Amélie Godin (Gartenlaube 1882/10)

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Textdaten
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Autor: Dietrich Theden
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Titel: Amélie Godin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 159-162
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Amélie Godin.

Ein Literaturbild.


Zu den wenigen wahrhaft dichterischen Talenten unter den Erzählerinnen der Gegenwart gehört vor allem die in den Leserkreisen der „Gartenlaube“ so allgemein geschätzte Amélie Godin. Ein eingehenderes Lebens- und Charakterbild der reich begabten Frau wurde unseres Wissens ihren vielen Freunden bisher noch nicht geboten, und so dürften die nachfolgenden Mittheilungen über das Leben und Wirken derselben gerade an dieser Stelle, wo sie den Augen so vieler ihrer Verehrer begegnen werden, nicht unwillkommen sein.

Unsere Dichterin wurde als Tochter des Arztes Dr. Friedrich Speyer in Bamberg am 22. Mai 1824 geboren. Die Ehe der Eltern war eine so harmonische, daß Amélie sich nicht der leisesten Verstimmung zwischen Beiden erinnert. Der humane, liebenswürdige Charakter des Vaters, der klare Verstand und das milde Herz der Mutter, einer geborenen Baronesse von Godin, lenkten das von Haus aus gutartige Naturell des Kindes mit Leichtigkeit in ihre eigenen Bahnen und weckten ihm schon früh ein Mitempfinden menschlicher Leiden und Freuden, welches ihm unbewußt zur Seelengewohnheit wurde.

Manches nicht für das Ohr des Kindes berechnete Wort des Vaters, dessen Menschenliebe in seinem Berufe oft genug Gelegenheit fand, sich zu betätigen erregte des Kindes stilles Aufmerken und ließ es Antheil für andere Classen der Gesellschaft gewinnen, als die es um sich sah – Antheil für das Volk. Hierdurch glich sich, wie von selbst, die Vereinsamung aus, welche Amélie, da sie ohne Geschwister und ohne Schulbesuch aufwuchs, sonst der Welt, deren Erkennen in gewissem Sinne auch dem Kindesalter schon nahe tritt, leicht hätte entfremden können.

Die Kleine zeigte sich bis zum zehnten Lebensjahre still, fast apathisch, saß am liebsten mit ihrem Buche im Winkel und machte sich nicht viel aus den prächtigen Spielsachen, mit denen der Liebling des geschätzten Arztes nicht nur von Freunden und Verwandten, sondern auch von dessen Patienten überschüttet wurde. Auch zur Theilnahme an den täglichen Abendspaziergängen mußte sie stets animirt werden, obgleich die Eltern ihre eigene große Liebe zur Natur auch dem Kinde früh mittheilten. Führte sie der Weg, wie dies oft geschah, nach einem hochgelegenen Gartenhäuschen, so erbat Amélie sich stets als höchste Gunst, inzwischen auf einem kleinen, in halber Höhe des Weges gelegenen Friedhof, der längst schon nicht mehr benutzt ward, verweilen und dort umherspielen zu dürfen. Der poetische Reiz einer üppigen Vegetation zwischen alten Grabsteinen übte eine unbewußte, aber mächtige Anziehungskraft auf das empfängliche Gemüth des Mädchens. Damals gingen der etwa Achtjährigen die ersten kleinen Gedichte auf, welche von den Eltern freundlich hingenommen wurden, ohne daß sie Gewicht darauf gelegt, aber auch ohne daß sie diesen Hang zur Poesie in dem Kinde unterdrückt hätten.

Im zwölften Jahre beschenkte Amélie ihren Vater mit einem Schreibhefte, welches sie mit selbstverfaßten Gedichten jeder Form gefüllt hatte, Reimereien, über deren Pathos Eltern und Tochter später herzlich lachten. Bei diesem Hange des Kindes zur Träumerei fehlte es ihm jedoch weder an ernstlichem Unterricht, noch an fröhlichen Gespielen, deren Einfluß von Jahr zu Jahr seine Lebhaftigkeit steigerte.

