Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1894)/Heft 25

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[409]

Nr. 25.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(24. Fortsetzung.)


Als Sigenot, mit seinen Leuten über den von welken Büschen bewachsenen Hang niedersteigend, in der Talsohle Henning und seine Genossen gewahrte, hieß er die Mägde voranschreiten und flüsterte den Knechten zu: „Schweiget, wenn er uns anruft. Muß geredet sein, so red’ ich allein!“ Auf einen Speerwurf waren die Wazemannsleute hinter ihm, als er, den Zug der Seinen schließend, den überschwemmten Thalweg erreichte. Da klang schon die Stimme Hennings. „Zeit lassen, Fischer!“

Sigenot blickte über die Schulter zurück und schritt weiter.

„Steh, Fischer! Oder hast Du Angst in den Füßen?“

Sigenot verhielt den Schritt und wandte sich; auch die Knechte des Richtmanns blieben stehen, während die Mägde ihren Gang beschleunigten. Henning und die beiden Knechte mit ihrer stillen Last kamen näher.

„Was willst Du von mir?“ fragte Sigenot.

„Schau’ her, was wir gefunden haben!“ Henning riß die Kotze von der Leiche. „Kennst Du den Mann?“

„Wohl, Henning! Es ist Dein Knecht, den Du auf Weg’ geschickt hast, für die Dein eigener Mut nicht gereicht hat.“

Henning lachte heiser. „Sieh’ doch! Wie gut Du weißt, welchen Weg mein Knecht gegangen ist in seiner letzten Nacht! Da wundert mich nimmer, daß Dein Fischknecht, wie ich gehört hab’, gar so erschrocken gethan hat beim Untersteiner Hag.“

„Wenn Du Dich nimmer wunderst … was fragst Du noch?“

„Ist Dir vielleicht um die Antwort bang? Ich mein’ schier, man könnt’ von Dir erfragen, wer meinen Knecht erschlagen hat.“

Sigenot schwieg.

„Bleibt Dir die Red’ in der Gurgel stecken? So red’ Dich doch aus auf Deinen Knecht … sag’ doch. der Wicho hat’s gethan!“

Um einen Schritt trat Sigenot näher. „Die Wahrheit will ich Dir hehlen … und lügen kann ich nicht. Denk’ Dir: ich hab’s gethan, so brauchst Du nicht weiter zu fragen!“

„Er hat gestanden,“ schrie Henning seinen Knechten zu, „faßt ihn, mein Vater will es!“

Die Knechte ließen die Leiche in die Pfütze gleiten, um ihre Speere frei zu bekommen, doch als sie sahen, daß Sigenot einem seiner Leute die Axt entriß, blickten sie zögernd auf Henning.

„Es wird sich hart machen mit dem Fassen!“ rief Sigenot, dessen klingende Stimme das dumpfe Rauschen der vorüberschießenden Ache hell übertönte. „Deine Helfer, Henning, fürcht’ ich nicht. Und Du? Du zählst ja nicht! Du hast ja nur Mut, wenn Du


Auf dem Gipfel der Zugspitze.
Nach einer Originalzeichnung von M. Zeno Diemer.

[410] den Pfeil werfen kannst aus dickem Busch oder den Stein lösen auf sicherem Gewänd’.“

In bleicher Wut riß Henning das Messer vom Gürtel und schwang es zum Wurf, erschrocken fiel ihm einer der Knechte in den Arm, Henning wollte sich losreißen, auf dem durchweichten Boden glitten ihm die Füße aus; er taumelte und fiel, kollerte über die Leiche, und ehe die erschrockenen Knechte ihn zu haschen vermochten, hatte er in dem über das Ufer getretenen Wasser den Grund verloren und verschwand mit gurgelndem Schrei in den Wirbeln der Ache. Kreischend und ratlos standen die Knechte, aber Sigenot hatte schon die Axt von sich geschleudert, in jagender Eile rannte er durch das anspritzende Wasser am Ufer dahin, und als er in einem schäumenden Wirbel zwischen Felsblöcken Hennings Arm auftauchen sah, sprang er mit weitem Satz in die Wellen. Den Treibenden am Genick fassend, schwang sich der Fischer, der auf dem Grund der Ache jeden Stein und jede Untiefe kannte, auf einen von den Wellen überspülten Block. Und ehe die schreienden Knechte noch zur Stelle kamen, hatte Sigenot mit dem Geretteten schon das jenseitige Ufer gewonnen. Halb von Sinnen taumelte Henning zu Boden, als der Fischer ihn aus seinen Händen ließ.

Sigenot schüttelte das Wasser von sich und schöpfte Atem. Ein müdes Lächeln huschte über seine Lippen. „Sag’, Henning, denkst Du noch der Wort’, die Du in jener Sturmnacht Deiner Schwester zugerufen, weil sie in meinem Geleit den Heimweg gefunden hat? Jetzt nimm die Wort’ zurück. Schäm’ Dich, Henning, bist Blut von Wazes Blut und mußt Dir helfen lassen von einem, wie ich bin!“ Er wandte sich ab und schritt unter den Bäumen am Ufer entlang.




28.

Wilder Lärm füllte die Hofreut des Fischerhauses. Mit heiseren Stimmen schrien die Almerinnen und laut brüllten die Rinder, welche scheu umherrannten, die Umfriedung des Gärtleins niederdrückten und nach allen Richtungen ihre Wege nahmen, die einen auf der Suche nach dem Stall, die anderen nach einem Ausweg. Die Männer mußten die Arbeit verlassen und den Dirnen zu Hilfe kommen. Nur schwer gelang es, die Rinder Sigenots von der Herde des Richtmanns zu scheiden und im Stall zu bergen. Die Scheune, so geräumig sie war, vermochte die fremde Herde nicht zu fassen. Man mußte an die Errichtung eines Schuppens denken, um den noch übrigen Tieren Schutz vor dem strömenden Regen zu bieten. Während die Männer Pfähle und Bohlen herbeischleppten, hörte Wicho laute Schläge am Hagthor. „Da kommt der Herr mit guter Hilf’!“ rief er und eilte, um zu öffnen.

„Schau’ erst über den Hag, eh’ Du aufthust!“ mahnte Eigel.

Wicho stieg auf den Lugaus und warf einen Blick nach der Lände, erschrocken fuhr er zurück. Herr Waze zu Roß und zwei Knechte mit Sauspeeren hielten vor dem Thor.

„Was ziehst Du den Kopf zurück?“ rief Herr Waze. „kennst Du mich nicht?“

Wicho winkte den Männern in der Hofreut, doch sie hatten die Stimme vor dem Hag bereits erkannt, Eigel und der alte Senn faßten ihre Aexte und rannten zum Thor. Hilmtrud, über deren Gesicht ein jähes Erblassen ging, wollte ihnen folgen, aber Kaganhart packte sein Weib am Arm und stotterte: „So bleib’ doch; bleib’ ... wir müssen nicht überall dabei sein!“

Wicho hatte die Arme über das erhöhte Flechtwerk des Hags gelegt und auf Wazemanns Frage die Antwort gegeben: „Wohl wohl, Herr, ich kenn’ Dich schon.“

„So rühr’ Dich! Siehst Du nicht, daß ich Einlaß will?“

„Wohl wohl, das seh’ ich!“ nickte Wicho, ohne von der Stelle zu weichen.

Herrn Wazes Stirne wurde rot. „Du Schuft! Thu’ mir das Thor auf, oder Du sollst für die Säumnis zahlen!“

„Schuft? He, Du!“ rief Wicho einem der Wazemannsleute zu. „Hörst du nicht, Dein Herr hat Dich gerufen! Mich kann er ja nicht gemeint haben, denn ich heiß’ Wicho! Tummel’ Dich und zeig’ ihm den Heimweg ... es macht grob Wetter heut’ ... schau’ nur, das Wasser lauft ihm ja schon beim Stiefel heraus.“

Herr Waze ritt dicht an den Hag heran und hob die Augen mit stechendem Blick zu Wicho. „Ruf’ mir Deinen Herrn!“

„Mein Herr ist im Haus und kann nicht kommen,“ entgegnete Wicho und ließ keinen Blick von der Hand des Spisars, denn er sah, daß Herr Waze an dem Riemen nestelte, mit welchem der kurze Jagdspeer an den Sattel gefesselt war.

„Nicht kommen? Warum nicht?“

„Er hat ein neues Häs an, und das hat heiklige Farben, die den Regen schlecht vertragen! Da müßt Ihr wohl ...“ Wicho verstummte, denn er sah seinen Herrn mit des Richtmanns Leuten auf der Lände erscheinen. Mit langen Sprüngen stürzte er zum Haus, riß den fünfzackigen Näbiger von der Wand, eilte über den Hügel hinunter und keuchte. „Das Thor auf!“

Als Herr Waze den Fischer erblickte, öffnete sich schon der Hag, und Wicho stellte sich mit Eigel und dem Altsenn an Sigenots Seite, während die zwei Mägde des Richtmanns mit ihren Kraxen in das Thor flüchteten.

Ueber Wazemanns Lippen huschte ein dünnes Lächeln, er hatte rasch die Fäuste gezählt, welche wider ihn und seine beiden Knechte waren, und merkte wohl, daß für Zorn und Gewalt nicht die rechte Stunde wäre. Mit einem stummen Wink hieß er seine Knechte zurücktreten und rief den Fischer an. „Du mußt ein übles Gewissen haben, denn ich seh’, Du rufst mehr Leut’ um Dich her, als Du füttern kannst an Deinem Tisch!“

Sigenot wollte Antwort geben, doch Eigel kam ihm zuvor und schrie: „Wenn Du meinst, ein gutes Gewissen müßt’ allein stehen ... warum denn hat man Dich im Gadem noch niemals ohne Knecht’ gesehen! Aber steck Dich hinter all’ Deine Knecht’ ... es wird doch eine nach Dir greifen! Schau’ Dich um, sie steht schon hinter Dir und hebt die Fäust’!“

Herr Waze warf einen scheuen Blick über die Schulter, doch er sah nur seine Knechte. „Was will der Narr?“

„So schau’ sie doch an! Oder kennst Du die Salmued nimmer ...“

Sigenot legte die Hand auf Eigels Arm und zog ihn zurück; ruhig fragte er: „Herr Waze, was wollt Ihr bei meinem Haus?“

Langsam wandte der Spisar die funkelnden Augen von dem Kohlmann und sah den Fischer an. „Die Neugier hat mich hergetrieben. Ich möcht’ wohl wissen, warum Dein Hag Dir auf einmal zu nieder scheint, daß Du ihn höhen und festen mußt?“

„Es steht der Winter vor meinem Thor, der Schnee wird steigen und die Wölf’ haben hohen Sprung.“

„So? Und Du fürchtest die Wölf’?“

„Nein, Herr, aber man hütet sich vor ihnen.“

„So? Dann laß Deinen Hag nur gehörig wachsen, eh’ sie springen. Und eine andere Frag’ noch hab’ ich an Dich. Mir fehlt ein Knecht, weißt Du mir keine Kund’ von ihm?“

„Wohl, Herr! Vor kurzer Weil’ erst hab’ ich ihn gesehen. Reitet nur heim ... Euer Henning bringt ihn mit seinen Knechten getragen auf dem Speerholz.“

„Wer hat ihn erschlagen?“ schrillte die Stimme Wazes. „Du?“

„Ob ich’s gethan hab’, wird sich weisen im Gericht.“

„Du wirst Dich stellen?“ fuhr es hastig über die Lippen des Spisars, und seine Augen schossen einen Blitz.

„Ja, Herr! Aber nicht in Eurem Haus, sondern vor dem Sitz der Klosterleut’, die nach Recht die Herren sind im Gadem. Ich hab’ mein Leben und Haus in ihre Hand gelegt. Schauet her, Herr Waze ...“ er deutete nach dem Kreuz, „da steht ihr Herrenzeichen vor meinem Hag!“

Herr Waze würgte an einem Wort, doch es wollte ihm nicht von der Zunge; kalkige Blässe bedeckte sein Gesicht, und der Zügel schwankte in seiner zitternden Faust. Sigenot wandte sich zu den Seinen. „Geht ins Haus, Ihr Leut’, wir wollen das Thor schließen ... denn ich mein’, Herr Waze und ich, wir haben zu End’ geredet.“ Zögernd folgten die Leute dem Geheiß des Fischers, der die Hofreut als der letzte betrat.

Wie versteinert saß Herr Waze im Sattel, doch als die Thorflügel sich schlossen, reckte er die Faust und knirschte: „Auf morgen, Fischer!“ Er warf das Pferd herum und ritt am Hag entlang. Da sah er Hilmtrud auf dem Lugaus stehen, sie hielt mit der einen Hand den Knüttel umfaßt und stieß mit der anderen ihren Mann zurück, der sie vom Hag hinwegreißen wollte.

„Du?“ lachte Herr Waze. „Hast Du Dich auch zu ihm gesellt? Gieb acht ... Dir soll in des Fischers Haus noch heißer werden als unter Deinem eigenen Dach!“

Erbleichend taumelte Hilmtrud, als hätte ein Faustschlag ihr Gesicht getroffen. „Mordbrenner, Mordbrenner!“ kreischte sie wie von Sinnen und wollte den Knüttel schleudern. Schreiend klammerte sich Kaganhart an ihren Arm, aber sie riß sich los und schwang sich [411] über den Hag; der Länge nach stürzte sie in die Pfütze, raffte sich auf – „Mordbrenner!“ keuchte sie, und während Kaganhart mit jammerndem Gezeter zum Hagthor eilte, rannte sie mit geschwungenem Knüttel dem Spisar nach. Unter den Bäumen, nahe der Achenbrücke, erreichte sie ihn, faßte das Roß am Schweif und schlug. Herr Waze hatte den Jagdspeer vom Sattel gerissen und fing den Streich auf, der nun mit Wucht auf den Rücken des Pferdes fiel. Das Tier schlug aus; stöhnend taumelte Hilmtrud, vom Huf am Arm getroffen, ließ den Knüttel sinken, und gleich einer Wahnsinnigen sprang sie an dem Spisar hinauf, die eine Hand um seinen bewehrten Arm, die andere an seine Hüfte klammernd. „Mein Haus ... Du Mordbrenner ... gieb mir mein Haus wieder!“ Sie riß und zerrte, daß Herr Waze im Sattel wankte. Die Knechte sprangen ihm zu Hilfe, während vom Thor her die Rufe der näher eilenden Männer klangen.

„Macht mich ledig von der Katz’!“ schrie Herr Waze, der auf dem scheuenden Pferd nur mühsam noch den Halt bewahrte.

„Mein Haus ... mein Haus ...“ keuchte Hilmtrud, und während sie, am Spisar hängend, vom Pferde geschleift wurde, riß sie den Wildfänger von Wazemanns Gürtel. „Wart’, Du Mordbrenner ... jetzt raiten wir, Du sollst mir zahlen ...“ Da erloschen ihre Worte in röchelndem Laut; einer der Knechte hatte ihr den Jagdspeer in den Rücken gestoßen; den blanken Stahl noch in der geschwungenen Faust, stürzte sie blutend auf den überschwemmten Grund, und über sie hinweg gingen die Hufe des Pferdes. Als Sigenot mit den Seinen zwischen den Bäumen herbeisprang, verschwand Herr Waze schon jenseit der Achenbrücke, und seine Knechte warfen sich in das bergende Gebüsch.

„Trudli, Trudli!^ jammerte Kaganhart und streckte die Arme; da sah er auf dem Rücken des Weibes, das mit dem Gesicht auf der Erde lag, den sprudelnden Blutquell. „Wazemann!“ Im Rauschen des Regens weckte sein gellender Schrei das Echo an der Falkenwand. Einen Augenblick stand er mit aschfarbenem Gesicht, vom Entsetzen wie versteinert; dann riß er die Axt aus Eigels Hand und stürzte über die Achenbrücke dem Reitweg zu. „Wazemann!“ schrie er und starrte nach allen Seiten, doch öde lag der triefende Wald um ihn her, und grau verschleierte der Regen die Höhe des leeren Pfades. Jähes Schluchzen erschütterte seine Brust, und seiner zitternden Hand entfiel die Axt. Zwei von des Richtmanns Knechten kamen ihm nachgeeilt; sie mußten ihn stützen und führen, denn seine Knie schlotterten, und bei jedem Schritte drohte er niederzusinken. Sein Schluchzen wurde zu lautem Weinen und Jammern, als er sah, wie Sigenot das todwunde Weib auf die Arme hob und zum Hause trug. Der Fischer brachte die Sterbende in Wichos Kammer; dort legte er sie auf das Heubett und löste den blanken Stahl aus den krampfhaft geschlossenen Fingern.

Während die Männer und Dirnen sich in das enge Stüblein drängten, das schon im Zwielicht des sinkenden Abends lag, fiel Kaganhart vor dem Lager auf die Knie.

„Sag’, Herr,^ flüsterte Wicho, „was soll denn geschehen mit ihr?“

„Da ist nimmer Hilf’,“ erwiederte Sigenot mit schwankender Stimme, „der Stoß ist tief ins Leben gegangen.“ Er trat zum Lager und suchte den Verzweifelten aufzurichten.

Mit den Fäusten stieß ihn Kaganhart von sich. „Du! Du bist schuld an allem! Hättest Du uns nicht hergezerrt in Dein Bluthaus, so thät’ sie noch leben! Du! Du bist schuld an allem ...“

„Hör’, Bauer,“ unterbrach ihn Wicho zornig, „das ist übler Dank ...“

Sigenot schob den Unwilligen beiseite. „Laß’ ihn schelten, ich kann ihm nicht unrecht geben. Ich hab’ sein Weib unter mein Dach und in meinen Schutz gerufen – schau’ her ...“ er deutete auf Hilmtrud, „so viel ist mein Schutz noch wert!“ Die Stimme schlug ihm um, und seine Augen wurden feucht. „So will ich keinen mehr halten bei mir ... ein jeder von Euch kann gehen, wie er mag. Ich halt’ Euch Treu’, aber keiner braucht sie mir zu bieten!“ Einen Blick noch warf er auf das sterbende Weib und verließ die Kammer.

Draußen stand er im strömenden Regen, und der kalte Wind wehte ihm die triefenden Haarsträhne in das bleiche Gesicht. Seine Augen suchten den Falkenstein und Wazes Haus. „Recka! Recka!“ schrie es in seiner Seele, „in derselbigen Stund’, in der ich Dich gehalten hab’ an meinem Herzen, hat meine Not begonnen! Wie das Laub von einem kranken Baum, so ist die Kraft von mir gefallen. Hätt’ ich nicht allweil’ denken müssen an Dich ... es wär’ Deinem Bruder Henning nimmer Zeit geblieben, den Knecht in meiner Schwester Weg zu schicken, Dein Vater Waze hätt’ nimmer die Stund’ erlebt, in der das arme Weib verbluten muß! Ich hab’s ja gewußt: ich soll keine frohe Stund’ nimmer haben im Leben, seit ich untreu worden bin an meinem eigenen Blut!“ Er strich mit dem Arm über die Stirne und trat ins Haus. In der Halle saß der Kohlmann auf dem Herdrand zu Mutter Mahtilts Füßen. Mit steinernen Zügen ruhte sie in ihrem Sessel und hob nur die Augen, als Sigenot in der Thür erschien. Er ging auf die Mutter zu und legte den Arm um ihre Schulter.

„Wie geht’s ihr?“ fragte Eigel.

„Schlecht.“

„Und nimmer Hilf’?“

Sigenot schüttelte den Kopf. Da klang das schrille Lachen seiner Mutter, und zu ihm aufblickend, streckte sie die zitternde Hand und deutete durch das Fenster nach dem Kreuz. Sigenot wandte sich ab und drückte den Arm über die Augen.

