aus. Der dänische Goldschmied Niels, so hieß es, hatte dem König viel von dem Reichtum der Stadt erzählt; in dessen Hause lebte Waldemar eine Zeit lang als Geselle, und von der schönen Goldschmiedstochter erfuhr er noch mehr Geheimnisse. Auch des reichen Bauern Unghanses Tochter hielt es mit dem Feinde. Noch bis auf den heutigen Tag zeigt man an der Meerseite der Stadtmauer den sogenannten „Jungfrauenturm“, in den die Verräterin lebendig eingemauert worden sein soll.
Aber die Krone aller gotländischen Sagen bilden doch die Karfunkelsagen. Am Giebel der Marienkirche oder, wie andere lieber wollen, inmitten der Giebelrosetten der Nikolaikirche waren zwei gewaltige Karfunkelsteine eingesetzt, die gaben des Nachts so hellen Schein von sich, daß die Schiffer sich nach ihnen wie nach zwei Leuchtfeuern richten konnten. Als nun König Waldemar Wisby plünderte, da brach er auch die Karfunkel aus und wollte sie mit sich nach Dänemark führen. Aber das Schiff mit den schönsten Schätzen und den Karfunkeln ging südlich von Wisby bei den Karlsinseln unter; die kostbaren Steine ruhen seitdem auf dem Grunde des Meeres, und nur zuweilen, wenn die See recht still ist, dann kann derjenige, der ein Sonntagskind ist, an dem rötlichen Glanz des Wassers die Stelle erkennen, wo sie gesunken sind. Zu heben aber vermag sie nur der, welcher Zwillingskälber aufzieht, ohne daß sie einen Tropfen Wasser genießen. Ein gotländischer Bauer machte den Versuch, und es glückte ihm wirklich, wie er meinte. So fischte er denn mit dem Netz nach den Karfunkelsteinen. Schon wollte er sie über Bord heben, da erscholl eine dumpfe Geisterstimme aus der Tiefe des Meeres: „Das eine Kalb hat doch einmal Wasser getrunken!“ Und plötzlich sanken die Karfunkel wieder in die Tiefe, um dort zu ruhen bis zum jüngsten Tage. Noch in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts wußte jemand ganz genau die Stelle, wo die Karfunkel von St. Nikolaus liegen sollten. Es war der Schiffer Kastmann aus Ronehamn auf Gotland. Als der einst von Stockholm nach Gotland zurücksegelte, wurde er durch den Sturm nach der großen Karlsinsel verschlagen. Wie er nun so das Steuerrad hielt, sah er plötzlich, wie sich die Magnetnadel mehreremal im Kreise herumdrehte. „Halt!“ dachte der findige Seemann, „hier müssen große Metallschätze in der Tiefe verborgen sein, die solche Kraft auf die Magnetnadel üben, hier müssen auch die Karfunkel liegen!“ Er merkte sich auf seiner Seekarte die Stelle mit einem Punkt an, ließ wohl hier und da ein Wörtchen davon fallen, daß er wisse, wo die Schätze liegen, hütete sich aber weislich, jemand den Ort zu verraten. Indessen, bevor er noch dazu kam, die Schätze selbst zu suchen, versank in einem Sturm sein Schiff, der Schiffer dazu und leider auch – die Seekarte! Und nun weiß wiederum niemand, wo die Karfunkel liegen.
Auch über die Herkunft der Steine weiß man Wunderbares zu erzählen. In alten Zeiten sah man von der Südspitze Gotlands allnächtlich ein merkwürdiges Tier aus dem Grunde des Meeres emporsteigen und mit einem wunderbaren Stein spielen, der selbst in der Nacht leuchtete mit überirdischer Helligkeit. Zuweilen warf das Ungetüm den Stein hoch in die Luft und fing ihn dann wieder auf. Aber dabei fiel einst der Stein hart auf das Land nieder und brach mitten durch. Die Strandbewohner bemächtigten sich der beiden Hälften und setzten die strahlenden Steine in die Mauer der Kirche von Sundre. Nach vielen Jahren wurden sie von dort nach Wisby gebracht, um hier den Giebel von St. Nikolaus zu zieren, während an der Stelle der Kirche zu Sundre, wo einst die Karfunkel gesessen hatten, zwei Mühlsteine eingesetzt wurden. In der That sind zwei Mühlsteine in der südlichen Mauer der Kirche noch bis auf den heutigen Tag zu sehen.
Dieser Mythus wird so gedeutet: die Karfunkelsteine bedeuten den großen Reichtum Gotlands in alter Zeit. Der Reichtum kam vom Meere, und das Meer nahm ihn wieder in sich auf, als [334] Waldemars Schiffe mit den geraubten Schätzen bei den Karlsinseln untergingen. Wie die beiden Steine anfänglich ein Ganzes bildeten und erst später sich trennten, so wurde der gotländische Freistaat, der zuerst einig war, durch Zwistigkeiten gespalten in Stadt und Land. Der Reichtum gehörte zuerst dem ganzen Lande, aber der Handel zog den Reichtum in die Stadt. Als räuberische Hände der Stadt Wisby, dem Liebling des Meeres, die Schätze entrissen, da versanken sie wieder ins Meer, woher sie stammten. – So bekommt die Sage von den Karfunkelsteinen einen tiefen Sinn.
Selbst die Historiker, die doch den Poeten gegenüber die geborenen Zweifler sind, stehen ehrfurchtsvoll still vor dieser Sage. Nicht alle von ihnen verwerfen das Karfunkelleuchtfeuer schlechthin, indem sie meinen, die klugen Mönche von St. Nikolaus hätten auf irgend eine natürliche Weise rotes Licht am Giebel ihrer Kirche angebracht, es mit einem gewissen geheimnisvollen Nimbus umgeben und den naiven Glauben der Menge begünstigt. Merkwürdigerweise hat von den Dichtern, welche sich in neuerer Zeit an den wunderbar poetischen Stoff von Wisbys Fall herangewagt haben, keiner die Sage von den Karfunkeln benutzt, nicht einmal als begleitenden Umstand. Ja, ja, selbst für die Dichter ist es schwer, die Stelle zu finden, wo die Karfunkel liegen, und sie zu heben!
Kamphausen begann zu erzählen. „Ein portugiesischer Schoner
nahm mich auf. Der junge Görnemann, den ein spanisches
Schiff rettete, hat die Nachricht von meinem Tode verbreitet –
er konnte nichts anderes annehmen, als daß ich verloren war. Er
ist ja Augenzeuge davon gewesen, wie die ‚Nixe‘ in die Tiefe gerissen wurde und ich mit ihr. Und niemand aus dem Schoner hat
wissen können, wer ich war, die Uniform hatte ich im letzten Augenblick vor der Katastrophe abgeworfen. Die portugiesischen Seeleute
haben einen Körper in den Wellen treiben sehen, den ein Hund
vorn an der Brust gepackt hielt und mit aller Anstrengung seiner
Kräfte vor dem Untersinken bewahrte – das waren Korsar und ich!“
Der Leonberger hob aufmerksam den Kopf, als er seinen Namen hörte.
„Ja, ja, Du hast’s gethan, es ist von Dir die Rede!“ Ein schwaches Lächeln, bei dem die Augen ebenso müde und schwermütig blickten wie zuvor, spielte um Kamphausens Lippen. „Sie haben mich vom Rettungsboot aus mit Schiffshaken herangezogen, mich hielten sie für tot, aber der schöne tapfere Hund dauerte sie, den wollten sie retten. Er hat mich nicht losgelassen, in die Reste von Kleidungsstücken, die ich noch an mir hatte, hatte er sich festgebissen – sie haben ihn mit mir zugleich an Bord heben müssen. Ich weiß nichts von allem, was mit mir geschah, nichts. Ein hitziges Fieber ergriff mich, und zwar so schwer, daß der Schiffsarzt meinen Fall hoffnungslos nannte. Trotzdem brachten sie mich noch nach Lissabon und dort in ein Lazarett .... es hatten sich schwere innere Verletzungen herausgestellt, die der Schiffsarzt entweder nicht erkannt oder zu oberflächlich behandelt hatte. Im Lazarett operierten und kurierten sie an mir herum .... endlich blieb meine starke Natur Siegerin. Dabei aber erkannte ich niemand, niemand wußte, wer ich war. Nach langer langer Zeit kam ich dann zu Bewußtsein, erführ, wo ich war, und konnte sagen, wer ich sei. Es war unbedingte Ruhe für mich notwendig und mein Geist noch unsäglich schwach; ich schlief tagelang vor Mattigkeit, und war ich wach, dann konnte ich nicht denken, mir nichts zusammenreimen. Endlich war ich so weit, um an meinen Freund Leupold schreiben zu können, wenige Zeilen nur, die mich namenlos angriffen und aufregten. Aber heimlich hatte der Arzt gleichfalls geschrieben und gebeten, mir jede aufregende Mitteilung zu verschweigen, das Fieber sei mit unendlicher Mühe gebändigt und jede neue Erregung könne die bedenklichsten Folgen haben. So sagte mir die Nachricht, als sie endlich kam, nichts von dem, was für mich die Hauptsache war. Und da packte mich die Unruhe so gewaltig –“
Kamphausen hielt inne, offenbar in der Furcht, zuviel zu sagen. Niemand unterbrach die bange Stille, die nun eintrat, man vernahm nur das Summen und Schnurren und den Kinderjubel von der Promenade her.