Dem Hause des Vaters gegenüber befand sich die Dienstwohnung des Baurathes Panzer, dessen Frau eine Freundin der Mutter Améliens war und mit dessen Kindern die Letztere auf wuchs. Die älteste Tochter, Mathilde, nur ein Jahr älter als Amélie selbst, ward dieser zum Ideal einer schwärmerischen Freundschaft, die Jahre hindurch beiden Mädchen als das Höchste galt, was ihnen das Leben darbot. Im großen Hofe drüben wurde gespielt, gemeinschaftlich gelesen, wurden Ritterstücke aus dem Stegreif aufgeführt.

Wenn man den Spielgang der Vierjährigen in eine dem Vaterhause gegenüberliegende Mädchenschule abrechnet, hat Amélie nie eine Schule besucht. Einige Professoren des Bamberger Gymnasiums hatten sich auf die Bitte der Eltern dazu verstanden, im Speyer’schen Hause regelmäßige Privatstunden zu geben, an denen drei ältere Freundinnen Améliens Antheil nahmen und deren Programm so ziemlich Alles umfaßte, was in Instituten gelehrt zu werden pflegt. Unter den Lehrern war Professor Ruith, welcher in Geschichte und Literatur unterrichtete, der beliebteste. Ein Emigrant aus guter Familie, der sein Idiom vortrefflich sprach und lehrte, gab den französischen, eine Cousine den englischen, ein sprachkundiger junger Doctor den italienischen Unterricht. Zum Religionslehrer – Amélie ward gleich ihrer Mutter als Katholikin erzogen – hatte der dem Speyer’schen Hause befreundete Erzbischof eine geeignete Persönlichkeit empfohlen. Musik ward mit besonderer Vorliebe gepflegt und jede Gelegenheit benutzt, um, mitunter auch auswärts, Gutes zu hören. Alle diese verschiedenen Unterrichtsstunden füllten Zeit und Geist der Heranwachsenden zur Genüge; Herz und Phantasie kamen auch nicht zu kurz, und so vergingen die ersten fünfzehn Lebensjahre Améliens in so glücklichen Verhältnissen, daß sie nicht einmal eine Ahnung davon hatte, eines wie bevorzugten Ausnahmezustandes sie sich zu erfreuen hatte, sondern Gang und Gestaltung ihres Lebens als etwas ganz Selbstverständliches betrachtete. Da nahm ein Herzschlag den Vater in der Fülle seiner Kraft und seines Wirkens plötzlich hinweg, und Amélie erfuhr, was es heißt, ein Theures zu verlieren. Sie erfuhr den ersten Wechsel ihres Lebens. Ihre Mutter verkaufte bald darauf das Haus, in dem sie Alle so glücklich gelebt, und bezog mit ihrer Tochter eine Mietwohnung.

Ungefähr um dieselbe Zeit ward auch Panzer als Baurath nach München versetzt, und so verlor Amélie zugleich ihre liebste Freundin. Tröstlich wirkte eine Reise in des Vaters Heimathstadt Arolsen, wo Verwandte lebten, die das alte, seit Generationen der Familie zugehörige Vaterhaus inne hatten, welches Amélie mit den Eltern wiederholt besuchte und das ihr von Klein auf das unverrückbare, stetige Familien-Daheim repräsentirte. Von dort nach Bamberg zurückgekehrt, wurde die Musik mit neuem Eifer aufgenommen und wissenschaftlicher Uebung viel Zeit und Hingabe gewidmet; viele Gedichte entstanden damals in Heimlichkeit.