„Fischer!“ Der Kohlmann sprang auf, ein Scheit in der Hand. „Du, der einzige Mann im Gadem – laß nur Du den Mut nicht sinken! Halt’ fest an Dir selber! Und sag’, was soll geschehen jetzt?“

„Frag’ die andern ... es geht nicht um mich allein!“

Das zornige Lachen des Kohlmanns hallte zwischen den Wänden. „Ging’s nach meinem Willen, ich wüßt’ schon, was ich thät’! Ich möcht’ die Händ’ eintauchen in der Hilmtrud Blut und umlaufen im Gadem ... und einem jeden möcht’ ich die blutigen Finger hinstrecken vor die Nas’ und schreien: jetzt riech’, Bauer ... Blutschmack hat die Supp’, die Ihr gekocht habt auf dem Totenmann!“ Er warf das Scheit in das Herdfeuer und verließ die Stube. Als er Wichos Kammer erreichte, sah er die Leute um das Lager gedrängt und hörte Kaganharts Stimme: „Schauet nur, sie thut die Augen auf!“

„So lupf’ ihr doch den Kopf,“ stammelte Heilwig, „siehst denn nicht ... sie möcht’ in die Höh’.“

„Ja, Trudli, ja, komm nur, komm, ich thu’ Dich heben!“ Kaganhart schob den Arm unter das schwere Haupt seines Weibes.

Seufzend richtete Hilmtrud sich auf und fuhr mit den Fingern über das Gesicht, als hingen ihr Haare in die Augen, die Blicke waren verschwommen, nur langsam schien sie die Leute vor ihrem Lager zu erkennen, zuletzt ihren Mann. Eine Weile hingen ihre Augen an ihm, dann rührten sich flüsternd die bleichen Lippen: „Hartli? ... Bin ich allein hin? ... Oder hat er auch seinen Treff?“

„Freilich, freilich!“ schluchzte der Bauer, der mit dieser Lüge seinem Weib eine Wohlthat zu erweisen meinte.

Tief atmete Hilmtrud, und ein mattes Lächeln huschte um ihre Lippen. Sie schloß die Augen, als wäre sie müde und möchte schlafen nach schwerer Arbeit. Schwerfällig winkte sie mit der Hand. „Leut’ ... geht hinaus!“ Sie thaten ihr den Willen; als sich die Kammer geleert hatte, rückte Hilmtrud ihre Wange an das zuckende Haupt des Bauern und streichelte ihm das nasse Haar. „Hartli ... ich hab’ Dich lieb gehabt!“

„Wohl wohl, Trudli ... schau’, ich Dich auch ... und fest!“

„Thust mir verzeihen?“

„Freilich, Trudli, freilich!“ Er weinte zu diesen Worten wie ein Kind. „All’ die unguten Reden, alle, die mir gegeben hast, alle ... hast es ja allweil’ gut gemeint!“

Sie schüttelte den Kopf. „Die mein’ ich nicht ... da sind wir allweil’ auf gleich gewesen. Ich mein’ ’was anderes ... unser Haus ... ich, Hartli, ich bin schuld ...“ Zitternde Schwäche befiel sie, und ein roter Tropfen sickerte von ihren Lippen.

Kaganhart hörte auf zu schluchzen und starrte in das Gesicht seines Weibes.

„Ich bin schuld ... ich hab’s ihm verraten, Hartli, von der Thingnacht ...“

„All’ Ihr guten Mächt’!“ Erschrocken schlug der Bauer die Hände ineinander. „Ja Weib, ja wie hast denn so ’was thun können!“ Er fuhr sich in die Haare. „Und ich hab’ schiech geredet wider ihn im Thing!“

„Drum hat er Feuer geworfen in unser Haus ... der Mordbrenner!“ Sie ballte die Fäuste.

„Ja Weib! Ja Weib!“ jammerte der Bauer. „Unser Haus! Ja wie hast denn so ’was thun können!“

„Er hat mich auf der Straß’ gestellt ...“

[412] „Ja muß man denn da gleich alles ausreden?“

Unwillig hob sich die Stimme des Weibes. „Hast ja Du auch nicht geschwiegen ... und bist doch ein Mannsbild!“

„So? So? Hast Du es nicht aus mir herausgedruckt mit Schelten und Streiten?“

„Hättst mich streiten lassen, Du Lapp ... “

„Ja! Weil bei Dir schon einer aufkommt, Du ungute Dingin Du!“

„Den schau’ an! Schelten will er auch noch! Schwören kann er, schwören ... aber den Schwur halten? Wie die Henn’ das Gackern!“

„So ein Weib! Ja hör’ nur einer das Weib an! Im letzten Schnaufer noch muß sie raiten und raffeln!“

„Raffeln? Wer raffelt? Wart’, die Raffel zahl’ ich Dir heim ...“

Draußen vor der Thüre standen die Leute und hörten mit hellem Staunen die kreischenden Stimmen aus der Kammer. „Es muß ihr doch nicht gar so schlecht sein,“ stotterte Heilwig, „sie zanket ja schon wieder.“

Wicho öffnete die Thür, und hinter ihm drängten sich die anderen in das Stübchen. Auf dem Heubett sahen sie Hilmtrud halb aufgerichtet knien, mit den Händen in der Luft, doch kraftlos fielen ihr in der nächsten Sekunde die Arme nieder, und stöhnend sank sie über das Heu. Erschrocken sprangen die Leute zum Lager, und stotternd streckte Kaganhart die Arme nach seinem Weib. Noch einmal suchte Hilmtrud sich aufzurichten. „Hartli, mein guter Hartli ...“ klang es seufzend von ihren Lippen, dann fiel sie zurück, und ihre Glieder streckten sich.

„Trudli! Trudli! Ja was ist Dir denn? So red’ doch!“ jammerte der Bauer.

Da erkannte er den Tod im Antlitz seines Weibes.

„All’ Ihr guten Mächt’!“ schrie er und warf sich mit bitterlichem Schluchzen über den Leichnam.

Vom Bergwald herüber, durch das Rauschen des strömenden Regens, klang das Geläut einer heimkehrenden Herde, und ein Hüterbub’ jauchzte zum Hall der Schellen, als wäre Sonnenschein und Frühling über ihm, nicht gießendes Gewölk und sinkender Winter.




29.

Auf dem Herd der Klause saß Bruder Wampo in trüben Sorgen. Er hatte ein Feuer angeschürt, um sich zu wärmen und die nassen Gewandstücke zu trocknen. Während er mit kummervollen Mienen vor sich hin grübelte, knisterte die Flamme, und aus der Zelle nebenan klang die psalmierende Stimme Waldrams. Bruder Wampo hörte sie nicht, er war versunken in seinen Schmerz. Vor kurzer Weile hatte er die Vorräte in der Kammer gemustert und hatte das Mehlsäcklein durchweicht gefunden von dem Regenwasser, das der Wind durch die offene Fensterluke hereingetrieben. Das Mehl war unbrauchbar geworden, und auch die Hälfte der Bohnen war verdorben. Der karge Rest, den Bruder Wampo gerettet hatte, reichte kaum für die Mahlzeiten des kommenden Tages. Und war die letzte Bohne verzehrt, was dann? Mancherlei waghalsige Pläne kreuzten sich in seinem runden Köpflein, und schließlich fiel ihm der wilde Immstock ein. Honig! Das wäre wohl kein Futter für den Hunger, aber doch ein süßer Trost für die Zunge, so meinte Bruder Wampo.

Hurtig eilte er zur Thür und spähte hinaus. Es rieselte in Fäden, und Schnee fiel zwischen dem Regen, aber die Nässe hätte den Bruder nicht abgeschreckt ... wäre nur der Abend nicht so nah’ gewesen! Seit dem letzten Abenteuer empfand er ein gelindes Grauen, so oft er an den dunklen Bergwald dachte. Das hinderte aber nicht, daß ihm beim Gedanken an den Honig das Wasser im Mund zusammenlief. „Ich muß ihn holen! Ich muß!“

Er lief zum Herd, knüpfte einen hölzernen Napf an den Gürtel und barg ein Bündel Kienspäne in der Kutte, um sie vor dem Regen zu schützen. Einen Blick noch warf er in Eberweins Zelle, nickte freundlich lächelnd dem Knaben zu, der auf dem Lager ruhte, und eilte davon.

Huze hatte sich aufgerichtet, denn er war der Meinung, daß der Bruder käme, um mit ihm zu plaudern. Als er ihn verschwinden sah, streckte er sich wieder auf das Moos und schob die Hände unter die Wange. Draußen plätscherte die Traufe, und durch die Holzwand klang dumpf die Stimme Waldrams. Der Knabe schlief ein, und lächelnd rührle er im Traum die Lippen; er flüsterte den Ruf, mit dem er die Geißen zu locken pflegte, und lispelte den Namen des kleinen Dirnleins im Schapbacher Wald . . .

Nach einer Weile fuhr er aus dem Schlummer auf und lauschte erschrocken. Er hörte eine gellende Stimme schreien: „Weiche von mir! Denn sieh’, ich bin gewaffnet wider Dich mit Gottes Schild! Reiße mir Wunden, brenne mein Fleisch, doch meine Seele will ich retten aus Deinen Klauen! Unlerliegen sollst Du! Den Fuß will ich setzen auf Deinen Nacken! Nieder mit Dir! Nieder!“ Und klatschende Schläge fielen.

„Zu Hilf’! Zu Hilf’! Sie morden den Herrn! Zu Hilf’!“ schrie Huze in Schreck und Angst. Seiner wunden Füße vergessend, sprang er vom Lager, brach in die Knie, raffte sich wieder auf, und Eberweins Beil ergreifend, schleppte er sich hinkend zur Zelle des Paters, den er von einem Mörder überfallen wähnte. Mit erhobenem Beil erreichte er die Thüre. Da sah er Waldram auf der Erde knien, in der Hand die schwirrende Geißel, mit halb entblößtem, von Blut überronnenem Körper.

„All’ Ihr Gutholden ... er ist närrisch worden!“ kreischte der Knabe; Entsetzen faßte ihn, das Beil entfiel seiner Hand, und schreiend flüchtete er aus der Klause. Jeden Schritt, den er that, empfand er mit stechendem Schmerz, aber die zitternde Angst vor dem Wahnsinn, den er gesehen, trieb ihn weiter. Er hielt nicht inne, als er den Wald erreichte. Mit klunkernden Füßen, stöhnend bei jedem Schritt, schleppte er sich zwischen den Bäumen dahin. Bald hörte er im nahen Thal die Ramsauer Ache rauschen, doch eh’ er sie erreichte, verließen ihn die Kräfte, und halb bewußtlos sank er zu Boden – 00000000000000000000

Läutende Schellen näherten sich im Thal, Kühe zogen vorüber, und erregle Stimmen ließen sich vernehmen.

„Hör’ auf! Hör’ auf! Wie soll man denn so ’was glauben können! So ’was!“ klang eine Männerstimme. Und eine Dirne kreischte. „So frag’ den Hüterbuben! Der hat’s auch gesehen!“

„Wohl wohl,“ fiel die Stimme eines Knaben ein, „wie ein Lampl[1] ist das Untier vor ihm gestanden und hat ihm die Hand geleckt und ist ihm nachgelaufen wie ein Hundl.“

„Gelt! Gelt! Jetzt hörst es! Hätt’ ich’s nicht selber gesehen, meiner Lebtag’ hätt’ ich das Wunder nimmer glauben mögen!“

„Das muß man dem Richtmann sagen, dem Richtmann!“ schrie die Männerstimme. „Gegen Gottesleut’ die so ’was können . . . gegen solche Leut’ trau’ ich mich nimmer feind sein! Geschworen oder nicht ... ich thu’ von morgen an ...“ Im Rauschen der Ache und des Regens erstickte die sich entfernende Stimme.

„Leut’! Leut’!“ So hatte Huze ein um das andere Mal mit schluchzenden Lauten gerufen, doch niemand hörte ihn. Das Geläut der Schellen klang ferner und verstummte, um nach einer Weile jenseit der Ache auf bewaldetem Hang wieder laut zu werden.

Die kleine Herde zog dem Gehöft des Urstallers entgegen, nahe vorüber am zerfallenen Hag des alten Gobl. Der Greis, der unter seinem Dächlein auf dem Heusack kauerte, hörte den Schellenklang und die kreischenden Stimmen. Er hob den Kopf und lachte. „Ziehet heim ins Thal oder steiget zu Berg’ ... es gehen doch alle Weg’ dem gleichen Fleckl zu.“ Nickend saß er, hielt die Knie mit den Armen umschlungen und blickte hinaus in den grauen Regen. Trübe Dämmerung fiel über die Halden, und der Abend kam. Je tiefer das Dunkel sank, desto leiser wurde das Rieseln um die Hütte her, bis es ganz verstummte. Der alte Gobl streckte die Hand durch die Luke hinaus, leicht und kalt fiel es auf seine Finger ... es waren Flocken.

Laute Stimmen näherten sich. Ein paar Männer, von einem Haufen schreiender Weiber umgeben, eilten am Hag vorüber. Der Greis hörte sie von einem Wunder schreien, das im Lokiwald geschehen wäre. Was er vernahm, störte seine Ruhe nicht. Gähnend streckte er sich auf den Heusack und schloß die Augen, doch er fröstelte und konnte den Schlaf nicht finden. Einmal war es ihm, als klänge durch die stille Nacht ein wimmernder Ruf. Lauschend saß er, schüttelte den Kopf und streckte sich wieder. Näher klang der matte Ruf, und nach einer Weile hörte der Greis ein schmerzvolles Stöhnen. Er kroch vor die Hütte, sah beim Hagthor auf der Erde einen schwarzen Klumpen sich bewegen und rief: „Du Bröckl Elend dort! Wer bist? Was willst von mir?“ Ein klagender Wehlaut war die Antwort. Der Alte lachte. „Schau’ nur, schau’, jetzt sucht gar einer noch Hilf’ beim Gobl! Oder muß Elend

[413]

Das Wetterloch bei der Zugspitze.
Nach einer Originalzeichnung von M. Zeno Diemer.

[414] zum Elend laufen wie Wasser zum Wasser?“ Er stieg uber die Trümmer seines Hauses nieder und watete durch die Pfützen zum Hagthor. Neben dem Pfosten sah er einen Buben liegen, faßte ihn beim Arm und rüttelte ihn. „He, Du! Was ist denn mit Dir?“ Doch keine Antwort kam. „So red’ doch! Wer bist Du denn?“ Der Knabe blieb stumm, und sein Arm, den der Alte aus den Händen ließ, fiel schwer herab. „Er muß dämlig sein!“ murmelte Gobl und beugte sich über den Knaben; in der Finsternis vermochte er das Gesicht nicht zu erkennen. „So komm halt ... morgen werden Deine Leut’ schon schreien nach Dir!“ Mit seinen müden Kräften hob er den Bewußtlosen auf und schleppte ihn unter das Dächlein. Als er merkte, daß der Knabe vor Frost und Nässe zitterte, riß er den Heusack auf und höhlte für den stillen Kameraden ein warmes Nest. Dann saß er im Dunkel an seiner Seite, und immer wieder griff er mit der Hand ins Heu, um zu fühlen, ob der Frierende auch warm würde.

Einmal lachte er hell auf. „Schau’ nur, schau’ ... mein Haus hat wieder Leut’, und sorgen thu’ ich mich auch schon drum!“ Bald hörte er den stillen Schläfer in tiefen Zügen atmen, und ein feuchtwarmer Dunst begann aus dem Heu zu quellen. Dem Greise wurden die Lider schwer; neben dem Haupt des Knaben legte er den müden Kopf aufs Heu und fiel in Schlnmmer . . .

Still lag die Nacht um das Dächlein und um die Trümmer des zerfallenen Hauses her, der Wind hatte sich gelegt, lautlos fiel der Schnee, und nur leise murmelte zuweilen das auf der Erde verrinnende Wasser. Fern draußen aber auf den Halden der Schönau war es lebendig in allen Gehöften, Leute eilten von Hag zu Hag, schreiende Stimmen klangen, und Feuerschein leuchtete aus offenen Thüren.

Auf dem Karrenweg, der von des Richtmanns Hag thalwärts gegen die Ache führte, wanderte ein Einsamer hastigen Ganges, die lodernde Fackel in der Hand; es war einer von des Richtmanns Knechten, und sein Weg ging dem Fischerhaus entgegen. Als er die Achenbrücke erreichte, löschte er die Fackel aus und spähte durch die Nacht hinaus gegen den Falkenstein. In rötlicher Helle hob sich Wazemanns Haus aus dem Dunkel, als stünden brennende Pechpfannen im Burghof. „Was die da droben schaffen in der Nacht, das wird uns heiß machen am Tag!“ murmelte der Knecht und begann zu laufen. Beim Hag des Fischerhauses angelangt, pochte er leise, worauf das Thor sich lautlos öffnete, um hinter ihm sich wieder zu schließen. „Was bringst Du?“ klang die flüsternde Stimme des Kohlmanns.

„Ich mein’, wir könnten Hilf’ kriegen mit dem Morgen.“

„Hilf’? Woher?“

„In der Schönau sind alle Leut’ lebendig ... mit Laufen und Schreien tragen sie die Red’ um’ einer von den Gottesleuten hätt’ ein Wunder gethan im Lokiwald. Die Urstaller Dirn’ hat mit ihrem Hüterbuben abgetrieben von der Alben und wie sie nicht weit von der Klaus’ durchs Holz gezogen sind, da haben auf einmal die Rinder ein wüstes Brüllen angefangen und sind scheu geworden und davongesaust, als hätt’ man ihnen Feuer an die Schwänz’ gehängt. Die Dirn’ und der Bub’ stehen nur allweil’ und schauen . . . und da sehen sie einen Gottesmann und sehen, wie ein Bär auf ihn zuspringt. Aber der Gottesmann . . . ich weiß nicht, hat er eins von seinen heiligen Bannzeichen gemacht, oder hat er einen baumstarken Bärensegen gerufen . . . kurz und gut, ich sag’ Dir: der Bub’ und die Dirn’ haben gesehen, daß der Bär auf einmal vor dem Gottesmann gestanden ist, so zahm wie ein Lampl, und hat ihm die Händ’ geleckt und ist ihm wie ein Hundl nachgelaufen bis zur Klaus’. Der Bub’ sagt noch, das Untir hätt’ dem Gottesmann im Maul ’was nachgetragen . . . ich glaub’, er hat gesagt: ein Körbl ... aber das leugnet die Dirn’, das will sie nimmer gesehen haben.“

„Und das glauben die Leut’?“ stotterte der Kohlmann.

„Wohl wohl! Es muß doch ’was dran sein! Der Bub’ und die Dirn’ schwören ja Stein und Bein. Bei der Ramsauer Ache, wo sie ihr Vieh wieder gefunden haben, ist ihnen der Schmied von Ilsank in den Weg gelaufen. Dem haben sie gleich alles erzählt . . . und der Schmied ist der erst’ gewesen, der geschrieen hat: er traut sich nimmer feind sein wider die Gottesleut’. Mit der Dirn’ ist er umgelaufen von einem Hag zum andern, und da kannst Dir denken, wie die Leut’ lebendig worden sind! Das wär’ freilich nicht schlecht, wenn man den Bärensegen lernen könnt’ von den Gottesleuten . . . da hätt’ das Vieh gute Zeit, und es wär’ ein leichtes Hausen auf der Alben. Und schau’, ich mein’ halt auch wie die Schönauer Leut’: wer so stark ist wider die Untier’, der müßt’ auch aufkommen gegen die Wazemannsbuben. Die haben heut’ in der Schönau wieder schieche Arbeit gemacht . . . den Hanetzer haben sie schier krumm geschlagen, bis er ihnen genug geredet hat, und von ihm weg sind sie zu unserem Hag gezogen, der Köppelecker hat’s gesehen, wie sie das Thor eingeschlagen haben und alle Thüren aufgebrochen.“

„Komm, das muß der Fischer hören!“ rief Eigel und zog den Knecht hinter sich her in das Haus. Als sie eingetreten waren, schloß sich die Thür, und an den Fensterluken wurden die Läden vorgeschoben.