„Man sah nun wohl ein, daß dieser Zustand gleichfalls nicht das Richtige für mich war,“ fuhr der Kapitän fort, „man gestattete daher, daß ich noch einmal schrieb. Jetzt endlich erhielt ich Aufklärung – es war inzwischen Winter geworden.“
Ein neues Stocken, eine neue Pause, länger als zuvor. Was war jetzt eigentlich noch zu sagen? Kamphausen hätte noch hinzufügen können, daß des alten Leupold Brief, der die Nachricht von Ilses Heirat enthielt, seinen Zustand bedeutend verschlimmerte und den schon Genesenden wiederum an den Rand des Grabes brachte. Selbstverständlich verschwieg er das. Was sollen sie damit? dachte er bitter. Kann mein jammervolles Los ihnen irgendwie wichtig sein?
„Da ich immer noch zu schwach war, um allein reisen zu können, so blieb ich einstweilen in Lissabon, bis ich stark genug war, die Fahrt nach Kairo anzutreten, mein Arzt hielt einen längeren Aufenthalt daselbst für unumgänglich notwendig, da meine Lungen seit der langen Krankheit nicht mehr die stärksten waren. Ich ging also nach Agypten, von dort hierher – bis es in Deutschland Sommer wird, soll ich mich an der Riviera aufhalten. Ich hoffe dann auf eine Stelle an der Kaiserlichen Marineakademie in Kiel, denn ich fürchte doch, ich werde nicht mehr imstande sein, ein Schiff zu führen. Das sind meine Schicksale gewesen. Ich habe mehr von mir und meinen Erlebnissen sprechen müssen, als ich dachte und wollte – verzeihen Sie mir! Die Hauptsache bleibt: ich wollte Ihnen beweisen, daß ich ahnungslos hierhergekommen bin; ich glaubte Sie in Rom und habe es absichtlich vermieden, diese Stadt auf meiner Reise zu berühren, weil ich fürchtete, der Zufall könnte ein Wiedersehen herbeiführen.“
Er sagte das alles zu Montrose gewandt. Immer noch keinen Blick, kein Wort für Ilse! Dann erhob er sich rasch. „Ich darf die Gewißheit mit mir nehmen, daß ich nicht mißverstanden worden bin?“ fragte er leise.
„Wie wäre das möglich, Herr Kapitän! Ist es nicht selbstverständlich, daß Sie dies peinliche Zusammentreffen aus allen Kräften zu vermeiden bemüht waren? Wir würden uns Ihre Verzeihung erbitten, wenn wir uns nicht sagen müßten ....“
„Kein Wort weiter, Herr von Montrose! Wir haben uns Gottes Willen zu unterwerfen.“ Kamphausens Haltung war stolz, als er dies sagte, und seine Stimme klang fest. Er war eine schlichte Natur, alles Theatralische war ihm verhaßt – er wollte keinen pathetischen Abschied nehmen. „Ich wünsche Ihnen beiden eine glückliche Heimreise und eine segensreiche Zukunft!“
Montrose hielt ihm die Hand hin, mit einem bittenden Blick auf Ilse – hatte er denn gar kein Mitleid mit ihr? Es zuckte in Albrechts Mienen, aber er überwand sich. Er legte seine Hand in Montroses dargereichte Rechte und berührte Ilses Finger für einen flüchtigen Augenblick. Dann lüftete er noch einmal den Hut und ging die Stufen hinunter, ohne sich umzusehen. Aber am Fuß der Terrasse mußte er stehen bleiben, denn er wurde gewahr, daß ihm Korsar nicht folgte. Mit seinem leisen bittenden Winseln schmiegte sich das Tier an Ilse und sah mit seinem klugen Blick zu ihr empor. Doch die junge Frau drängte mit beiden Händen Korsars Kopf zurück und sah von ihm fort in die Luft – sie konnte diesen treuen bittenden Blick nicht ertragen.
Ein kurzer Pfiff Kamphausens und der Hund schlich zögernd seinem Herrn nach. Noch einmal kam er zurück, bellte laut auf und sprang stürmisch an Ilse in die Höhe, da erscholl ein herrisches: „Korsar! Zu mir!“ und jetzt gehorchte das Tier. Es warf den Kopf zurück und stieß einen langen Klagelaut aus, aber es folgte seinem Herrn, während Montrose sich besorgt über Ilse beugte und ihre kalten zitternden Hände in die seinen nahm.
Eine freundliche Frühjahrssonne lugte goldäugig durch Kapitän Leupolds blanke kleine Fensterscheiben. Es hatte sich im Innern des seltsamen kleinen Häuschens nichts geändert, trotzdem mehr als vier [335] Jahre nach den zuletzt erzählten Ereignissen hingegangen waren. Die „Kajüten“ waren alle in musterhafter Ordnung, die überseeischen Seltenheiten hingen und standen an den Wänden umher. Hinten im Gärtchen, das Jan Grenboom sorgsam bestellt hatte, blühten Aurikeln und Maiglöckchen auf. Ein süßer frühlingstrunkener Hauch lag in der Luft.
Im „Achterdeck“ leuchtete die „büßende Magdalena“ verführerischer denn je; Sonnenstrahlen lagen auf ihrem rotgoldenen Haar, auf ihrer weißen Brust. Auf dem Fensterbrett hockte Dido mit mürrischer Miene und ballte eine kleine Faust, sowie jemand von der Straße ins Zimmer sah. Sie wurde alt und war meistens schlechter Laune – „wenn Frauenzimmer alt werden,“ philosophierte Kapitän Leupold zuweilen bei Didos Anblick, „dann taugen sie erst recht nichts!“ Heute besaß aber der Kapitän keine Lust, zu philosophieren. Nicht weniger schlecht gelaunt als Dido, saß er im „Achterdeck“ und warf, sowie Jan Grenboom sich blicken ließ, diesen zur Thür hinaus, bei ihm allemal ein Zeichen innerer Aufregung. Endlich gegen Mittag läutete es Sturm aus dem „Achterdeck“. Jan, der in der Küche Weinflaschen spülte, nahm sich kaum Zeit, die nassen Hände abzutrocknen, und humpelte hastig nach hinten.
„Wo steckst Du denn, alter Pottfisch? Dauert ja ’ne Ewigkeit, bis Du zu erscheinen geruhst!“
Der „Pottfisch“ blieb auf diese ungerechte Anklage die Antwort schuldig.
„Na, also! Die Uhr ist gleich elf – gegen halb Zwölf kann er da sein! Frühstück auftragen!“
„Frühstück?“
„Ja, Frühstück, Frühstück! Sind wir etwa plötzlich taub geworden? Den Xeres holst Du aus’m Keller, den alten Spanier, links hinten, Du weißt’s ja, und servierst auf dem chinesischen Porzellan – gegen halb Zwölf kann er da sein.“
„Wer?“
„Der Kaiser von China! Verstanden? Wird die alte Teerjacke noch neugierig! Wer! ’s ist doch zum .... Der Albrecht Kamphausen – damit der Herr Premierminister es wissen! Ja, nun kann er grinsen von einem Ohr bis zum andern!“
Jan grinste in der That.
„Und noch eins! Wenn er Dich etwa draußen zuerst abfängt und Dich fragt, wie es mir jetzt geht, dann kannst Du sagen: besser, ’n gut’ Teil besser, aber ’s wär ’ne Zeit lang miserabel gewesen mit mir. Ich hab’ ihm nämlich geschrieben, ich sei krank.“
„Krank?“
„Ja! Krank, du verrücktes altes Echo!“ brüllte der Kapitän mit Donnerstimme. „Dazu hab’ ich meine Gründe gehabt! Zum Vergnügen hab’ ich ihm das nicht geschrieben – ich hab’ ihn hierher haben wollen, und anders wär’ er mir nicht gekommen! Wenn ich lüg’, dann weiß ich wenigstens, wofür! Verstanden? Und nun fort und ’was Anständiges angezogen! Siehst ja aus wie’n altes Waschweib!“
Jan Grenboom besah seine nasse Schürze und nickte. Ja, das sah er ein, wenn Kapitän Kamphausen kam, dann mußte alles „vom besten Ende“ sein, das Essen, das Trinken und auch der Anzug. Aber daß sein „Alter“ so log! Und wozu log er? Davon hatte Jan Grenboom keine blasse Ahnung.