Ein Jahr später ging Améliens Mutter nach München, um Panzers zu besuchen. Kaum dort angekommen, erkrankte Amélie heftig am Typhus, und die hierdurch bedingte Verlängerung des Aufenthaltes bestimmte die Mutter, sich für die ganze Dauer des bevorstehenden Winters dort einzurichten. Dieser Winter und ein zweiter, welchen Amélie mit achtzehn Jahren als Gast des Panzer’schen Hauses in München verlebte, übte großen Einfluß auf ihre geistige Richtung, gab ihrem Sinne und Geschmacke für künstlerische Anschauung der Dinge den ersten Anstoß. Friedrich Panzer, ein [160] geistreicher, gemüthvoller, poetisch veranlagter Mann, beschäftigte sich nicht nur persönlich gern mit seiner jungen Gastfreundin, er lebte auch inmitten eines Kreises von Gelehrten, Dichtern und Künstlern, und obgleich die jungen Mädchen sich diesen Männern gegenüber bescheiden zurückhielten, konnte doch eine engere Berührung auch mit ihnen nicht ausbleiben. Graf Franz Pocci, der Dichter Kobell und andere bedeutende Männer verkehrten freundlich mit ihnen; Häuser, wie das des Geheimraths Thiersch, das Gärtner’sche, Kaulbach’sche, welche sie häufig besuchten, vereinigten Alles, was München damals an werthvollen, hervorragenden Persönlichkeiten besaß und was fremde Nationalitäten dorthin verpflanzt hatten. Als Amélie zum zweiten Male von München nach Bamberg zurückkehrte, brachte sie, wenn auch ohne sich darüber klar zu sein, einen Maßstab für Werth und Reichthum des Lebens mit. Die gute Musik, welche sie in der Residenz gehört, der Unterricht, welcher ihre eigenen Gesangstudien dort gefördert, ließ in ihr den Wunsch zurück, damit noch weiter zu kommen, was unter der Leitung des trefflichen Musikers Grenzebach, der damals in Bamberg Capellmeister war, erreicht wurde. Grenzebach war nun der Ansicht, daß seine Schülerin ihre Stimme für die Bühne ausbilden lassen müsse, und er ließ es an lebhaftem Zureden nicht fehlen; doch hatten weder Mutter noch Tochter Neigung zu solcher Berufswahl. Dagegen erfüllten sie gern den Wunsch des von ihnen persönlich sehr geschätzten Künstlers, daß Amélie in Concerten für mildthätige Zwecke oder in solchen berühmter Virtuosen, deren er manche bei ihnen einführte, Solopartien vortragen möge. Reizvolle musikalische Hausabende fallen in die Erinnerungen dieses Winters. Im darauffolgenden Sommer wurden Mutter und Tochter durch Verwandte bewogen, mit diesen eine Rheinfahrt zu unternehmen, und auf dieser Reise geschah es, daß Amélie den Ingenieur-Lieutenant Franz Linz kennen lernte – ein entscheidender Moment im Leben unserer Dichterin; denn im folgenden Frühjahr schon führte dieser sie als seine Gattin nach Coblenz. Wie sich seit ihrer frühen Kindheit alles sie innerlich Bewegende ihr stets zur Strophe gestaltet hatte, so entstand unter der Feder der jungen Frau in diesem Jahre Gedicht auf Gedicht, ohne je vor andere Augen zu kommen, als die es persönlich anging.

Während der folgenden Jahre wurzelte Améliens höchstes Lebensinteresse, nächst der eigenen Häuslichkeit, fortdauernd in der Musik, welcher auch Linz leidenschaftlich anhing. Beide Gatten nahmen an einem in schöner Blüthe stehenden musikalischen Verein thätigen Antheil, in Coblenz sowohl wie in Mainz, wohin, nach einer Zwischenstation in der Grenzfestung Saarlouis, Franz Linz 1850 versetzt worden.