Nur aus Wichos Kammer strahlte nach rötliches Licht. Ein flackerndes Spanfeuer erleuchtete den kleinen Raum. Neben Hilmtruds Totenlager saß Kaganhart auf der Erde und murmelte die Klage, während er von den Fingern der Leiche die Nägel schnitt. Bei jedem Nagelspänlein, welches niederfiel, nannte er unter Thränen eine gute Eigenschaft seines Weibes. Der unsichtbare Geselle, der gekommen war, um die Hilmtrud einzuführen in sein dunkles Reich, hörte so viel des Lobes, daß er glauben mußte, er hätte dem Leben niemals ein besseres Weib entrissen ...

Das war nicht die einzige Totenklage, welche gehalten wurde in dieser Nacht. In stundenweiter Ferne vom Fischerhaus, im Kirchhof der Ramsau, klang eine schluchzende Stimme. Finster stand das Kirchlein, denn das „ewige Licht“, dessen Lampe Hiltischalk an jedem Morgen mit frischem Oel gefüllt, war ausgebrannt, und finster lag auch das Haus mit seinem kalten Herd. Nur die Dächer, auf denen der fallende Schnee schon zu haften begann, schimmerten grau in der Nacht. In das dumpfe Rauschen der Ache mischte sich die Klage der Magd. Laut weinend irrte Mätzel in Haus und Hof umher, unter der Linde fiel sie auf die Steinbank nieder und barg ihr Gesicht in den Händen . . .

Im Thal der Ache, fern am Waldsaum, wo der Karrenweg zwischen die Bäume lenkte, gaukelte der Schein einer Fackel. Schweiker trug sie, der mit Eberwein den Heimweg suchte. Bei jeder schlechten Stelle des Pfades senkte er die Flamme, um den Weg vor den Füßen seines Herrn besser zu erleuchten, zuckend fiel der Fackelschein über das bleiche verstörte Antlitz Eberweins, das um Jahre gealtert schien. Schweigend wanderten die beiden, während der fallende Schnee auf der nassen Erde zerschmolz, blieb er an ihren Kleidern haften, ihre Arme und Schultern wurden weiß.

Als Schweiker wieder einmal aufblickte in Eberweins Gesicht, sah er seine Lippen zucken und seine Augen in Thränen schwimmen. „Ja Herr, ja guter Herr,“ stammelte er, „wie magst Dich denn so viel kränken! Schau’ nur, wie alt sie gewesen sind! Mit jedem nächsten Stündl dem Tod verfallen! Und schau’, man kann noch allweil’ nicht sicher wissen, ob sie nicht doch noch leben! Wenn’s aber schon so wär’, daß sie einen schiechen Tritt gethan haben und hinuntergefallen sind . . . schau’, so sind sie bei den guten Heiligen im Himmel.“

Stöhnend, als wäre ihm jedes dieser Worte eine Qual, streckte Eberwein die Hände gegen Schweikers Lippen und winkte ihm, zu schweigen. Sie wanderten weiter, immer langsamer wurden Eberweins Schritte, denn seine Kräfte waren erschöpft.

Fast Uebermenschliches hatte er geleistet, seit er mit Schweiker und Mätzel bei der Ache den alten Runot mit seinen Söhnen und anderen Männern der Ramsau auf der Suche nach dem verschwundenen Paar getroffen. Als Eberwein hörte, was bei Waldrams Ankunft vor dem Kirchlein in der Ramsau geschehen, stand er bleich und wortlos wie vor einem Unheil, bei dem es nicht Rat noch Hilfe giebt. Schreiend riß die Magd an seinem Gewand, und mit schmähenden Worten hoben die Männer ihre Fäuste gegen ihn. Unter der finsteren Gewalt, mit welcher Waldram sie gefesselt, hatten sie den Greis verlassen . . . jetzt schrien sie nach ihm wie nach einem Vater, den sie verloren, und sahen in Eberwein und Schweiker nur die Gesellen jenes anderen, der sie zu Waisen gemacht. In hellem Zorn wollte Schweiker die Schmäher zur Ruhe weisen, doch Eberwein wehrte es ihm. „Schweige! Laß ihrem Groll und Jammer sein Recht! Waldram hat gesät, und wir müssen ernten. Könnt’ ich, was geschehen, mit meinem Leben ändern, ich gäb’ es gern dahin!“

Diese Worte und der tiefe Kümmer, der aus der Stimme des Mönches und aus seinen Augen redete, machte die Schreier verstummen. Wohl folgten sie zuerst nur zögernd den Weisungen [415] Eberweins, doch immer williger gehorchten sie, je mehr sie den schmerzvollen Eifer erkannten, mit welchem Eberwein nach dem Weg der Verschwundeuen zu forschen begann. Auf durchweichter Erde fanden sie die halb verwaschenen Spuren, welche zur Höhe der Windach führten. Da meinten sie, daß Hiltischalk und Hiltidin sich zu den Almen am Windachersee geflüchtet hätten, denn die Almerin, welche dort oben hauste, war eine Blutsverwandte der Greisin. Doch die Dirne, welche ihre Herde zu Thal trieb, begegnete den Suchenden und wußte keine Antwort. Man forschte weiter und fand das weiße Häubchen der Greisin, zertreten und mit Schmutz bedeckt, fand am Absturz der Felsen den zerwühlten Rasen und sah in der Schlucht der Windach, an einer vorspringenden Steinschrofe, einen Fetzen des schwarzen Gewandes flattern. Von der Stelle führte keine Spur gegen den höheren Weg, keine Spur zurück ins Thal. Bleicher Schreck befiel die Männer, während das jammernde Geschrei der Magd von den Felsen hallte. Hier war nicht Hoffnung mehr, nicht Hilfe! Dennoch wagte Eberwein das Aeußerste. Ob es ihm auch die anderen mit Gewalt zu wehren suchten, ob auch Schweiker mit beiden Armen ihn umklammerte ... er riß sich los und wagte mit Gefahr seines Lebens den Niederstieg, bis das schießende Wasser und die glatten Felsen ihm den Weg versperrten. Als er mit erschöpften Kräften wieder am Rand der Schlucht erschien und die Arme, die sich ihm entgegenstreckten, ihn emporrissen auf festen Grund, waren seine Züge verwandelt zu einem Anblick des Entsetzens.

Scheu trat der alle Runot vor ihm zurück, und den Arm seines Aeltesten fassend, flüsterte er: „Schau’ das Gesicht an, Bub’! Das hab’ ich schon einmal gesehen ... so hat Herr Waze geschaut am selbigen Tag, an dem man Frau Friderun gefunden hat unter der Rabenwand!“

Mühsam atmend, in sich versunken, ruhte Eberwein auf dem Stein, zu dem ihn Schweiker geführt. Er hörte nicht den Jammer der Magd, nicht die Reden der Männer um ihn her, er sah nicht die Sorge Schweikers und sah nicht, was stumm aus den Augen der anderen redete: daß er sie alle, die vor kurzem noch die Fäuste wider ihn gehoben, in dieser Stunde für sich geworben hatte zu treuen Freunden. kein Laut kam über seine bleichen Lippen. Als Schweiler und Runot seine Arme faßten, um ihn aufzurichten, ließ er sich führen. Er hatte kein Auge für den Weg, sein Blick ging verloren ins Leere. Zuweilen, während des Niederstieges, verhielt er seufzend die Schritte und schloß die Lider, denn immer wieder stand vor seinen Augen, was er in der Tiefe der Schlucht an den Felsen geschaut: die blutige Spur des Weges, den Hiltischalk und Hiltidiu genommen.

Auch jetzt, da er in finsterer Nacht mit Schweiker den Heimweg suchte unter fallendem Schnee, zwischen Gestein und triefenden Bäumen, stand er immer wieder und bedeckte die Augen mit der Hand. Immer schwerer wurden seine Schritte, wankend sein Gang. Wollte Schweiker ihn stützen, so wies er ihn stumm von sich.

Mühsam war der Anstieg durch den Lokiwald, denn Eberwein vermochte sich kaum mehr aufrecht zu erhalten. Endlich gewannen sie den Waldsaum, und Schweiker hätte jauchzen mögen, als er in der Finsternis das weiße Dächlein liegen sah. Doch vor der Klause hob er verwundert die Fackel: er fand die Thüre mit Balken und Pflöcken verrammelt. Rasch aber wußte er freien Weg zu schaffen; es polterten die Balken, die er beiseite schleuderte, und seine rufende Stimme klang, doch es rührte sich nichts in der Klause und niemand trat den Heimkehrenden entgegen; in der Stube, die er leer fand, steckte er über dem erkalteten Herd die Fackel in den Ring. Als er sah, daß Eberwein zur Zelle des Paters wankte, sprang er ihm in den Weg und stammelte. „Ich bitt’ Dich, guter Herr, schau’, ich bitt’ Dich, nur heut’ red’ nimmer mit ihm! Nur heut’ nimmer!“

In der finsteren Zelle knarrten die Stangen des Lagers, Schritte klangen, und Waldram erschien auf der Schwelle, das Antlitz von gespenstiger Blässe, die Augen brennend wie im Fieber. An Eberwein vorüber blickte er auf Schweiker. „Wehrest Du ihn ab von mir, da Du weißt, daß er mein Auge zu fürchten hat?“

Da stürzte Eberwein auf ihn zu und faßte ihn mit zuckenden Händen an der Brust. „Waldram! Gieb mir diese Menschen wieder . . . meine besten, die ich hatte!“ Seine Stimme erstickte.

Es kostete dem Pater nur geringe Mühe, den Entkräfteten von sich abzuschütteln. „Weiche von mir! Du hast mit diesem Wort das Urteil über Dich gesprochen! Zwischen Dir und mir sollen Berge und Meere liegen!“

„Ja, Waldram, ja ...“ nur wie ein Hauch klang Eberweins Stimme, „hohe Berge ... tiefe Meere ...“ Schwer stützte er sich auf Schweiker, der ihn unter stammelnden Worten in die Zelle führte, in welche die Fackel einen matten Schimmer warf. Eberwein sah das leere Lager und blickte suchend umher ... die Sprache versagte ihm. Schweiker verstand den Blick. „Thu’ Dich nicht sorgen, guter Herr ... der Bruder wird den Buben in unsere Kammer geführt haben, damit Du ruhen kannst in der heutigen Nacht!“

Stumm nickte Eberwein und ließ sich auf den Rand des Lagers sinken. Ohne Wehren duldete er, daß ihm Schweiker das triefende Gewand mit trockenem Kleid vertauschte, das Moos zu weichem Polster aufschüttelte und die zitternden Glieder mit wärmender Kotze bedeckte. Als ihm Schweiker einen Becher brachte, schlürfte er den Trunk in tiefen Zügen, ohne zu merken, was er trank. Der Bruder atmete erleichtert auf, als der Becher geleert war bis auf den letzten Tropfen des Meßweins. Er steckte eine frische Fackel in Brand, und dann saß er neben dem Lager, regungslos. Eberwein stöhnte und murmelte im Halbschlaf, doch immer tiefer wurde sein Atem, und es währte nicht lange, so lag er in bleiernem Schlummer.

Auf den Zehen schlich Schweiker aus der Zelle, steckte einen Span in Brand, löschte die Fackel aus und trat in seine Kammer. Schnuppernd hob er die Nase – zwischen den vier Wänden roch es nach Wachs und Honig, als wäre die Zelle ein Immenstand. Auf dem einen Bett lag Bruder Wampo wie ein Klotz, mit hängenden Armen. Seine ganze Kutte, von der Brust bis nieder zum Saum, war fleckig, als hätte man sie durch einen Honigtiegel gezogen. Kopfschüttelnd stand Schweiker und betrachtete den Schnarchenden. Da sah er, daß das andere Lager leer war. Er rüttelte den Schläfer, doch Bruder Wampo wollte nicht erwachen. An den Armen zog ihn Schweiker in die Höhe. „He, Bruder! Wo ist denn der Bub’?“

„Der Bär ... der Bär ...“ lallte Wampo, riß die Augen auf und fuchtelte mit den Händen, zwischen deren Fingern der Honig klebrige Fäden spann.

„Ich frag’, wo der Bub’ ist!“ brummte Schweiker, der den Bären auf sich bezog.

„Der Bub’? Pater Waldram . . . Waldram . . .“ Dem Bruder fielen die Augen wieder zu, und lallend sank er auf die Wolfshaut zurück.

Schweiker gab sich zufrieden, er hatte verstanden, daß Huze bei Pater Waldram in der Zelle wäre. Seufzend blies er das Spanlicht aus, warf die nasse Kutte ab und wühlte sich ins Moos.

Tiefe Stille war in der Klause. Um die Mauern her versiegte die Traufe, und lautlos fiel der Schnee in schweigender Nacht ...




30.

In Wazemanns Burghof, den die Pechpfannen erleuchteten, unterbrachen die Knechte ihre Arbeit und lauschten.

„Was ist denn nur das schon wieder gewesen?“ fragte einer. Und ein zweiter stotterte. „Ich mein’, es hat der Boden gebidmet.“ Ein dritter schüttelte den Kopf. „Ich hab’ nichts gespürt . . . nur den Rumpler hab’ ich gehört. Es muß wo eine schwere Lahn gegangen sein.“

„Eine Lahne? So, meinst? Eine Lahn?“ murmelte ein grauköpfiger Alter. „Ich sag’ Euch, Leut’, mir grauset schon die ganzen Tag’ her! Wie ich noch ein kleiner Bub’ gewesen bin, ist vom Göhl eine ganze Wand niedergebrochen und hat die schönsten Alben zugedeckt. Selbigsmal ist alles g’rad’ so gewesen wie die letzten Tag’ her. Ich sag’ Euch, Leut’: es ist ’was ledig worden im Gesteinet ... es muß ’was kommen!“

„Laß kommen, was mag! Uns trifft’s nicht!“ lachte einer der jüngeren Knechte. „Und schlagt’s ein paar Bauernköpf’ zu Mus . . . was liegt denn dran? Die wachsen ja wieder nach wie der Schimmel am Käs’.“ Die anderen lachten und nahmen die Arbeit wieder auf. „Thut nicht so laut,“ mahnte der Alte, „die Herrenleut’ schlafen . . . und ein Toter liegt auch im Haus.“

„Laß ihn liegen! Morgen auf die Nacht soll er sein Erbmahl haben, zu dem der Fischer die Ferchen giebt und der Richtmann den Met. Pech her! Dem Fischer soll heiß werden, daß er Blut schwitzt!“ Lachend tauchte der Knecht den fertig gewundenen Hanfkranz in das zerlassene Pech.

[416] Der Alte schüttelte den Kopf. „Wenn der Fischer den Richtmann gutwillig herausgiebt, hat die ganze Sach’ ein End’!“ Er redete nach, was er in der Herrenstube erlauscht hatte.

Seit dem Abend wußte Herr Waze, daß er die Sühne für den erschlagenen Knecht nicht von Sigenot, sondern von dem Richtmann zu fordern hatte. Wohl blieb es ihm ein Rätsel, was den Mann, der im Thing wider die Klosterleute und für den Spisar gesprochen, zu dieser Gewaltthat getrieben hatte, doch die Aussage, die der Hanetzer gethan, sprach zu deutlich. Und hatten nicht die Knechte, welche den Richtmann greifen sollten, seinen Hag verlassen und alle Thüren versperrt gefunden? Wohin er mit seinen Leuten geflüchtet wäre, diese Frage war nach Wazes Meinung leicht gelöst: in den Hag des Fischers. Mit dem Morgen wollte er den Schuldigen fordern; er hoffte, daß ihm Sigenot diese Forderung verweigern möchte, und fürchtete zugleich, daß der Fischer sie erfüllen könnte. „Er muß sich ja denken, daß ich dem Richtmann nicht zu hart ans Fleisch geh’ ... ich bin doch der Narr nicht, daß ich die beste Milchkuh’ niederschlag’, die ich hab’ in meinem Land! Und giebt er ihn heraus ... was thu’ ich dann? Den Fischer will ich, den Fischer! Und hab’ kein Recht mehr wider ihn!“

Recht! In all seinem Leben hatte Herr Waze dieses Wort nicht so oft im Munde geführt als seit der Stunde, in welcher er das Bußloch leer gefunden. Seine gährende Wut drängte nach einem wilden Ausbruch, doch die abergläubische Furcht, die ihn jäh befallen, war um seine Kraft und seine Sinne gelegt wie ein eiserner Reif. Den Zwiespalt, der in ihm tobte, löste der Met. Schwer trunken sank er in später Nacht auf das Spanbett und schnarchte mit offenem Mund, während draußen im grell erleuchteten Burghof die Knechte unter den vorspringenden Dächern der Ställe saßen, die Pechkränze flochten, das Kienholz für die Fackeln schliffen und die Reisigbündel fertigten, welche den Hag des Fischers in Asche legen sollten.

Noch ehe der Morgen graute, versiegte der Fall der Flocken. Weiß schimmerten im Zwielicht der weichenden Nacht alle Dächer um den Burghof her, und der steigende Bergwald war mit Schnee behangen. In den Lüften wallte das Gewölk, die grauen Massen teilten sich, und durch die Klüfte der ziehenden Nebel schimmerten mit sanftem Glanz die erlöschenden Sterne nieder.

Das Schneelicht warf einen matten Dämmerschein in die Herrenstube. Da wurde Herr Waze geweckt. Stöhnend richtete er sich vom Spanbett auf und hörte einen Hahnenschrei. „Verfluchtes Vieh! Hab’ ich denn keinen Morgen Ruh’ vor Dir!“ Aber da merkte er, daß nicht der Hahn ihn geweckt. „Auf, auf!“ klang die Stimme Hennings, der vor dem Lager seines Vaters stand und ihn am Arme rüttelte.

Mit stumpfem Blick hob Herr Waze die Augen. „Was soll’s? Was willst Du?“

„Fragen will ich, ob ein Heiliger, der in der Nacht durch Mauern geht, die Weiber weckt,“ rief Henning mit heiserem Lachen, während seine Brüder lärmend aus ihren Stuben kamen. „Fragen will ich, ob ein Heiliger, der doch fliegen kann, über Treppen steigen muß und durch die Zeugkammer schleichen.“

„Treppen . . . Zeugkammer ...“ stotterte Herr Waze. „Was soll der Unsinn?“

„Unsinn? So frag’ die Knecht’ ... ich mein’ schier, sie wissen, wer der Heilige gewesen ist, der dem Pfaffen alle Thüren aufgethan.“

„Einer vom Gesind’ muß es gewesen sein!“ kreischte Eilbert aus dem Lärm der Brüder.