„Fix, fix! Wird’s bald? Steht da und glotzt mich an! Soll ich Dir vielleicht Beine machen? Hab’ selbst alle Hände voll zu thun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht!“ Damit fing Leupold an, im Zimmer herumzuwirtschaften, als wollte er das Unterste zu oberst kehren. Jan sah ihm eine Weile in phlegmatischem Erstaunen zu und trollte dann mit einem dumpfen Gebrumm von dannen.
„So!“ sagte Erich Leupold, als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte. „Den wären wir glücklich los! Neugierig ist der Kerl wie ’ne Nachtigall und geschwatzt hat er heut’ wie ’ne Elster. Wenn der wüßte! Na, das fehlte bloß noch, wo ich selber so ’ne Hundeangst hab’, daß die ganze Geschichte fehl geht!“ Er holte eine feine türkische Decke aus einer altdeutschen Truhe und legte sie über den Tisch. „So, das sieht hübsch aus! Und dies Bild muß hierher, das andere daneben – recht augenfällig, damit er’s ja nicht übersehen kann. Was er dazu sagen wird? Und ob er überhaupt was sagt?“ Er setzte zwei große Photographien in metallenen Stehrahmen auf den Tisch. Die eine zeigte einen bildhübschen jungen Marineoffizier, die andere eine schöne Frau in Trauerkleidung, ein lachendes Kind auf den Knien haltend. Der Kapitän nickte diesem letzteren Bilde ermutigend zu. „Ein heilloses Wagestück ist’s, kann so ausfallen, daß ich an der Hälfte genug krieg’ – kann aber auch zwei Menschen glücklich machen. Und darum lohnt’s doch! Sie hat ihn ja immer liebgehabt und nie ’ne Stunde vergessen, so brav sie auch gegen ihren Mann war. Denn der Albrecht, das war doch der Rechte und der Einzige für sie – das hat sie mir ja selbst zugegeben, zugeben müssen, ob sie wollte oder nicht, wie ich sie gefragt hab’. Und immer rosenrot übers ganze Gesicht, sobald ich seinen Namen nenne! Sie nimmt ihn, nimmt ihn wahr und wahrhaftig – bloß, er muß sie haben wollen, um sie werben! Sie kann doch nicht kommen und sich ihm, paff, mit Kind und Kegel an den Hals werfen, er muß doch anfangen! So gehört sich’s! Er muß anfangen!“
Der Kapitän ging zu einem japanischen Schränkchen und nahm feine bunte Weingläser heraus. Dann schritt er, die Hände in den Hosentaschen, um den Tisch herum und blieb von neuem vor dem Bilde der jungen Frau stehen. „Mancher Mann sagt ja“, nahm er seinen unterbrochenen Monolog wieder auf, „er will keine Witwe. Aber wenn’s nur die richtige Liebe ist .... ob Witwe oder nicht .... dann ist alles ein Teufel!“
Jan Grenboom erschien mit dem Frühstück. Leupold goß zwei Weingläser voll und stieß mit Jan Grenboom an. „Trink’, alte Wasserratte! Auf glückliches Gelingen meines Planes – austrinken!“ Der alte Matrose besorgte das gewissenhaft und leckte sich beifällig die Lippen.
„Läutet’s da nicht? Auf Deinen Posten Jan, und Du sagst, was ich Dir eingebläut hab’! Ich muß doch meine Rolle als ’n Halbkranker spielen! Den Lehnsessel her und die indische Decke! Weg mit Euch, Dido und Cato – will das infame Geziefer wohl gleich gehorchen! Ich bin so aufgeregt, daß mir lauter schwarze Kugeln vor den Augen tanzen. So! Nun laß’ ihn in drei Teufelsnamen kommen!“
Draußen hörte man Albrecht Kamphausens wohlklingende Stimme. „Guten Tag, Jan! Wie steht’s mit dem Kapitän? Ist der Arzt bei ihm? Es ist doch nicht schlimmer geworden?“
Jan brummte etwas von „miserabel“ vor sich hin, seiner Anweisung getreu, und der alte Leupold zog drinnen im Zimmer die Decke fester um sich und murmelte ingrimmig: „Niederträchtige Komödie!“
„Aber ich darf ihn doch sehen? Ich darf doch zu ihm? Ist er ganz allein?“
Jan mußte wohl genickt haben, denn gleich darauf pochte es an die Thür. Der Kapitän räusperte sich; das „Herein!“ wollte ihm beinahe in der Kehle stecken bleiben. Im nächsten Augenblick trat Albrecht Kamphausen ein. Er sah nicht mehr so krank und angegriffen aus wie vor vier Jahren. Sein kraftvoller Körper hatte den Stoß, der manchen andern zu Boden gestreckt hätte, mannhaft ausgehalteu, und wenn er eine kleine Schwäche in den Lungen zurückbehalten hatte, so sah man ihm davon nichts an. Er war jetzt wieder der schöne stattliche Mann, der vor Jahren Ilse von Doßbergs Herz im Sturm erobert hatte – nur ein wenig ernst und streng sah er aus.
Mit drei Schritten war er neben seinem alten Freund, beugte sich zu ihm herab und nahm seine Rechte liebevoll in beide Hände. „Was machst Du mir denn für Streiche, Kapitän? Ich hab’ keinen kleinen Schreck bekommen, als ich Deinen Brief las. Krank zu werden! Was fehlt Dir denn? Dein altes Leiden?“
Dem alten Leupold war wirklich miserabel zu Mut unter dem forschenden Blick dieser treuen blauen Augen. Er verstand es erbärmlich schlecht, zu lügen, und hatte sich in der Theorie die ganze Sache sehr viel leichter gedacht. In der Praxis fand er sie fast unmöglich, er war drauf und dran, aufzuspringen, Kamphausen zu umarmen und auszurufen: „Junge, ich hab’ Dir Wind vorgemacht, ich bin ebenso gesund wie Du, ’s ist alles gelogen!“ Zum Glück besann er sich, daß das seinen schönen Plan rettungslos verderben hieße, und so entschloß er sich mit einem schweren Seufzer, dem Verhängnis seinen Lauf zu lassen.
„Ach, Kapitän, mach’ nicht soviel Wesens davon!“ sagte er mit schwacher Stimme – seine Aufregung brachte das ganz natürlich zuwege – „was wird’s denn groß sein? So allerlei – dies und das –“
„Aber Du siehst wirklich angegriffen und verändert aus!“
„Thu’ ich das?“ fragte der alte Leupold schuldbewußt.