In Mainz wurde ein nervöses Leiden, welches sich bei Amélie einstellte, ihr Veranlassung, dem Gebot des Arztes gemäß einen ganzen Sommer auf dem Lande zuzubringen. In Begleitung ihrer Mutter und ihrer drei Kinder, deren ältestes damals sechs Jahr alt war, zog Amélie in den Rheingau nach dem anmuthig gelegenen Oertchen Walluf. Da ihr Handarbeit, Lectüre und Musik zunächst verboten waren und sie ganz und gar nur mit den Kindern lebte, so kam sie auf den Einfall, Märchen auszudenken und niederzuschreiben, welche sich auf der Kinder Eigenart richteten, ihre kleinen Mängel und Unarten mit heiterer Ironie geißeln und ihnen dagegen das Ideale in kindlicher Form nahe rücken sollten. Der Versuch glückte; die Märchen wirkten und gingen den Kindern so in Fleisch und Blut über, daß sie gewisse Bezeichnungen und Namen daraus als stehende Redensarten in ihren „Kinderjargon“ aufnahmen. Um diese Zeit besuchte Amélie ein Onkel, der Buchhändler Speyer aus Arolsen; die Redensarten der Kinder fielen ihm auf, er ersuchte um Aufschluß, erbat sich die Märchenhefte und gab sie, nachdem er ihren Werth erkannt, nicht wieder zurück, sondern stellte der Verfasserin vor, sie müßten gedruckt werden. Amélien war diese Idee nie gekommen, doch gab sie ihrem Onkel freie Hand unter der Bedingung, auf dem Titelblatte nicht genannt zu werden. Fünf Verleger sandten ihm das Manuscript zurück; der sechste, Rudolf Chelius in Stuttgart, behielt es, zahlte ein hübsches Honorar und stattete die „Märchen, von einer Mutter erdacht“, gut aus. Als nach ein und einem halben Jahre die zweite Auflage gedruckt ward, bat der Verleger um die Wahl eines beliebigen Autornamens, „der Kataloge wegen“, wie er schrieb, und Frau Linz wählte den Familiennamen ihrer Mutter – Godin – welcher seither ihr Autorname geblieben.

Der unverhoffte Erfolg weckte die Lust, sich auch in der Novelle zu versuchen. Verschiedene Zeitschriften brachten Godin’sche Erzählungen. Dann erschien im Jahre 1862 Améliens erster Roman: „Eine Katastrophe und ihre Folgen“ (Breslau, Trewendt). Bis dahin war es der Dichterin geglückt, die persönliche Anonymität so fest zu halten, daß außer ihrem Gatten und ihrer Mutter Niemand von ihrer Thätigkeit erfuhr. Wie ihr Geheimniß bald nach Erscheinen dieses Buches unter die Leute kam, ist wohl schwer festzustellen, doch so viel steht fest: es ist gerade durch diesen ihren ersten Roman der richtige Name der Verfasserin bekannt geworden.

Die lebhafte Phantasie unserer Autorin schloß bei Abfassung ihrer Märchen einen wohlthuenden Bund mit den Eingebungen eines reichen Herzenslebens und wurde zugleich durch die in’s Auge gefaßten pädagogischen Ziele zwanglos in bestimmte Grenzen verwiesen. Rückblicke in die eigene glücklich verlebte Jugendzeit und ernste, hingebende Beobachtung ihrer sie umspielenden jugendlichen Genossen boten ihr geeignete Stoffe in unerschöpflicher Fülle, und ihr in das räthselhaft tiefe Leben und Streben der Kinderwelt ganz aufgehendes Sein und Empfinden ließ sie auch den für ihre Stoffe und für den Verkehr mit Kindern richtigen Ton mit Leichtigkeit treffen.

Aber diesen Erinnerungen einer frohen Jugend schlossen sich solche ernsterer, späterer Jahre an. Beim Beobachten ihrer Kinder streifte der Blick Améliens nicht selten an ihnen vorüber, und wie das Leben der Kinder selbst, so bot auch die Umgebung derselben mannigfache Reize, viele und tiefe Räthsel. Die vielgestaltigen Erscheinungen des Lebens zu erfassen, die Räthsel desselben zu lösen, das Erkannte sich dauernd zu eigen zu machen und zu lebensvollen Bildern auf’s Neue zu gestalten, wurde das Streben des in der jungen Schriftstellerin sich zu immer höherem Fluge entfaltenden Dichtergeistes.