Herr Waze griff sich an die Stirne, schüttelte den Kopf und tastete nach der Hüfte, als trüge er am Gürtel noch den Schlüsssel verwahrt. Henning packte ihn an der Brust und rüttelte ihn. „Schlafst Du noch allweil’? Wach’ auf, wach’ auf und hör’ mich an! Jetzt gerad’ ... ich bin aufgewacht und hab’ am Fenster den Laden aufgezogen ... da hab’ ich die alte Hex’, die Ulla, im Hof gesehen. Sie hat den Knechten die Schüssel mit der Morgensupp’ zugetragen und ist gestanden und hat geredet mit ihnen ... vom selbigen Wunder, von Deinem Heiligen! Sie wär’ aus dem Schlaf gekommen in selbiger Nacht und hätt’ gehört, als gingen Leut’ an der Thür’ vorbei, bloßfüßig über die Trepp’ hinauf, gegen die Zeugkammer ...“

Weiter kam Henning nicht. Herr Waze war aufgesprungen und hatte ihn mit der Faust von sich gestoßen. Halb bekleidet, wie er sich vom Lager erhoben, stürzte er gegen die Halle; doch als ihm auf der Schwelle die Kälte an die nackten Beine fuhr, hielt er inne und griff mit zuckenden Händen in die Luft. „Das Weibsbild her! Das Weibsbild her!“

Henning und Sindel eilten aus der Stube und in den Unterstock des Hauses, als sie an Ullas Kammer die Thür aufrissen, saß die alte Magd bei der Fensterluke, durch welche ein trüber Schein des erwachenden Morgens fiel. Henning und Sindel packten sie mit groben Fäusten und rissen sie mit fort. Unter der Thür der Herrenstube stürzte Herr Waze ihr entgegen, völlig angekleidet, mit dem Fänger umgürtet. Vor Wut der Sprache kaum mächtig, packte er die Magd und zerrte sie über die Schwelle. „Geschwiegen hast Du, geschwiegen! Bis heut’! Warum denn, warum? Red’, sag’ ich ... wie war’s in jener Nacht? Red’, oder ich lös’ Dir die Zung!“ Herr Waze wollte nach ihr greifen, doch eine Hand faßte seinen Arm. Recka, von dem Lärm aus ihrer Kammer gerufen, stand vor ihm, die Haare gelöst, im weißen Schlafgewand. „Was hat die Magd Dir gethan, Vater?“ fragte sie mit bebender Stimme. Wirr durcheinander schreiend, gaben die Brüder Antwort, und Herr Waze kreischte: „Soll ich mich viel um das Weibsbild kümmern, wo es hergeht um alles, was ich hab’ und bin? Tag und Nacht bin ich gelegen wie gebunden an Händen und Füßen! Bei jedem Schnaufer hat mich das Grausen vor dem Wunder geschüttelt, an das ich glauben hab’ müssen! Und das Weibsbild hat gehört in der Nacht, wie der Pfaff mit seinem Helfer davon ist, und hat geschwiegen! Geschwiegen!“ Er streckte die Fäuste nach der Magd. „Red’, sag’ ich, red’ ...“

Da trat ihm Recka in den Weg. Mühsam bekämpfte Erregung sprach aus jedem Zug ihres bleichen Gesichtes, sie schien zu wissen, daß sie eine böse Stunde über sich beschwor, aber sie sah die zitternde Angst der alten Magd und konnte nicht schweigen. „Willst Du wissen, wer den Priester aus Deinem Haus geleitet hat, so frage mich!“

In Schreck und Zorn, fast wie ein einziger Schrei, klang Reckas Name von den Lippen der Brüder, nur Henning lachte. „Das hätt’ ich mir denken müssen!“

Mit geballten Fäusten trat Herr Waze vor seine Tochter hin. „Dirn’!“ keuchte er. „Dirn’!“

Stolz richtete das Mädchen sich auf. „Ich habe den Gast an meiner Hand unter Dach geführt ... wenn er Euch nicht heilig war, er ist es mir gewesen!“

„Dirn’! Soll das heißen, daß Du den Schlüssel von meinem Gurt gelöst, während ich im Rausch gelegen, daß Du dem Pfaffen und dem Buben Schloß und Thüren aufgethan?“

„Ja, Vater!“

Da traf ein Faustschlag ihre Wange. Als hätten die Brüder nur gewartet auf solch ein Zeichen, stürzten sie unter Geschrei und zornigen Flüchen auf die Schwester zu, rissen ihr das Gewand von der Schulter und schlugen, wohin sie trafen. Mit stöhnendem Laut, wie eine Bärin die Hunde von sich abschüttelt, machte Recka sich frei, und zum Spanbett springend, faßte sie den Jagdspeer ihres Vaters und schwang das Eisen gegen Henning, der ihr am nächsten stand. Schreiend wichen die Brüder zurück, und jeder suchte nach einer Waffe. Herr Waze aber schrie: „Was lauft Ihr nach Wehr und Eisen? Ich mein’, ich zwing’ sie noch mit der leeren Hand!“ Er sprang auf Recka zu und streckte die Hand, um den Speer zu greifen, doch als er den Blick ihrer Augen sah, trat er scheu zurück. Hochaufgerichtet stand sie vor ihm, in dem leichenblassen Antlitz das rote Mal, das der Schlag seiner Faust entzündet. „Stoß zu, so stoß doch zu!“ rief er mit heiserem Lachen. „Mich plagt die Neugier, wieviel ein Kind zuweg bringt wider den Vater. Stoß zu. Hast ja den Feind, den ich eingesponnen, aus meinem Netz gerissen, hast ja das gute Pfand, das ich gehalten, aus meiner Hand geschlagen! Stoß zu. Es ist ja nicht Deines Vaters Blut, das Du schauen wirst! Du bist ja mein Kind nicht, du Wechselbalg! Stoß zu! Stoß zu!“

Reckas Finger öffneten sich, und klirrend fiel die Waffe zu Boden. Mit zitternden Händen raffte sie die Haarsträhne und die Fetzen ihres Gewandes über die entblößten Schultern, und mit verlorenem Blick den Vater und die Brüder streifend, schritt sie taumelnden Ganges zur Thür der Halle.

(Fortsetzung folgt.)




[417]

Das Urbild eines Fabelwesens.

Polyp und Seeschlange.

In alten Sagen und Dichtungen, auch in alten naturwissenschaftlichen Beschreibungen begegnet uns der Polyp als ein schlimmes Ungeheuer, und bei weniger geschulten Geistern ist noch heute das Wort „Polyp“ mit rätselhaften Begriffen verbunden. Polypen tummeln sich noch hier und dort gar abenteuerlich in der volkstümlichen Phantasie. Mit jenen Fabelwesen hat zunächst der einfache Polyp, der in unseren Teichen und Gräben lebt, nichts zu thun; ihn kennt wohl ein jeder, wenn nicht vom Augenschein, so doch vom Hörensagen, denn er ist ja das Wundertier, das man in Stücke zerhacken kann, wobei aus jedem Stück ein neuer Polyp wächst. Unser Süßwasserpolyp ist in der That ein höchst merkwürdiges Geschöpf, das von Wasserpflanzen, namentlich Wasserlinsen lebt und leicht in einem einfachen Süßwasseraquarium beobachtet werden kann. Sein Körper ist schlauchförmig, etwa 2 cm groß, von grüner Farbe. Mit dem scheibenartig abgeplatteten Ende sitzt er an einem Blatte fest, an dem freien Ende befindet sich der Mund, von einem Kranze von Fühlfäden umgeben. Der Körper des Polypen kann alle möglichen Formen annehmen, bald rollt er sich zu einer Kugel zusammen, bald dehnt er sich zu einem Faden aus. Der Polyp ist sehr einfach organisiert, er hat nur eine Höhle im Körper, welche mit ihrer inneren Wand, dem „Entoderm“, die Nahrung verdaut und wahrscheinlicherweise auch atmet. Die äußere Wand besitzt aber noch die sogenannten Nesselorgane, kleine Kapseln, in denen an langen Spiralfedern mit Gift gefüllte Bläschen liegen. Der Polyp wendet sie an, um andere Tiere, die er erbeuten will, zu lähmen. Er ist auch ein gefräßiges Tier, und mitunter geschieht es, daß ein Polyp den anderen, mit dem er zugleich ein Beutestück erfaßt hat, verschlingt und buchstäblich aussaugt.

Kampf zwischen Krake und Hummer.
Nach einer Originalzeichnung von G. Mützel.

Alle diese Eigenschaften reichen jedoch nicht hin, um den Polypen zu einem gefürchteten Ungeheuer zu machen, und selbst wenn wir das Meer aufsuchen, so müssen wir die Polypen eher bewundern, denn für schreckliche Wesen ansehen, sie arbeiten dort an jenen Wunderbauten, die unter dem Namen „Korallen“ bekannt sind.

So ist wohl der Polyp der Alten nur ein Phantasiegebilde? Durchaus nicht! Im Laufe der Jahrhunderte ist nur, wenn man so sagen darf, den echten Polypen der Name gestohlen und den soeben erwähnten Hohltierchen gegeben worden. Dies geschah im Anfang vorigen Jahrhunderts durch den berühmten Forscher Réaumur. Die Alten verstanden unter den Polypen ganz andere Tiere. „Polypus“, d. h. wörtlich „Vielfuß“, nannte Aristoteles das Seetier, welches uns heute unter dem Namen „Tintenfisch“ bekannt ist. Diese Mollusken, Kraken und Sepien, sind in der That so grausame Bestien, daß man bei ihrer näheren Betrachtung die Volksphantasie, die den Polypen mit so vielen unheimlichen Zügen ausgestattet hat, gern entschuldigen wird. Die Kraken erscheinen hier als jene wunderbaren Inseln, von denen schon in der [418] Legende von der Wunderfahrt des heiligen Brandanus die Rede ist. „Kaum waren sie im Meer,“ heißt es in derselben, „so wartete ihrer ein seltsames Abenteuer. Sie fuhren eine Insel an, wo kein Kraut wuchs, nur spärliche Gesträucher, auch erblickten sie am Ufer keinen schlammigen Rand. Ehe sie dieses erreicht, stand das Fahrzeug schon fest. St. Brandan ließ nun mit Tauen das Schiff ans Land binden. Er selbst blieb in der Nacht an Bord, weil er die Gefahr kannte. Am Morgen, nachdem die Brüder am Lande die Messe celebriert, trugen sie Fleisch und Fische aus dem Fahrzeug und schürten ein Feuer unter ihrem Kochgeschirr an. kaum begannen die Kohlen zu glühen, so wurde der Boden unter ihnen lebendig wie eine flüssige Welle. St. Brandan half den erschreckten Brüdern rasch in das Schiff steigen, jene Insel aber trieb hinaus ins Meer und noch bis auf zwei Meilen Entfernung sahen sie ihr Kochfeuer an ihrem Rande glimmen. Der heilige Abt erklärte aber seinen Begleitern, Gott habe ihm in der Nacht das Geheimnis der Insel offenbart, denn was sie für eine Insel gehalten, sei nur ein großer Fisch gewesen, der immer mit dem Kopf nach seinem Schweif hasche, aber ihn nie erreichen könne, so lang sei er. Der Fisch aber heiße Jasconius.“

Die Neuzeit säuberte das Meer von allen ähnlichen Ungeheuern, bis auf die Seeschlange, die sich noch mitunter zeigt und auf die wir weiter unten noch des näheren zu sprechen kommen werden. In der Neuzeit konnte auch der Polypus des Aristoteles wieder zu Ehren kommen. Mit dem heutigen Polypen hat der des Aristoteles, der Tintenfisch, nur das äußere Kennzeichen gemein, daß er am Munde eine Anzahl (8 bis 10) Fangarme besitzt, in denen eine ungeheure Muskelkraft aufgespeichert ist, so daß er sie nicht nur als Greif-, sondern auch als Fortbewegungswerkzeuge benutzt und oft gewaltige Sprünge damit macht. Von berühmten Forschern wie James Roß wird berichtet, daß Sepien selbst auf das Deck eines 5 Meter über den Meeresspiegel emporragenden Schiffes sprangen.

Die Lebensgewohnheiten der achtfüßigen Kraken und zehnfüßigen Sepien wurden in der neueren Zeit in den Seeaquarien aufs eingehendste studiert. Hier wie in der Freiheit treten die Kraken als echte Seeräuber auf, indem sie Steine zu einer Umwallung herbeischleppen und sich einen Schlupfwinkel bauen, worin sie auf die vorbeischwimmende Beute lauern. Krebse oder Fische werden von den muskulösen Armen wie von Schlangen umschlungen und zerquetscht. Ja, es wurde beobachtet, daß ein Krake mit seinen weichen Armen einen großen Hummer in der Mitte entzweiriß. Als man im Aquarium der Zoologischen Station zu Neapel einen Hummer, um ihn gegen die Angriffe der gierigen Kraken zu schützen, in ein Nachbarbecken setzte, übersprang der Krake die trennende Mauer, um sich auf sein Opfer zu stürzen.

Ebenso verfahren die Sepien, die sich in den Sand einwühlen und so auf die vorbeischwimmenden Fische lauern.

Seitdem es gelungen ist, Seewasser künstlich so herzustellen, daß Seetiere und Seepflanzen darin fortkommen, kann man die Urbilder des „Polypen“ auch in vielen Städten des Festlandes beobachten. Solche Wandlungen hat der Polypus des Aristoteles in den Anschauungen der Menschen durchmachen müssen! Einst als Ungeheuer gefürchtet, wird er jetzt zur belehrenden Unterhaltung gezüchtet. C. F.     

*               *
*

Es ist oben davon die Rede gewesen, daß von all den fabelhaften Ungeheuern, mit denen unsere Vorfahren das Meer bevölkerten, nur die „Seeschlange“ der Neuzeit standgehalten habe. Allerdings giebt es viele, welche das Dasein dieses Wesens auf die Zeitungsspalten beschränken möchten, durch die es sich mangels anderer aufregender Ereignisse während der „Sauregurkenzeit“ hindurchzuschlängeln liebe. Das ist indessen doch nicht so ganz richtig. Wir verdanken über die Frage der Seeschlange dem Marinepfarrer a. D. Heims Ausführungen, die wir im folgenden unsern Lesern mitteilen. Heims schreibt:

So ganz leicht abgethan ist die Frage nach der Seeschlange denn aber doch nicht. Es ist nach der heutigen Lage der Forschung jedenfalls unwissenschaftlicher, ihrem Dasein ein einfaches absprechendes „Nein“ entgegenzusetzen, als sie durch ein bedingtes „Ja“ zu bestätigen.

Daß etwas wie eine „Seeschlange“ oft gesehen worden ist, dürfte überhaupt nicht zu bezweifeln oder anzufechten sein. Die Zeugnisse für das Vorkommen eines Ungeheuers der Tiefe, dessen Erscheinungsform man als „Seeschlange“ bezeichnet hat, sind zu zahlreich und zu beweiskräftig, auf dem beruhend, was unbefangene und wissenschaftlich gebildete Leute gesehen und dienstlich und eidlich bekräftigt haben. Es würde hier zu weit führen, die einzelnen Berichte wiederzugeben. Nur einige, die von Kriegsschiffkommandanten an ihre vorgesetzte Behörde erstattet wurden, seien hervorgehoben, um an ihnen zu untersuchen, was die Beobachter eigentlich gesehen haben können.

Zunächst scheinen alle diejenigen Berichte wertlos zu sein, die von einer Riesenschlange reden, welche in auf und abgehenden Windungen sich vorwärts bewegt haben soll. Das thut keine Schlange; alle Seeschlangen – es giebt deren ja in kleinerem Format genug im Indischen Ocean – machen wagerechte, aber keine senkrechten Windungen, d. h. sie schwimmen nach der Art eines Aales, und der Bau der Rückenwirbel erlaubt ihnen gar keine andere Art der Fortbewegung, weder im Wasser noch am Lande. Bei solchen Schilderungen werden wir es etwa mit einer kurz oder lang auseinander gezogenen Kette von Tümmlern oder Delphinen zu thun haben, die in fröhlicher Meerfahrt, genau Abstand haltend, hintereinander herziehen, wie man das auf See so oft beobachten kann, und dabei den runden, glänzenden Rücken ins Wasser senken und wieder aus der See auftauchen.

Bezeichnend ist zunächst in allen in Betracht kommenden Berichten aus älterer und neuerer Zeit die „Mähne“, welche den aus dem Wasser ragenden Kopf des Tieres bekleidet, zum Teil „in Schulterhöhe“, und ebenso besonders die Stelle aus dem Bericht des Kommandanten des englischen Kriegsdampfers „Dädalus“ (1848), daß von der ganzen Länge des Leibes der erschauten Seeschlange kein Teil zur Fortbewegung benutzt wurde, während das Tier nicht im allergeringsten von seinem geraden Kurse abwich; und dann noch eine Stelle aus dem Bericht des „Castilian“ (1857): „Das Wasser war“ – bei einer Erscheinung, die der eben erwähnten ganz ähnlich war – „auf mehrere hundert Fuß vom Kopf ab gefärbt,“ so daß der Kapitän, nahe bei St. Helena, das Gefühl hatte, in flachem Wasser zu sein. Das Tier zeigte Hals und Kopf etwa zwölf Fuß (3 bis 4 Meter) oberhalb des Wassers, zwanzig Ellen vom Schiff entfernt. Der Kopf war mit einem „Wulst loser Haut“ umgeben, der hier die sonst geschaute „Mähne“ vertritt. Das Untier war „wenigstens 200 Fuß“ (60 Meter) lang“. Solche Schätzungen sind indessen immer mit großer Vorsicht aufzunehmen, jedenfalls war diese Seeschlange keine „Schlange“. Und so oft das Ungeheuer überhaupt sich sonst sehen ließ, war’s ebenfalls kein Reptil. Auch die berühmte „Seeschlange“ des Hans Egede (1730) nicht. Er selbst spricht auch gar nicht von einer „Schlange“, nur von einem „Ungeheuer“, das eine lange, scharfe Schnauze hatte: es „blies Wasser wie ein Wal und hatte sehr große flügelartige Ohren. Der untere Teil war wie eine Schlange gebildet. Nach einiger Zeit tauchte das Tier rückwärts ins Wasser und steckte dann seinen Schwanz übers Wasser, eine Schiffslänge vom Kopf entfernt“.

Egede hat, bis auf eine Verwechslung, sehr genau gesehen und sehr gewissenhaft berichtet. Was er sah, war ein Riesenkalmar, ein Architeutes, ein Riesentintenfisch, gemeinhin ein „Krake“, der aller Wahrscheinlichkeit nach in allen beglaubigten Berichten das geschaute Urbild der „Seeschlange“ darstellt. Daß es Riesenexemplare davon giebt, ist nach den schnell hintereinander gemachten Funden von Neufundland im Jahre 1873 nicht mehr zu bezweifeln. Nach sorgfältiger Berechnung wurden die Ausmaße des einen gestrandeten Riesen auf 3 Meter Körperlänge angegeben, der Durchmesser auf 76 Centimeter. Die Länge der Fühler betrug 9½ Meter, die des Kopfes 60 Centimeter; die Gesamtlänge des gestreckten Tieres 12½ Meter.

Der französische Kriegsaviso „Alceton“ machte 1861 den vergeblichen Versuch, ein noch größeres Exemplar zu fangen, einen Polypen der beschriebenen Art, dessen Körper ohne die Arme 5 bis 6 Meter lang war. Leider wurde der zu weiche Rumpf von der ihm glücklich umgeworfenen Schlinge hinter den Schwanzflossen durchschnitten. Das Gewicht des ganzen Ungeheuers wurde auf 2000 Kilogramm geschätzt. Aus dem getrübten Wasser verbreitete sich starker Moschusgeruch.

Wie macht dies Ungeheuer es aber möglich, als „Seeschlange“ auf der Bildfläche zu erscheinen? Die Sache ist einfach genug!

Die längliche, torpedoartige Gestalt des Leibes gestattet den Tieren, mit großer Geschwindigkeit rückwärts durch das Wasser [419] zu schießen vermöge der Wirkung des Wasserstrahls, den sie durch ein Spritzloch in der Stirn mit besonders großer Gewalt ausstoßen. Die Kraft, welche dadurch ausgeübt wird, ist oft so groß, daß die Tiere jene Bewegung nach rückwärts mit der Richtung des Körperendes nach oben so steigern, daß dieses im Winkel aus dem Wasser hervorragt.