„Ja, gewiß, und sprichst auch anders als sonst!“
„Wahrhaftig? Ja, siehst Du, Kapitän, ’s ist mir auch in [336] diesem Augenblick hundsmiserabel. Na, setz’ Dich und gieß’ für Dich und mich ’n Glas Xeres ein. Edler Tropfen, kann ich dir sagen!“
„Du darfst also Wein trinken?“
„Und ob! Ohne Wein kein Leben für mich!“
„Was sagt denn Morschewsky? Wie berurteilt er Deinen Zustand?“
„Ach – na, was soll der sagen? Was heißt Zustand beurteilen! ’s ist ja nichts!“
„Unsinn! Du mußt Dich pflegen und schonen, Kapitän, Du darfst bei Deiner Krankheit –“
„So hör’ doch endlich ’mal mit meiner Krankheit auf!“
„Aber deshalb bin ich doch hergekommen!“
„Bloß deshalb? Sonst gar kein Verlangen, mich zu sehen nach so langer Zeit? Hm!“
„Das schon, Kapitän, aber Du weißt, vielmehr, Du wirst Dir’s denken können, daß ich ohne zwingende Veranlassung nicht hierhergekommen wäre.“
„Sehr schön von Dir, doch zu kommen. Nimm’s nur nicht übel, daß ich jetzt nicht gleich sterbe – man kann das wirklich nicht so genau berechnen!“
Albrecht lächelte. „Nein, ich nehm’ es nicht übel. Es ist mir so doch am Ende lieber!“
„Mein Testament ist beim Gericht hinterlegt – alles bis aufs Tüpfelchen geordnet. Nun setz’ Dich endlich her und red’ von Dir!“
„Du darfst Dich also unterhalten?“
„Ja, zum Teufel! Darf, darf! Hat sich ’was! Also red’ von Dir!“
„Da ist nicht viel zu sagen. Es geht mir gut.“
„Hm! Das hör’ ich gern! Ganz gut?“
„Dienstlich, gewiß! Ich gebe Unterricht – Du weißt ja – an der Marineakademie in Kiel. Zu Anfang wollte es mit dem Stubensitzen und Stundengeben nicht so recht vom Fleck, mir fehlte das Meer, das Kommando, kurz, der ganze Seekapitän. Aber als ich meine Vernunft zu Hilfe nahm und mir sagte: das muß sein, da wurde es denn auch, und ich kann nicht anders sagen: jetzt macht mir’s Freude, und ich hab’ auch Erfolg, bin kein schlechter Lehrer. Die jungen Leute hängen an mir, und ich nehme viel Anteil an ihnen. Und doch – ein Heimweh nach der See und nach den Schiffsplanken unter meinen Füßen, das wird mir, fürcht’ ich, bleiben bis an mein Lebensende.“
„Glaub’ ich Dir, Kapitän! Was meint denn der Arzt? Will er Dich nicht wieder aktiv werden lassen?“
„Nein! Ich hab’ zur Sicherheit mehrere gefragt in Kiel, in Hamburg, tüchtige bedeutende Männer, Spezialisten ... sie kamen alle darin überein: mit dem Kapitänsein ist’s zu Ende, die Lungen sind nicht mehr taktfest – aber was red’ ich Dir denn das alles vor, Kapitän? Ich hab’ Dir ja immer ausführlich von allem geschrieben zum Lohn für Deine berühmten Episteln im Telegrammstil!“
„Was? Telegrammstil? Warum?“
„Kann man Deine Briefe anders bezeichnen? ‚Bin gesund‘ oder ‚bin krank – das und das ist passiert!‘ Punktum. Aus ist’s!“
„Ja, was wolltest Du denn sonst noch von mir wissen, Kapitän?“
Albrecht strich langsam seinen braunen Schnurrbart. „Nun doch so allerlei! Wenn man auch für seine eigene Person an – an manche Menschen keinerlei Ansprüche mehr erhebt und darauf verzichtet hat, in irgendwelche Beziehungen zu ihnen zu treten – wissen möchte man am Ende doch, wie sie leben, wie es ihnen geht, und so wär’ es denn von Dir – ah!“ Er hatte während des Sprechens eine rasche Bewegung gemacht und sah nun erst die beiden großen Photographien.
Kapitän Leupold, der mit innerer Spannung auf diesen Augenblick gelauert hatte, mühte sich, ganz unbefangen auszusehen. „Ach so, die Bilder! Ja, die hab’ ich immer da stehen.“
Kamphausen nahm eine der Photographien in die Hand und betrachtete sie schweigend. Seine starken Brauen waren zusammengezogen, um den Mund bildete sich ein finsterer Zug. „Das ist sie!“ sagte er endlich und setzte das Bild vorsichtig wieder hin.
„Die Prinzeß Ilse, ja!“ entgegnete Leupold gleichmütig. „Und das ist ihr Junge, der Erbe von ‚Perle‘.“
„Ein schönes Kind.“
„Ach was, immer sagen sie alle: schön! Na ja, ’s ist wahr, er gleicht seiner Mutter aufs Haar, ’s ist förmlich zum Lachen, und von den Montroses hat er nichts abgekriegt. Aber die Hauptsache bleibt doch: gesund ist die Krabbe und klng ist sie! Sieh’ Dir auch ’mal den Bengel, den Armin an! Hübsch breit ausgelegt und gut im Stand, was? Und ’n tüchtiger Offizier zur See, alles, was wahr ist!“
Kamphausen nickte zerstreut. Es kam eine Stockung in daa Gespräch.
„Wolltest Du nicht vor ’ner Weile ’was zu mir sagen, Kapitän, als von meinen kurzen Briefen die Rede war? Du fingst ’nen Satz an –“
„Ganz recht!“ Es schien Albrecht lieb zu sein, daß der alte Leupold darauf zurückkam. „Ich wollte Dir sagen, daß Du mir wohl etwas weniger sparsame Mitteilungen hättest liefern können in Bezug auf – auf sie!“ Er sah nach dem Bilde hin.
„Ja, mein Sohn, wie sollt’ ich das wohl, nachdem sie“ – der alte Leupold sah ebenfalls nach dem Bilde – „nachdem sie mir gesagt, Du hättest sie damals in Mentone wie ’ne Verbrecherin behandelt.“
„Das hat sie gesagt? Wörtlich?“
„Na, ob nun wörtlich oder nicht – ’was Aehnliches war’s, was sie sagte! Sie hat dazumal steif und fest geglaubt, Du wärest tot – und ich, nimm mir’s nicht übel, hab’ das ebenfalls geglaubt. Und so hielt sie sich für verpflichtet, dem Alten, mit dem es ganz nach Matthäi am letzten aussah, das Leben zu retten, und da nahm sie diesen Montrose. Was sie das gekostet hat, sieh ’mal, das weiß ich und ich hab’ Dir’s damals auch, so gut ich konnte, geschrieben. Du aber gehst hin und behandelst das arme Ding in Mentone so! Und da sollt’ ich die Courage haben, Dir allerlei Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen?“
Kamphausen blickte finster zu Boden und atmete schwer. „Ich konnte es nicht aushalten, sie an eines andern Mannes Seite zu sehen!“ sagte er in gepreßtem Ton.
„Das nehm’ ich Dir nicht übel; ’n vergnüglicher Anblick kann das nicht für Dich sein. Aber nun denk’ Dir ’mal aus: wie wird ihr zu Mute gewesen sein? Und was hat sie wohl empfunden, als Du da mit einem Mal auftauchtest?“
„Hat sie es Dir gesagt?“
„Die? Mir? Wird sich hüten! Die hat den Leupoldschen Charakter: tragen, was nicht mehr zu ändern ist, ohne lange Redereien und ohne Geschrei und Geheul! Das hat sie von mir, ganz offenbar, nicht van ihren Herren Eltern. Aber ich kenn’ sie – ich hab’ lesen können in dem Gesicht, also, ich weiß, was ich weiß.“
„Als Du mich vor ein paar Jahren in Kiel besuchtest, Kapitän, da hast Du ihren Namen kein einziges Mal genannt.“
„Wie soll ich das wohl, wenn Du damit nicht den Anfang machst! Damals lebte ja auch Montrose noch, war eben der Stammhalter und Erbe der ‚Perle‘ geboren, alles eitel Glück und Seligkeit – so von außen mein’ ich, so obenhin! Und da sollt’ ich kommen und Dir solche Sachen erzählen, Dir, der ’n Gesicht hatte wie ’ne Wetterwolke, wenn ich bloß ’mal gelegentlich den Namen Doßberg aussprach?“
Kamphausen blieb die Antwort auf diese Frage schuldig. Es entstand ein neues Schweigen, nur Cato, der auf seiner Stange hockte, sprach tiefsinnig in sich hinein: „Verrückte Welt! Verrückte Welt!“
„Jetzt aber,“ fing Albrecht zuletzt von neuem an „jetzt, Kapitän, könntest Du mir wohl einiges Nähere mitteilen – das heißt, nein, Du hast schon so viel und so lebhaft gesprochen, ich habe Deine Krankheit ganz vergessen, es könnte Dir schaden. Soll ich am Ende jetzt gehen und lieber gegen Abend wiederkommen?“
„Na, das fehlte noch! Ums Himmelswillen, Mensch, bleib’ sitzen und red’ keinen Unsinn!“ Leupold packte seinen Gast beim Aermel, um ihn nötigenfalls mit Gewalt festzuhalten. „Ist ja alles dummes Zeug – das heißt, ich mein’, man muß nichts übertreiben. Bin ja keine Prinzessin, aus Mondschein und Lilienduft gewoben, sondern ’ne wetterfeste alte Teerjacke. Die hält schon ’was aus! Das Reden thut mir gut. Ich – ich hab’ heut’ ’nen günstigen Tag. Also – was soll ich Dir erzählen?“
„Alles, was seither geschehen ist. Zunächst – wie war eigentlich die Ehe? Es war doch ein ungleiches Paar! Hieltest Du die beiden für glücklich?“
Leupold zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Glücklich – glücklich, lieber Kerl, das ist so ’n eigener Begriff, davon hat, möcht’ ich sagen, jeder seine besondere Auffassung. Was für den einen ’n wahrer Segen ist, wird für den andern zum Fluch. Er war glücklich, soweit ich das Verhälnis durchschauen konnte.