Ihr ernstes Mühen nach Erweiterung ihres Gesichtskreises offenbart sich in den Erzählungen: „An der reißenden Wand“ (1850), „St. Maximin“ (1860), „Arnold Nobeling“ (1860), „Das Leben einer Frau“ (1861); es läßt sich auch in ihrem ersten größeren Werke, dem oben erwähnten Roman „Eine Katastrophe und ihre Folgen“ nicht verkennen. Während aber die Verfasserin in den ersten Erzählungen ihrer Selbstständigkeit noch wenig vertraut und deshalb zumeist an geschichtliche Thatsachen sich anlehnt, ist die „Katastrophe“ durchaus ein Product freier, eigener Erfindung, und während in den geschichtlichen Bearbeitungen die individuellen Anschauungen der Verfasserin durch den Zwang des Ueberlieferten fast gänzlich unterdrückt werden, gelangen in diesem Romane gerade die letzteren zur Geltung, wovon auch schon das demselben als Motto vorangestellte Wort Otto Ludwig’s Zeugniß ablegt: „Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu; am Menschen liegt’s, wozu er ihn formt“.

Die Gatten hatten inzwischen den Rhein mit dem Norden vertauscht; sie lebten seit 1857 in Stettin und einige Jahre in Stralsund. Dieser stete Wechsel von Land und Leuten erweiterte die geistigen Gesichtspunkte unserer Dichterin; er vermehrte ihre Kenntniß von Welt und Menschen, Sitten und Anschauungen in rapider Weise, aber die mehr und mehr heranwachsenden Kinder, deren Erziehung bei dem Uebermaß dienstlicher Beschäftigung des Vaters zum größeren Theile der Mutter zufiel, sowie gesellschaftliche Verpflichtungen, die sich von der Stellung des Gatten nicht trennen ließen, nahmen die Zeit der gewissenhaften Frau so sehr in Anspruch, daß für Musik und Poesie nur vereinzelte, aber um so höher geschätzte Stunden übrig blieben. Ein paar neue Märchenbücher, einige Novellen entstanden in ziemlich großen Pausen, und manches Anregende mußte still bei Seite gelegt werden. So interessirte sich Frau Amélie von jeher lebhaft für Volkssagen und hatte nie die Gelegenheiten versäumt, denselben bei alten Mütterchen auf dem Lande und in alten Chroniken nachzuspüren. Besonders viel Anregendes dieses Schlages fand sich in Stralsund, was die Chronik, und auf der Insel Rügen, was die Sage betraf. Dort, wo Frau Linz oft verweilte, sammelte sie Vieles aus dem Munde der Fischer, Lootsen etc., die, wenn ihr anfängliches Zurückhalten überwunden ist, sich bekanntlich leichter und ausgiebiger äußern, als unser süddeutsches Landvolk. Das so Gesammelte zu vereinigen, fehlte es ihr aber an Zeit und Concentrirung; es wurde daher wieder einzeln ausgestreut. Was der Dichterin indeß aus jenen Tagen übrig blieb, war neugestärktes Interesse für das Leben und Regen des überall so charakteristischen Volkes.

Schwere Sorgen zogen vom Jahre 1865 an einen Strich

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Amélie Godin.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

durch manche Interessen und Bestrebungen unserer Autorin. Der Oberst Linz, bis dahin ein Bild von Kraft und Gesundheit, hatte in Folge von Ueberanstrengung während des dänischen Krieges bei der ihm obliegenden Winter-Armirung Stralsunds und Rügens zu kränkeln begonnen, und es entwickelte sich ein schweres Leiden, das sein Ausscheiden von der Armee vor Ausbruch des Krieges 1866 nothwendig machte. Die Gatten zogen daher, die beiden ältesten Söhne in Rücksicht auf deren Zukunft zurücklassend, mit dem jüngsten Knaben nach Trier und ließen sich dort häuslich nieder. Was bisher eine Würze des Lebens gewesen, mußte jetzt dazu beitragen, den Herd zu wärmen, und so arbeitete Frau Amélie in diesen Jahren mehr mit der Feder, als bis dahin geschehen, während der Musik, welche sich nicht mehr mit dem Zustande des häuslichen Lebens vertrug, ein für alle Mal Valet gesagt wurde.