Das würde der „Kopf“ der Seeschlange sein, dem auch die Mähne nicht fehlt, denn die Riesentintenfische haben an beiden Seiten dieses torpedoartig glatt und spitz zulaufenden Hinterkörpers eine Art Flossen, die nach dem Körper zu sich verbreitern. Auch sie ragen bei der rückwärtig schnellen Bewegung hoch aus dem Wasser auf, jene „Mähne“ oder „den Wulst loser Haut“ darstellend, von denen in den Berichten die Rede war. Die riesenlangen, aneinander gelegten Arme des Tieres schleifen bei dem Rückwärtsgehen durchs Wasser lang und elastisch nach und kommen dabei stellenweis wellenförmig zu Gesicht, das Kielwasser des Tieres in hastiger Bewegung aufregend und so seine Länge scheinbar ins Ungeheuere steigernd: das ist der schlangenartige Leib, der zu dem mähnenumwogten „Kopf“ des Polypen gehört – und die „Seeschlange“ ist fertig, wesentlich gleich bedeutend mit einem in Bewegung befindlichen Riesentintenfisch, der als „Sepia“ eine Tintenblase besitzt, durch deren Entleerung das Wasser trüb gefärbt wird, wie beim Vorbeigehen der „Seeschlange“ am Heck des „Castilian“. Nun verstehen wir auch, weshalb die „Seeschlange“ des „Dädalus“ ohne wagerechte oder senkrechte Bewegung des Leibes so schnell vorwärts kam und ihren Kurs so steif innehielt; und auch daß Egede sie „Wasser blasen“ sah, nur daß dieser in der Eile der Beobachtung den Wasserstrahl, den das von der See gehobene Tier von sich gab, mit dem Kopf und den „flügelartigen Ohren“ zusammensah.

Nach dem heutigen Stande der Forschung möchte die Frage nach der Seeschlange sich damit annähernd beantworten. Daß aber auch noch andere Erscheinungen, wie Wale, Fische u. s. w., als „Seeschlange“ bezeichnet worden sind, dürfte nicht ausgeschlossen sein.


Die Kindermilch im Hause.

Ein Trostwort für unbemittelte Mütter.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß eine große Zahl ausgezeichneter ärztlicher Errungenschaften wenig Nutzen zu stiften vermag, weil ihre Anwendung für weite Volkskreise zu kostspielig ist. So verhält es sich auch mit den Fortschritten, welche die Wissenschaft in der Lehre von der künstlichen Ernährung der Säuglinge gemacht hat. Jahrzehnte ernsten und redlichen Mühens liegen hinter uns, und wir können doch keinen Erfolg verzeichnen, wenn wir die Allgemeinheit ins Auge fassen; denn im dritten und vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts starben in Europa von 1000 Lebendgeborenen 188 im ersten Lebensjahr und im achten und neunten Jahrzehnt betrug die Zahl dieser kleinen Toten 194 auf 1000 Lebendgeborene.

Die Ursachen dieser großen Kindersterblichkeit sind sehr mannigfach; aber das steht fest, daß etwa zwei Drittel dieser Säuglinge durch Ernährungskrankheiten dahingerafft werden. Namentlich im Sommer während der heißen Jahreszeit, in den Monaten Juni, Juli, August und September, fordert der Brechdurchfall unter den künstlich ernährten Kindern zahllose Opfer. Einen wichtigen Anteil an der Entstehung dieser Krankheit hat zweifellos das Darreichen verdorbener Milch. Nun ist es in letzter Zeit gelungen, dieses so überaus leicht zersetzliche Nahrungsmittel durch zweckmäßiges Abkochen haltbar zu machen oder zu „sterilisieren“, und wir besitzen ausgezeichnete Apparate, wie z. B. den von Prof. Soxhlet in München, mit deren Hilfe die junge Mutter gute Milch zu Hause haltbar zu machen und aufzubewahren vermag. Aber diese Apparate kosten Geld, und wie billig sie diesem oder jenem erscheinen mögen, für sehr viele sind sie unerschwinglich. Daraus erhellt, daß durch diese Apparate in den bemittelten Kreisen Segen gestiftet wird, daß sie aber auf die Kindersterblichkeit weiter Kreise, auf die Volkssterblichkeit überhaupt keinen Einfluß haben können.

Aber keine arme Mutter braucht darum den Kopf hängen zu lassen.

Es wäre auch traurig, wenn die Errungenschaften der hygieinischen Wissenschaft nur den Reichen zugute kommen sollten! Sie sind glücklicherweise derart, daß sie jedem Nutzen bringen können, der sich ein wenig Mühe giebt, die Grundsätze zu lernen und sie im Leben praktisch zu bethätigen. So kann man die Säuglingsmilch auch ohne einen kostspieligen Sterilisierungsapparat zweckmäßig aufbewahren – man braucht dazu weiter nichts als einen reinen irdenen Topf mit einem Deckel, der in jedem Hausstande zu haben ist.

Was die Milch verdirbt, das sind Pilzkeime, die in sie von außen gelangen. Jede rohe Milch, die wir aus einer, selbst der besten Milchwirtschaft beziehen, enthalt schon diese Keime, und indem sie sich in der Milch vermehren, zersetzen sie dieselbe, bilden in ihr Stoffe, die ein Erwachsener wohl vertragen kann, die aber dem zarten Säugling ungemein schädlich sind. Diese Pilzkeime werden durch die Siedehitze abgetötet, und wenn dies geschehen ist, dann hält sich die Milch längere Zeit. Das ist den Hausfrauen wohl bekannt, aber es muß dabei noch auf einige besondere Eigenschaften der unsichtbaren Keime geachtet werden, wenn die Milch in einem für die Säuglinge tadellosen Zustande erhalten werden soll. Einige der in der Milch vorkommenden Bakterien werden erst nach sehr langem Kochen abgetötet und darum soll man die für Säuglinge bestimmte Milch etwa eine halbe Stunde lang kochen, ferner kann die abgekochte Milch durch neue Keime, die von außen in dieselbe gelangen, von neuem verunreinigt werden. Der Verschluss des Soxhletschen Apparates verhütet eben das Eindringen der neuen Keime in ausgezeichneter Weise. Aber es ist nicht der Verschluß allein, der die Vorzüge des Apparates ausmacht, sondern auch der Umstand, daß bei seiner Benutzung die Milch stets in demselben Gefäße verbleibt, in welchem sie abgekocht wurde. Der letztere Umstand ist der bei weitem wichtigere, wie wir kurz auseinandersetzen wollen.

Bakterien, Pilzkeime etc. schweben in der Luft, sie setzen sich aus derselben mit dem Staube ab, und wenn sie in die Milch hinabfallen, so verderben sie diese. Das ist wahr, aber über die Zahl der gewöhnlich in der Luft schwebenden Keime herrschen sehr übertriebene Ansichten. Durch vielfache Versuche wurde erwiesen, daß die Zahl der Keime, die sich wahrend einer kurzen Zeit, also während einiger Sekunden oder einer halben Minute, auf einer kleinen Fläche wie der Oeffnung eines Milchtopfes absetzen, sehr geringfügig ist.

Anders aber liegt die Sache, wenn wir die Milch mit Gegenständen in Berührung bringen, die zwar gereinigt wurden, aber dann lange Zeit stehen blieben; an den Wandungen solcher Töpfe haben sich inzwischen viele Bakterien niederlassen können, und wenn sie in Massen in die Milch gelangen, so können sie dieselbe schnell verderben. Dies geschieht immer, wenn wir die Milch aus dem Topfe, in welchem sie abgekocht wurde, in einen anderen, den man nicht gerade in demselben Augenblick ausgekocht hat, gießen.

Auf Grund dieser Thatsachen lassen sich folgende Regeln für die Behandlung der für Säuglinge bestimmten Milch im Hause aufstellen.

Die Mutter suche möglichst gute und möglichst frische Milch zu beschaffen. Sofort nach Empfang wird die Milch in einem mit einem passenden Deckel versehenen Topfe eine halbe Stunde lang abgekocht, wobei der Anfang der halben Stunde vom Eintritt des Siedens an zu rechnen ist. In diesem Topfe wird nun die Milch als Vorrat, zugedeckt mit demselben Deckel, an einem kühlen Orte aufbewahrt. Will man dem Kinde Nahrung geben, so gießt man die nötige Menge in einen kleineren Topf ab, halt dabei den Deckel so, daß er mit einem festen Körper, wie z. B. Tischplatte, Kleidung etc., nicht in Berührung kommt, und setzt ihn, nachdem das Abgießen besorgt worden ist, wieder auf den Topf. Der Milchvorrat ist nur für die Dauer von wenigen Sekunden mit der Luft in Berührung gekommen und es sind in ihn nur einige wenige Keime hineingefallen.

Die in den kleinen Topf abgegossene Milch mischt man in entsprechendem Verhältnis mit heißem, vorher abgekochtem Wasser, kocht sie noch einmal auf, bis sie aufwallt, und füllt sie in die Saugflasche, die natürlich peinlich sauber gehalten werden muß, zu deren Reinigung man gleichfalls heißes vorher abgekochtes Wasser benutzt hat. Die entsprechend abgekühlte Milch wird dem Kinde gereicht.

Ebenso verfährt man bei der Entnahme der zweiten, dritten etc. Portion aus dem Milchvorrat.

Kann man frische Milch nur einmal in 24 Stunden erhalten, so empfiehlt es sich, den Vorrat nach 12 Stunden noch einmal abzukochen; bei warmer Witterung ist dies sogar dringend notwendig.

Das ist ein Verfahren, das schon früher in ähnlicher Weise geübt wurde, nur ist es heute besser begründet und die Bedeutung der einzelnen Handgriffe klar.

Ein ausgezeichneter Kenner der Säuglingspflege, Dr. Biedert, hat ein sehr verdienstliches Werk über „Die Kinderernährung“ (Zweite, ganz neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Ferdinand Enke) herausgegeben, in welchem er diese Art der Milchbehandlung im Hause warm empfiehlt. Seine Assistenten haben verschiedenartig aufbewahrte Milch auf deren Gehalt an Keimen geprüft, und sie fanden in je einem Kubikcentimeter Milch 24 Stunden nach dem Abkochen:

in einer Soxhletflasche 21 Keime;
in der Milch aus zugedecktem Topfe, die nach den oben gegebenen Regeln behandelt wurde, 38 bis 500 Keime;
in abgekochter Milch, die nicht im Kochtopf geblieben war, 4 Millionen bis 400 Millionen Keime.

Wir ersehen daraus, daß unser Verfahren nahezu die Zuverlässigkeit eines Sterilisierapparates erreicht. Wer sich darum einen solchen Apparat nicht beschaffen und sterilisierte Milch nicht kaufen kann, und in dieser Lage befinden sich wohl die meisten Mütter, kann dennoch bei gutem Willen, peinlicher Sauberkeit und einiger Geschicklichkeit annähernd dasselbe Ziel erreichen. *     


[420]

Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers.
Nach dem Gemälde von José Villegas.

[421] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[422]

Ein Brief.

Novelle von A. Godin.
(Schluß.)

Johanna war seit Stunden in ihrem Schlafzimmer, ohne sich auszukleiden, ohne das ruhelose Auf- und Niedergehen zu unterbrechen, das sonst so gar nicht in ihrer Art lag. Ihre Stirn glühte, ihre Pulse hämmerten, sie fühlte sich keines klaren Gedankens fähig. Nur zwei Sätze schwirrten, einander unablässig ablösend, durch ihr Gehirn, quälten und marterten sie. Eine Erinnerung, ein Wort Goethes stand ihr plötzlich unbegreiflich im Sinn: „Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie nur allein Rechte zu haben glaubt,“ und dann ein anderes Wort: „Ich bin in Deiner Gewalt.“ Dies letzte aber nicht als Echo der Stimme, die sie heute so weit fortgerissen hatte, nein, es war ihr eigenes Herz, das fortwährend schrie: ich bin in Deiner Gewalt! Sie war es, sie selbst, die in fremder Gewalt stand. Wie ein Stein kam sie sich vor, den ein entschlossener Fuß unwiderstehlich ins Rollen gebracht hatte – wohin? Sie preßte ihre kalten Hände gegen die pochenden Schläfen, hielt mit einem Male den Schritt an und blieb vor Armstrongs Brustbild stehen, das im vollen Schein der Hängelampe wie lebend aus dem Rahmen blickte. Ja, das war er – seine breite Stirne mit dem schlicht darüber liegenden dunkelblonden Haar, die ruhigen grauen Augen, der feste Mund, dessen Güte voll zum Ausdruck kam, sobald er sprach, und sich in den Winkeln dieses entschlossenen Mundes schon verriet.

Man sagt, in der Stunde des Scheidens ziehe am inneren Blick eines Sterbenden der Inhalt seines ganzen Lebens vorüber. Aehnliches vielleicht glitt jetzt durch die hochgespannte Seele der jungen Frau – Bild um Bild: die erste Begegnung in ihres Vaters Hause in Boston, Armstrongs Wiederkommen, seine Werbung, die sie völlig überrascht, doch ebenso erfreut hatte, das Ja, das ihr freies Herz willig gab, dann der Einzug in sein Haus, dessen Wohlstand ihre Erwartungen weit übertraf. All das stand deutlich vor ihrem Erinnern, deutlicher als die darauf folgenden Jahre. Glückliche Jahre? Gewiß, wenn Seelenfriede, wenn ein edelgesinnter Gefährte, wenn schöne Freiheit ein Weib glücklich zu machen vermögen. Hatte sie an seiner Seite je etwas vermißt? O, doch! Sie hatte entbehrt als eine Natur, der es nicht gewährt ist, sich voll auszuleben, die immer spürt, daß etwas in ihr brach liegt, das niemand begehrt. Ob Armstrong, der sein Weib innig und treu liebte, der so weit zu blicken verstand, diese Lücke je wahrgenommen hatte, wußte sie nicht einmal. Gut und liebreich war er allezeit gewesen, voll Fürsorge und Aufmerksamkeit für jeden ihrer Wünsche, und so herzlich vertrauend. Und sein Lohn dafür sollte sein, daß sie nun von ihm ging, ihn treulos allein ließ? Widersinnig, völlig unmöglich kam ihr das in diesem Augenblick vor. Sie sollte ihm schreiben – ja, was? Wie das alles gekommen sei – wie war es nur über sie gekommen? Ihre Gedanken irrten zurück bis zum Tage, da Gerhard schied. Wie still war es damals in ihr, wie fern stand sie dem andern noch, der sie nun aus sicherem Hafen auf stürmendes Meer drängte! Ganz tiefsinnig stand sie da, sann der Zeit, den Tagen und Monaten nach, und als sie sich so grübelnd daran verlor, stand plötzlich ein zwingendes Bild zwischen ihr und der Vergangenheit, die vor ihr zerrann. Sie fühlte ihre Hände von starken Händen gefangen, sie fühlte den heißen, besitzergreifenden Kuß auf ihren Lippen. Wonniger Schauer durchrieselte sie: „Ich bin in Deiner Gewalt!“ Auf die Lehne eines Sessels gestützt, schloß sie die Augen – dies Feuer in ihr mußte flammen – es ersticken, war Tod.

Johanna blieb eine kurze Weile regungslos, trat dann entschlossenen Schrittes in das anstoßende Zimmer und zündete Licht an. Ohne Hast, mit sicherer Hand rückte sie eine auf dem Schreibtisch liegende Mappe zurecht und begann zu schreiben. Bogen um Bogen füllte sich mit der Beichte all ihrer Gedanken, Worte und Werke. Sie verschwieg keine Regung und klagte sich doch nicht an – sie schrieb, als löse in der That eine unbezwingliche Macht, gleich der des Todes, sie vom gestrigen Leben. Sie schrieb im Vollgefühl des Schmerzes um ihn, den sie verlassen wollte, von dem sie mit gleicher Trauer Abschied genommen hätte, wäre ihr letzter Augenblick wirklich da gewesen, im Gefühl, daß doch kein Sträuben etwas ändern könne, daß sie ebenso willenlos aus diesem Leben scheiden müsse, wie man willenlos in das Leben tritt.

Ohne die Blätter zu überlesen, schloß Johanna sie ein. Es schlug zwei Uhr morgens – der Tag, an dem dieser Brief seinen verhängnisvollen Weg antreten sollte, war bereits angebrochen. Einen Augenblick durchzuckte sie der erlösende Gedanke, daß sie ja nur zu wollen brauche, um noch in dieser Nacht aller Seelennot für ewig zu entrinnen, sie brauchte ja nur zu gehen, dorthin, wo es still ist und kühl. Lockend, versuchend trat die Vorstellung ihr nahe, ganz nahe. Doch nein, das war ein feiger Gedanke, das durfte nicht sein!




Wenige Tage nach Absendung des schicksalschweren Briefes erkrankte die Tante und verlangte dringend nach ihrer eigenen Wohnung. Der gerufene Arzt stellte ein Fieber fest, über dessen weitere Entwicklung sich zur Zeit noch nichts sagen lasse, und riet zu sofortiger Uebersiedlung. Unter diesen Umständen blieb Johanna nichts übrig, als gleichfalls in ihr Stadthaus zurückzukehren. Noch auf der Insel zu bleiben, wäre jetzt ebenso auffallend als lieblos gewesen. Doch fügte sie sich diesem Zwang äußerst ungern. In der Stadt ließ sich die Abrede, bis zum Eintreffen von ihres Mannes Antwort jede Begegnung mit Ruhdorf zu vermeiden, kaum durchführen. Das Comptoir befand sich im Hause selbst.

Mit schwerem Herzen fuhr die junge Frau, nachdem sie die Kranke in deren Wohnung untergebracht und versorgt hatte, nach dem eigenen, in einer stillen Seitenstraße gelegenen Hause. Dieses glich in keiner Weise den stolzen Palästen vieler Kaufherren der großen Handelsstadt, mehr im Stil eines altenglischen Landhauses erbaut, lag es etwas zurück von der Straße in einem schattigen Garten. Die mit Purpurblättern umrankten Säulen des Portals sahen, in der vollen Beleuchtung der Oktobersonne, gleichsam festlich aus; ihr farbiger Schimmer that Johanna wehe, so wenig ihre Augen und Gedanken auf Aeußerliches gerichtet waren.

In der Halle trat ihr Ruhdorf nebst einigen Bediensteten begrüßend entgegen; sie erwiderte, indem sie sich sehr zusammennahm, gelassen seinen Gruß, vermied aber seinen Blick. Den größten Teil der folgenden Tage brachte Johanna im Hause der Tante zu, deren Zustand sich indessen rasch besserte. Am vierten Tag, als die junge Frau gegen Mittag abgespannt in ihrem Zimmer saß, ließ Ruhdorf sich melden und folgte dem Diener fast auf dem Fuße. Auf den ersten Blick sah Johanna Briefschaften in seiner Hand. Sie fuhr zusammen, jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht. Da war die Entscheidung – rascher fast, als sie gehofft, gefürchtet. Ihre Füße wankten, unbewußt setzte sie sich und sah mit seltsamem Ausdruck nach Ruhdorf hin, der ihr in diesem Augenblick ganz fremd vorkam.

„Nicht, was Sie denken,“ sagte er und trat dicht neben sie. „Das Heutige meldet im Gegenteil früheren Aufbruch von Charleston, um eine Geschäftsreise anzuschließen. Der Brief ist kurz vor dem Aufbruch geschrieben, mehr als wahrscheinlich also, daß der unsrige Herrn Armstrong dort nicht mehr traf.“

Johanna sah ihn erschrocken an.