[337][338] Er hatte entschieden vorher schon einmal um Ilse geworben – sie hat mir kein Sterbenswort davon gesagt, aber diese plötzliche Uebersiedelung von ihr und dem Alten hierher, während sie doch wußte, der Alte könne eigentlich ohne seine ‚Perle‘ nicht leben – na, es war nicht schwer, sich ’nen Vers drauf zu machen. Damals natürlich lauerte sie noch auf Dich, und wenn der Selbstherrscher aller Reußen dazumal um sie gefreit hätt’, er würd’ sich ’nen Korb geholt haben. Als aber dann die Nachricht vom Untergang der ‚Nixe‘ kam und der gottverdammte Schlingel, der Rolf Görnemann, uns beiden Deinen Tod sozusagen verbriefte und versiegelte und nun noch Morschewsky mit seiner Weisheit dazukam und dem Alten Leib und Leben absprach, wenn er nicht schleunigst nach ‚Perle‘ zurückkäme – ja, da war kein Halten mehr. Eigentlich weißt Du das aber schon alles, denn das hab’ ich Dir damals geschrieben, als Du Dich schriftlich bei mir gemeldet und Dich zu den Lebenden bekannt hattest.“
Albrecht nickte.
„Trink’ ’nen Schluck Xeres drauf und gieb mir auch ’nen Tropfen – so! Du bist immer noch kein richtiger Weintrinker, wirst auch jetzt schwerlich mehr einer werden. Also ja, sie nahm ihn, und das kann ich Dir sagen, wenn etwas im Leben rührend anzusehen war, dann war es das Glück dieses Mannes. Er ging umher wie verklärt, gab, gab mit vollen Händen, war freundlich geworden, gesprächig, liebenswürdig – der Mann war wie ausgetauscht! Ilse durfte gar nichts dazu thun, weder streicheln, noch schmeicheln – das that sie auch nie – sie brauchte bloß dazusein, dann war ihm schon alles gut und schön.“
„Und sie? Glaubst Du, daß sie glücklich gewesen ist?“ „Ich glaube, sie hat sich zu Zeiten eingebildet, es zu sein. In so ’ner großen Gefühlsaufwallung hatte sie ihn genommen, und Gefühlsaufwallungen hat sie noch manchmal gehabt, und da hat sie sich dann vorgeredet, glücklich zu sein. Wenn sie von all der Liebe und Anbetung ihres Mannes nicht wäre gerührt worden, hätt’ sie auch kein Herz im Leibe gehabt. Und als nun der ‚Kronprinz‘ erschien, da sah ja die Sache vollends wie eitel Glück aus. Und doch, Kapitän, hab’ ich gemerkt, daß sie nicht im innersten Herzen glücklich war. Sie war immer gut und rücksichtsvoll gegen ihn, o ja, daran hat’s nie gefehlt, aber konnte sie, mit ihren einundzwanzig Jahren, ’nen Sechziger lieben? Ich hab’s gesehen, wenn sie ihn begrüßte, auch dann gesehen, wenn sie sich beide ganz allein miteinander glaubten – ihren Papa hätt’ sie nicht kindlicher begrüßen können als diesen ihren Ehemann!“
Kamphausen sagte kein Wort. Er saß tief in Gedanken da; der alte Kapitän sah ihn von der Seite an und nippte von seinem Xeres.
„Die Tochter ist verheiratet, nicht wahr?“ fragte Albrecht endlich zerstreut.
„Jawohl, an so ’nen holländischen Mynheer – der wird recht seine Freude an ihr haben! Sie hat ihn in Paris aufgegabelt und bald nach ihres Vaters Hochzeit feierte sie ihre eigene. Man hört selten von ihr, schadet auch nichts – meine Liebe war sie nie. Nach ihres Vaters Tode hat sie ihr Erbteil ausbezahlt bekommen – ’n hübscher Posten war’s – und damit Holla! Ihr lieber Bruder hat eine Unmasse Schulden hinterlassen und liegt im Park zu ‚Perle‘ in dem pompösen neuerbauten Mausoleum der Montrose begraben.“
„Und der kleine Knabe entwickelt sich gut?“
„Bis jetzt brillant, der Wahrheit die Ehre! Die Ilse, seitdem sie Witwe geworden ist, zieht ihm die Zügel straffer. Ich hab’s ihr gesagt, und sie hat’s eingesehen: aus ’nem verzogenen Bengel wird nichts Rechtes. Jetzt gehorcht er auf den Wink. Nur der alte Doßberg verwöhnt ihn hier und da – der ist bis über die Ohren verliebt in den Enkel. Uebrigens die ‚Perle‘ bewirtschaftet er für ihn – alle Achtung! Jetzt ist’s wieder ein Gut ersten Ranges. Der Alte hat aber nicht eher Ruhe gegeben, als bis der Junge von unserem Landesherrn die Erlaubnis bekommen hat, dermaleinst sich von Montrose-Doßberg zu nennen und seinem eigenen Familienwappen das der Doßbergs hinzuzufügen.“
„Und wie war es mit – mit Montroses plötzlichem Tode? Du schriebst mir darüber nur in Deiner bekannten Kürze, und in der hiesigen Zeitung, die ich mir in Kiel halte, war der Unfall auch nur mit wenigen Worten erwähnt: ‚mit dem Pferde gestürzt‘, aber keine weiteren Einzelheiten.“
„Das hat die Ilse so gewollt, ihr widerstrebte es, die Sache in die Oeffentlichkeit gezerrt zu wissen. Ich war damals gerade in ‚Perle‘ draußen und hab’ die ganze Unglücksgeschichte mit erlebt.“
„Willst Du sie mir mitteilen? Das heißt – sollte es Dich nicht zu sehr angreifen?“
„Schon wieder mit Deinem ewigen Angreifen! Nein, zum Donnerwetter! Also: Montrose wär ’n verwegener Reiter. Ich versteh’ mich nicht auf Pferde, aber ’n hübscher Anblick war’s, wenn er auf seinem ‚Mazeppa‘ ankam. Ilse saß ja früher auch gut zu Pferde, aber seit der Kleine da war, wurde sie immer so in Anspruch genommen von der Krabbe, daß ihr zum Reiten wenig Zeit blieb. Einmal beklagte sie sich darüber mir gegenüber: sie würde so gern mit ihrem Mann ausreiten, denn dann sei er nicht so waghalsig, dann nehme er Rücksicht auf sie – aber ohne sie mache er die tollsten Geschichten, und sie könne ihn nie fortreiten sehen, ohne Angst um ihn zu haben. ‚Na,‘ sagt’ ich darauf, ‚den ‚Mazeppa‘ hat doch Dein Mann schon jahrelang, die zwei müssen sich doch aneinander gewöhnt haben!‘ Sie meinte aber, ‚Mazeppa‘ sei ’ne unberechenbare Bestie und überaus scheu und empfindlich, das kleinste Geräusch oder ein unerwarteter Anblick rege ihn so auf, daß man ihn kaum ’ne Sekunde außer acht lassen könne. Ich mach’ noch meine Witze darüber, daß heutzutag’ alles nervös sein müsse, die Frauen, die Männer, die Kinder, nun auch die Pferde. Vielleicht zwei, drei Wochen drauf bin ich wieder in ‚Perle‘ – es werden bald zwei Jahre – war ’n milder schöner Juniabend, der Kronprinz war ’n bißchen unruhig von wegen der Zähne, Ilse hatte die Nacht mit ihm herumgetanzt und sah ’n wenig blaß aus. Montrose natürlich that gleich, als wär’ sie totkrank, sah ihr in einemfort ins Gesicht, faßte ihre Hand, ob sie nicht Fieber hätte, kurz, war schrecklich ängstlich, und sie lachte ihn aus. Schließlich, da er sich den Tag über nicht von Frau und Kind weggerührt hatte und der Abend so schön war, beschließt er, nach Gnadenstein zu reiten, um da ’was zu bereden und es dauert nicht lange, so wird ‚Mazeppa‘ vorgeführt. Die Ilse geht noch mit dem Jungen auf dem Arm die Freitreppe hinunter und giebt dem Pferd Zucker, und ich hör’, wie sie so im Scherz sagt: ‚Mazeppa, bring’ Deinen Herrn wieder gut nach Haus, hörst Du?