Manche literarische Verbindung knüpfte sich brieflich an, unter Anderem die mit der vortrefflichen Zeitschrift „Cornelia“, welche, nach den eigenen Worten der Frau Linz, „zu den wenigen der ihr bekannten Blätter gehört, die wirklich warm pulsirendes Familien- und Volksleben wiederspiegeln.“ Durch die „Gartenlaube“, welche einige ihrer Erzählungen brachte, wurde der Name Godin bekannter, und 1870 erschien der zweibändige Roman „Wally“ – zu verhängnißvoller Zeit; denn gerade in jenen Monaten traf die vielgeprüfte Frau ein schmerzlicher Schlag: noch ehe der Roman im Druck vorlag, hatte der Tod den Obersten Linz von sechsjährigem, schweren Leiden erlöst, vierzehn Tage vor Ausbruch des Krieges, welchen einer der Söhne als Freiwilliger bei dem hart geprüften 40. Regiment mitmachte. Man war in Trier dem Kriegsschauplatze der heißen Kämpfe so nahe, daß sich die Stadt bald mit Lazarethen füllte, die, vierzehn an der Zahl, Tausende von Verwundeten bargen. Jede Frau, jedes Mädchen, wenn nicht durch unmittelbare Pflicht an das eigene Haus gebunden, stellte sich zur Disposition der Krankenpflege, und diese Thätigkeit war es auch, die Frau Amélie über die eigenen Schmerzen und Sorgen hinweg half. Doch erkrankte sie selbst – wohl eine Folge der vielfachen jüngsten Aufregungen – im Laufe des Winters so schwer, daß sie Monate lang an das Bett gefesselt blieb.

Wie in der „Katastrophe“, so hält die Verfasserin auch in „Wally“ daran fest, daß das Schicksal des Menschen meistens vom Menschen selbst abhängig ist; während sie aber in der „Katastrophe“ diesen Satz gewissermaßen zum Gesetz erhebt, gesteht sie, der Wirklichkeit entsprechend, in „Wally“ zu, daß auch äußere, nicht in der Gewalt des Einzelnen liegende Umstände und Consequenzen [162] von Einfluß auf die Gestaltung des Menschenlebens sind. „Sein Schicksal bildet sich der Mensch, und seinen Menschen bildet sich das Schicksal. So umarmen sich denn doch Freiheit und Nothwendigkeit.“ Dieses Wort Sailer’s ist der Grundgedanke „Wally’s“.

Nachdem Friede geworden, Frau Améliens Sohn gesund und heil aus dem Kriege heimgekehrt, und auch der älteste Sohn aus dem Norden in ihre Nähe gekommen war, faßte sie wieder Muth zu literarischer Arbeit. In diese Zeit fällt der Beginn einer Beziehung, welche ihr im Laufe der Jahre ebenso theuer wie wichtig werden sollte: Sie ward aufgefordert, für den von Paul Heyse und Hermann Kurz herausgegebenen „Novellenschatz des Auslandes“ eine Feuillet’sche Novelle zu übersetzen. Die mit dem leider allzu früh verstorbenen Kurz begonnene Correspondenz führte zu brieflichem Gedankenaustausche mit Heyse, welchem alsbald die persönliche Bekanntschaft folgen sollte.

Der Gedanke der Dichterin, in ihre baierische Heimath zurückzukehren, war nur deshalb bis jetzt nicht zur Ausführung gekommen, weil es ihrer bejahrten Schwiegermutter Wunsch war, sie in ihrer Nähe zu behalten. Nach deren Tode aber (1873) löste Amélie ihren Hausstand in Trier auf und siedelte nach München über.

„Hier erst lernte ich,“ schreibt sie in einem Briefe an den Unterzeichneten, „im ernsten Sinne des Wortes arbeiten, jeden Plan reiflich durchdenken und an die Ausführung so viel Fleiß und Kraft setzen, wie mir überhaupt erreichbar. Der mich dies lehrte, ist Paul Heyse, welcher selbst, längst auf der Höhe literarischen Ruhmes, mit eisernem Fleiße nicht nachläßt.“

Ein werthvoller Freundeskreis, zu dem nächst der Heyse’schen Familie Hermann Lingg – früher, bis zu dessen Tode, auch Graf Franz Pocci – zählt, schließt sich dem Kreise herzlicher Verwandten und Jugendfreunde an und füllt Frau Godin’s von der großen Welt ganz zurückgezogenes Leben mit reichen Gaben. Das oft citirte Wort Goethe’s: „Was man in der Jugend sich wünscht“ etc., ist der Dichterin zur Wahrheit geworden; denn die Lebensluft umgiebt sie, in welcher zu athmen ihr natürlich ist.