„Es handelt sich nur um kurze Verzögerung – selbstverständlich wird alles Einlaufende nachgeschickt.“

Der Ton dieser Worte klang beruhigend, doch verriet Ruhdorfs Miene, daß quälende Aufregung auch in ihm wühle. Erst jetzt blickten beide einander voll an, und beide gewahrten, wie sehr die Woche, die seit ihrer letzten Unterredung in der Villa verlaufen war, an ihnen gezehrt hatte.

Plötzlicher Schreck überfiel Ernst. „Johanna!“ rief er heftig, „bereust Du schon?“

Sie schüttelte den Kopf, ihr bleiches Gesicht färbte sich unter seinem Blick. „Nein,“ sagte sie nach einer Pause, entzog ihm aber fast ungestüm die Hand, die seine Lippen streiften.

In diesem Augenblick wurde es draußen in der Halle laut von Stimmen und Tritten. Johanna fuhr in die Höhe. Die Thür des Empfangzimmers öffnete sich, Armstrongs Gestalt erschien auf der Schwelle. Sein offenes Gesicht leuchtete in schöner Freude. Mit zwei Schritten war er neben seiner Frau, schloß sie in die Arme und sagte aus voller Brust: „Daheim!“

Johanna wußte nicht, wie ihr geschah. Fast leblos hing sie in den Armen des Mannes, der schon im nächsten Augenblick [423] bestürzt rief: „Du bist nicht wohl?“ Indem er sie stützte, strich er mit der Rechten leise über ihren Scheitel.

„Es ist nichts –“ stammelte Johanna.

„Zu überraschen taugt nicht, wie ich merke,“ meinte Armstrong lächelnd. „Doch wußte ich bis heute nicht, daß Frau Hanna Nerven hat. – Guten Tag, Herr Ruhdorf!“ Er folgte dem jungen Mann, den er durch ein Kopfnicken schon begrüßt hatte, zur Schwelle, wohin dieser sich zurückzog, und schüttelte kräftig dessen schlaffe Hand. „Wir sprechen uns heute noch, ich habe Ihnen viel zu sagen, mein veränderter Kurs geht Sie ganz besonders an.“

Indem Ruhdorfs Finger schon auf dem Thürgriff lagen, kreuzten seine Augen die Johannas. „Er weiß nichts! Was nun?“ stand darin zu lesen.

Armstrong drang in seine Frau mit Fragen über ihre Gesundheit. Sein liebreicher Blick erkannte rasch, daß anderes als augenblickliche Erregung diese tiefen Linien um Mund und Augen gegraben haben mußte. Sie lenkte ab, sprach von der Krankheit der Tante, stellte hundert abgerissene Fragen an ihn, ihre Wimpern flogen, die Farbe ihrer Wangen ging und kam, sie beunruhigte Armstrong sehr. Daß der Fieberzustand der von ihr Gepflegten auf sie selbst übergegangen sei, schien ihm außer Zweifel.

Etwa nach einer Stunde begab er sich in das Comptoir, berief Ruhdorf in sein Arbeitszimmer und ließ sich alles Geschäftliche von Belang vortragen. „Und nun zu Persönlichem,“ schloß er mit freundlicher Ruhe, „Sie entsinnen sich unseres Gespräches am Abend vor meiner Abreise?“

Ernst behielt kaum die unumgängliche Fassung. War der Brief dennoch in Armstrongs Händen? Aber dann vermochte dieser Uebermenschliches, um in solchem Ton darüber zu sprechen!

„Ich äußerte die Absicht, Ihnen nach meiner Rückkehr größere Selbständigkeit und entsprechenden Gewinnanteil zu sichern,“ fuhr er fort. „Bestimmteres wäre damals verfrüht gewesen, ich wünschte, die Verhältnisse persönlich zu prüfen und einzuleiten. Das ist geschehen; ich komme von B., wo ich eine Filiale zu gründen und deren Leitung Ihnen zu übertragen beabsichtige. Die Bedingungen werden Sie, wie ich hoffe, zufriedenstellen. Einverstanden, Herr Ruhdorf? Ich freue mich, Ihnen, der das Wohl meines Hauses stets und in jüngster Zeit mit besonderem Eifer wahrgenommen hat, zu beweisen, daß mir Ihr Wohl gleichfalls nahe liegt.“

Rnhdorf war sehr betreten. Es fehlte ihm nicht an dem Selbstgefühl, daß er für seinen Chef eine tüchtige Stütze sei, in diesem Sinne kam ihm jede Berücksichtigung zu. Die Herzlichkeit aber, mit der Armstrong seine Mitteilung vorbrachte, dessen sicheres Zutrauen benahmen ihm den Atem. Sein erster Gedanke war volle sofortige Aussprache. Indessen – durfte er Johanna vorgreifen, sie in die Lage versetzen, gleichsam als bereits Ueberführte ihre schwere Beichte abzulegen? Er war ihr schuldig, zu schweigen, bis er von ihr benachrichtigt war.

Beklommen dankte er seinem Chef für die gute Gesinnung, fügte dann nach kurzem Zögern bei, daß auch er Mitteilungen zu machen habe, über die er sich bald näher äußern würde, durch die sich aber die geäußerten Absichten verschieben dürften, da persönliche Angelegenheiten ihn nötigten, sich in nächster Zeit Urlaub für eine Reise nach Deutschland zu erbitten.

Armstrong, der die unverkennbare Befangenheit des jungen Mannes auf diese Aeußerung zurückführte, entgegnete, daß sich im gegebenen Falle Privates und Geschäftliches ganz wohl vereinigen ließe, da er ohnehin beabsichtige, ihn in der besprochenen Angelegenheit nach Deutschland und Frankreich zu senden, und der Plan erst nach seiner Rückkehr wirklich in Kraft treten solle. „Rüsten Sie also immerhin zu baldigem Aufbruch. Morgen ist Ruhetag, Montag sprechen wir weiter.“




Armstrongs Besorgnis wegen des üblen Aussehens seiner Frau veranlaßte ihn, trotz ihrer Abwehr, noch denselben Abend nach dem Arzt zu senden, dessen Verordnung sich auf das Gebot völliger Ruhe beschränkte. Am folgenden Morgen erschien sie zur gewohnten Zeit, um den Thee zu bereiten. Ihr Mann begrüßte sie mit der beruhigten Versicherung, daß sie heute, wenn auch noch bleich und angegriffen, doch wieder sich selbst gleichsehe. Es war Sonntag, das Geschäft geschlossen. Er freute sich der sicheren Stille des eigenen Hauses. „Dieser Tag soll uns ein Fest sein!“ sagte er froh zu Johanna. „Wie oft habe ich mich nach solcher Ruhe gesehnt in der langen unerquicklichen Zeit. Heute wollen wir jede Stunde zusammen verleben, vor Besuchen die Thüre schließen, alles, was stört, soll draußen bleiben.“

Sie erhob ihre Augen. Ganz seltsam kam es ihr vor, daß sie ihn anzusehen vermochte, als läge kein Abgrund zwischen ihm und ihr. Ein Fest! Das freilich klang schrill in ihr Bewußtsein. Eins war ihr aber unumstößlich klar: Ruhe sollte der Ahnungslose genießen diesen einen letzten Tag. Morgen mußte gesprochen werden, heute wollte sie ihm und sich gönnen, noch einmal in Frieden beisammen zu sein. Ja, in Frieden! Denn – ihr selbst unbegreiflich – ihr war wohl in seiner Nähe, in diesem vertrauten Zusammensein. Mit jeder Stunde des still vorrückenden Tages fühlte sie sich mehr und mehr von dem alten Gefühl der Geborgenheit überschattet wie unter Zweigen eines Baumes nach sengender Glut. Er ging mit ihr um, wie man es mit Kranken oder Leidenden pflegt, schonend, in liebreich heiterer Art. Sie verstand sehr wohl, daß er sie wirklich für körperlich leidend hielt, daß auch nicht einer seiner Gedanken die Wahrheit erriet, und doch war ihr, als läge ihre Seele ihm offen und er habe bereits verziehen. Ein traumhafter Zustand, der ihr namenlos wohl that nach aller Qual der vorausgegangenen Tage. Viel Gemeinsames wurde besprochen, was Haus und Dienerschaft, Hilfsbedürftige und Zugehörige betraf, er fragte nach allem, machte Vorschläge, plante Einrichtungen, die recht nach Johannas Sinne waren. Seine schöne Menschenfreundlichkeit durchleuchtete alles, sprach auch aus den Berichten über die im Süden verlebte Zeit, die nicht selten Strenge geboten hatte. Photographien, Aufzeichnungen, die er mitgebracht, interessierten Johanna durch die Erläuterungen, die er daran knüpfte. So ging der Tag hin, ein echter Sonntag, still und doch bewegt. Bald nach dem spät eingenommenen Mittagsmahl bat Armstrong seine Frau, nun zur Ruhe zu gehen, Johanna zögerte. Ihr war, als müsse diesem Tage noch eine, eine Stunde abgewonnen werden, schon war in ihr das Bewußtsein wach, daß es ihr letzter friedlicher Tag sei auf lange, lange hinaus, vielleicht bis zum Ende. Doch fügte sie sich und ging in ihr Schlafzimmer.

Das erste, was ihr dort in die Augen fiel, war ein auf dem Seitentischchen liegendes Paket.

„Bücher,“ sagte ihr Mädchen, „Herr Ruhdorf hat sie geschickt, weil die Herrschaft ungestört bleiben wollte, habe ich das Päckchen hierher gelegt.“

Johanna fühlte, wie ihr kalt wurde. Sie entließ die Dienerin und barg ihr Gesicht zwischen den Händen. Wie ein Gespenst stieg vor ihr auf, was war. Erst nach langer Zeit entschloß sie sich, das Siegel, das die Schnur des Päckchens hielt, zu lösen. Das Erwartete lag zwischen zwei Büchern, nur wenige Zeilen. „Ich vertraue, daß Sie diesen Zustand beenden. Kein zweites Zusammentreffen könnte ich bestehen.“

Sie nickte vor sich hin. Ja, morgen mußte das geschehen. Mechanisch kleidete sie sich aus und legte sich zur Ruhe, ohne doch Ruhe zu finden. Mit weit offenen Augen blickte sie in das Dämmer, das im matten Schein der dicht verhangenen Nachtlampe dem Umriß der Gegenstände um sie her etwas Schwankendes gab. Von Zeit wußte sie nichts, also auch nicht die Stunde, in der sie Armstrongs vorsichtigen Schritt vernahm, als er sein Schlafzimmer betrat, dieses war von dem ihrigen durch das Kabinett getrennt, in dem sie vor acht Tagen an ihn geschrieben hatte. Sie erschrak, denn sie vernahm, daß er herüberkam. Mit festgeschlossenen Augen hielt sie den Atem an, durch die Lider glaubte sie zu spüren, daß er vor ihrem Lager stand und sie betrachtete, gleich darauf entfernte sein leiser Schritt sich wieder. Fester als je stand ihr fest, daß morgen gesprochen werden müsse.

Im Tagesgrauen schlief Johanna endlich ein und erwachte erst, als es bereits völlig hell war. Sie kleidete sich, gegen ihre Gewohnheit, für das Frühstück mit fliegender Hast vollständig an wie für einen Ausgang. Als sie das Eßzimmer betrat, saß Armstrong bereits am Theetische.

„Gestiefelt und gespornt?“ scherzte er. „Was hast Du vor?“

„Nichts!“ Sie legte ihm mit bebender Hand Zucker in die Schale.

„Das ist mir lieb, denn ich wollte Dir vorschlagen, gleich nach dem Frühstück mit mir nach der Insel zu fahren. Nach dem, was Du sagtest, sind bauliche Veränderungen an der Villa erforderlich, ich möchte nachsehen und vielleicht noch arbeiten lassen, ehe Frost eintritt. Ist es Dir recht?“

„Gewiß – fahren wir!“ sagte sie zerstreut, sie dachte daran, [424] daß nun Zeit genug vor ihr läge, daß sie dort alles sagen könnte. Da wurden, wie üblich, die eben eingelaufenen Morgenzeitungen und Privatbriefe hereingebracht. Armstrong stand auf, sie durchzusehen. „O, noch ein Brief von Dir, Hanna,“ sagte er lächelnd. „Und welch ein Aktenstück! Davon hast Du mir ja gar nichts gesagt.“

Johanna sah den Brief in seiner Hand. In der nächsten Sekunde, wie durch übernatürliche Kraft emporgeschnellt, flog sie auf, umschlang ihren Mann mit beiden Armen und rief in erschütterndem Ton: „Ich bin Dein Weib!“

„Was ist Dir?“ sagte er bestürzt.

Ihre Arme glitten nieder. „Gieb mir den Brief,“ sagte sie kaum hörbar. „Wir lesen ihn zusammen – später.“

„Hanna!“

„Habe Geduld mit mir, habe Vertrauen, gieb mir den Brief!“

Er sah sie schweigend an und legte den Brief in ihre Hand. „Ich vertraue Dir,“ sagte er nach einer Weile. „In allem, immer.“

Johanna neigte sich, schwere Tropfen fielen auf seine Hand, die ihre Lippen streiften, ehe er es wehren konnte. Stumm verließ sie das Zimmer.




Ernst Ruhdorfs Augen hatten sich in der verwichenen Nacht ebensowenig geschlossen als die Johannas. Die Botschaft, der er den Sonntag über in steigender Unruhe entgegenharrte, war ausgeblieben. Auch Montag früh brachte die erste Post keine Antwort auf seinen gestrigen Brief. Schon war die Stunde nahe, zu der er sich im Comptoir einzufinden hatte, und nichts – nichts! Der Gedanke, Armstrong ein zweites Mal gegenüberzustehen, abermals das quälende Schweigen bewahren zu müssen, war ihm unerträglich. Sie wußte doch, daß solches Zusammentreffen heute unausweichlich war, daß jetzt alles von ihr abhing. Hatte sie gesprochen? Würde er das dort erfahren? Seine Lage erschien ihm peinvoller noch als die ihrige, die Reihe von Zufällen, die eine Aufklärung Armstrongs vor dessen Heimkehr verhindert hatte, dünkte ihm ausgesuchte Grausamkeit des Geschickes. Er hatte seither jedes Schuldbewußtsein nachdrücklich von sich gewiesen. War er etwa ein frivoler Verführer, der keck und leichtfertig den Hausfrieden brach? Wider sein Wissen und Wollen war diese Leidenschaft groß gewachsen. Armstrong war ein freidenkender Mann, oft hatte er ihn von der Unfreiheit des menschlichen Willens voll Nachdruck sprechen hören. Hatten doch seine eigenen Worte seine Frau im voraus entsündigt, ihr Freiheit zugesagt für den Fall eines zwingenden Konflikts. Durften also sie beide nicht die Augen aufschlagen? Und doch verdunkelten sich die seinigen, so oft er seit der Wiederbegegnung Armstrongs dachte. Im voraus wappnete er sich dem Worte gegenüber, das ihn vielleicht zur Rechenschaft ziehen würde, und fühlte doch einen noch weit stärkeren Druck bei der Vorstellung, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Johanna brachte ihm große Opfer – aber brachte er ihr keine? Wenn sie Haus und Gatten für ihn opferte, so hatte er um sie die holde Jugendliebe fahren lassen, die Zukunftsträume, denen zulieb er aus der Heimat gegangen war. Auch dort wurden heiße Thränen geweint.

Er warf das Haar aus der Stirn zurück und machte sich auf den Weg. Die Sache mußte zu Ende gebracht werden. Als er etwas verspätet im Bureau eintraf, bestellte ihm der Buchhalter im Auftrage des Chefs, dieser sei mit seiner Frau soeben nach der Insel gefahren und würde vor Schluß des Geschäfts schwerlich zurück sein. Ruhdorf setzte sich an sein Pult und arbeitete, was ihm nur mit der größten Anstrengung möglich war. Als er mittags das Comptoir verließ, trat ihm in der Halle Johannas Mädchen entgegen und übergab ihm einen Brief. Obgleich während des letzten Halbjahres durch dasselbe Mädchen manche harmlose Botschaft an ihn gelangt war, sah er ihr forschend in das Gesicht. Sie war völlig unbefangen.

„Wie befindet sich Frau Armstrong?“ fragte er.

„Nicht sehr gut!“ war die bedauernde Antwort. „Die gnädige Frau sieht übel aus, sie hat sich bei der Frau Tante wohl zuviel zugemutet oder gar etwas geholt. Die Fahrt wird ihr aber gut thun, heut’ ist’s ja so warm wie im Sommer.“

Ernst eilte seiner Wohnung zu. Der Brief, der ihm sagen würde, ob schon gesprochen sei, ob es vielleicht in diesem Augenblicke geschah, brannte auf seiner Brust. Kaum in das Zimmer getreten, verschloß er die Thüre, warf sich auf den nächsten Sitz, löste das Siegel und las:

„Verzeihen Sie mir, Ernst, ich sage Ihnen Lebewohl. Vielleicht werden Sie mich darum hassen, geringschätzen sogar. Das muß ich tragen bis zur Stunde, wo Sie einst durch sich selbst erfahren, was mich zwingt. Nicht Feigheit ist’s, nicht ein schwankendes Gemüt, das sich hin und her treiben läßt von jedem letzten Eindruck. Was mich heute bezwingt, liegt weit, weit zurück. Und doch hat ein Tag, ein einziger genügt, mich des schuldvollen Irrtums zu überführen. Wir schöpften den Glauben an die Berechtigung unseres Thuns aus einem Worte Armstrongs – er hat damals noch ein anderes Wort gesprochen, über das wir weghörten, das ich erst seit gestern voll begriffen habe, von dem ich ganz durchdrungen bin: lange Lebensgemeinschaft muß stärker in die Wagschale fallen als Aufwallungen des Gefühls. Ich wollte nicht hören, als dieses Wort mir wieder und wieder einfiel, ich wollte nur hören, was mich von dannen zog, und kam heute zu ihm mit dem Entschluß, ihm das zu sagen. Statt dessen – Gott weiß, wie mir geschah! Vor der einfachen Empfindung, daß tausend Fasern Mann und Weib aneinander binden, wich alles. Ich weiß nun, daß ich nimmer von ihm gehen kann, wenn auch aller Glanz dahin ist aus den Tagen, wenn auch der Riß in mir nie vernarben wird. Vergeben Sie mir alle Bitterkeit, die jetzt in Ihnen gährt, um der Schmerzen willen, von denen nichts mich lossprechen kann. Ich habe kein Glück mehr, das ich Ihnen zu geben vermöchte. Unser Brief ist in meinen Händen.

Leben Sie wohl! Johanna.“ 




Der große Dampfer, dessen Lauf nach Hamburg ging, hatte das letzte Zeichen gegeben, die Wolken seines Rauches stiegen hoch in die klarblaue Luft. Auf dem Quai des Hafens drängte sich die bunteste Menge in dem Gewühl, das jede Ankunft oder Abfahrt dieser Riesenschiffe zu begleiten pflegt.

„Leben Sie wohl, Herr Ruhdorf, und auf Wiedersehen!“ sagte Armstrong zu dem Scheidenden, der die Landungsbrücke schon betreten hatte. „Lassen Sie von sich hören und nehmen Sie sich Zeit, nicht nur soviel davon erforderlich, sondern soviel Ihnen erwünscht ist. Nichts drängt. Wir wünschen für Sie jeden Erfolg, jedes günstige Gedeihen, meine Frau wie ich, davon seien Sie überzeugt. Meine Frau bedauert gewiß sehr, sich nicht persönlich von Ihnen verabschiedet zu haben, ihre Gesundheit ist aber wirklich augenblicklich recht angegriffen, und ich selbst bestand darauf, daß sie die Verordnung vollständiger Ruhe nicht durchbreche, so lange das Wetter ein Verweilen in der Villa noch ermöglicht.“

Ruhdorfs Auge haftete auf dem ruhigen Gesicht des Sprechenden so eindringend, als müsse er Verborgenes in diesen Zügen enträtseln. Armstrong hatte, wie ihm zuweilen eigen war, während er sprach, in das Weite geschaut. Jetzt begegnete sein Blick dem des jungen Mannes voll und fest.