‘ Und Fink, der alte Kammerdiener, macht noch die Bemerkung, der gnädige Herr sei so lange nicht mehr geritten, ‚Mazeppa‘ hab’ immerzu gestanden, der Herr möge nur gut zusehen. Darauf bittet Ilse ihren Mann, heut’ lieber nicht zu reiten, einer von den Leuten könne ja dem Pferd Bewegung machen. Aber Montrose lacht dazu, küßt sie und den Jungen und sitzt auf. Und dann reitet er ab, in so ’nem hübschen schlanken Trab, daß ich bei mir noch denk’: da hat’s gute Wege – das Pferd ist ja folgsam wie ’n Lamm! Wir sitzen nun noch auf der Terrasse und schwatzen dies und das – der Hans Günther macht Gehversuche und läßt sich ganz brav dabei an, dann kommt der Sandmann, und Ilse zieht mit dem Balg ab. Es dauert lange, bis sie wiederkommt, das Kind ist wieder sehr unruhig geworden, hat nicht einschlafen wollen, endlich hat sie’s denn eingesungen. Als sie sich wieder zu mir setzt und nach der Uhr sieht, erschrickt sie – es ist schon sehr spät, ihr Mann müßt’ längst von Gnadenstein zurück sein. Ich tröst’ sie natürlich und sag’ ihr, er kann noch ’nen andern Ritt gemacht, kann jemand getroffen haben, der ihn aufgehalten hat, aber sie will nichts davon glauben. Inzwischen kommt Doßberg in seinem Einspänner nach Haus, dem erzäblt sie’s auch und fragt, ob er ihren Mann unterwegs nicht getroffen habe. Nein, der Alte hat ihn nicht getroffen. Mit Müh’ und Not kriegen wir sie so weit, daß sie sich mit uns zu Tisch setzt, uber sie rührt das Essen kaum an, und Doßberg, der das sieht, schickt ’nen reitenden Boten nach Gnadenstein, rein aus Vorsicht und bloß, um sie zu beruhigen. Die Ilse muß nun wieder ins Kinderzimmer, denn die Wärterin kommt ganz ängstlich und meldet, der Kleine sei wieder wach und schreie, was er könne – dem armen Kerl machen die Zähne zu schaffen. ‚Gottlob,‘ sagen Doßberg und ich, ‚daß sie noch um ’was anderes zu sorgen hat.‘ Nach ’ner guten Weile kommt der Gnadensteiner Bote zurück: der gnädige Herr sei gar nicht dort gewesen. Na, nun war aber wirklich guter Rat teuer – wo konnt’ er geblieben sein, wo sollte man ihn suchen? Denn daß man ihn suchen mußte, das leuchtete uns jetzt nur zu sehr ein. Ilse hat das Pferdegetrappel gehört und kommt gelaufen, man hört durch die offenen Thüren das Kind schreien – da müssen wir ihr’s denn sagen, was bleibt [339] übrig? So gut es geht in der Aufregung, machen wir uns ’nen Plan zurecht – der eine fährt hier, der andere fährt da, und Leute mit Laternen sollen mit, noch ist’s ein wenig hell, vielleicht halb zehn Uhr, aber lange dauert das nicht mehr. Und wie wir da noch so zusammenstehen und alles bereden, kommt wieder Hufschlag, und wir fahren alle freudig in die Höhe: das muß er sein! Aber ’s sind zwei Pferde, die da kommen, auf dem einen sitzt der alte Hinz, ganz krumm und klein, mit so ’nem richtigen Unglücksgesicht, und das andere Pferd hat er mit ’nem Strick festgebunden – die Zügel schleifen zerrissen nebenher, und die Bestie, der ‚Mazeppa‘, schnauft und zittert und bockt und ist mit Schaum bespritzt von oben bis unten. Und wo ist der Reiter?“
Kapitän Leupold nahm einen neuen Schluck Xeres. Albrecht legte ihm besorgt die Hand auf die Schulter. „Sprich nicht weiter, Kapitän, es regt Dich auf! Ich hätte Dich nicht bitten sollen!“
„Na, jetzt ist nicht mehr viel zu sagen, jetzt laß Du mich nur zu End’ erzählen. Bei der Gnadensteiner Brücke hat der alte Hinz das Unglücksvieh eingefangen, Müh’ genug hat’s ihm gemacht, und ich wundere mich heut’ noch, daß er es fertig gebracht hat. Später haben wir’s dann gehört: es sind ’n paar Zigeuner des Wegs gekommen, um da in der Nähe zu rasten, die haben zwei Bären bei sich gehabt und Pauken und Schellen und solch verrücktes Zeug, und wie mein ‚Mazeppa‘ den Spektakel hört und sieht die zwei Bären da – heidi – setzt er wie rasend übers Brückengeländer, der Reiter kopfüber, und das Vieh quer über Feld und dann waldeinwärts und in ’nem weiten Bogen zurück nach dem Unglücksschauplatz, von wo das Zigeunerpack inzwischen verschwunden ist, und da hat der alte Hinz den ‚Mazeppa‘ gegriffen und hat seinen Herrn unten an der Brücke gefunden, schon ganz kalt und steif. Schädelbruch – er muß auf der Stelle tot gewesen sein. Und nun stell’ Dir vor, Kapitän, wir alle um den Unglücksmenschen, den Hinz, herum – Ilse, Doßberg, ich, Fink, die Weibsleute – unsere bleichen entsetzten Gesichter, Totenstille, die zuerst immer auf so ’nen Bericht folgt, und bloß das klägliche Weinen und Schreien des Kindes, das grad’ so klingt, als wüßt’ es das Geschehene und klagte um seinen Vater!“ Der alte Kapitän seufzte tief auf.
„Sie war sehr unglücklich?“ fragte Kamphausen mit gedämpfter Stimme.
„Sehr! Arme Kreatur, wie sollt’ sie nicht? Solch’ ein jäher Tod, und dazu der Junge sterbenskrank, Tag und Nacht in Krämpfen – böse Zeit! Na, sie hat’s überwunden, aber ist’s nicht ein Jammer, daß so ein Geschöpf wie Prinzeß Ilse, von der Natur wie extra zum Glück und zur Liebe geschaffen – daß die bis jetzt von Glück und Liebe so gut wie nichts zu sehen bekommen hat?“
„Sie hat ihr Kind.“
„Ach, geh’ mir mit dem Kind! Sie liebt es gewiß und pflegt es und giebt sich Mühe mit der Erziehung, und das – wie soll ich sagen – das mütterliche Element in ihr, das kommt zu Wort, das findet sein Recht. ’s ist aber noch ’was anderes in ihr, ’n weiches, zärtliches, leidenschaftliches Frauenherz, und das liegt brach, und um das ist’s ein Jammer, und wenn Du mich immer und immer nicht verstehen willst, dann thut’s mir leid um Dich und um sie – und um mich auch!“
Albrechts gebräuntes Gesicht war erblaßt, er konnte nicht mehr ruhig neben dem Tisch sitzen bleiben. „Du – Du meinst, Kapitän?“ stieß er hervor.
„Ja, ich meine!“
„Du irrst Dich, mußt Dich irren! Das ist unmöglich!“
„So? Muß mich irren? Unmöglich? Ja, wenn ich mich vielleicht in Dir geirrt haben sollte – “
„In mir? Warum in mir?“
„Daß Du sie vielleicht nicht mehr liebst, nicht mehr willst –“
„Ich, Kapitän? Treibst Du Deinen Spott mit mir? Kennst Du mich wirklich nicht besser? Du weißt es, weißt recht gut, daß Ilse von Doßberg die einzige Liebe meines ganzen Lebens ist.“
„Auch als Ilse von Montrose?“
„Auch als die! Aber nein, Kapitän“ – Kamphausen stieß seinen Stuhl zurück und fing an, mit starken ungleichen Schritten, im „Achterdeck“ auf und abzugehen – „spiel’ mir nicht den Versucher! Deine Vorliebe für mich läßt Dich hier nicht klar sehen, Du bist parteiisch, nicht unbefangen genug. Ich hab’ in meiner Einsamkeit, als der erste Trotz und Zorn, daß sie einem andern gehören konnte, in mir niedergezwungen war, mich auf mich selbst besonnen, mein Herz war noch mein Herz, gehörte mir noch, gehörte ihr – aber sie! Sie durfte an mich nicht mehr denken, bei ihr war’s eine Sünde, und, so wie ich sie kenne, hat sie die bekämpft bis aufs äußerste. Und dann ist so viel über sie gekommen – wär’s ein Wunder, wenn die erste Liebe in ihr gestorben wäre?“
„Nicht gestorben, Albrecht, nur niedergehalten, unterdrückt!“
„Wie willst Du das wissen? Sie kann es Dir nie gesagt haben –“
„Gesagt, nein! Aber ich weiß es bestimmt.“
Albrecht blieb wie angewurzelt vor dem Alten stehen. Ein plötzlicher Argwohn war in ihm erwacht. „Du hast mich deshalb herkommen lassen, Kapitän? Um mir das zu sagen? Deine ganze Krankheit ist nichts weiter als ein Vorwand?“
Der alte Leupold sah in die blitzenden blauen Augen empor, die in seiner Seele zu lesen schienen, und dann mit einem hilflosen Seitenblick nach der Stehuhr auf dem Kamin. Herrgott, welch ungemütliche Lage! Er hatte sich doch das alles so wunderschön ausgedacht und zurechtgelegt! Um diese Zeit hätte sie längst hier sein müssen, es war schon eine halbe Stunde über die festgesetzte Frist. Daß Weiber doch niemals pünktlich sein können! Warum mußte er, Erich Leupold, sich auch in anderer Leute Liebesgeschichten mischen! Das kam davon!