Während ihres Aufenthaltes in München kamen zur Ausgabe: Gesammelte Novellen in fünf Bänden unter dem Titel: „Frauen-Liebe und -Leben“ (Leipzig, Günther, 1876) und ein fernerer Novellenband: „Sturm und Frieden“, welchem im Laufe der nächsten Zeit zwei weitere, bereits druckfertige Bände folgen sollen. Eine Sammlung deutscher und ausländischer Märchen, welche die Dichterin vor fünf oder sechs Jahren auf besonderen Wunsch des Verlagsbuchhändlers Karl Flemming in Glogau und mit großer Vorliebe unternahm, hat inzwischen einen bedeutenden Erfolg gehabt. Ihre alte Liebhaberei zu echten Volkssagen und Märchen aber ließ sie russische und polnische Steppenmärchen sammeln und herausgeben, die das Volksleben dieser Länder treu wiederspiegeln.

Alles jedoch, was entstand, erlitt große Unterbrechungen; denn schwerer Verlust an persönlichem Glück und Besitz blieb der Dichterin auch in München nicht erspart. Vor zwei Jahren schied ihr jüngster Sohn mit vierundzwanzig Jahren in voller Blüthe und hoher geistiger Begabung aus dem Leben. Vor Kurzem aber verlor sie nach langer Leidenszeit ihre Mutter, mit welcher zusammen sie alle Freude und alles Leid bisher getragen, da sie fast nie getrennt waren. In Zeiten so schweren Schmerzens will selbst der Segen der Arbeit nicht frommen; es heißt, sich in Geduld fassen, bis die Seele ihr Gleichgewicht wieder gefunden. Aber während ihr viel verloren ging, ist der Geprüften in zwei tüchtigen Söhnen, die beide bereits ihr Haus gegründet haben, auch viel geblieben.

Wie bei den Romanen Amélie Godin’s die Einfachheit in Schürzung und Lösung der Handlung und die künstlerische Schönheit in Ausdruck und Darstellung, so verdienen auch – um dies schließlich nicht unerwähnt zu lassen – die wohllautenden Reime und gutgebildeten Verse der 1864 bei Herosé in Wittenberg erschienenen Dichtung: „Der Magdborn. Eine Sage aus dem Rheinlande“, alle Anerkennung. „Der Stoff ist dichterisch erfaßt,“ sagt Kurz über dieses Werk, „und mit großer Zartheit dargestellt. Die Anordnung ist geschickt; die Begebenheiten entwickeln sich ungesucht, und die Charaktere sind mit großer Sicherheit gezeichnet.“

So ist denn der Blick auf das literarische Schaffen Amélie Godin’s ein nach allen Seiten hin erfreulicher. Was aber an allen Schöpfungen der hochbegabten Frau das Herz des Lesers mit so wohlthuender Macht gefangen nimmt, das ist der Hauch wahrer Herzenswärme und ungekünstelter Poesie, der in ihnen allen weht. Man kann von dem geistigen Bilde der edlen Frau nur mit dem Wunsche scheiden, der frische Schaffensquell, der in der allgeliebten Dichterin noch immer lebendig ist, möge sein reines Geisteswasser noch lange springen und sprudeln lassen zur Freude und Labung derer, die heute, in einer wenig poesiefreundlichen Zeit, noch Freude haben an den Gebilden echter Poesie.[1]
Dietrich Theden.     


  1. Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf die in Kürze erfolgende Buchausgabe von „Mutter und Sohn“ (Leipzig, Ernst Keil) hinzuweisen. Die fesselnde Erzählung A. Godin’s, welche in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1881) eine beifällige Aufnahme gefunden, wird der geistvollen Verfasserin gewiß auch in dieser Form manchen neuen Freund erwerben und sei hiermit der allgemeinen Beachtung bestens empfohlen.
    D. Red.