Ein Leidenszug, der sich um Ernsts Mund geprägt hatte, verschwand nicht unter dem bitteren Lächeln, womit er nun erwiderte: „Gutes Wetter also für Bleibende und Fahrende! Empfehlen Sie mich Ihrer Frau mit den besten Wünschen für ihr Ergehen!“ Dann, indem er die ihm gebotene Hand mit festem Druck ergriff und wieder losließ. „Leben Sie wohl, Herr Armstrong, und – haben Sie Dank!“

Armstrong stand noch mit verschränkten Armen auf dem alten Platz, als das stolze Fahrzeug schon die Wogen brausend teilte. Ein Schiff trägt den Scheidenden gleichsam in das Unabsehbare. Ist es dem Gesichtskreis entschwunden, so weckt das grenzenlose Meer, mit der ewig wogenden, ewig wechselnden Fläche, ein ganz anderes Abschiedsgefühl, als wenn ein Geleitsmann vom Bahnhofe nach Hause kehrt. Ernsten Blickes sah Armstrong den Dampfer kleiner und kleiner werden, bis er nur als goldener Punkt ferne auf den Wellen tanzte. Der gepreßte Ton der letzten Worte Ruhdorfs klang noch im Ohr des Mannes, das war das Dankeswort eines, der die ganze Summe des Erlebten zusammenfaßt, eines Scheidenden, der nicht wiederzukehren gedenkt. Ein Seufzer hob seine Brust. Was er geahnt, war ihm in diesem letzten Augenblick zur Gewißheit geworden.

So stand er minutenlang und sann, dann hob sein Haupt sich frei und sicher. Welche hohe Woge auch über sein Haus hingegangen sein mochte, sie hatte nichts verschlungen, was sein war, nichts, was den unvergeßbaren Naturlaut zu übertönen vermochte: „Ich bin Dein Weib!“




[425]

Die Lotte, die Lotte.

Just, wenn ich bei der Arbeit bin,
Gedankenerz zu schürfen,
Mir vielerlei huscht durch den Sinn
Von Plänen und Entwürfen,
Kaum daß ich noch mein Buch aufschlug,
Kaum that ich einen Federzug,
So kommt mein Kind, die Lotte;
So geht es draußen trippetrapp
Und an der Thüre klippeklapp –
Husch! fliegt herein die Lotte!

Sie hüpft im Nu mir auf den Schoß
Und streichelt mir die Wangen;
Die braunen Augen, klug und groß,
Die lachen vor Verlangen.
Am Ohr mir und am Barte zupft,
Mit Rotstift aufs Geschrieb’ne tupft
Mein wildes Kind, die Lotte.
Auf meinem Schreibtisch kreuz und quer
Wirft sie die Bücher hin und her,
Die Lotte, die Lotte!

Sie bettet ihre Puppen fein
In meinem Bücherschränke –
Von Arbeit und Gesammeltsein
Ist nunmehr kein Gedanke.
Statt, daß ich tüchtig schelten soll,
Treib’ ich es selber nun wie toll
Mit meiner süßen Lotte.
Durch Flur und Zimmer, trallalla,
Hüpft lustig immer, Hoppsassa,
Papa mit seiner Lotte!

Als Hottepferd lauf’ ich dahin
Mit Tändelei und Necken;
Und wenn ich außer Atem bin,
So spielen wir Verstecken.
Macht ihr auch dies nicht Freude mehr,
Schleppt sie ein Bilderbuch daher,
Die wißbegier’ge Lotte.
Und nun erklär’ ich: eins-zwei-drei,
Die bunten Bilder nach der Reih’
Der Lotte, der Lotte!

Sie lacht – das klingt so frisch und hell!
Und ach, wie nett sie plappert!
Der Brummbär tanzt, der Pulcinell,
Die Klappermühle klappert! –
Wie sieht’s in meinem Zimmer aus!
Drunter und drüber, wirr und kraus
Warf alles meine Lotte.
Am Ende aber, Hopphopphopp,
Tanz’ ich mit ihr hinaus Galopp
Und bring’ ins Bett die Lotte!

Nun hab’ ich endlich Ruh’ im Haus
Und greif’ zur Feder wieder;
Doch mit der Sammlung ist es aus –
Nichts Kluges schreib’ ich nieder,
Vor meinen Augen mit Gesumm’
Schwirrt immer noch und spielt herum
Mein Kind, die wilde Lotte.
Und daß ich heut’ nichts schreiben kann:
Die Schuld hat ganz allein daran
Die Lotte, die Lotte!

 Richard Zoozmann.


Das Ende eines königlichen Abenteurers.

Von Eduard Schulte.

Als Napoleon im April des Jahres 1814 zur Abdankung gezwungen wurde, waren die Königsthrone, welche er für seine Verwandten errichtet hatte, längst zusammengebrochen. Nur der Gemahl seiner Schwester Karoline, Joachim Murat, behauptete sich noch über ein Jahr lang auf dem Thron von Neapel.

Freilich war dies letzte Regierungsjahr Murats zunächst nur eine Gnadenfrist, die er sich von den gegen Napoleon verbündeten Mächten dadurch erkauft hatte, daß er sich ihnen im Kampf gegen Frankreich angeschlossen; er ließ sich schon im Januar 1814 von Vertretern der österreichischen Regierung zusagen, daß die Verbündeten ihn dauernd als König von Neapel anerkennen würden, wenn er die französische Herrschaft in Mittel- und Oberitalien stürzen helfe, und er sandte nun eine Kriegserklärung an den Stellvertreter Napoleons in Italien, den in Mailand herrschenden Vizekönig Eugen. Der Wunsch, den Thron sich und seinen Kindern auch nach dem Sturze Napoleons zu erhalten, mußte in Murats Augen den Uebertritt zu den Verbündeten rechtfertigen oder wenigstens entschuldigen, aber wohl war ihm bei der Sache doch nicht. Der Schritt, den er nun gethan hatte, war ein Verrat an dem Kaiser, seinem Wohlthäter, und konnte nicht geeignet sein, das Mißtrauen zu entwaffnen, das seine neuen Verbündeten gegen ihn hegten. Er empfand das Unnatürliche seiner Lage, und das lähmte seine Entschließungen. Lässig, schwankend und zweideutig in der Erfüllung der von den Verbündeten ihm zugewiesenen Aufgabe und seinerseits von ihnen mit merklicher Kühle behandelt, trat er wieder auf die Seite Napoleons zurück, als die Kunde kam, daß dieser von Elba her an der französischen Küste gelandet sei und an der Spitze seiner alten Soldaten das Kaiserreich wieder aufrichte. Großer Pläne voll, rief Murat, der Rom und Florenz besetzt hatte, zu Ende März 1815 die Italiener auf, sich als ein einiges Volk zu erheben und ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen.

Unleugbar war dieser Aufruf eine weltgeschichtliche That. Zum [426] erstenmal trat der Fürst eines italienischen Landes, den Sehnsuchtsträumen der großen Italiener aus den vergangenen Jahrhunderten entsprechend, für ein einiges und unabhängiges Italien ein, und sein Einigungsruf verhallte nicht wieder, er war wie eine Weissagung, die einst in Erfüllung gehen sollte. Aber der Wert der That war nicht in allen Punkten zweifelsfrei; der Fürst, der sich zu ihr entschloß, war selbst ein Fremder, dem Lande, das er regierte, von außen her aufgedrungen, und sein Auftreten glich mehr dem eines verzweifelten Spielers als dem eines fürstlichen Staatsmannes. Noch war die Zeit nicht reif. Der Haß der Italiener untereinander und der Mehrzahl von ihnen gegen einen aus der Revolution emporgestiegenen Fürsten war noch zu groß, die Abneigung der europäischen Herrscherfamilien gegen einen Emporkömmling, der einen bourbonischen Thron für sich in Anspruch nahm, noch zu tief, die Ueberlegenheit der in Italien alt hergebrachten Fremdherrschaft, die jetzt und für die nächsten Jahrzehnte durch Oesterreich ausgeübt wurde, noch zu beträchtlich. Der König Joachim wurde am 2. Mai 1815 von den Oesterreichern bei Tolentino geschlagen und kehrte als ein Mann, der sein Spiel verloren hat, in seine Hauptstadt nur zurück, um sich von der Königin, die er zur Regentin eingesetzt, zu verabschieden und sein Heil in der Flucht zu suchen. Er schiffte sich mit seinem Gefolge nach Frankreich ein, während die Königin sich mit ihren Kindern nach Triest begab. Die engherzige und kurzsichtige Herrschaft der Bourbonen wurde hergestellt, König Ferdinand zog in Neapel wieder ein, und jede Spur von König Joachims Regierungszeit, die wenigstens eine gerechtere Verteilung der Staatslasten und eine verständige Rechtspflege gebracht hatte, wurde nach Möglichkeit ausgetilgt.

Murat landete gegen Ende des Monats Mai in aller Stille in Cannes und hielt sich dann meist in Toulon auf, wo ein Verwandter von ihm wohnte, ein Fregattenkapitän Bonafoux. Bei diesem konnte er, wie er meinte, ohne Gefahr den Bescheid auf seine an Napoleon gerichtete Bitte um Verzeihung abwarten. In der Zurückgezogenheit beschäftigte er sich damit, die gegen seine Politik erhobenen Vorwürfe in Zeitungen abzuwehren, ohne persönlich hervorzutreten. Auch das Gefolge hielt sich möglichst unauffällig und nahm hier und da ebenfalls in Toulon Wohnung. Zuweilen wechselte Murat seinen Aufenthalt, um der Verhaftung zu entgehen, falls Napoleon eine solche anordnen sollte. Es traf sich, daß am 18. Juni, an demselben Tage, wo bei Waterloo gekämpft wurde, bei dem im Bezirk von Toulon befehligenden Marschall Brune wirklich ein kaiserlicher Erlaß einlief, Murat zu verhaften. Brune scheute vor einem solchen Vorgehen gegen seinen alten Waffengefährten zurück. Er ermittelte sein Versteck und kam noch an demselben Tage heimlich zu ihm, um ihm von dem Befehl Kenntnis zu geben und fofortige Flucht anzuraten. Murat bat um einen Paß, damit er zur französischen Armee ins Feld eilen und durch tapferes Mitkämpfen das Vertrauen des Kaisers wiedergewinnen könne, aber Brune meinte, angesichts des Haftbefehls die Bitte nicht erfüllen zu dürfen. Der Kapitän Bonafoux, in dessen Hause der Flüchtling nun nicht mehr sicher war, vermittelte diesem darauf ein Unterkommen auf dem nicht weit von der Küste gelegenen Landhause einer Familie Marouin. Murat fand in seinem Zimmer eine jener schrankähnlichen, zweckmäßig versteckten Mauernischen, wie sie während der Revolutionszeit in vielen Häusern angebracht worden waren, um als letzte Zufluchtsstätte gegen Verfolgungen zu dienen.

Als die Nachricht kam, daß der Kaiser zum zweitenmal abgedankt und König Ludwig XVIII. die Regierung wieder angetreten habe, beschloß Murat, der bis dahin immer noch auf die Versöhnlichkeit Napoleons gehofft hatte, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern, ehe die Häscher der neuen Regierung auf ihn fahndeten und sein Versteck erspähten. Es wurde eine Brigg gemietet, und Murats Gefolge, das man unter der Hand von der bevorstehenden Abfahrt verständigte, ging am 31. Juli an Bord; in der Frühe des 1. August sollte Murat selbst sich einschiffen.

In der Nacht vor dem Tage der Abfahrt übergab Murat Herrn Marouin, seinem Wirt, der sich zur Königin nach Triest begeben wollte, ein kleines französisches Buch, in das er auf eine nicht ganz bedruckte Seite die Worte geschrieben hatte: „Beruhige Dich, meine teure Karoline; obwohl sehr unglücklich, bin ich frei. Ich reise, ohne zu wissen, wohin, aber wohin ich auch gehe, mein Herz gehört Dir und meinen Kindern. J. M.“ 

Am Morgen des Abfahrtstages wartete Murat vergeblich auf das Boot, das von der Brigg ans Land geschickt werden sollte, um ihn abzuholen. Die Brigg befand sich auf offenem Meere in nicht unbeträchtlicher Entfernung vom Strande, da sie der Behörden wegen das Auslaufen von einem Hafen aus vermeiden mußte und durch die Seichtigkeit des Wassers an größerer Annäherung gehindert wurde. Es ergab sich später, daß das abgeschickte Boot sich in den tief ins Land schneidenden Einbuchtungen der Küste verirrt hatte und nach vergeblichem Suchen zur Brigg zurückgekehrt war. Marouin und sein Bruder, die ihren Schützling bis an die Küste begleitet hatten, beauftragten nun einen Fischer, ihn bis zur Brigg zu rudern. Als Murat bereits in den Fischerkahn gestiegen war, ließ er sich von Marouin noch ein Paar Pistolen zuwerfen, die er am Ufer vergessen hatte und die ihm als Geschenk seiner Gattin besonders wert waren.

Dieser Augenblick entschied über Murats ferneres Schicksal. Der Fischer schloß aus den reichen und kostbaren Verzierungen, womit die Waffen geschmückt waren, daß er eine hochgestellte Persönlichkeit, ja wahrscheinlich den Exkönig von Neapel im Boot habe, der, wie er wußte, von der Polizei gesucht wurde. Er beschloß, aus dieser Entdeckung Nutzen zu ziehen, ruderte eine weite Strecke in das Meer hinein, erklärte dann, daß ein Sturm herannahe, der ihn nötige, umzukehren, und fuhr an die Küste zurück. Des Wirtes Bruder, der allein noch an der Küste geblieben war, führte den König, da ein anderes Boot sich nicht fand, wieder in das Landhaus zurück und gab ihm den dringenden Rat, sich versteckt zu halten, da Verrat zu gewärtigen sei. In der That brachte der Fischer die Gendarmen auf Murats Spur, und sie hielten in der Villa Haussuchung, die Mauernische entzog ihn jedoch ihren Nachforschungen. Als sie sich entfernt hatten, am Morgen des 2. August, eilte Murat mit Herrn Marouin, der für ein Boot gesorgt hatte, noch einmal an die Küste. Aber der Kapitän der Brigg, der zu dem Schluß gekommen war, daß Murat entweder auf die Einschiffung verzichtet habe oder an der Einschiffung verhindert worden sei, und der aus Furcht vor französischen Küstenwächtern und Kreuzern nicht wagte, länger zu warten, war mit dem Gefolge bereits abgesegelt. Für Murat bedeutete die Abfahrt der Brigg neben aller andern Verlegenheit einen erheblichen Geldverlust, da er einen gegen 100 Pfund wiegenden Sack mit Goldstücken an Bord gegeben hatte. Freilich verfügte er auch so noch über bedeutende Mittel, in einem Gürtel, den er beständig trug, befanden sich Diamanten im Wert von vier Millionen Franken.

Inzwischen war ein Preis von 40000 Franken für denjenigen ausgesetzt worden, der die Verhaftung Murats herbeiführen werde. Zwar ließen die Behörden verlauten, daß Murat sich der Ehre und Milde des französischen Königs unbesorgt anvertrauen könne; aber der Entthronte mußte, wenn er sich ergab, mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß man ihn ähnlich wie den gestürzten Kaiser an einen sehr entfernten Verbannungsort schaffen und dort in dauernder Haft halten würde. Zudem ließ sich gerade in diesen Monaten, die dem zweiten Zusammenbruch des Kaiserreichs folgten, die heißblütige Bevölkerung der französischen Südprovinzen in ihrem Hasse gegen die Vertreter des Kaiserreichs zu mancherlei Greuelthaten hinreißen, wie denn der oben erwähnte Marschall Brune zu Avignon von einer Pöbelrotte ermordet wurde, an demselben Tage, an dem Murat zum letztenmal versuchte, sich nach Amerika einzuschiffen.

Nach wochenlangem Zuwarten und Beraten verabredete Murat mit drei kühnen französischen Seeoffizieren, den mit Kapitän Bonafoux befreundeten Herren Donadieu, Blancard und Langlade, daß sie persönlich ihn in einem Segelboot nach Korsika führen sollten. Korsika lag von allen Zufluchtsstätten, die in Betracht kommen konnten, am wenigsten weit entfernt. Wurde die Insel glücklich erreicht, so durfte er, wenn sie auch unter französischer Herrschaft stand, doch hoffen, in den schwer zugänglichen korsischen Gebirgen so lange ein Unterkommen zu finden, bis die Zukunft sich günstiger für ihn gestaltet hatte und etwa durch seine Gemahlin irgendwo ein Niederlassungsrecht für ihn ausgewirkt war.

Die drei Seeoffiziere mußten bei Beschaffung eines Segelbootes große Vorsicht anwenden, um keinen Verdacht zu erregen, und so waren sie in der Auswahl beschränkt; scheinbar durfte es sich um nichts weiter als um eine Spazierfahrt handeln, nur ein kleines und ziemlich altes Fahrzeug vermochten sie aufzutreiben. Am 22. August abends um zehn Uhr gingen sie unter Donadieus [427] Führung in Toulon unter Segel und holten Murat von einem einsamen Punkte der Küste ab. Sie steuerten nach dem korsischen Hafen Bastia, der von Toulon in der Luftlinie 300 Kilometer entfernt ist. Gegen Morgen erhob sich ein mit Gewitter verbundener Sturm, man kam nur mit Mühe und bei starkem Kreuzen von der Stelle, die Wellen schlugen in das Schiff, und Murat, der bei der Bedienung des Segelwerks nicht mithelfen konnte, mußte stundenlang das eingedrungene Wasser mit seinem Hute ausschöpfen. Alle an Bord genommenen Lebensmittel mit Ausnahme von einigen Flaschen Wein und einigen Tafeln Chokolade wurden durch das Seewasser unbrauchbar. Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt entstand im Boden des Fahrzeugs ein Leck, das man vorläufig mit allen vorhandenen Taschentüchern noch verstopfen konnte, aber wenn nicht binnen einer gemessenen Zahl von Stunden Hilfe kam, so war der Untergang unvermeidlich. Nachdem die zweite Nacht vergangen war, begegnete das Boot einem Handelsschiff, das nach Toulon segelte. Murat rief den Kapitän an und versprach ihm eine Belohnung, wenn er ihn und seine Gefährten aufnehmen und nach Korsika bringen wolle. Der Kapitän antwortete mit einer Wendung seines Schiffes, welche geeignet war, das Boot in den Grund zu bohren. Donadieu, der das Steuer hielt, wußte eben noch zu rechter Zeit auszubiegen. Das Verhalten des Handelsschiffskapitäns ließ nur die Erklärung zu, daß er die vier Männer in dem kleinen Boot für Seeräuber hielt, wahrscheinlich deshalb, weil Murat Pistolen im Gürtel trug. Ergrimmt drückte Murat mit dem Rufe „Verräter“ eine Pistole auf den Kapitän ab, aber der Schnß versagte, da das Pulver feucht geworden war.

Glücklicher verlief die Begegnung mit einem zwischen Toulon und Bastia fahrenden, jetzt nach Bastia segelnden französischen Postschiff. Von diesem wurden die vier Insassen des Bootes, die bereits bis an die Knie im Wasser standen, nach sechsunddreißigstündiger Fahrt aufgenommen. Donadieu verließ das Boot zuletzt, und unmittelbar darauf versank es in den Wellen.