„Du sollst mir antworten, Kapitän!“ Kamphausens Stimme klang beinahe drohend.
Ein leichtes Rascheln an der Thür des Nebenzimmers, ein helles Kinderstimmchen – endlich!
„Ich hab’s nicht nötig, Dir zu antworten,“ sagte der alte Leupold barsch und trotzig. „Hol’ Du Dir die Antwort wo anders!“
Damit warf er die Decke ab, schob den Lehnsessel beiseite und ging als ein gesunder Mann, den Kopf steif im Nacken, zur Thür hinaus, die in den Garten führte. Draußen blieb er stehen und lauschte. Zunächst hörte er nichts, dann einen schwachen Schreckenslaut von Ilses Lippen. Leupold biß die Zähne zusammen – aus seiner Seele rang sich etwas empor wie ein trotziges Gebet: „Nun hilf, Herr und Gott! Für mich selbst will ich nichts, bitt’ ich nichts. Aber die beiden laß glücklich werden, die beiden! Es ist das einzige, was ich zu bitten hab’!“
Jetzt hörte er Ilse reden, erst stockend, dann schneller und schneller. Es widerstand ihm, den Lauscher zu spielen, er schüttelte unwillig den Kopf und trat von der Thür zurück, die er nur angelehnt hatte. Da, ein paar helle Kinderlaute, eine kleine Faust, welche die Thür halb zurückschob. „Onkel Kapitän! Onkel Kapi – tän! Wo bist Du?“
„Ilse, hast Du mich noch lieb?“ Es war Albrechts Stimme, die das drinnen fragte, laut und stürmisch. Der alte Leupold mußte die Frage hören, ob er wollte oder nicht.
Es kam keine Antwort, es blieb alles still. War das ein schlechtes Zeichen – oder? Der Kapitän stellte sich vor ein Blumenbeet, steckte die Hände in die Taschen und that ungeheuer gleichgültig. Das Herz hämmerte ihm aber bis in den Hals herauf.
„Mama, Mama!“ ertönte wieder das Kinderstimmchen, diesmal von drinnen, denn der Kleine war vorhin auf halbem Wege wieder umgekehrt. „Mama, hab’ doch Hans Günther auch so lieb!“
Das klang ermutigend! Der alte Leupold ermannte sich, ging zur Thür, öffnete sie noch ein wenig und sah Albrecht Kamphausen im „Achterdeck“ stehen, sein schönes goldenes Glück im Arm, selig darauf niederschauend, blind und taub für die ganze übrige Welt ...
Und das Kind gaukelt in seinem weißen Kleidchen wie ein großer Schmetterling dem Eintretenden entgegen und sieht mit erstaunten Augen auf die beiden und ruft: „Onkel Kapitän! Sieh doch, sieh!“
„Ja, mein Kind, ich sehe!“ entgegnet der Alte trocken.
Da beugt Ilse sich herab, hebt den Kleinen auf ihren Arm und fragt: „Wirst Du ihn liebhaben, Albrecht?“
Er kann nicht antworten er weiß, daß ihm die Stimme nicht gehorchen wird; stürmisch reißt er das kleine Geschöpf an sich und bedeckt sein Gesichtchen mit Küssen. Der alte Leupold weiß nicht, wie ihm geschieht. Er fühlt sich von Ilses Armen umschlungen, er fühlt ihre glücklichen Thränen auf seinem Gesicht, hört, wie sie versucht, ihm zu danken.
„Kind, Mädel – wofür denn?“ Er bringt es stammelnd heraus. „Ich hab’ ja nur dazu helfen wollen, daß der Albrecht Kamphausen auch seine ‚Perle‘ bekommt!“
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Amélie Linz-Godin. Eine hochgeachtete deutsche Schriftstellerin und zugleich eine der treuesten Mitarbeiterinnen der „Gartenlaube“ feiert am 22. Mai ihren 70. Geburtstag, Amélie Linz, in den weitesten Kreisen unseres Volkes bekannt unter ihrem Autornamen A. Godin. Schon 1854 erschien eine Erzählung von ihr, „Manuela“, in der damals noch sehr jungen „Gartenlaube“, und seither ist der Name „Godin“ immer wieder in den Spalten unseres Blattes erschienen, das dem Leben und Wirken der Dichterin im Jahrgang 1882, Nr. 10, eine eingehende Darstellung widmete. Wir freuen uns, auch demnächst wieder den Lesern eine Probe von der unerschöpflichen Schaffenslust und Schaffenskraft der 70jährigen Jubilarin vorlegen zu können.
Eine Bitte. Beim Durchlesen des Artikels „Ein Invalidenheim“ in Nr. 1 dieses Jahrganges der „Gartenlaube“ tauchte vor mir eine Erinnerung aus früher Kindheit auf. Meine Großmutter, eine wackere Pfarrerswitwe, erzählte den lauschenden Knaben – deren einer heute 82 Jahre zählt – von einem Obersten v. Cronegk, der als Krüppel den Lebensunterhalt sich erbetteln mußte. Da verfaßte der krüppelhafte Oberst ein Lied, das er, die Straßen auf und ab wandelnd, sang und womit er die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Zur Verantwortung gezogen, fand er nicht bloß für sich eine Versorgung, sondern verschaffte auch andern Kriegs- und Leidensgenossen Hilfe.
Von dem Liede, das die Großmutter den Enkelknaben vorsang, habe ich bloß die nachstehenden Strophen behalten:
„Gesegnet sei die schlanke Fichte,
Aus der man dich geschnitzt,
Gesegnet von dem lahmen Wichte,
Dem du sein Alles bist!
Wie stand sie nicht voll Kraft und Fülle,
So frisch und stark wie ich!
Wir fielen, ich im Schlachtgebrülle
Und sie im Hain für mich!
Nun ist sie eines Helden Krücke,
Sie, die im Sturme stand,
Des Helden, dem sein Mißgeschicke
Statt Lorbeern Dornen wand!
Gesegnet sei die milde Gabe
Und jeder Bissen Brot,
Den segnend mir von fremder Habe
Das karge Mitleid bot! – –“
Ich frage nun: Haben wir es mit einer geschichtlichen Thatsache zu thun oder mit einer Sage? Wer weiß etwas von einem Invaliden Obersten v. Cronegk? Wo hat er gelebt und gesungen? In Wien oder in Berlin? Was war sein Schicksal, wo starb er? Kennt noch jemand das Lied und wie lautet dasselbe vollständig?
Meine Großmutter hat sicher ihre zuverlässige Quelle gehabt; ob Sage, ob geschichtliche Thatsache, das möchte ich noch gern in Erfahrung bringen. So bitte ich denn, durch Vermittelung der „Gartenlaube“, die schon so vieles ans Tageslicht gefördert hat, freundliche Auskunft an mich gelangen zu lassen.M. A. S.
Der Umzug des Pfingstochsen. (Zu dem Bilde S. 337.) Jedermann kennt die sprichwörtliche Redensart „geputzt wie ein Pfingstochse“. Sie gründet sich auf eine eigentümliche Pfingstsitte, die in einem bescheidenen Rest noch heute in manchen Gegenden Mecklenburgs geübt wird. Der erste Fleischer des Ortes läßt am Donnerstag oder Freitag vor dem Fest einen kräftigen Ochsen von seinen Leuten mit mächtigen Kränzen schmücken, dann durch den Altgesellen vor die Häuser seiner Kunden führen, die dem begleitenden jüngsten Burschen Bänder zur weiteren Verzierung des Festtieres sowie ein Trinkgeld für die Zustellung des Fleisches während des Jahres einhändigen. Auf das Fest wird dann der Ochse geschlachtet.