An Bord des Postschiffes befanden sich mehrere angesehene Männer, die nach Korsika flüchteten, weil sie als frühere Anhänger und Beamte des Kaiserreichs in den französischen Südprovinzen ihres Lebens nicht mehr sicher waren; auch ein Mameluck mit Namen Othello, der unter Murat gedient hatte, war auf dem Schiffe. Sie alle begrüßten Murat als König, unter lauten Kundgebungen ihrer Freude, ihn wiederzusehen. Das Schiff landete am 25. August in Bastia, und die drei französischen Seeoffiziere kehrten in der Stille nach Toulon zurück. Murat nahm beim Landen den Namen eines Grafen von Campo Melle an, aber es wäre ein vergebliches Bemühen gewesen, das Inkognito zu wahren, die Nachricht, daß er angekommen sei, verbreitete sich mit Windeseile über die Insel. Die französischen Bourbonen, die nun wieder über Korsika herrschten, waren bei den Korsen wenig beliebt, und so hatten sowohl Anhänger des Kaiserreichs von Frankreich aus als besonders Parteigänger Murats von Neapel aus gerade diese Insel als Zufluchtsstätte ausersehen, wo sie vor den Verfolgungen der neuen heimischen Regierungen verhältnismäßig besser geschützt waren als irgendwo sonst in Frankreich oder Italien. Hunderte von Offizieren und Soldaten aus den Armeen Napoleons und Murats lebten auf der Insel, sie jubelten dem gestürzten König entgegen, wo er sich zeigte, und die Korsen stimmten in diese Jubelrufe ein, ohne daß die königlich französischen Behörden es wagten, der allgemeinen Begeisterung für König Joachim entgegenzutreten. Der General Franceschetti, der jahrelang unter Murats Befehlen gestanden hatte und den dieser in Vescovato bei Bastia aufsuchte, stellte sich sofort wieder unter seine Befehle und war fortan sein vornehmster Berater. Viele andere frühere Offiziere und Soldaten strömten nach Vescovato und boten dem Könige ihre Dienste an. Es galt ihnen als selbstverständlich, daß Murat sein Königreich Neapel sich wiedererobern müsse.

Murat trat dem Landungsplane, den er längst erwogen hatte, nunmehr näher. Der erwähnte Mameluck Othello, der sich seinem Gefolge angeschlossen, hatte in Castellamare bei Neapel einen Verwandten, seinen Schwiegervater, und so beauftragte ihn Murat, nach Castellamare zu reisen, bei seinem Schwiegervater abzusteigen und möglichst unauffällig die Briefe zu bestellen, die er ihm einhändigte. Murat wandte sich in diesen Briefen an einige ihm aus seiner Regierungszeit her bekannte Personen, auf deren Anhänglichkeit er zählen zu dürfen meinte, und eröffnete ihnen, daß er in einem Hafen der Küste von Neapel eine bewaffnete Landung versuchen wolle; sie möchten ihn bei der Wahl des Hafens mit ihren Ratschlägen unterstützen. Nach Othellos Abreise begab er sich nach Ajaccio, wo er wie im Triumph einzog; man trug ihn auf den Armen in den von ihm gewählten Gasthof. Von dem freudigen Empfange hingerissen, sagte er zu dem General Franceschetti: „Wenn die Korsen mich so aufnehmen, was werden erst die Neapolitaner für mich thun!“ Er verschaffte sich durch den Verkauf mehrerer Diamanten die Verfügung über ansehnliche Geldmittel und betrieb nun die erforderlichen Vorbereitungen. Unter seinen alten Offizieren, die ihm wieder dienen wollten, traf er eine Auswahl. Von den älteren und jüngeren Soldaten, die sich zu seiner Fahne drängten, ließ er 250 Mann anwerben, sie sollten als Landungstruppe Verwendung finden. Zu schwerem Nachteil gereichte es ihm, daß es in Korsika nicht möglich war, größere Schiffe zu mieten. An fremde Hafenplätze hätte er sich nicht wenden dürfen, ohne Aufsehen und Verdacht hervorzurufen, und die Zeit drängte, denn er konnte in Ajaccio nicht länger den König und künftigen Eroberer spielen, ohne daß man von Frankreich aus gegen ihn eingeschritten wäre. Es gelang ihm nur, sich zehn kleine Fahrzeuge zu verschaffen, die, nachdem sie mit den nötigen Matrosen bemannt worden waren, zusammen nicht einmal für jene 250 Mann Raum boten; nur 160 Mann konnte er einschiffen. Die ganze Ausrüstung wurde in wenigen Tagen vollendet, und alle Beteiligten hielten sich bereit, auf den ersten Befehl an Bord zu gehen und abzusegeln. Es waren jetzt nur noch die Antworten auf die durch den Mamelucken bestellten Briefe abzuwarten.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.



Karl Reinecke, der langjährige Leiter der Leipziger Gewandhauskonzerte, der hochverdiente Lehrer am Konservatorium daselbst, feiert am 23. Juni seinen siebzigsten Geburtstag. Gleich bewandert und geehrt als ausübender Künstler, als Komponist und Lehrer wie in seiner Eigenschaft als Dirigent, bildet er heute den Mittelpunkt in dem blühenden Musikleben Leipzigs und prägt ihm den Stempel seiner Eigenart auf. Künstlerleben bedeutet meist Wanderleben – auch Karl Reinecke hat das in der ersten Hälfte seiner Jahre durchgekostet. Seit vierunddreißig Jahren aber ist er Leipzig treu geblieben, dort hat er die Fülle des Wirkens gefunden. Als er 1885 sein fünfundzwanzigjähriges Jubelfest als Leiter der Gewandhauskonzerte feierte, hat die „Gartenlaube“ seinem Entwicklungsgang eine ausführliche Darstellung]], begleitet von seinem Bildnis, gewidmet. Heute möge es uns gestattet sein, die zahlreichen Verehrer des Mannes in der Pleßestadt und draußen in der Welt auf jene Blätter[2] zu verweisen und daran nur noch den Wunsch zu knüpfen, daß das Bewußtsein eines reichgesegneten Daseins die ferneren Tage des Jubilars durchdringen möge mit immer neu belebender Kraft!

Des Deutschen Reiches höchste Zinne. (Zu den Bildern S. 409 und 413.) Ehe es ein Deutsch-Ostafrika gab, hatte unbestrittenen Anspruch auf den Ehrentitel als „des Deutschen Reiches höchste Zinne“ die Zugspitze (2968 m), die höchste Erhebung des Wettersteingebirges in den bayerischen Alpen. Nachdem freilich der Grund und Boden, auf dem der Kilimandscharo mit seinen 6000 Metern sich auftürmt, dem deutschen Schutzgebiete in Ostafrika einverleibt worden ist, hat die Zugspitze einen übermächtigen Nebenbuhler erhalten, nicht sie, sondern der die höchste Kuppe des Kilimandscharo darstellende „Kibo“ sollte von nun ab „des Deutschen Reiches höchste Zinne“ sein. Indessen ist der afrikanische Riese doch nur in weiterem Sinne ein „deutscher“ Berg, und wenn wir darum von ihm und seinen Landsleuten absehen, so bleibt der Zugspitze ihr alter Ruhm gewahrt – noch immer bezeichnet das mächtige goldene Kreuz, das wir dem Leser auf S. 409 vorführen, in der That „des Deutschen Reiches höchste Zinne“.

Noch im Anfange unseres Jahrhunderts galt die Zugspitze als „unersteiglich“, aber schon im Jahre 1820 wurde dieser Glaube durch die That widerlegt und drei Jahrzehnte später wurde sogar ein weithin sichtbares vergoldetes Kreuz gleichsam als Siegesdenkmal auf dem Scheitel des überwundenen Berges errichtet. Die Zugspitze hat zwei nahe beieinander liegende Gipfel. Man erreicht zuerst den um etwa zwei Meter niedrigeren Westgipfel, erst von diesem aus gelangt man über einen schmalen zerrissenen Grat zum höheren Ostgipfel. Die schwierige Begehbarkeit dieses Grates war der Grund, weshalb man 1851 das Kreuz auf den niedrigeren Gipfel stellte. Im Jahre 1882 brachte man es zu Thal, um es frisch vergolden zu lassen. Inzwischen war nun der Uebergang über jenen Grat durch Anbringung eines Drahtseils wesentlich leichter und gefahrloser gestaltet worden und so konnte man 1883 das in neuem Glanze erstrahlende Kreuz auf dem Ostgipfel, auf der in Wahrheit höchsten Zinne des Deutschen [428] Reiches, errichten, wo es heute noch steht. Das Kreuz ist fünf Meter hoch und von der Kugel an aufwürts im Feuer vergoldet.

Der südliche Nachbar der Zugspitze ist der Schneefernerkopf (2869 m). Wer von dem an die Südseite des Zugspitzstockes sich anlehnenden Plattachferner nicht nach der Zugspitze selbst, sondern auf den Schneefernerkopf will, den führt der Weg an einem Naturschauspiel von überraschender Großartigkeit vorüber, an dem sogenannten „Wetterloch“, das unser Bild S. 413 zeigt. Durch die Oeffnungen, welche die gegeneinander gestürzten Felsen gelassen haben, thut sich ein wunderschöner Blick nach der Thalebene von Lermoos und Ehrwald auf, gegen die das Bergmassiv des Zugspitzstockes in nahezu 2000 Meter hohen Stellwänden abfällt.

Wilhelm Roscher †. Als ob einer hohen Geisteskraft die Fähigkeit innewohnte, auch das körperliche Leben stärkend zu durchfluten und ihm über das gewöhnliche Durchschnittsmaß der Menschen hinaus nicht Dauer bloß, sondern auch Arbeitsfrische zu erhalten, hat die deutsche Gelehrtenwelt der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit eine Reihe von Größen aufzuweisen, die bis in ein ungewöhnlich hohes Alter im Dienste ihrer Wissenschaft thätig geblieben sind. Auch Wilhelm Roscher, der hervorragende Nationalökonom, der am 4. Juni zu Leipzig starb, gehörte zu diesen Auserwählten. Fast 77 Jahre hat er vollendet, 56 Jahre sind verflossen, seit er mit seiner Doktorschrift in die wissenschaftliche Welt sich einführte, und 54, seit er die akademische Lehrkanzel bestieg. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er als Forscher, Lehrer und Schriftsteller gewirkt und die fruchtbarsten Anregungen unter seinen Schülern wie Lesern ausgestreut.

Wilhelm Roscher wurde am 21. Oktober 1817 zu Hannover als Sohn eines höheren Justizbeamten geboren. Iu üblicher Weise durchlief er die Schulen seiner Vaterstadt, um dann von 1835 bis 1839 zu Göttingen und Berlin Geschichte und Staatswissenschaften zu studieren. Göttingen sah damals bewegte Tage: es war die Zeit des hannoverschen Verfassungsbruchs und des bekannten Protests der „Sieben“; zu zweien derselben, zu Dahlmann und Gervinus, stand der junge Roscher in näheren Beziehungen, während in Berlin vor allem Ranke tieferen Einfluß auf ihn gewann. Dank den Anregungen dieser Männer, dank seiner eigenen Begabung und seinem eisernen Fleiße schuf sich Roscher rasch eine geachtete Stellung in der deutschen Gelehrtenwelt. Nachdem er sich 1840 in Göttingen habilitiert hatte, 1843 zum außerordentlichen, 1844 zum ordentlichen Professor vorgerückt war, folgte er 1848 einem Ruf nach Leipzig, dessen Hochschule ihn von da ab, trotz wiederholter lockender Anerbietungen von außen, dauernd den ihren nennen durfte. Wie viele Geschlechter von Studierenden sind in dieser Zeit an ihm vorübergezogen, aus seinem Horsaät den tiefen Eindruck seines Wissens wie seiner Persönlichkeit mit sich hinausnehmend ins Leben! Nicht durch blendende Rednerkunst fesselte Roscher; aber er verfügte über einen klaren fließenden Vortrag, regte an durch die Reichhaltigkeit der Gesichtspunkte und gewann durch die Unparteilichkeit der Darstellung.

Professor Wilhelm Roscher.
Nach einer Photographie von Georg Brokesch in Leipzig.

Groß ist die Zahl der wissenschaftlichen Werke, die aus seiner nimmermüden Feder hervorgingen. Als die Bekrönung und Zusammenfassung seiner Lehre darf man sein fünfbändiges „System der Volkswirtschaft“ betrachten, ein Werk, an dem Roscher über 40 Jahre gearbeitet hat, das ins Französische, Englische, Italienische, Russische und andere Sprachen übersetzt worden und von dessen erstem Bande, den „Grundlagen der Nationalökonomie“, vor wenig Wochen die 21. Auflage erschienen ist, während der Schlußband, enthaltend das „System der Armenpolitik“, wenige Tage vor des Gelehrten Tode vollendet wurde. Neben dem „System der Volkswirtschaft“ ist noch die „Politik“ zu erwähnen, die erst vor zwei Jahren in zwei rasch aufeinander folgenden Auflagen herauskam, eine „geschichtliche Naturlehre“ der Monarchie, Aristokratie und Demokratie. – Roscher vertrat unter den Nationalökonomen die sogenannte „historische“, oder, wie er sie auch nennt, die „physiologische“ Richtung. Er befand sich damit im Gegensatz zu der „idealistischen Methode“. Fragt diese: „Was soll sein?“ und sucht dem entsprechend ein Ideal von Volkswirtschaft aufzubauen, so stellte sich Roscher auf den realeren Standpunkt: „Was ist? und wie ist es geworden?“ Er wollte geben eine „einfache Schilderung zuerst der wirtschaftlichen Natur und Bedürfnisse des Volkes; zweitens der Gesetze und Anstalten, welche zur Befriedigung der letzteren bestimmt sind; endlich des größeren oder geringeren Erfolgs, den sie gehabt haben. Also gleichsam die Anatomie und Physiologie der Volkswirtschaft!“

Roschers Hingang bedeutet einen schweren Verlust für die deutsche Wissenschaft, im besonderen für die blühende Leipziger Hochschule. Aber er lebt fort in seinen Werken und in seinen Schülern. An diesen ist es nun, das Erhe ihres Meisters zu wahren und zu mehren!

Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers. (Zu dem Bilde S. 420 und 421.) Wiederum hat das grausame Nationalvergnügen der Spanier seine Opfer gefordert. In Murcia wie in Madrid haben in den letzten Wochen Stierkämpfer unter den Hörnern der gereizten Tiere ihr Leben lassen müssen, und ganz Spanien trauert um sie, als wären sie den Heldentod fürs Vaterland gefallen. Espartero, der zu Madrid auftrat, war ein besonderer Liebling des hauptstädtischen Publikums; sein Name auf dem Programm genügte, die weiten Ringe der Arena bis auf den letzten Platz zu füllen, und verschwenderischer Beifall folgte seinen Leistungen – bis einmal auch für ihn der Augenblick kam, wo das tobende Beifallsgeschrei sich jäh in beklommene Stille verwandelte, wo alle Gewandtheit des Körpers, alle Sicherheit von Hand und Auge zu Schanden wurde vor der ungebändigten Wut eines andalusischen Wildlings. Vier Pferde hatte der Stier getötet, da griff der Espada Espartero in den Kampf ein, mit seinem Degen die Entscheidung zu bringen. Ob der Gefeierte wohl zu lange mit den Verbeugungen zum Danke für schmeichelhaften Empfang sich aufhielt? Genug, ehe er sich dessen versah, war er von dem ungestüm auf ihn eindringenden Stier zu Boden geschleudert. Aber wie der Blitz ist er wieder auf den Füßen – jetzt gilt’s die kleine Scharte auszuwetzen! Ein Stoß mit dem nie fehlenden Degen zwischen des Stieres Nackenwirbel, sonst der fast augenblickliche Tod des Tieres! Aber diesem verleiht die Wut Kräfte, die auch die Todeswunde überdauern – mit zwei letzten Stößen seiner Hörner trifft der Andalusier den sich vielleicht schon sicher fühlenden Espada, und mit gräßlich verstümmeltem Körper bricht dieser auf der Wahlstatt zusammen, das menschliche neben dem tierischen Opfer einer rohen Volksleidenschaft. Man trägt ihn hinaus – und das „Spiel“ nimmt seinen Fortgang. Es stehen ja noch so und so viele andere „Toros“ auf dem Programm, und nicht das gräßlichste Blutvergießen kann die fanatischen Zuschauer zum Verzicht auf Fortsetzung und Schluß ihres Schauerdramas bewegen.

Solche Vorgänge wiederholen sich mit einer verhängnisvollen Regelmäßigkeit in den Arenen des „schönen Spaniens“. Darf es uns darum wundern, daß das prächtige Gemälde, das José Villegas vor einigen Jahren schon malte, fast bis in Einzelheiten hinein auf den Fall paßt, der heute zufällig der neueste ist.

Den todwunden Torero hat man in einen Anbau hinter der Arena gebracht, der zu einer Kapelle eingerichtet ist. Dort pflegt sich vor Beginn der Kämpfe die gesamte Stierfechtertruppe, die „Cuadrilla“, zu versammeln, um für ihr Leben zu beten; hier ist jetzt der Priester um den Sterbenden bemüht, ihm die letzten Tröstungen der Religion zu spenden. Die Braut, deren Stolz der Gefallene noch vor einer Stunde gewesen, hat sich in verzweifeltem Schmerz an der Bahre niedergeworfen – auch Espartero hatte eine Braut, mit der er bald Hochzeit machen wollte – die Genossen aber haben die kurze Pause, während draußen der Platz frisch hergerichtet wird, benutzt, um von dem Verscheidenden Abschied zu nehmen. Alle stellen sich in der Kapelle ein: entblößten Hauptes, die Blicke auf den Sterbenden gewandt, lauschen sie den Worten des Priesters. Die Majestät des Todes ist ihnen allen verständlich; ergriffen beugt sich der eine nieder, ernst sinnend steht der andere da. Nur einige wenige, die der Tod nicht schreckt, bleiben kalt – sie haben Aehnliches schon zu oft gesehen! Der Diener aber sammelt schon die abgenommene Prunkkleidung des Espada, der im letzten schlichten Kleide eben friedvoll seinen Atem aushaucht. Die ganze Tragik dieses blutigen Schauspiels, der Gegensatz zwischen dem glänzenden Flittergewand des Lebens und dem starren Tode, die Naturwahrheit der Gestalten, welche die Kapelle füllen, von dem ruhig seines Amtes waltenden Priester bis zu den Arena-Wächtern im Hintergrunde, die sich leise ihre Betrachtungen über den Vorfall mitteilen – das alles ist auf dem Gemälde von Villegas sprechend wiedergegeben.



Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (24. Fortsetzung). S. 409. – Auf dem Gipfel der Zugspitze. Bild. S 409. – Das Wetterloch bei der Zugspitze. Bild. S. 413. – Das Urbild eines Fabelwesens. Polyp und Seeschlange. Mit Bild. S. 417. – Die Kindermilch im Hause. S. 419. – Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers. Bild. S. 420 und 421. – Ein Brief. Novelle von A. Godin (Schluß). S. 422. – Die Lotte, die Lotte. Gedicht von Richard Zoozmann. S. 425. – Das Ende eines königlichen Abenteurers. Von Eduard Schulte. S. 425. – Blätter und Blüten: Karl Reinecke. S. 427. – Des Deutschen Reiches höchste Zinne. S. 427. (Zu den Bildern S. 409 und 413.) – Wilhelm Roscher †. Mit Bildnis. S. 428. – Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers. S. 428. (Zu dem Biide S. 420 und 421.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung:
Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Lamm.
  2. Jahrgang 1885, Nr. 38. Inzwischen ist auch eine ansprechende Biographie Reineckes aus der Feder des Musikdirektors und Musikschriftstellers W. J. v. Wasielewsky bei J. H. Zimmermann in Leipzig erschienen.