Ursprünglich handelte es sich, wie wir aus Borchardts „Sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmunde“ (2. völlig umgearbeitete Auflage, herausgegeben von G. Wustmann. Leipzig, Brockhaus) entnehmen, bei dem „Pfingstochsen“ um einen allgemeinen landwirtschaftlichen Brauch. Wenn gegen Pfingsten die Gemeindeweide aufgethan werden sollte, bekränzte man den schönsten Ochsen und führte ihn im Zuge als ersten auf das junge Wiesenland. Noch heute bekränzen zu Pfingsten die Bauern in verschiedenen Gegenden Deutschlands ihr Herdenvieh, ein Zeichen für die Bedeutung, die der Anfang des Sommers gerade für die Herde hat. Auch in Siebenbürgen wird der alte Brauch noch jetzt beobachtet. Mit einer merkwürdigen zeitlichen Verschiebung tritt uns eine verwandte Sitte in Paris entgegen. Dort wird in den letzten Tagen der Fastnacht ein aufgeputzter Mastochse von Fleischergesellen durch die Straßen geführt, und darum kommt der Franzose daher, aufgeputzt nicht wie ein „Pfingst-“, sondern wie ein „Faschingsochse“.
Grundsätze für richtige Aufbewahrung der Eier. Die Aufbewahrung der Eier für die Winterzeit bereitet im Sommer vielen Besitzern oder Vorsteherinnen von Hühnerhöfen schlimme Sorgen; denn es werden so viele Aufbewahrungsarten empfohlen und es ist so schwierig, das Gute von dem Schlechten zu unterscheiden! Allerdings tappten wir bis vor kurzem so ziemlich im Dunklen, wenn wir über die Ursachen der Eierverderbnis Betrachtungen anstellten und aus diesen auf die Zweckmäßigkeit dieser oder jener Aufbewahrungsart Schlüsse ziehen wollten. In jüngster Zeit hat sich jedoch unsere Lage wesentlich gebessert, die Wissenschaft hat die faulen Eier gründlich untersucht und das Treiben der Eierfeinde entlarvt. Diese Feinde sind besondere Bakterien, etwa 16 Arten; sie teilen sich in zwei Gruppen, von denen die eine die Eigenschaft besitzt, beim Verderben der Eier den übelriechenden Schwefelwasserstoff zu erzeugen, während die andere einen anderen Geruch und einen grünen Farbstoff erzeugt und so die Eier in eine nur den Chinesen wohlschmeckende „Mayonnaise“ verwandelt. Die unverletzte Eischale und die Eihäute schützen das Ei nicht; ihre Poren sind groß genug, um den Spaltpilzen freien Durchgang zu gewähren.
Durch wiederholte und mühevolle Untersuchungen wurde zuletzt von Dr. Zörkendörfer festgestellt, daß alle diese Eierfeinde zu ihrer Entwicklung unbedingt sauerstoffhaltige Luft brauchen. Wird ihnen diese entzogen, so können sie nicht wachsen und können die Eier nicht verderben. Auf Grund dieser Ermittlung stellte Zörkendörfer folgenden Versuch an: er impfte eine Anzahl frischgelegter Eier mit den gefährlichen Eierbakterien; die eine Hälfte, die er einfach an einem kühlen Ort liegen ließ, verdarb in kurzer Zeit, denn die meisten der Eierbakterien wachsen noch unter beinahe 0° C. Die andere Hälfte der geimpften Eier wurde dagegen mit einem Firnis- oder Lacküberzug versehen und so liegen gelassen. Als man sie nach Monaten öffnete, waren sie völlig unverdorben, was leicht zu erklären ist. Durch Firnis oder Lack wurden die Poren der Schale luftdicht verschlossen; es konnte keine sauerstoffhaltige Luft in das Innere der Eier dringen und die Bakterien mußten ruhen, da ihnen ihr wichtigstes Lebenselement fehlte.
Damit ist uns nun gezeigt, was wir thun müssen, wenn wir Eier für längere Zeit aufbewahren wollen. Wir müssen frische Eier nehmen und die Poren der Schale luftdicht verschließen, dann werden sich die Eier unbegrenzte Zeit halten. Aber für das praktische Leben sind noch besondere Rücksichten zu nehmen, auf die bei einem Laboratoriumversuch nicht geachtet zu werden braucht.
Die Verschlußmittel der Poren müssen so beschaffen sein, daß sie den reinen Geschmack der Eier nicht verderben und vor dem Gebrauch sich wieder ablösen lassen, damit das aufbewahrte Ei gleich einem frischgelegten zu allen Küchenzwecken verwendet werden und ebenso als weich-, oder hartgesotten auf die Tafel kommen kann. Der Firnis aber würde den Eiern einen recht schlechten Geschmack verleihen und die meisten billigeren Lacke haben dieselbe Schattenseite. Die weit verbreitete Sltte, die Eier in Kalk aufzubewahren, ist aus diesem Grunde gleichfalls zu verurteilen. Die Kalkmasse verschließt zwar die Poren, aber sie giebt dem Ei einen schlechten Beigeschmack. Seit lange wird das Ueberstreichen der Eier mit Fett empfohlen; auch dieses Mittel kann nützen, so lange das Fett die Poren der Schale verstopft, aber es ist nicht zuverlässig. In einem Haushalte habe ich eine hübsche Aufbewahrungsart kennengelernt. Dort wurden die Eier in eine Lösung von Gummiarabikum getaucht, getrocknet und dann in Kohlenpulver gelegt. Sie hielten sich bei dieser Behandlnng jahrelang; im Lichte der neuesten Wissenschaft erscheint dieses Verfahren durchaus begründet, aber seitdem der Mahdi im Sudan wirtschaftet, dürfte das Gummiarabikum für diesen Zweck doch zu teuer geworden sein. Man konserviert die Eier auch, indem man sie in Sagespäne, Häcksel oder fein gesiebte Asche u. dergl. legt. Manchmal halten sie sich auch darin längere Zeit, manchmal aber nicht. Wir wissen jetzt, warum. Durch diese Mittel wird der Luftzutritt nur zum Teil, aber nicht ganz versperrt.
Als ein sehr zweckmäßiges und bereits vielfach erprobtes Verschlußmittel, das die Eier frisch und schmackhaft erhält, möchten wir das Wasserglas nennen. Man bereitet davon eine mäßig koncentrierte Lösung, taucht die Eier darein und läßt sie trocknen, wiederholt das Verfahren mehrmals hintereinander und läßt die so mit einer luftdichten Wasserglasschicht versehenen Eier an einem trockenen frostfreien Orte liegen. Man kann sie auch in feine Sägespäne u. dergl. verpacken und versenden. Will man die Eier ganz kochen und auf den Tisch bringen, so wäscht man das Wasserglas vor dem Kochen ab. Sonst lassen sich diese Eier ebenso wie frische zerschlagen, wenn sie für Kochzwecke roh geöffnet werden müssen.
Vielleicht trägt die Verbreitung der bakteriologischen Errungenschaften auch einmal dazu bei, daß Millionen nahrhafter Eier alljährlich vom Verderben gerettet werden. *
Herzkirschen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ist es Zufall, ist es Absicht, daß das frische kleine Mädchen auf unserem Bild ein Körbchen mit „Herzkirschen“ in der Hand hat, daß das blühende Kind uns ein Paar der saftigen Früchte so recht lockend vor Augen hält? Ist es nicht, als hätte der Künstler damit dem lieblichen Menschenkinde zugleich ein Sinnbild seines Wesens beigeben wollen, ein Sinnbild seines rosig schimmernden schwellenden Lebens? Nicht umsonst haben die kleinen Leckermäulchen die Kirschen so gern!
John Russel, der Schöpfer unserer Kunstbeilage, war einer der hervorragendsten englischen Porträtmaler, zu seiner Zeit der Liebling der vornehmen Londoner Gesellschaft. Er starb 1806. Das Bild, welches wir heute wiedergeben, befindet sich jetzt im Louvremuseum zu Paris.
Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (19. Fortsetzung). S. 325. – Zeitvertreib. Bild. S. 325. – Die „Schweningerkur“. Von Dr. Julius Weiß. S. 330. – Wisby. Von Otto Rüdiger. S. 331. Mit Abbildungen S. 329, 332 und 333. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (Schluß). S. 334. – Der Umzug des Pfingstochsen in Mecklenburg. Bild. S. 337. – Blätter und Blüten: Amélie Linz-Godin. S. 340. – Eine Bitte. S. 340. – Der Umzug des Pfingstochsen. S. 340. (Zu dem Bilde S. 337.) – Grundsätze für richtige Aufbewahrung der Eier. S. 340. – Herzkirschen. S. 340. (Zu unserer Kunstbeilage).